In der folgenden Nacht nach Schwaneckes Rückkehr zum Bataillon, beziehungsweise zu Wernhers erster Kompanie, waren zwei Dinge geschehen, die weder Oberleutnant Wernher noch sein Spieß, noch der Wachhabende erklären konnte, zwei Dinge, von denen man noch lange sprach und die die Legenden um Schwanecke angereichert und ausgeschmückt wieder aufleben ließen:
Schütze Karl Schwanecke war aus dem Schuppen, in den ihn Wernher einsperren ließ, verschwunden. Aber das war noch nicht alles: Mit ihm war aus der Schreibstube auch die Pistole des Spießes mit drei vollen Magazinen verschwunden und aus der Feldküche ein langes Schlachtmesser.
Wie konnte das geschehen?
Wernher hatte einen Doppelposten angeordnet, einen vor, den anderen hinter dem Schuppen. Er wollte sichergehen. Als um zwei Uhr morgens die Ablösung kam, fand sie beide Posten bewußtlos, schwer angeschlagen im Schuppen liegen - und den Karabiner des einen, mit der gesamten Munition der beiden, nahm Schwanecke gleichfalls mit.
»Vielleicht will er ‘ne Offensive starten ...« sagten die Soldaten augenzwinkernd, als sie die rätselhaften Geschehnisse dieser Nacht lang und breit kommentierten. Es gab keinen einzigen unter ihnen, der es Schwanecke nicht gegönnt hätte, für alle Zeiten auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Als man am nächsten Vormittag Schwaneckes Ausbruch rekonstruierte, fand man folgendes heraus:
Er mußte in stundenlanger, unendlich vorsichtiger Arbeit, die von den Posten unbemerkt geblieben war, zwei Bretter an der Seitenwand des Schuppens gelockert und herausgerissen haben. Dann zwängte er sich durch den ziemlich schmalen Spalt und erledigte zuerst den einen und dann den anderen Posten (beide hatten noch einige Tage lang ziemlich starke Kopfschmerzen, aber sie nahmen es Schwanecke keineswegs übel, daß er sie so zugerichtet hatte). Dann schleppte er sie in den Schuppen und spazierte schließlich seelenruhig zu der Schreibstube, wo er das Fenster eingedrückt und die Pistole weggenommen hatte. Anschließend war er zu der Feldküche gegangen, wo er Lebensmittel holen wollte. Er fand aber keine, denn alle waren unter festem Verschluß, und der Koch schlief daneben. Auch das wäre sicherlich kein Hindernis für ihn gewesen - aber wahrscheinlich nahte die Ablösung, die seinen Ausbruch entdecken würde, und so mußte er schließlich verschwinden, ehe er noch Eßbares mitnehmen konnte.
»Haben Sie denn, in drei Teufels Namen, nichts gehört?« fragte Wernher seinen unglücklich schauenden Spieß aufgebracht.
»Nein, Herr Oberleutnant.«
»Sie schlafen doch neben der Schreibstube ... er kann doch nicht ... wo mag er wohl hin sein?«
Er überlegte. Zur Front konnte Schwanecke nicht. Dort würde er fast sicher entdeckt werden. Nach Orscha? Das wäre gleichbedeutend mit Selbstmord. Dafür ist er sicher nicht ausgebrochen. Es blieb ihm nur noch ein Weg: der zu den Partisanen.
Dies war es auch, was er später seinem Kommandeur, Hauptmann Barth, telefonisch mitteilte.
»So ein Mistvieh!« sagte Barth - und Wernher war es, als hätte er in seiner Stimme einen bewundernden Unterton herausgehört und vielleicht auch ein Lächeln. Wenn man es recht besah - es war auch zum Lachen. Und zum Weinen: Was könnte man mit diesem Kerl alles anfangen!
»Und was wollen Sie machen, Wernher?«
»Was soll ich denn machen?«
»Nichts. Einen Bericht schreiben.«
»Nach ihm fahnden?«
»Hätte das denn einen Sinn? Glaube nicht.«
»Ich auch nicht, Herr Hauptmann. Er steckt todsicher im Wald - und wie sollen wir ihn dort finden? Wir sind ja sogar außerstande, ein ganzes Bataillon Partisanen aufzuspüren, das sich im Wald versteckt. Ich gehe jede Wette ein, daß er sich dort verbirgt.«
»Die Wette würden Sie wahrscheinlich gewinnen, Wernher. Ein toller Knabe, was?«
Und so war es auch: Schwanecke war im Wald von Gorki -in dem gleichen Wald, in dem sich auch sein Todfeind Tartuchin versteckte.
Im Wald von Gorki saß Mischa Serkonowitsch Starobin vor seiner Erdhöhle, rauchte Machorka und lauschte nach unten, wo Anna Petrowna Nikitewna mit einem Topf klapperte.
Oberleutnant Denkow war vor einer Stunde bei ihnen gewesen. »In drei Tagen geht’s los, Genossen«, hatte er gesagt. »Wir werden jetzt die Deutschen endgültig wie Hunde vor uns herjagen. Wenn ihr wüßtet, was sich da hinten alles ansammelt ... zwei-, dreihundert Stalinorgeln, ein paar hundert Panzer, so viel Geschütze, wie ich sie noch nie beisammen gesehen habe -!«
Das war eine Wonne für Starobins Ohren gewesen. Das Abenteuer mit Tanja hatte er bereits vergessen - niemand sprach mehr von ihr, als wäre ihr Name tabu geworden - doch jeder wußte: So starb eine Verräterin. Wenn das Ganze vorbei war, so malte sich Starobin aus, wenn die Deutschen endgültig besiegt waren, dann wollte er endlich seine Anna Petrowna heiraten. Zugegeben, sie war nicht sehr schön, aber sie war verläßlich und auch sonst ...
In seine Gedanken und Träume versunken saß er vor dem Erdbunker und hörte und sah nicht, wie hinter ihm durch den Wald ein Mann kroch, mit heißen, glanzlosen Augen zu der Höhle und dem dick vermummten Mann starrend, über dessen Kopf blaue Rauchwölkchen aus der Pfeife kräuselten.
Schwanecke.
Hier war er richtig. Er hatte bereits eine Menge dieser Erdhöhlen gesehen, in denen Partisanen hausten, aber keine war so günstig gelegen wie diese hier. Alle anderen waren auf einem Haufen, zu zweit oder zu dritt, diese hier aber war weit und breit die einzige.
Er war in den Wald gekommen, um sich zu verbergen. Einmal würde die sowjetische Front die deutschen Linien eindrük-ken. Dann würden auch die Partisanen weiterrücken, und er konnte sich überrollen lassen und in die Gefangenschaft gehen. Bis dahin mußte er es aushalten. Er war gut bewaffnet, hatte Munition, vielleicht würde er sich so eine Erdhöhle bauen wie die Partisanen. Ernähren mußte er sich von Diebstählen und Raub, es blieb ihm nichts anderes übrig.
Der Hunger peinigte ihn. Es war schon der dritte Tag, ohne daß er etwas zwischen die Zähne bekam, und das konnte bei dieser Kälte nicht lange gutgehen. Dieser Erdbunker lag auf seinem Wege tiefer in dem Wald. Warum sollte er nicht versuchen .?
Micha Starobin drückte seinen dicken Daumen in die Pfeife, dann sog er wieder am Mundstück, nickte zufrieden - und in diesem Augenblick kam das Ende. Er fiel nach vorne in den Schnee, wollte schreien und um sich schlagen und hatte das Empfinden, irgend etwas würde seinen Körper in zwei Teile schneiden. »Oh - oh«, gurgelte er erstickt und starb.
Schwanecke hockte über ihm und blieb auf ihm sitzen, bis sich der Körper unter ihm streckte. Dann zog er das breite, lange Messer aus Starobins Rücken und untersuchte mit fliegenden Händen dessen Taschen. Ein Lederbeutel mit Machorka. Gut. Ein Blechdöschen mit grünem Tee ... und nichts zu essen! Er verharrte und horchte gegen den Eingang in die Erdhöhle, in der eine heisere Frauenstimme plötzlich zu trällern begann. Also war es noch nicht zu Ende, er mußte auch noch eine Frau töten im Bunker gab es sicher etwas Eßbares.
In diesem Augenblick betrat Pjotr Sabajew Tartuchin die kleine Lichtung.
Das Knacken eines Zweiges wirbelte Schwanecke herum.
Tartuchin!
Stumm standen sie sich gegenüber und sahen sich an.
»Ach - du bist ...« flüsterte Tartuchin.
Schwanecke grinste.
»Ich hab’ gewußt ... ich werde dich finden, und ich werde dich töten -«, sagte Tartuchin, immer noch flüsternd. »Ich hab’ gewußt ...«
»Quatsch nicht so kariert - na, mach’s schon! Versuch’s doch!« Schwanecke hatte heute keine Lust, mit dem Messer zu kämpfen. Tartuchin war zu gefährlich. Aber er mußte es wohl tun, denn das Gewehr hatte er hinter dem Erdaufwurf des Bunkers liegenlassen, um beim Überfall auf Starobin nicht behindert zu werden. Und die Pistole steckte zu tief unter der Tarnjacke. Bevor er sie hervorholte, war der andere längst über ihm. So mußte es wohl mit dem Messer sein, das er in der Hand hielt -und dabei mußte er auch noch auf die Frau aufpassen, die in der Erdhöhle steckte. Man wußte ja, wie diese Partisaninnen waren!
»Ich habe geschworen, ich habe geschworen ...« murmelte Tartuchin, und in seiner Handfläche lag plötzlich, wie hingezaubert, ein langer Dolch.
»Na, denn -!« sagte Schwanecke.
»Ich werde dich töten ...«
»Daß ihr immer soviel quasseln müßt, du gelber Affe!«
Ihre Augen waren stumpf und leblos. Tartuchin schlich gebeugt nach vorne, bis er nur noch wenige Schritte vor Schwanecke stand. Die heisere Frauenstimme im Bunker sang. Sie kümmerten sich nicht darum. Sie umkreisten einander wie zwei riesige Katzen, weich, mit geschmeidigen, gleitenden Bewegungen, und Schwanecke mußte plötzlich an einen Wildwestfilm denken, den er irgendwann gesehen hatte und wo sich ein Indianer und ein Weißer genauso umkreisten, mit Messern in den Fäusten ... Damals erschien ihm das furchtbar albern, und in Erinnerung daran mußte er grinsen.
Natürlich siegte damals der Weiße.
Wer von ihnen beiden war der Weiße?
Das Ganze war’n Riesenblödsinn, das Ganze hatte gar keinen Sinn, es war verrückt und blöde, der Film und das da und alles andere, Tartuchin und der Wald und der Bunker und der Tote auf dem Boden und die singende Frauenstimme und er selbst und daß er hier war, das Ganze war idiotisch und unwahr, was hatte er hier zu suchen?
Es war zum Lachen!
Gleichzeitig, wie auf Verabredung, schnellten sie vom Boden ab, trafen sich in der Luft und stießen mit ihren Messern zu. Eng umklammert fielen sie zu Boden, rollten übereinander, knurrend, stöhnend - sterbend.
Tartuchin starb zuerst.
Schwanecke richtete sich auf, stemmte sich mit den zitternden Armen vom Boden auf und sah auf den zuckenden Körper des anderen, seinen nach Luft schnappenden Mund und auf das gräßliche Verdrehen der Augen, so lange, bis Tartuchin tot war.
So’n Riesenblödsinn!
Warum hatte er ihn eigentlich umgebracht?
Er hatte keine großen Schmerzen, nur ‘n bißchen, er war bloß schwach, als seine Arme endlich nachgaben. Einige Se-kunden lag er auf dem Gesicht und drehte sich dann ächzend, mit zusammengebissenen Zähnen um. Er wollte nicht auf dem Gesicht sterben. Auf dem Rücken, so war’s richtig. Die Hände schön auf dem Bauch gekreuzt, so wie der Onkel nach einer Prügelei, wo er einen Stein auf den Kopf bekommen hatte. So wie es sein mußte, wenn ein Mann starb, obwohl auch das verdammt lächerlich war.
Jetzt lag er richtig.
Er hörte eine Tür schlagen und Schritte näherkommen, es war die Wohnungstür zu Hause in Hamburg, und seine Mutter kam endlich heim. Sicher war sie besoffen. Wenn sie einen Freier mitbrachte, mußte er vom Bett aufstehen und Platz machen, in die Küche gehen und warten, bis sie fertig waren. Dabei war er so verdammt müde!
Na, klar, es war die Mutter! Nein - das war eine andere Frau, die sich über ihn beugte, er hatte sie noch nie gesehen, und warum guckte sie so entsetzt? So ‘n Blödsinn! Natürlich war es Mutter - warum schrie sie bloß so verrückt? Warum schrie sie bloß? Jetzt verschwand ihr Gesicht, aber das Schreien blieb, und dann tauchte das Gesicht wieder auf und dann eine Hand mit einem blutigen Messer ... was wollte sie bloß mit dem Messer?
So ‘n Blödsinn!
Anna Petrowna schrie wie ein tödlich verletztes Tier. Sie schrie und schrie und stach mit dem Messer auf diesen fremden Mann, der ihren Micha getötet hatte und Tartuchin, und sie nun mit weit offenen, neugierigen und spöttischen Augen anstarrte, mit einem weiß-grinsenden spöttischen Gesicht, sie schrie und stach in dieses Gesicht, aber das Grinsen konnte sie nicht auslöschen, selbst dann noch nicht, als der Fremde bereits tot war und von seinem Gesicht nichts anderes mehr übriggeblieben war als eine blutige, unkenntliche Masse.
Deutschmann wurde mit einem rumänischen Lazarettzug durch Rußland und Polen nach Berlin gebracht. Er hörte nur die Namen der Stationen, die ihm die anderen Verwundeten zuriefen, er hörte die Stimmen der Rot-Kreuz-Schwestern, die an den Fenstern Kaffee und Tee verteilten, Butterbrote und Obst.
»Haste Durst?« fragte ihn hin und wieder einer der anderen, die er langsam an ihren Stimmen unterscheiden lernte. »Wülste Tee?«
Dann nickte er. Sprechen konnte er nicht. Blind, dachte er, blind ... ein Bein weg ... was soll ich noch? Er trank.
»Morgen sind wir in Berlin!«
Was sollte er in Berlin?
»Freust du dich?«
Warum sollte er sich freuen? Aber er nickte. Er sprach kaum, meistens nickte er oder stellte sich schlafend.
Was werde ich tun, wenn ich wiederhergestellt bin, grübelte er unablässig. Eine kümmerliche Rente, in einem Rollstuhl sitzen, tagaus - tagein’, ohne den Tag zu sehen und die hereinbrechende Nacht ... wenn Julia noch lebte, könnte er diktieren, denken, arbeiten, weiter, trotz allem! Nein! Könnte er ihr denn zumuten, neben einem dahinvegetierenden Krüppel zu leben?
Es war müßig, darüber nachzudenken. Sie war tot!
Tanja war tot. Schwanecke war wahrscheinlich tot. Obermeier, Bartlitz, Wiedeck, alle ... Warum mußte er noch leben?
Berlin:
Er lag in irgendeinem Reservelazarett. Wie lange schon? Die Schwestern sagten: vier Wochen. In Wahrheit mußte es viel länger sein. Vier Jahre. Vier Jahrzehnte. Die Zeit stand still, er stand mitten in ihr und konnte sie fast greifbar vor und um sich vorbeifließen sehen wie einen unendlichen Strom. Er wurde nun immer mitten in diesem Strom leben, dessen langsamer, gleichgültiger Fluß ihn wahnsinnig machte.
Heute war Donnerstag. Na, und? Was tat es, daß es Donnerstag war? Ob Donnerstag oder Freitag oder Sonntag oder Dienstag, was tat es? Es war - er hörte es - drei Uhr nachmittags. Draußen war es hell, aber nicht um ihn. Um ihn war es immer dunkel. Um drei Uhr nachmittags oder drei Uhr nachts, gleichgültig wann es war. Er hatte die Dunkelheit und seine Gedanken und Erinnerungen - oh, hätte er sie nicht!
Er hörte, wie die Tür aufging. Sie quietschte ein wenig. Wer war eigentlich ins Zimmer gekommen? Schwester Erna? Dr. Bolz - oder der alte Freund Wissek, der schon am andern Tag kam, nachdem Deutschmann hierhergebracht worden war?
Er lauschte. Kein Schritt war zu hören, auch nicht das Klappern von Instrumenten oder Gläsern, wie es bei Schwester Erna immer der Fall war, kein rauh-gutmütiges »Grüß Gott, wie geht’s unserem Kranken?« wie Oberschwester Hyazintha - ein komischer Name - immer sagte, wenn sie das Zimmer betrat.
Stille.
»Wer ist da?« fragte er. »Ist jemand hier?«
An der Tür standen Dr. Wissek, Dr. Kukill - und Julia. Sie rührten sich nicht. Wie erstarrt sahen sie auf den bleichen, schmalen Mann in dem flachen Bett, mit dem dick verbundenen Kopf und dem kaum sichtbaren, blutleeren Mund über dem spitzen Kinn. Lange, schmale, totenbleiche Hände, deren Finger plötzlich Leben gewannen und wie suchend über die Decke tasteten ...
Dr. Kukill senkte den Kopf. Blind ... ein Krüppel, dachte er, sie - sie hat ihn wieder - einen blinden Krüppel ... mein Gott! Aber sie hat ihn wieder, nur wie, nur wie! Er drehte sich um und ging langsam, schlurfend, mit gebeugtem Rücken weg. Hier hatte er nichts mehr zu suchen. Aus. Endgültig aus. Er hatte Julias Augen und Gesicht gesehen, als sie auf den Mann im Bett blickte, und ganz klar und deutlich gefühlt, daß er überflüssig war.
»Wer ist da?« fragte Deutschmann wieder, mit einer ängstlichen, ahnungsvollen Stimme.
»Ich - ich -«, flüsterte Julia und stützte sich auf den Türpfosten. »Ich bin’s, Ernst, ich bin’s ...!«:
Nun ging auch Dr. Wissek. Leise schloß er die Tür hinter sich, horchte - und hörte langsame und dann plötzlich sehr, sehr schnelle Schritte zu Deutschmanns Bett laufen.
Er lächelte.
Was stand diesen beiden Menschen bevor? Welches Leben? Konnte es nicht über ihre Kräfte gehen? Würden sie so stark sein, die Schrecken der Gegenwart, jeder Stunde, jeder Minute, immer wieder zu besiegen? Und die Schrecken der Vergangenheit? Und doch ... Welch ungeheure Opfer würde die Zukunft von ihnen verlangen - besonders von Julia! Und doch ...
Sie lebten. Wie leichtfertig war es zu sagen: Besser wäre es, wenn er stürbe. War nicht das Leben das Wichtigste, das es auf der Welt geben konnte? Konnte die Liebe nicht alles das überwinden, was zu überwinden fast unmöglich schien?
Ja. War sie nur stark und groß genug, war sie nur bereit zu geben, immer wieder zu geben und jede kleine Gegengabe als ein Geschenk zu betrachten. Dann ja.
Auch Dr. Wissek hatte in Julias Augen geblickt, bevor er sie verließ. Und in ihnen hatte er diese Liebe gesehen.
An einem der grauen, trostlosen Wintertage stand Hauptmann Barth vor Krülls Bett im Kriegslazarett in Orscha. In seiner Hand wog er einen kleinen Pappkarton mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse und den dazugehörigen Urkunden - blanko unterschrieben, mit dem später eingesetzten Namen Oberfeldwebel Krülls. Ein junger Leutnant, frisch von der Kriegsschule - Barths neuer Adjutant -, stand etwas verlegen hinter dem Hauptmann und sah respektvoll auf den Oberfeldwebel, der sich fein gemacht hatte und mit zugeknöpfter Uniformjacke, zitternden Backen und steil aufgerichtetem Körper in seinem Bett saß.
Viele bleiche, abgezehrte, ernste und grinsende Gesichter blickten von den anderen Betten herüber.
»Sie sind der Letzte der zweiten Kompanie«, sagte Hauptmann Barth - und es klang so, als wäre dies ein Vorwurf. Aber Krüll überhörte es. Sein Blick hing wie gebannt an dem Pappkarton, um ihn lag ein herrlicher, rosiger Nebel, durch den Barths Stimme nur leise, wie von ferne drang.
EK I!
»Für diesen Einsatz bekam die Kompanie das EK I«, fuhr Barth fort, »und nun muß ich es wohl verleihen. Sagen Sie, wie haben Sie das eigentlich gemacht?«
Krüll fuhr zusammen. »Was - was, Herr Hauptmann?« stammelte er.
»Na, daß Sie zurückkamen?«
»War er denn überhaupt fort?« fragte eine Stimme aus dem Hintergrund, und einige Verwundete kicherten unterdrückt.
»Ich hatte Glück, Herr Hauptmann«, sagte Krüll, »ich habe -«, er suchte nach einem richtigen, erhebenden Wort, »- ich habe einfach meine Pflicht erfüllt und bin dann eben zurückgekommen, nach dem erfüllten Auftrag. Es war bestimmt nicht leicht, Herr Hauptmann, die Russen haben nur so auf mich .«
Barth winkte ungeduldig ab. Ihn ekelte. Er starrte auf die Auszeichnung und dann auf die leere Uniformjacke des Oberfeldwebels mit dem einsamen Sportabzeichen auf der linken Seite. »Also«, sagte er schließlich, »ich verleihe Ihnen hiermit das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse -«, er griff in den Karton und steckte das Kreuz an Krülls Jacke, »- für die Tapferkeit vor dem Feind, als dem letzten Mann der zweiten Kom-panie ...« Dann setzte er ganz leise und mehr spöttisch, immer noch über den zitternden Oberfeldwebel gebeugt, hinzu: »Sie -Held -!«
Dann richtete er sich brüsk auf und sagte zu dem erstaunten, verlegenen Leutnant, ohne sich um die Verwundeten zu kümmern, die ihn stumm ansahen:
»Versuchen Sie, ein Gespräch mit der Stammersatzabteilung in Posen zu bekommen. Und bestellen Sie, man soll mir Leute für eine neue zweite Kompanie schicken. Wir haben ja genug davon ...«