Kapitel 7

Acht Tage nach der Ankunft des Strafbataillons kam auch das Lazarett in Orscha an. Jakob Kronenberg bildete mit vier Mann die Vorausabteilung und begab sich in Orscha auf die Suche nach Ernst Deutschmann, bis er erfuhr, daß dieser mit der 2. Kompanie bei Gorki lag. Hauptmann Barth, bei dem er sich meldete, versetzte ihm gleich einen Schreck, als er sagte: »Gut, daß die Medizinmänner da sind! Das Lazarett kommt nach Barssdowka am Dnjepr. Dort kann es vom ganzen Bataillonsbereich die Verwundeten aufnehmen. Bisher hatten wir siebzehn Tote und sechsunddreißig Verwundete.«

Der Sanitäter verließ den Bataillonsgefechtsstand in ziemlich düsterer Stimmung. Die Begrüßung mit der Nachricht, daß für das Lazarett des Bataillons eine sehr windige Ecke ausgesucht worden war, empfand er beunruhigend. Er hatte zwar etwas Ähnliches erwartet - dafür war es ja auch ein Strafbataillon -aber wie üblich, hatte auch er ein unbehagliches Gefühl im Magen, nachdem er sich vor vollendete Tatsachen gestellt sah. Er meldete seine Bedenken auch gleich dem Stabsarzt Dr. Bergen weiter, als er frühmorgens mit einem behelfsmäßigen Lazarettzug in Orscha eintraf und auf die versprochenen Lastwagen wartete, die die Medikamente, die Betten und die sonstige Lazarettausrüstung transportieren sollten.

Dr. Bergen hatte einen Assistenten bekommen, einen jungen Unterarzt. Er war Chirurg, hatte keinerlei Fronterfahrung und war bisher Assistent in einem Warschauer Reservelazarett gewesen. Er sah unscheinbar aus, schmalbrüstig, zartgliedrig, fast mädchenhaft. Die langen Wimpern und sein schüchternes Wesen verstärkten noch den Eindruck der Hilflosigkeit, den er auf Dr. Bergen machte. Fast unmerkbar hatte er sich in den Lazarettbetrieb eingelebt. Nur einmal war er aus seiner grauen Anonymität hervorgetreten. Während der Fahrt zur Front hatten sie einen Tag Aufenthalt in Borissow. An einer Straßenkreuzung der Rollbahn erlebten sie einen Unfall: Ein Muniwagen war mit einem kleinen Kübelwagen zusammengeprallt. Aus dem Schrotthaufen hatte man einen jungen Leutnant gezerrt, dessen linkes Bein oberhalb des Knies nur noch an ein paar Fetzen hing. Aus der zerrissenen Schlagader schoß in rhythmischen Schlägen das Blut. Noch auf der Straße, neben dem Trümmerhaufen des Kübelwagens, hatte der Unterarzt das Bein amputiert. Seit diesem Tag empfand Dr. Bergen eine stille Hochachtung für den unscheinbaren jungen Mann.

Jakob Kronenberg kam von der Suche nach den Lastwagen zum Bahnhof von Orscha zurück. Der behelfsmäßige Lazarettzug stand noch immer auf einem Nebengleis. Unterarzt Dr. Hansen hatte in einem Viehwagen eine Ambulanz eingerichtet und behandelte einige Unfälle, die sich auf dem Bahngelände ereignet hatten. Stabsarzt Dr. Bergen dagegen suchte bei der Bahnverwaltung den verantwortlichen Transportoffizier. Er hatte sich vorgenommen, entgegen seiner sonst ruhigen Art, energisch nach dem Rechten zu sehen. Schließlich war man jetzt an der Front ...

»Haben Sie die Wagen?« fragte Dr. Hansen. Er verband eine gequetschte Hand und sah während der Arbeit zu Kronenberg hinab, der neben den Geleisen stand und trotz seines offenen Pelzes schwitzte.

»Sie kommen bei Einbruch der Dunkelheit, Herr Unterarzt. Der Kommandeur sagt, bei Tage sei es unmöglich, durch die paar Kilometer zu fahren, die der Iwan einsieht - auch mit dem Roten Kreuz nicht. Die schießen auf alles. was sich über den Schnee bewegt.« Kronenberg setzte sich auf eine leere Tonne und wischte sich über das Gesicht. »Drecknest!« sagte er voller Verachtung.

Über die zarten, mädchenhaften Züge des Unterarztes glitt ein Lächeln. »Und ich dachte, Sie würden sich wohl fühlen, wenn wir in Rußland sind, Kronenberg?«

»Wieso?«

»Sie sind doch - was man ein altes Frontschwein nennt. Wie oft waren Sie in Rußland?«

»Jetzt bin ich zum viertenmal hier.«

»Es heißt doch, daß sich der deutsche Landser, der einmal an der Front war, in der Etappe nicht wohl fühlt. Sobald er dann die HKL wittert, wird er lebendig und blüht auf. Ein moderner Landsknecht. Stimmt das?«

Jakob Kronenberg steckte sich eine Zigarette an. Er sah dem Soldaten eines Baubataillons nach, der mit seiner verbundenen Hand über die Geleise trottete und zurück zu den Kolonnen ging, die die durch Granaten zerfetzten Schienen auswechselten und Weichen reparierten.

»Weiß nicht«, sagte er. »Vor dem Gedanken, wieder nach

Rußland zu kommen, hat jeder einen Bammel. Aber wenn man dann wieder hier ist, dann denkt man doch irgendwie, wieder zu Hause zu sein. Klingt blöd, was? Rußland und zu Hause?«

»Warum nicht?«

»Na ja - dieses trostlose Land und dann die Menschen, die am Tage unsere Munition auf die Lastwagen schleppen und in der Nacht dieselben Wagen in die Luft jagen?«

»Aber alle können doch nicht Partisanen sein!«

»Alle nicht, aber ne Menge. Mehr als wir denken.« Kronenberg behielt beim Sprechen die Zigarette im Mund.

»Wir kommen nach Barssdowka«, sagte der Kommandeur, »das Nest liegt am Dnjepr, das armseligste Kaff im Mittelabschnitt, das man sich vorstellen kann!« Er schnippte die Zigarettenkippe weg und erhob sich von seiner Tonne. Der scharfe Schneewind zog in einem langen Stoß über die Ebene. Er knöpfte seinen Lammpelz zu. »Sie kommen aus Warschau, Herr Unterarzt. Sie wissen noch nicht, was es heißt ... na ja, Sie werden’s ja merken! Unsere Leute kommen mir vor wie Tontauben, mit denen die Russen schießen lernen. Es wird ‘ne Menge Arbeit geben.«

»Aber wir schießen ja auch, Kronenberg, oder?«

Kronenberg sah den Unterarzt verwundert an. »Na ja, sicher«, sagte er, »dafür ist eben Krieg. Wir wollen die Bolschewiken vernichten, und die Bolschewiken wollen die Nationalsozialisten vernichten, und beide behaupten, sie hätten recht ...«

»Und wer hat recht?«

Kronenberg spuckte aus und sagte abschließend: »Wir natürlich, Herr Unterarzt, wer denn sonst?«

Stabsarzt Dr. Bergen kletterte über einen Haufen Schienen und stapfte zu dem Lazarettzug zurück. Dr. Hansen sprang aus seinem Waggon und ging ihm entgegen.

»Haben Sie etwas erreicht, Herr Stabsarzt?«

Dr. Bergen nickte grimmig. »Ich habe festgestellt, daß wir hier eine mustergültige, fast friedensmäßige Verwaltung haben. Ich meine insofern, daß nämlich niemand zuständig ist. Ein Haufen Offiziere, ein Haufen Dienststellen ...« Dr. Bergen winkte mit einer müden Handbewegung ab.

»Hauptmann Barth hat Lastwagen für die Nacht versprochen.« Dr. Hansen zog den Ohrenschützer herunter. »Ein scharfer Wind«, sagte er. »Wenn alles gut geht, sind wir übermorgen in Barssdowka aufnahmebereit.«

Sie warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit. Als der fahle Himmel grau wurde und schließlich stumpf-schwarz, klapperten ein paar Lastwagen über das Bahngelände und hielten vor dem Lazarettzug. Ein Oberfeldwebel meldete sich beim Stabsarzt.

Dr. Bergen betrachtete die alten Beutewagen. »Mit diesen Wracks wollen Sie fahren?«

»Warum nicht? Mit den Klapperkästen haben wir schon ganz andere Sachen transportiert!«

Kronenberg nahm den Oberfeldwebel zur Seite:

»Er ist zum erstenmal in Rußland. Halt die Schnauze und mach, was du für richtig hältst. Am Ende wundert er sich, wie gut wir in Barssdowka landen.«

»Wenn sie uns nicht erwischen!«

»Partisanen?«

»Genau. Bei Gorki ist die Hölle los!« Der Oberfeldwebel winkte die Lastwagen zu einer Rampe, auf der jetzt Kisten mit dem Verbandsmaterial, den Medikamenten, den chirurgischen Bestecken und die zusammenklappbaren Betten aufgestapelt wurden. »Wie lange wollt ihr denn in Barssdowka bleiben?«

»Bis zum Endsieg«, grinste Kronenberg.

In Barssdowka erwarteten sie der Hilfssani Ernst Deutschmann und einige Männer der 2. Kompanie. Die Straße durch das zerschossene Dorf war vom Schnee reingefegt, die Telefonleitungen waren schon gelegt, eine große Scheune und ein zusammengeflicktes Bauernhaus waren ausgeräumt worden und dienten als Lazaretträume. Als die kleine Kolonne aus der Nacht ins Dorf fuhr und knatternd an den ersten zerstörten Häusern vorbei schaukelte, tauchte vor dem ersten Wagen ein kleiner, breitschultriger, krummbeiniger Russe auf und winkte fröhlich grinsend herauf. Er rannte vor der Kolonne her und wies ihr den Weg zu Deutschmann, der mit Handlampen und Batteriescheinwerfern die Scheune einigermaßen beleuchtet hatte.

Kronenberg kletterte durchgefroren aus seinem Wagen und machte einige Kniebeugen, um die steifen Glieder wieder zu durchbluten. Der kleine Russe hob freundlich die Hand.

»Guten Abend«, sagte er.

Kronenberg nickte. »Komm mal her, du krummer Hund! Du bist hier Hiwi?«

»Da.«

»Dann geh mal da hinten zu dem Herrn Stabsarzt und hilf abladen! Verstanden?«

»Da.«

»Hau ab!«

Lächelnd entfernte sich Pjotr Tartuchin und stapfte in seinen dicken Fellstiefeln hinüber zu Dr. Bergen, der die Wagen nahe an die Scheune dirigierte.

Die Begrüßung zwischen Deutschmann und Kronenberg war kurz. Sie klopften sich auf die Schultern und lachten sich an. Deutschmann hatte sich seit zwei Tagen nicht rasiert, sein stoppeliges Gesicht war eisverkrustet und von der Kälte gerötet.

»Wieder einmal umgekippt?« fragte Kronenberg fast ein wenig besorgt. Er griff in seinen zottigen Pelzmantel und holte die obligate Flasche Schnaps heraus.

»Nein. Die russische Luft scheint mir gut zu bekommen.«

»Das kommt davon, weil sie voll von Vitamin E ist«, grinste Kronenberg.

»Wieso?«

»Eisen«, sagte Kronenberg. Beide lachten und tranken.

»Und Krüll, der Schweinehund?«

»Kriecht kaum aus seinem Bau heraus. Alle warten darauf, daß er sich einmal in die Hosen macht.«

»Und die anderen? Bartlitz, Schwanecke, Wiedeck?«

»Bartlitz ist perfekter Koch geworden und die anderen - sie halten die Schinderei mit Schanzen besser aus, als man gedacht hatte.«

»Obermeier?«

»Ein toller Kerl!« sagte Deutschmann begeistert. »Immer vorne an der Straße beim Schanzen. Immer hat er Schnaps und verteilt ihn, obwohl das verboten ist. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ihm einmal etwas zustößt .«

Auf der dunklen Straße brüllte Dr. Bergen nach Kronenberg. Der Sanitäter wies mit dem Daumen in die Richtung aus der das Gebrüll herüberscholl, grinste spöttisch und trank schnell noch einen Schluck Schnaps: »Da hörst du’s selber. Wenn ich nicht da bin, ist der Alte hilflos wie ein Säugling!«

Dr. Bergen stand vor einer Kiste, die Tartuchin hatte hinfallen lassen.

»Schwerr!« sagte der kleine Mongole und hob die Schultern bedauernd hoch. Aus seinen Augenspalten betrachtete er die Verbandspäckchen, die aus der geplatzten Kiste in den Schnee gerollt waren. Verbände, Watte, Zellstoff ... und weiß der Teufel, was alles in den anderen Kisten war ... Lauter Sachen, die sie im Wald von Gorki gebrauchen könnten. Dort verbanden sie sich mit alten Hemdfetzen und schrien in ihren Erdhöhlen vor Schmerz und Wundfieber.

Kronenberg erschien bei der Gruppe und jagte Tartuchin weg. »Hau ab, das ist nichts für dich!« sagte er laut. Und zu den anderen: »Die Kisten in das Bauernhaus, die Betten und Strohsäcke in die Scheune. Paßt auf beim zweiten Wagen, da ist Glas drin!«

Unter dem Licht der Taschenlampe wurden die Transporter entladen. In dem Bauernhaus wurde ein behelfsmäßiger Operationsraum eingerichtet. Dr. Hansen stellte selbst den zusammenklappbaren Operationstisch auf, half beim Zusammensetzen eines Instrumentenschrankes und richtete das Zimmer so ein, daß leichte und mittlere Operationen vorgenommen werden konnten. An einer Schwebeleitung wurde unter der Decke eine große Lampe montiert, deren Schein den Operationstisch in blendendes Licht hüllte. Die beiden Fenster des Raumes mußten deshalb mit je zwei Decken verdunkelt werden, damit der Lichtschein nicht nach draußen fiel und die leichten russischen Bomber, die »Nähmaschinen«, anlockte.

Auf der Straße von Gorki her nahte ein helles Brummen, als die Wagen bereits abgeladen und die Soldaten mit der Inneneinrichtung fast fertig waren. Kronenberg, der mit Deutschmann und Tartuchin vor dem Eingang der Scheune stand, steckte sich in der hohlen Hand eine Zigarette an.

»Was ist das? Ein Schlitten?«

Deutschmann nickte. »Von der zweiten Kompanie. Holz, damit man hier Schränke und Tragen zimmern kann.«

Aus der Nacht schälten sich die Umrisse eines großen Motorschlittens. Wie eine riesige Spinne kroch er durch den Schnee, machte einen Bogen um die Lastwagen und hielt kreischend vor der Scheune. Aus dem geschlossenen Führerhaus sprang eine vermummte Gestalt, eine Maschinenpistole in der Hand. Sie schwenkte sie durch die Luft und rannte auf Kronenberg zu.

»Altes Rindvieh!« schrie sie.

Kronenberg lachte breit. »Mensch, Schwanecke, lebst du noch?«

»Mich bringt keiner so bald um!« grinste Schwanecke.

Tartuchin stand abseits, an die Scheunenwand gelehnt. Durch seinen Körper liefen lange Schauer. Sein breites gelbes Gesicht erschien plötzlich tot und unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt. Seine zerschossene linke Hand verbarg er im weiten Pelzärmel seines Mantels. Die Zähne hatte er zusammengebissen, daß ihm die Kiefer wehtaten. Aber er spürte es nicht. In diesen Augenblicken hätte man ihn in Stücke schneiden können, ohne daß er etwas gespürt hätte.

Schwanecke heißt er, überlegte Tartuchin. Langsam schloß er die kleinen schwarzen Augen. Heilige Mutter von Kasan, dachte er, es ist wie ein heißer Wind, der mir den Atem nimmt! Ich darf es nicht zeigen, ich darf es nicht zeigen! Ich werde erst wieder atmen und leben können, wenn er tot ist. Er ist ein großer, hungriger Wolf. Ich weiß: Wenn ich ihn töte, wird Rußland weiterleben. Seine Gedanken waren wie trunken, er fühlte seine Knie zittern, und er fürchtete, daß sein grenzenloser Haß - warum haßte er ihn eigentlich so furchtbar, war es nur wegen der Wunde an der Hand oder war es etwas anderes? - aus seinen Augen leuchten würde, wenn er sie aufmachte.

Ein Fausthieb in seinen Magen schreckte ihn auf. Schwanek-ke stand vor ihm, ganz nah, das unrasierte Gesicht im Widerschein einer Taschenlampe, die Kronenberg hielt. Tartuchin sah: ein wildes, erbarmungsloses, brutales Gesicht. Das Gesicht der Vernichtung. Kleine, stechende Augen, in denen sich Tartuchin wiederzufinden glaubte, und ein breites weißes Grinsen ohne Fröhlichkeit. Tartuchin atmete schnell. Er mußte sich mit der ganzen Kraft, deren er fähig war, zusammennehmen, um nicht vorzuspringen und Schwaneckes kurzen Hals zu würgen, bis dieses Grinsen in dem Gesicht des Mannes vor ihm zu einem Grinsen des Todes wurde. Seine Finger spreizten sich auseinander und zogen sich wieder zusammen.

»Hör mal zu, du gelber Affe!« sagte Schwanecke. »Geh zum Schlitten und lade das Holz ab. Los, mach weiter!« Er packte Tartuchin am Pelzkragen, riß ihn von der Scheunenwand und trat ihm ins Gesäß. Mit einem Satz flog der Mongole über die Straße und stürzte auf den Schlitten zu. Geschmeidig, katzengleich fing er sich auf und ging dann schnell, wortlos, mit halbgeschlossenen Augen zu der Ladefläche des Schlittens. Er dachte: Ich werde ihn kriegen.

Ich werde kein Mensch mehr sein oder gerade ein Mensch, wenn ich ihn kriege. Wenn es einen Gott gibt, wird er mir verzeihen. Das waren die schlimmsten Stunden in Tartuchins Leben.

Schwanecke lachte breit, als der Mongole über die Straße schoß. Kronenberg knipste die Taschenlampe aus.

»Der wird nie dein Freund sein!« meinte er trocken.

»Wer ist schon mein Freund?« Schwanecke entkorkte die Flasche Schnaps, die der Sanitäter aus dem Mantel zog, und nahm einen tiefen Schluck. »Woher kommt er eigentlich?« Er betrachtete Tartuchin, der vom Schlitten die Bretter ablud und in den Schnee warf. Sein feiner Instinkt witterte die Feindschaft und den Haß, die der kleine Mongole ausstrahlte. Deutschmann schüttelte den Kopf.

»Ein Hiwi, wie alle anderen. Er hat sich überrollen lassen, wohnt hier in einer alten Hütte, schimpft auf Stalin und die Sowjets genauso wie auf uns und träumt von einem vollen Topf Kapusta. Er weiß nicht, warum er auf der Welt ist, alle treten ihn in den Hintern - genauso wie du.«

»Na, du mußt es ja wissen, du bist ein alter Soldat, was?« spottete Schwanecke. »Übrigens muß ich dich nachher mitnehmen. Bei uns ist allerhand los, Doktorchen.«

»Wann?« fragte Deutschmann.

»Tagsüber geht’s nicht. Da kommen wir nicht durch.«

Schwanecke meldete sich bei Dr. Bergen und Dr. Hansen und half mit, das Lazarett einzurichten. Der Morgen dämmerte fahl im Osten herauf, die Wipfel der Bäume wurden heller und schälten sich aus dem Schwarz der Nacht heraus. Am Tage war es ganz unmöglich, nach Gorki zurückzufahren; eine Strecke von sieben Kilometern wurde eingesehen und lag unter ständigem Feindbeschuß, sobald sich etwas über das weite Schneefeld bewegte. Die russische Artillerie war gut eingeschossen. So blieb Schwanecke den ganzen Tag über im neuen Lazarett, trieb sich mit Kronenberg im zerschossenen Dorf herum, untersuchte die Bauernhäuser nach Dingen, die er brauchen könnte -und kam auch zu der kleinen Klitsche, die Tartuchin bewohnte.

Es war eine dicke Blockhütte mit einer Scheune und einem Ziehbrunnen, dessen Hebebalken halb verfault war. Mit dem Stiefel trat Schwanecke die Tür ein - und sah sich plötzlich Tartuchin gegenüber, der zusammengekauert neben dem Ofen saß und eine Zigarette rauchte. Er rührte sich nicht, als Schwanecke in den niedrigen Raum polterte, dessen Decke er fast mit seiner Pelzmütze berührte. Es war, als hätte der Mongole den Deutschen erwartet. Mit glitzernden Augen sah er ihm entgegen, als er mitten im Raum stehenblieb.

»Machorka?« fragte Schwanecke.

»Da.«

»Mit Prawda?«

»Njet, nix Prawda. Das hier deutsche Zeitung. Prawda bes-sär.«

Schwanecke schlug die Tür mit dem Stiefelabsatz zu, ohne den Blick von Tartuchin zu lassen. »Deutsche Zeitung nix gut, was? Deutsch überhaupt nix gut, was? Deutsche treten euch in den Hintern, was?«

Tartuchin hob die Hand und lächelte, und es war, als ob aus seinem Lächeln das Geheimnis Asiens Schwanecke angeweht hätte. Er spürte es kalt um sein Herz werden. Der grinst noch, dachte er, der grinst noch, obwohl ich ihn in den Hintern getreten habe! Wie kann er das? Und dann sah er aus Tartuchins Augen plötzlich den tödlichen Haß strahlen: Es war nicht nur der Haß eines russischen Soldaten gegen einen deutschen. Es war nicht nur der Haß eines getretenen Menschen, der seine Heimat liebte, gegen den Mann, der einer Armee angehörte, die sein Land überfallen hatte. Es war vor allem ein ganz persönlicher Haß. Ein tödlicher, unbarmherziger Haß, der nicht eher gelöscht sein würde, bis er, dieser gelbe Mongole, oder er, Schwanecke ...

Schwanecke trat unwillkürlich einen Schritt zurück, winkelte die Arme an und beugte sich vor, als ob er zum Sprung ansetzte.

»Du verstehst?« fragte Tartuchin.

»Ja«, sagte Schwanecke.

Schweigen.

»Na los!« zischte Schwanecke. »Ich weiß, was du willst.«

»Nicht so, njet«, sagte Tartuchin. »Jetzt - du wirst mich töten.«

»Stimmt, ich werde es tun«, sagte Schwanecke.

Tartuchin lächelte. Sein Gesicht bewahrte sein Lächeln auch später, es wich nicht von ihm, als wäre es in seine Züge gemeißelt worden wie in die Züge alter chinesischer Götzen. »Warum, Briderrchen?« fragte er leise. »Ich bin arm, ich bin müde, ich bin nichts .«

»Das stimmt! Du bist arm, du bist müde, du bist ein Dreck, aber du bist nicht ein Nichts.«

Tartuchin erhob sich von seiner Ofenbank. Mit kleinen, fast trippelnden Schritten ging er durch das Zimmer. Schwanecke senkte seine Maschinenpistole. Jetzt, dachte er, jetzt kann ich ihn umlegen. Wenn mich jemand fragt, kann ich sagen, daß er mich angreifen wollte.

Er sprang von der Ofenbank und stürzte sich auf mich, es war Notwehr, aber es wird keiner fragen, niemand wird’s wissen. Einer weniger, einer von den verfluchten Partisanen, ich weiß ganz genau: Er ist einer! Man wird sagen: Gut so, Schwanecke! Sie bewähren sich gut, Schwanecke! Legen Sie noch mehr von diesen Hunden um, Schwanecke!

Tartuchin war an den Tisch getreten und hielt einen Tabaksbeutel in der Hand. Er reichte ihn Schwanecke. »Warum schießt du nicht?« fragte er.

Schwanecke schwieg.

»Tabak?« fragte Tartuchin.

»Gib her!«

Bedächtig, ohne den Mongolen aus den Augen zu lassen, rollte sich Schwanecke eine Zigarette. Er leckte das Zeitungspapier an, franste es mit den Zähnen aus und klebte es zusammen. Dann warf er den Beutel zu Tartuchin und wartete, bis auch er sich eine neue Zigarette gerollt hatte. Zwischen ihnen stand der Tisch und wirkte wie eine Barrikade.

Sie rauchten.

In der schmutzigen, dunklen Hütte breitete sich Schweigen aus. Trockener, beißender Rauch und der Geruch nach verbranntem Zeitungspapier zog durch den Raum. Warum schieße ich nicht, verflucht, warum schieße ich nicht? - dachte Schwanecke. Wenn ich’s jetzt nicht tue, dann wird er es eines Tages tun. und er sieht aus, als ob er treffen könnte. Sicher trifft er immer. Warum schieße ich nicht auf den Hundesohn?

Doch: Obwohl Schwanecke wußte, daß der Mann gegenüber sein Todfeind war, zu dem es keinen anderen Berührungspunkt gab als den Kampf bis zur Vernichtung des einen oder des anderen - oder beider, obwohl er wußte, daß er von nun an keine ruhige Minute mehr haben würde - in dieser Gegend -, solange dieser kleine, breitschultrige, schlitzäugige Mongole lebte, schoß er nicht. Etwas Unerklärliches und ihm Unverständliches hielt ihn davon ab. War es Tartuchins Gleichgültigkeit oder nur scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, die ihn. Schwanecke, hinderte, den Finger am Abzugshebel zu krümmen und eine kurze Garbe in den anderen hineinzujagen? War es der Fatalismus, den Tartuchin ausstrahlte, sein ergebener Gleichmut, die in sich selbst versunkene Ruhe, mit der er vor ihm stand und gleichmütig die nächste Minute erwartete, die ihn vielleicht tot oder sterbend sehen würde? Schwanecke schoß nicht, obwohl es für ihn leicht gewesen wäre, den Mongolen zu töten. Und plötzlich merkte er, wie die Hand, mit der er die Zigarette hielt, zitterte. Wütend über sich selbst und über seine Ohnmacht, über die unerklärliche Lähmung, die ihn befallen hatte, wütend über seine zitternde Hand, drückte er die Zigarette zusammen und warf die Mischung von Papier und glühendem Machorka mit einem funkensprühenden Schwung in die Ofenecke.

»Geh!« sagte er dann hart zu Tartuchin.

»Gehen? - Wohin?« In Tartuchins leblosen Augen glomm es auf.

»Wie soll ich das wissen? Verschwinde, woher du gekommen bist, zu den Deinen .«

»Meinen?«

»Stell dich nicht dumm!« sagte Schwanecke böse. »Glaubst du, ich weiß nicht, wer du bist und wohin du gehörst?«

»Du weißt!« sagte Tartuchin bestätigend. »Und warum du mich nicht tötest?«

»Ich tu’s, bei Gott, ich tu’s! Aber nicht hier!«

Blitzschnell griff Schwanecke über den Tisch, packte Tartuchin an der Brust, zog ihn mit übermenschlicher Kraft über den Tisch zu sich und schleuderte ihn gegen die Tür. »Geh!« schrie er, »hörst du? Wir treffen uns wieder, hau ab!«

Der Mongole fiel auf den Lehmboden neben der Tür. Stumm erhob er sich, ohne zu dem anderen zurückzuschauen, öffnete die Bohlentür und trat hinaus in den Schnee. Kälte wehte in den Raum und ergriff Schwanecke, der bleich am Tisch lehnte. Er sah noch, wie sich Tartuchin Schneeschuhe an die Pelzstiefel schnallte - breite, geflochtene, fast kreisrunde Treter, wie sie die Mongolen Innerasiens tragen, wenn der Schneesturm über den Himalaja und den Pamir heult und die Steppen zu einem eisigen Meer werden. Dann hörte er die knirschenden Tritte, die sich schnell entfernten.

Kronenberg war es, der Schwanecke wie aus einem Traum weckte. Polternd kam er in die Blockhütte, einen Sack Kartoffeln nach sich ziehend, den er in einem der Bauernhäuser unter Stroh versteckt gefunden hatte.

»Mensch, Karl, was is’n los?« rief er. Schwanecke schreckte empor und starrte Kronenberg abwesend an. »Was hast du mit dem Iwan gemacht? Der Kerl läuft wie’n Mondsüchtiger an mir vorbei, gibt keine Antwort und zockelt über die Steppe, als wollte er zu Fuß nach Moskau.« Er legte den Sack neben die Tür und kam in den niedrigen Raum. Der Geruch der Machorkazigaretten lag noch in der Hütte, beißend, streng, zum Husten reizend. Kronenberg schnupperte. »Geraucht habt ihr auch? Friedenspfeifchen, was?«

Schwanecke stieß sich vom Tisch ab, ging wortlos an Kronenberg vorbei, trat den Kartoffel sack, der den Eingang versperrte, zur Seite und stand dann in der kalten, niedrigen Nachmittagssonne. Der Schnee blendete. Wenn man die Augen schloß und die Lider nur einen kleinen Spalt öffnete und durch die Wimpern über den Schnee blickte, schimmerte er fast blau. Im Dorf wurden die Lastwagen hinter die Scheunen gefahren, über das Schneefeld außerhalb des Dorfes kam ein kleiner, geheizter Motorschlitten gefegt. Wahrscheinlich Verwundete für das neue Lazarett.

Kronenberg schleifte seinen Kartoffelsack hinter sich durch den Schnee und versuchte keuchend, Schwanecke auf den Fersen zu bleiben. »Was ist denn los mit dir?« fragte er. »Hast du die melancholische Tour?«

Ohne sich umzudrehen, stieß Schwanecke zwischen den Zähnen die zur damaligen Zeit häufigste Redensart aus, verlängerte seine Schritte und verschwand hinter einer Kate.

»Der wird nie ein feiner Mann«, sagte Kronenberg seufzend und wischte sich über die Stirn. »Auch nicht, wenn er klassische Dichter zitiert .«

Im Lazarett stand Dr. Hansen am Operationstisch.

Deutschmann assistierte ihm. Sie arbeiteten schweigend, schnell, als wären sie bereits jahrelang aufeinander eingespielt. Nachdem der letzte Verwundete »aufgearbeitet« war, wie es in der Sprache der Kriegsärzte hieß - eine tiefe Oberschenkelwunde mit einem zackigen Granatwerfersplitter knapp neben dem Knochen -, machten sie eine Zigarettenpause. Mit ausgestreckten Beinen und zusammengesunkenen Oberkörpern saßen sie eine ganze Weile schweigend auf zwei Kisten und pafften die Tabakwölkchen vor sich hin.

Dr. Hansen nahm ein paarmal Anlauf, um den älteren, stillen Mann mit dem schmalen, bleichen Gesicht etwas zu fragen, aber seine angeborene Schüchternheit ließ ihn nicht sprechen.

»Es gibt doch etwas, was Sie wissen möchten, Herr Unterarzt?« half ihm Deutschmann endlich lächelnd.

»Ja - allerdings - Sie sind doch .«

»Arzt«, sagte Deutschmann trocken.

»Ja. Und - wie - wie kommen Sie eigentlich hierher?«

»Befehlen Sie mir zu antworten?« fragte Deutschmann.

»Nein - natürlich nicht«, sagte Dr. Hansen verwirrt.

»Dann lassen wir es dabei, daß ich eben hier bin. Herr Unterarzt.«

Sie schwiegen.

»Und jetzt sind Sie - Hilfssani ...«, sagte Dr. Hansen

schließlich.

»Ja.«

»Wenn Sie wollen - ich meine, es wäre bestimmt am besten für uns, für das Lazarett - könnte ich mit Dr. Bergen sprechen und Sie anfordern ... Wir haben ganz wunderbar zusammengearbeitet ... Was meinen Sie?« sprach Dr. Hansen eifrig und sah dabei Deutschmann fast bittend an. »Sie könnten hier bestimmt mehr leisten als dort vorne ... Ich würde mich sehr freuen .«

»Ich danke Ihnen«, sagte Deutschmann langsam. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich bleibe, wo ich bin. Seien Sie mir nicht böse. Ich bin kein Chirurg, Kronenberg ist bestimmt anstellig genug - ich denke, daß ich dorthin gehöre .« Mit dem Kinn deutete er gegen das kleine schmutzige Fenster und gegen das entfernte Donnern und Rollen eines plötzlichen Feuerüberfalls der russischen Artillerie. Seine Stimme war bestimmt und trotzig. Er wußte selbst nicht, warum er dieses Angebot ausschlug. Hier, im »Lazarett«, hätte er sicher viel mehr Chancen durchzukommen als vorne bei der Truppe. Doch plötzlich erschien ihm das irgendwie gleichgültig. Er fragte sich leicht verwundert, was ihn wohl zu diesem Verzicht getrieben hatte. Es gab nichts, was dagegen sprach. Und trotzdem ...

»Nein, nein, lassen Sie’s, es ist wahrscheinlich falsch, was ich tue, aber auch nur bedingt falsch. Da draußen sind meine Kameraden ... Aber es ist nicht nur deswegen ...«, suchte er nach richtigen Worten, unfähig, sie zu finden.

»Ich glaube - ich verstehe«, sagte Dr. Hansen nachdenklich.

»Na, dann ist es ja gut«, lächelte Deutschmann den Jüngeren an. Sie verstanden sich, und Deutschmann wußte plötzlich, daß er hier einen neuen Freund gefunden hatte, auf den er sich verlassen konnte. Er stand auf und begann den »Operationssal« von Blut und Fleischfetzen zu säubern.

Draußen im Schnee, am Rande von Barssdowka, stand Schwanecke und sah hinüber zu dem kleinen schwarzen Punkt, der langsam über das Schneefeld kroch, den Wäldern am Horizont entgegen, die bereits in Dämmerung zu versinken begannen: Tartuchin. Der Punkt wurde immer kleiner und verschwand schließlich in einer Senke, als wäre er von der Welt aufgesaugt worden. Schwanecke spuckte aus, drehte sich um und stapfte entschlossen zurück ins Dorf. Es war Zeit, an Aufbruch zu denken.

Vor dem Bauernhaus, in dem der »Operationssaal« eingerichtet worden war, traf er auf Deutschmann. Er lehnte an der Tür, bleich, mager, abwesend. Sein Mund war fest zusammengekniffen. Obwohl er keinen Mantel trug, schien er die bissige Kälte nicht zu spüren.

»Es wird Zeit, daß wir abhauen«, sagte Schwanecke.

Deutschmann nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle.

»Ist was passiert?« fragte Schwanecke.

»Nein.«

»Du denkst zuviel, Kumpel«, sagte Schwanecke grinsend, »viel zuviel. Das tut nicht gut. Abschalten, sag’ ich dir!«

»Drei sind gestorben und zweien mußten wir die Beine amputieren«, sagte Deutschmann.

Schwanecke hob die Schultern. »Was ist schon dabei? Als wir Orel stürmten, lief einer neben mir, ein Granatsplitter hatte ihm den halben Kopf abgerissen, und er lief neben mir weiter und brüllte >Hurra<, Gehirn und Blut spritzten herum, er war schon tot, aber er lief immer noch und brüllte. Dann kippte er um, aus. Wir haben keine Zeit gehabt zum Kotzen. Wir stürmten. Keine Zeit zum Denken. Abschalten, Kumpel!«

»Kann man das immer?«

»Ich sag’ dir was: Du warst noch nicht an der Front, und deshalb ist dir das nahegegangen, obwohl du ein Arzt bist und so etwas gewöhnt sein müßtest. Aber es ist was anderes, hier an der Front, als in einem Krankenhaus, ich verstehe. Nur glaube mir, wenn ich anfinge zu denken, würde ich mir auf der

Stelle in den Mund schießen! Vor ein paar Minuten habe ich nachgedacht. Es war schlimmer als das schlimmste Trommelfeuer. Ich hab’ mir vorgenommen, nie wieder zu denken, Kumpel! Komm, zieh dich jetzt an, wir wollen abhauen, nach Hause sozusagen ...«

Grinsend ging er über die Dorfstraße zu seinem Schlitten. Untersetzt, breit, in seinem Pelz noch massiger wirkend. Deutschmann sah ihm nach. Ehr kleines, zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Nach Hause ... dachte er. Wenn ich zu Julia ging, dann sagte ich: Ich gehe nach Hause. Jetzt gehe ich zum Krüll und sage: nach Hause. Zuviel denken ... Abschalten. Wie kann man das? Ein Mann läuft mit einem halb abgerissenen Kopf und brüllt »Hurra«. Oder er denkt, daß er immer noch »Hurra« brüllt. Schwanecke hatte gedacht, und es war schlimmer als ein Trommelfeuer. Wie werden die Leute leben ohne Beine? Wie kann man leben, wenn man nicht mehr gehen kann, wohin man möchte? Nach Hause gehen, zu Julia, zu Krüll. Unsinn.

Er drehte sich um und ging ins Haus, um sich für die Fahrt »nach Hause« fertig zu machen.

Oberfeldwebel Krüll war in großer Fahrt.

Auf dem Tisch vor ihm lagen genaue Streckenpläne der auszuhebenden Gräben, und er war dabei, die ausgeschanzten Stücke in Rot einzutragen. Die Karte hatte er im Maßstab 1: 2000 gezeichnet und nach längerer Anstrengung ausgerechnet, daß die 2. Kompanie mehr als fünfzig Meter zuwenig ausgeschanzt hatte. Das Soll war nicht erfüllt worden, trotz Spitzhacken, Sprengladungen und zehnstündiger Arbeitszeit. Für Krüll bedeutete dies ein schweres militärisches Versagen, das einzig und allein ihm in die Schuhe geschoben würde. Fünfzig Meter zu wenig! Er rechnete noch einmal nach, doch die fünfzig Meter wurden nicht weniger. Es war anzunehmen, daß Oberleutnant Obermeier dies noch nicht wußte. Und Krüll sann darüber nach, wie er dieses Debakel dem Kompaniechef beibringen konnte.

Zunächst nahm er den Weg aller Hauptfeldwebel und befahl die Gruppenführer zu sich in die Schreibstube. Weil er aber zugleich beschlossen hatte, gegen die nun immer mehr um sich greifende Disziplinlosigkeit und militärische Nächlässigkeit vorzugehen, tat er es kasernenmäßig: Dienstanzug, umgeschnallt, mit Stahlhelm.

Unteroffizier Peter Hefe tippte sich an die Stirn, bevor er mit den Unteroffizieren Kentrop und Bortke eintrat: »Der hat ‘nen Stich, Jungs! Paßt auf, er hat wieder was ausgeknobelt, von dem wir uns nur auf der Latrine befreien können!«

Sie traten in die Schreibstube, bauten unlustig ihre Männchen und sahen auf Krüll, der hinter seinem improvisierten Schreibtisch hockte, die Streckenpläne deutlich sichtbar vor sich.

»Aha!« sagte Kentrop laut. Krüll fuhr empor.

»Jawohl! Aha! Die 2. Kompanie scheint mir ein Altersheim für gebrechliche Pensionäre zu sein. Immer langsam voran. Die Russen werden schon warten, bis die Herren fertig sind. Hier ...«:, schlug er mit der Faust auf den Tisch, »hier habe ich ausgerechnet, daß fünfzig Meter Graben fehlen!«

»Hast du dich auch nicht verrechnet?« fragte Bortke sanft.

Oberfeldwebel Krüll wurde rot. »Wir sind im Dienst, Unteroffizier Bortke! Ich verlange ...«

»Halt ‘n Rand!« Peter Hefe nahm seinen Stahlhelm ab, das Theater widerte ihn an. Er setzte sich auf eine Kiste und nahm sich den Streckenabschnitt von Krülls Schreibtisch. »Das ist die Strecke, die nur nachts gegraben werden kann. Am Tage ist Feindeinsicht, die Russen sehn hier jede Maus, die herumkriecht.«

»Na und?« Krüll riß Hefe das Blatt aus der Hand. »In der HKL leben die anderen unter ständiger Feindeinsicht, ohne sich in die Hosen zu machen!«

»Dort stecken sie in der Erde. Wir aber stehen obendrauf und müssen graben.«

»Dafür sind wir auch kein Kegelklub.«

»Nein, sondern glatte Zielscheiben, wenn wir am Tage schanzen.« Bortke machte es Hefe nach und nahm den Helm ab. »Vielleicht kommst du mal mit ‘raus und siehst dir die Sache an. Wie wär’s?«

»Wie bitte?« Oberfeldwebel Krüll lehnte sich zurück. »Verantwortlich sind die Gruppenführer«, sagte er, sanfter gestimmt. Bortkes Antrag ließ ihn vorsichtiger werden.

»Wenn dem Bataillon gemeldet wird, daß die Schanzarbeiten zu langsam vorangehen, ist der Teufel los!«

»Dann soll sich das Bataillon den Mist da vorne mal ansehen«, sagte Hefe mißlaunig.

»Wir reden alle ziemlich viel Unsinn«, meinte Unteroffizier Kentrop. »Wann hat sich ein Bataillon so etwas schon angesehen? Was hast du für Vorschläge?« fragte er Krüll. Er war der einzige, der noch stand und der seihen Helm aufbehalten hatte. Korrekt, sehr ruhig, sah er den Oberfeldwebel an. Vor seinem kalten, leidenschaftslosen Blick hatte Krüll Respekt; Kentrop war ihm unheimlich mit seiner Ruhe und Gelassenheit. Auch jetzt sah Krüll nur kurz zu Kentrop und wandte sich dann wieder an Hefe:

»Wir müssen versuchen, auch am Tage zu schanzen. Die fehlenden fünfzig Meter müssen wir herausholen. Wenn vorne unsere Kameraden den Kopf hinhalten, können wir hier nicht Versteck spielen!«

»Ganz richtig!« Oberleutnant Obermeier war eingetreten. Er kam durch die zweite Tür, die eine Verbindung zu den zerstörten Stellen herstellte. Als die Unteroffiziere aufspringen woll-ten, winkte er ab, trat zum Tisch und nahm die Zeichnungen. »Saubere Arbeit, Oberfeldwebel.«

»Mit genauen Maßstäben, Herr Oberleutnant. Wir können damit den Fortgang der Arbeit täglich gut kontrollieren.«

»Können Sie das wirklich?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.«

»Hier vom Schreibtisch aus?« Oberleutnant Obermeier legte die Pläne vor Krüll hin. »Sie haben die Streckenkarte nicht an Ort und Stelle gezeichnet. Wer garantiert Ihnen, daß Ihre fünfzig Meter nicht auf einen Rechen- oder Zeichenfehler zurückzuführen sind? Am besten ist, Oberfeldwebel, Sie überzeugen sich morgen am Ort von der Richtigkeit Ihrer Berechnungen. Rücken Sie mit der Kompanie aus und messen Sie mit dem Bandmaß die Gräben aus. Das tragen Sie dann noch einmal in Ihre Pläne ein. Von besonderem Interesse sind natürlich diese vom Feind eingesehenen Stellen.«

Krüll wagte nicht zu antworten. Das hatte er nicht erwartet. Sein Herz fing heftig und schwer zu pochen an. Er fühlte, daß er sehr blaß aussehen mußte, und die andern, die Unteroffiziere, starrten ihn an und grinsten unverschämt.

»Alles klar, Oberfeldwebel?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.« Krüll atmete tief. Die Angst in seinen Knochen konnte nicht größer sein als die Disziplin.

»Morgen früh also. Wann rückt Ihre Gruppe aus, Hefe? «

»Um halb sechs, Herr Oberleutnant.«

»Sie nehmen den Oberfeldwebel mit.«

»Mit Vergnügen, Herr Oberleutnant!«

Obermeier fuhr herum: »Unterlassen Sie diese dämlichen Bemerkungen! Der Krieg ist kein Vergnügen, das war er noch nie! Stellen Sie sich vor, Sie werden beschossen und dem Oberfeldwebel passiert etwas. Oder können Sie mir garantieren, daß nichts passieren wird?«

»Nein, Herr Oberleutnant!«

»Na also!« wandte sich Obermeier zum Telefon. Krüll hatte diesen Wortwechsel wie aus weiter Ferne gehört, ohne ihn richtig zu begreifen. Über seine Beine empor kroch eine flaue Schwäche. Er hielt sich an der Tischkante fest und stierte auf die Pläne, ohne etwas zu sehen. Und dann hörte er Kentrops Stimme:

»Sie können sicher sein, Herr Oberleutnant, daß wir alle unser Leben einsetzen werden, um Herrn Oberfeldwebel wieder herauszuholen, wenn etwas passiert. Wenn es nicht sofort gelingt, dann wird er höchstenfalls bis zur Nacht warten müssen.«

Obermeier antwortete nicht. Er sah zur Wand, drehte an der Kurbel und rief die 1. Kompanie an.

Krüll sah langsam hoch in die hämisch grinsenden Gesichter seiner Unteroffiziere. »Gut«, sagte er mühsam, »ich gehe heute nacht mit ‘raus. Dann bin ich am Morgen in den Stellungen und kann sie tagsüber ausmessen. Und ...«, jetzt wurde seine Stimme sicherer, »... der Teufel holt euch, wenn es sich herausstellt, daß wirklich fünfzig Meter fehlen!« Er wandte sich ab und verließ schnell die Schreibstube. Hefe sah erstaunt auf die beiden anderen. Kentrop und Bortke schwiegen betroffen. Zum erstenmal hatte Krüll vor ihren Augen einen Kampf gegen sich selbst ausgefochten - und gewonnen. Er hatte ihren Hohn geschlagen.

Obermeier drehte sich herum: »Was steht ihr noch da? Von Babinitschi kommen gleich neue Verschalungsbretter.«

Verlegen und kleinlaut verließen die Unteroffiziere den Raum. Vor dem Haus blieben sie stehen und sahen Krüll zu, der einige Leute anbrüllte, die zu langsam einen Schlitten abluden.

»Er ist wieder ganz der alte«, sagte Unteroffizier Hefe.

»Mensch, das hätte ich nicht von ihm gedacht«, sagte Bortke.

»Macht euch nichts vor«, sagte Kentrop. »Oder wollt ihr etwa behaupten, daß ihr keine Angst habt?«

»Niemand behauptet das«, knurrte Hefe. »Wer hat schon keine volle Hose? Bei Krüll stank es nur mehr als bei den anderen. Bis jetzt jedenfalls. Wir werden ja sehen, ob’s wirklich anders geworden ist.«

Erich Wiedeck und Schütze Katzorki, das Rattengesicht, krochen in einem kurzen, neuen Grabenstück herum und verschalten die kleinen Bunker, die alle 50 Meter als Stützpunkt in das Verteidigungssystem eingestreut waren, als Ernst Deutschmann mit eingezogenem Kopf durch den Graben gelaufen kam und sich neben ihnen schweratmend an die hartgefrorene Grabenwand lehnte.

»Schau mal einer an - wir haben hohen Besuch bekommen«, sagte das Rattengesicht und grinste schief mit seinen schwarzen Zahnstummeln.

»Ist was los!« fragte Wiedeck.

Deutschmann zuckte mit den Schultern. »Nichts«, sagte er. »Ich muß warten, bis irgendwas los ist.«

»Da wirst du nicht lange warten müssen«, sagte das Rattengesicht. Die Bretter für die Bunker hatte man nachts durch den Schnee herangeschleift. Als der Morgen graute, machte man sich daran, die nachts ausgehobenen Bunker zu verschalen. In den Gräben blieb jedoch immer nur ein Drittel der Kompanie, der Rest rückte mit dem anbrechenden Tag ab.

Ab und zu zuckte die Erde auf und schüttelte die Männer durcheinander. In kurzen Abständen heulte es durch die eisige Luft heran, tiefer und tiefer wurde der Orgelton, so wie ein Brummkreisel kurz vor dem Umfallen. Dann warfen sich die Männer an die Grabenwand, steckten den Kopf in den Schnee und lauschten mit vor Furcht verzerrten Gesichtern auf das Krachen der Einschläge. Zwei-, fünf-, sieben-, zehn-, zwölfmal donnerte es um sie herum, der Luftdruck drückte sie gegen die

Erde oder hob sie fast vom Boden, Fontänen von Steinen, Eis und Erde spritzten auf und prasselten auf ihren Rücken. Und zwischendurch hörten sie das helle, surrende Pfeifen der glühenden Splitter, die zischend in den Schnee fuhren.

»Verdammt nah!« sagte Wiedeck.

»Hoffentlich kommt’s nicht noch näher«, sagte das Rattengesicht. Seine Stimme zitterte.

Nach dem Ende des Feuerschlages erhoben sie sich und rannten geduckt zu dem nächsten Bunker. Atemlos stolperten sie die Stufen hinab und setzten sich auf die gestapelten Bretter und Grundbohlen. Wiedeck steckte sich eine Zigarette an und gab auch Deutschmann die Packung. Das Rattengesicht rauchte nicht; er betrieb mit den wenigen gefaßten Zigaretten einen schwungvollen Handel um Brot, Butter und Wurst.

»Wenn das so weitergeht, zerhämmern sie die neue Stellung, noch ehe sie fertig ist«, sagte Wiedeck.

»Das ist so wie mit dieser blödsinnigen Näherin, die nachts auftrennte, was sie tagsüber genäht hatte«, sagte das Rattengesicht.

»Nicht ganz«, sagte Deutschmann.

»Oder wie mit diesem alten Germanen, der einen Stein auf den Berg rollte«, spann das Rattengesicht den Faden weiter.

»Er war ein korinthischer König und hieß Sisyphus«, sagte Deutschmann.

»Du hast in der Schule immer gut aufgepaßt«, sagte das Rattengesicht.

»Man sollte das Grabensystem weiter nach Westen legen.« Deutschmann lehnte sich gegen die kalte Erdwand. Sein unrasiertes Gesicht war noch spitzer und schmaler geworden. Er trug keine Rot-Kreuz-Binde mehr; in Rußland war es nicht üblich, und wenn sie jemand trug, dann hatte das meistens keinen Einfluß auf den Gegner; man beschoß gegenseitig die Sanitäter mit oder ohne Binde. »Was nutzt ein Auffanggraben, der kaum tausend Meter hinter der HKL liegt? Wenn die Offensive rollt, sind die tausend Meter völlig ohne Bedeutung.«

»Du hättest General werden müssen«, sagte das Rattengesicht. Wiedeck rauchte mit hastigen, tiefen Zügen. Seit der Geburt des Kindes hatte er nichts mehr von seiner Frau gehört. Seine Briefe blieben unbeantwortet, er wußte nicht einmal, ob sie weitergegeben wurden. Man wußte überhaupt nur das, was man sehen konnte. Und außerdem wußten sie alle, daß sie kein Recht hatten: kein Recht auf Postabgang und Postempfang. Kein Recht auf Pakete und Karten. Kein Recht zur üblichen Truppenverpflegung und kein Recht auf Marketenderwaren. Sie waren Ausgestoßene, Verbrecher, Todgeweihte, in grauen, abgetragenen und geflickten Uniformen, deren Arbeitskraft man so lange ausnutzte, bis sie wertlos war. Daran konnte niemand was ändern, auch nicht Oberleutnant Obermeier oder Hauptmann Barth. Obermeier hatte einmal bei Barth angerufen und nach Post gefragt. »Post?« wunderte sich Barth. »Ja, Obermeier, erwarten Sie denn Post?«

»Ich nicht allein. Meine Männer wissen nicht, was in der Heimat los ist, besonders die Verheirateten sind übel dran.«

»Die Glücklichen! Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie froh sein können, wenn sie nicht wissen, was in der Heimat los ist. So leben sie glücklicher, mein Lieber. Im übrigen geht die Post über das Stammbataillon in Posen. Dort ist ein Major Kratzner Chef des Ersatzhaufens. Ich habe gehört, daß er das goldene Parteiabzeichen besitzt. Zuletzt war er Lehrer an einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt. Zur Zeit ist es auch in Posen ziemlich kalt. Kratzner wird sich an den Briefen die Hände wärmen, wenn er sie in den Ofen steckt.«

»Abwarten!« Das war alles, was Wiedeck von Obermeier erfahren konnte. Nach und nach verfiel auch er, ähnlich wie die andern, in eine Art stumpfsinnigen Fatalismus, den nichts mehr erschüttern konnte. Artilleriefeuer? Na denn! Tote? Im Krieg gibt’ s immer Tote. Arbeit? Bin ich gewohnt. Das Leben? Kotzt mich an. Jetzt sagte er: »Ob tausend oder zehntausend Meter, ist egal. Wir schanzen.«

»Amen«, sagte das Rattengesicht.

»Draufgehen werden wir sowieso alle«, sagte Wiedeck.

»Muß nicht sein«, sagte Deutschmann.

»Glaubst du?« Wiedeck sah auf und lächelte Deutschmann schief an. »Mensch, glaubst du das wirklich? Frontbewährung? Begnadigung; Schwanecke vielleicht, oder dieser da«, mit dem Kinn zeigte er gegen das Rattengesicht, »diese beiden vielleicht, das sind Kriminelle.«

»Na, hört mal!« sagte das Rattengesicht.

». die werden vielleicht begnadigt, um später einmal aufgehängt zu werden. Ich hab’ vielleicht auch eine Chance durchzukommen. Ich bin ja bloß ein blöder Bauer. Aber du, oder der Oberst Bartlitz, oder die anderen Politischen? Die werden begnadigt, wenn sie ins Gras beißen.«

»Ich komm’ bald ‘raus«, sagte das Rattengesicht.

»Niemand kommt ‘raus«, sagte Wiedeck.

»Ich pfeif auf euch Schwarzseher«, sagte das Rattengesicht, stand auf und ging zum Bunkerausgang. »Und ich sage dir, ich komme ‘raus. Es wird nicht lange dauern, und ich bin wieder in Berlin. Wetten? Wenn ich bei Kranzler ganz nobel Kaffee trinke, schreibe ich euch eine Postkarte.« Er grinste über die Schulter zurück und kletterte in den Graben.

»Bei dem glaube ich’s am Ende selbst«, sagte Wiedeck.

Deutschmann sah aus dem Bunker hinaus auf das kleine Stück Schneewall, das im Eingang sichtbar war. Draußen tastete die leichte Artillerie das Feld ab. Streufeuer.

»Hast du schon einmal deine Frau betrogen?« fragte er zögernd.

»Was?« Wiedeck sah Deutschmann verblüfft an.

»Ob du deine Frau betrogen hast?« »Komische Frage! Warum sollte ich sie betrügen?«

»Hast du sie?«

»Nein.«

»Nicht mal in Gedanken?«

»Blödsinn. Wer tut das nicht? Warum fragst du?«

»Nur so.«

»Und du?«

»Bis jetzt nicht mal in Gedanken. Bis vor kurzem.«

»Mensch - du hast Nerven!«

»Ich habe sie verraten«, sagte Deutschmann schwer.

»Verraten? Wieso? Mit wem? Etwa mit einer - Russin? Wo nimmst du eine Russin her?«

»In Orscha«, sagte Deutschmann.

»Mensch - gibt’s das überhaupt? Ich dachte, das denken sich nur manche aus.«

»Das gibt es«, sagte Deutschmann. »Sie sagte, ich solle hier bleiben. Sie sagte, ich soll nicht mehr nach Hause gehen, und ich weiß plötzlich nicht mehr, was ich tun würde, wenn - wenn ...« Er machte mit der Hand eine hilflose Gebärde, als wüßte er selbst nicht ganz genau, was hinter diesem Wenn stand. Vielleicht: Wenn es plötzlich Frieden gäbe und man bleiben könnte, wo man wollte; wenn er sich über alles selbst im klaren wäre und über seine Sehnsucht, die ihn zugleich zu Julia und zu Tanja; wenn ... »Ein Verrat«, sagte er, »ich habe es getan. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll ... Dieses hier, Strafbataillon, Julia, Tanja, die Erinnerung ... Ich habe nie sehr gut geschlafen, jetzt kann ich es fast überhaupt nicht mehr.«

Draußen hämmerten einige Maschinengewehre. Dazwischen hörte man hell die Abschüsse der leichten Minenwerfer und das dumpfe Krepieren der Gewehrgranaten.

»Es geht wieder los«, sagte Wiedeck. Und: »Wenn du richtig müde bist, wirst du auch schlafen können.« Durch die Luft heulte es hell und kurz auf, und dann krepierten in ihrer Nähe die Granaten der russischen Artillerie. Deutschmann fand sich auf dem Boden liegend, einige Erdbrocken polterten von der Bunkerdecke auf seinen Rücken. Und durch das Sausen und Klingen in seinen Ohren hörte er draußen plötzlich eine menschliche Stimme. Sie kam ihm bekannt vor, aber er wußte nicht, woher er sie kannte; denn es war eigentlich keine menschliche Stimme mehr, es waren Laute, die auch ein Tier formen könnte, nicht formen, sondern ausstoßen, ein Tier, das in schrecklicher Angst und Furcht plötzlich die Sprache gefunden hatte, um seine Qual allen verständlich herauszuschreien. »Jesus Maria ...«, sagte die Stimme, wimmerte sie, seufzte, schrie, flüsterte, und alles das zusammen oder nichts davon, »Jesus Maria - was - was ...?« fragte sie, und dann wieder: »Jesus Maria ...«

»Das Rattengesicht!« rief Wiedeck, sprang über den liegenden Deutschmann und kroch aus dem Bunker. Deutschmann sah seine beschlagenen Sohlen, er sah ganz genau, daß viele Nägel fehlten, und dann verschwanden die Sohlen, er stemmte sich hoch, sprang zum Ausgang, fiel auf die Knie und kroch heraus. Seine Tasche war ihm im Wege, sie hing zwischen seinen Beinen und schleifte am Boden; mit einer wütenden, kurzen Bewegung schleuderte er sie auf den Rücken, und dann war er draußen, und das Wimmern war jetzt ganz nah.

An der Grabenwand lehnte das Rattengesicht. Sein Gesicht war grau verfallen, die Nase stach spitz und gelb heraus. Die Lippen waren wie im Krampf von den schwarzen Zahnstummeln zurückgezogen, und aus seinem Mund kamen, ohne daß sich die Lippen bewegten, die gepreßten, wimmernden Laute: »Jesus Maria - Jesus Maria .« Seine Augen stierten auf etwas Blutiges, das vor ihm lag.

Und erst jetzt sah Deutschmann, daß der linke Arm des Rattengesichts auf der ihm abgekehrten Seite an seiner Wurzel abgerissen war. Aus der zerfetzten, riesigen Wunde schwappte Blut, lief die Uniform herunter, färbte den schmutzigen Schnee rot und bildete auf dem gefrorenen Grasboden um Rattengesichts Stiefel eine kleine, schnell größer werdende Pfütze. Rattengesichts Knie gaben nach, er rutschte die Grabenwand herab und blieb auf dem Boden, mitten in der Blutlache sitzen. Dabei starrte er immer noch auf den abgerissenen Arm, der mit abwärtsgekehrter Handfläche und gekrümmten Fingern vor ihm lag. Er hob die rechte Hand empor, als wollte er nach irgend etwas greifen oder auch Halt suchen, aber sein Arm sank kraftlos herab, und er kippte seitwärts um. Dabei sagte er immer noch und nur das: »Jesus Maria - Jesus Maria ...«

Deutschmann schob den erstarrten, leichenblassen Wiedeck zur Seite und beugte sich über das Rattengesicht. Mit fliegenden Händen machte er die Tasche auf und kramte sinnlos in ihr herum, ohne den Blick von Rattengesicht zu wenden. Doch dann verharrte er mitten in der Bewegung.

Es war sinnlos.

Er sah, wie sich über das Gesicht des Verwundeten der Tod ausbreitete.

Загрузка...