Der Schlitten schüttelte und rumpelte durch die Nacht, Orscha entgegen. Deutschmann saß, gegen den Schlaf ankämpfend, neben dem Fahrer auf dem Bock. Dr. Bergen hatte ihn nach Orscha geschickt, um Sanitätsmaterial zu holen. Kronenberg und die anderen Sanitäter des Bataillons waren unabkömmlich, es gab zu viele Verwundete, die man versorgen mußte, bevor sie zurückgeschickt werden konnten. Die 2. Kompanie betreute während der Abwesenheit Deutschmanns ein anderer Hilfssani - das heißt, er organisierte den Transport der Verwundeten nach Barssdowka. »Sie verstehen etwas davon, von diesen Medikamenten und dem ganzen Krempel, den wir brauchen«, hatte Dr. Bergen zu Deutschmann gesagt. »Gehen Sie hin, hier haben Sie eine Liste, und schlagen Sie sich mit diesen Etappenhengsten herum. Aber lassen Sie sich nicht abfertigen, bevor Sie nicht alles haben. Ich weiß genau, daß die Magazine voll sind.«
Vor diesem Auftrag hatte Deutschmann Angst. Er fürchtete sich, nach Orscha zu fahren, denn er wußte nicht, ob er stark genug sein würde, der Begegnung mit Tanja auszuweichen. Ob er stark genug sein würde, nicht in das kleine Blockhaus in der Nähe der Brücke über den Dnjepr zu gehen. Denn er sehnte sich nach dieser Begegnung, er sehnte sich nach Tanja, nach ihrem schmalen, weichen Gesicht, nach ihrem feingliedrigen Körper, nach dem Blick ihrer graugrünen Augen, nach der Wärme und Hingabe, die sie ausstrahlte.
Die Straße war aufgewühlt und vereist. Der Schlitten rumpelte über die Buckel wie verrückt. Deutschmann hielt sich fest und stemmte die Stiefel gegen das Schutzblech, Der Fahrer neben ihm, ein alter Obergefreiter der Transportkompanie, rauchte eine Hängepfeife, die er mit Machorka gestopft hatte. Er stank, der Rauch biß Deutschmann in die Augen. Er wandte den Kopf ab und starrte über das Schneefeld und das wie ausgestorben daliegende Kusselgelände, durch das sich der vereiste Dnjepr zog.
Der Obergefreite stieß Deutschmann mit dem Ellbogen in die Seite. »He, du!«
»Ja?«
»Du bist doch von 999? Ist ein Sauhaufen, was?«
»Na ja«, sagte Deutschmann.
»Kriegt ihr überhaupt etwas zu fressen?«
»Es geht.«
»Aber satt davon werdet ihr nicht?«
»Wirst du etwa immer satt?«
»Nee - da hast du recht. Stimmt’s, daß ihr alle zum Tode verurteilt seid und dann begnadigt? Oder wie geht das?«
»Einige waren’s.« »Du auch?«
»Ich auch.«
Der Obergefreite schwieg. Er rauchte hastig und blies den ätzenden Qualm vor sich her.
»Was hast du denn angestellt?« fragte er nach einer Weile.
»Das ist doch unwichtig.«
»Na ja, man ist halt neugierig«, sagte der Obergefreite. Er schien ein bißchen eingeschnappt, und es dauerte eine ganze Weile, bevor er wieder begann:
»Ein Vetter von mir ist auch in so einem Haufen«, sagte er.
»Er hat mal die Schnauze aufgemacht, wo es besser gewesen wäre zu schweigen.«
»Dann weißt du ja Bescheid.«
Der Obergefreite schwieg und spuckte in den Schnee. Dnjepr. Vor ihnen tauchte die Silhouette der Stadt auf. Am Fluß, hinter der großen Holzbrücke, Tanjas Haus. Dünner Rauch stand über dem Dach. Deutschmanns Herz klopfte langsam und schwer. Er könnte jetzt aussteigen und hinuntergehen, sie war zu Hause, er würde an die Tür klopfen und eintreten, oder vielleicht würde er gar nicht anklopfen, sondern ganz leise den steilen Pfad hinuntergehen und einfach eintreten, sie würde am Herd stehen und ihn nicht kommen hören, und er würde von hinten die Hände über ihre Augen legen und nichts sagen. Sonst wüßte sie sofort, wer er ist, und dann würde sie sich umdrehen, und er würde sie ganz fest an sich drücken ...
»Jetzt sind wir gleich da«, sagte der Obergefreite.
»Wann fahren wir zurück?« fragte Deutschmann.
»Morgen früh.«
»Heute können wir nicht mehr zurück?«
»Ich möchte den Idioten sehen, der nachts durch das Partisanengebiet fährt!«
Erst morgen früh, dachte Deutschmann, dann bleibe ich die ganze Nacht hier. Ich könnte zu ihr gehen und bei ihr bleiben.
Ich könnte ...
Sie fuhren zwischen die armseligen dunklen Hütten der Randgebiete der Stadt.
»Ist es weit?« fragte Deutschmann.
»Nein - noch um fünf, sechs Ecken, dann sind wir da.«
Es dauerte einige Stunden, bevor Deutschmann mit dem ganzen Papierkram und dem Verladen des Schlittens fertig war. Es ging nicht ganz leicht, das Strafbataillon schien nicht in den Listen der Zahlmeister und des Apothekers zu sein. Erst nachdem Deutschmann mit dem Schreiber des Bataillonskommandeurs Hauptmann Barth und dieser wiederum mit dem Hauptmann selber sprach, und schließlich der Hauptmann einige saftige Flüche durch die Telefonleitung schickte, klappte es.
»Ich geh’ ins Soldatenheim«, sagte der Obergefreite, als sie mit der Arbeit fertig waren. »Kommst du mit?«
»Nein«, sagte Deutschmann.
»Komm nur, du gehst ja mit mir. Es sind ein paar’ tolle Puppen dort, und Bier haben sie auch.«
»Nein, vielen Dank. Wir trinken unser Bier ein anderes Mal.« Deutschmann hatte sich entschieden. Das heißt - er brauchte sich gar nicht zu entscheiden: Er wußte von allem Anfang an, daß seine Sehnsucht nach Tanja größer war als die Furcht vor einer Begegnung mit ihr. Er wollte zu ihr gehen, und als er immer schneller durch die nachtdunklen, verlassenen Straßen Orschas gegen die Dnjeprbrücke ging, wurde seine Sehnsucht immer größer und brennender, bis er schließlich beinahe lief.
Es war kurz nach elf Uhr abends, als Deutschmann endlich vor der Bohlentür der Hütte stand, in der Tanja wohnte. Aus dem Schornstein kräuselte dünner Rauch gegen den klaren Nachthimmel; das Feuer in der Hütte ging nie aus. Es war kalt.
Die Kälte stach Deutschmann ins Gesicht, kroch unter seinen Mantel, zwickte ihn in die Füße.
Er zögerte. Die Hütte war dunkel, und Tanja schlief sicher schon. Das Ufer war menschenleer. Das Eis auf dem Dnjepr schloß sich wieder. Am Morgen werden die Pioniere wieder sprengen müssen. Schließlich drückte er gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen; einen kurzen Augenblick dachte er daran, daß man in Rußland selten verschlossene Türen fand, und daran, daß sich dies kaum mit den Vorstellungen deckte, die man zu Hause, in Deutschland, über dieses große, grenzenlose Land hatte.
Die Tür bewegte sich knarrend in die vom Feuerschein rötlich gefärbte Dunkelheit hinein. Auf dem offenen Herd glimmten knisternd dicke Holzscheite, manchmal züngelte ein Flämmchen empor, tauchte den Raum in ein huschendes Licht und versank wieder in der Glut. Die Tür zu Tanjas Kammer war offen.
Deutschmann schloß die Tür hinter sich und blieb tiefatmend in der warmen rötlichen Dämmerung stehen - und dann, plötzlich, hörte er durch das leise Knistern des Feuers Tanjas Atem.
Die Bohlen knackten unter seinen Füßen, als er langsam durch den Raum gegen die dunkle Öffnung schritt, aus der das leise, tiefe Atmen der Schlafenden kam. Dann blieb er stehen, legte den Mantel, die Mütze und die Handschuhe ab, ohne den Blick von der offenen Tür in die Schlafkammer zu wenden. Die Wärme im Haus umgab ihn weich.
Vor Tanjas Bett blieb er stehen. Langsam, als hätte er Angst, die Schlafende zu wecken, den tiefen Rhythmus ihres Atems zu stören und waches Bewußtsein auf ihr gelöstes, in der warmen Dunkelheit kaum sichtbares Gesicht kommen zu lassen, ließ er sich auf die Knie nieder und brachte sein Gesicht ganz nahe an ihres. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Haar lag schwarz und seidig auf dem Kissen.
Sie bewegte sich und wachte auf.
»Tanja ...« flüsterte er.
Ihre Augen waren weit offen, groß und schwarz. Um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln, die Andeutung eines Lächelns nur. Oder irrte er sich? Bildete er sich nur ein, Glück herauszulesen, Glück darüber, daß er gekommen war? Doch dann hörte er ihre Stimme und wußte, daß er sich nicht geirrt hatte.
»Michael ...«, flüsterte sie, ihre nackten Arme kamen unter der Decke hervor, sie umarmte ihn und zog seinen Kopf zu sich herab.
Als Deutschmann erwachte, sah er zuerst auf die Uhr. Es war kurz vor sechs.
»Ich muß bald gehen«, sagte Deutschmann.
»Wann?« fragte Tanja.
»In einer Stunde.«
»Mußt du wirklich?«
»Natürlich. Soll ich etwa hierbleiben? Sie würden mich sehr bald holen.«
»Du könntest hierbleiben ... ich würde dich verstecken ... du könntest immer hierbleiben, und einmal wird Frieden.« Sie klammerte sich an ihn, als fürchtete sie sich, daß sie ihn unwiederbringlich verlieren würde, wenn sie ihn nur für einen kleinen Augenblick losließ. »Ich liebe dich - ich liebe dich sehr - ich liebe dich mehr als Rußland, mehr als meine Mutter, mehr als meinen Vater, mehr als alles, alles ... ich weiß nicht, wie das kommt, ich weiß es nicht ... ich liebe dich so sehr!« Und dann, nach einer Weile, in der Deutschmann erschrocken und betroffen über ihren Gefühlsausbruch schwieg, sagte sie, als ob sie träumen würde und sich bereits in einer Zukunft befand, die es für die beiden nicht gab, nicht geben konnte, wie Deutschmann genau wußte: »Wenn der Krieg gestorben ist, werden wir weiterleben, Michael, ich werde mit dir gehen, wohin du gehst ... ich liebe mein Land, aber du wirst mein Land sein, überall ...«
Als sich Deutschmann anzog, sprang ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit an. Das alles konnte nicht möglich sein. Wie kam er in diese Hütte? Was war geschehen? Wie konnte es möglich sein, daß ihn dieses wunderschöne Mädchen liebte? Mein Gott, wie konnte das alles geschehen? Es war ein Irrtum, das Reale, das Wirkliche war die Uniform, war das Strafbataillon, war Obermeier, Krüll, Schwanecke, Wiedeck, waren die blutigen zerfetzten Leiber und die ewige Angst vor dem Sterben. Alles andere war ein Traum, einer von jenen Träumen, die man als Soldat irgendwo in einem dreckigen, kalten Loch oder in einem dunklen, stinkenden Bunker träumte, während draußen der Tod umging. Und wahr blieb der Gedanke an Julia und seine und Julias gemeinsame Vergangenheit, obwohl auch die manchmal in unwirkliche Ferne versank, als hätte es sie nie gegeben, genausowenig wie es diese vergangene Nacht gab.
Tanja kochte Tee. Sie frühstückten schweigsam, jeder in seine eigenen Gedanken verloren - und doch fühlte Deutschmann- und wußte zugleich, daß auch Tanja dasselbe fühlte, daß sie sich so nah waren, wie es nur zwei Menschen sein können. Und wieder fragte er sich, wie es dazu kam und wie das möglich sein konnte. Vielleicht deswegen, weil es für sie nur Augenblicke in der Gegenwart gab und keinen einzigen in der Zukunft? Vielleicht deswegen, weil sie die Vergangenheit und alle ihre versäumten Stunden und Minuten und die ganze Zukunft in eine einzige Nacht und in den grauen, heraufdämmernden Morgen zu pressen versuchten?
»Iß, Michael«, sagte Tanja weich und lächelte ihn an, und in ihren einfachen alltäglichen Worten und in ihrem Lächeln verbarg sich eine Welt voll Liebe und bedingungsloser Hingabe.
Sergej Petrowitsch Denkow stieß die Tür auf und trat in die Hütte, ohne daß sie seine Schritte draußen gehört hatten. Seine Mütze, sein Pelz, seine Augenbrauen waren voll weißen Reifs. Mit der Ferse stieß er die Tür wieder zu und sah wortlos die beiden an. Seine Augen waren weit offen und seltsam leer. Ohne den Blick zu wenden, nahm er seine hohe Fellmütze vom Kopf und warf sie auf einen leeren Stuhl. Dann lächelte er, und Deutschmann überlief es kalt: Es war ein drohendes, verbissenes Lächeln eines Menschen, dem nicht nach Lachen zumute war, und der hinter dem Lächeln irgend etwas verbergen wollte.
»Guten Tag«, sagte Deutschmann zögernd.
»Gutten Tagg«, antwortete Sergej. Seine Stimme war leise und heiser. Sein Blick glitt von Deutschmanns Gesicht herab über die Uniform. Keine Rangabzeichen, keine Schulterstücke, keine Waffen. Damals, als die neue Truppe in Orscha ankam, hatte er dies nach Moskau gefunkt, und von dort hatte man geantwortet, daß es sich um ein Strafbataillon handele. Sergej kannte die Strafbataillone in der russischen Armee. Schurken, Mörder, Verbrecher, Feinde des Sozialismus. In der sibirischen Taiga schlugen sie Holz aus den Urwäldern, arbeiteten in Bergwerken - wenn es Frieden war. Im Krieg mußten sie andere Sachen tun, wenn sie stark genug waren, die Strapazen vor dem Sterben zu überstehen.
Und dann sah er Tanja an. In ihrem blassen Gesicht brannten die Augen. Er verstand, was sie sagten. Er sah die schwarzen Schatten unter ihnen, und sein Lächeln versteifte sich zu einer drohenden Maske. Er brauchte nicht zu fragen. Er wußte, was geschehen war. Er wußte es genau ...
Tanja stand auf. »Das ist Sergej«, sagte sie mit kleiner, gebrochener Stimme. »Ein Bauer aus Babinitschi.« Und zu Sergej gewandt laut und deutlich: »Das ist Michael.«
Sergej sah sie einige Sekunden schweigend an und sagte dann mit einer gewöhnlichen und gerade deswegen um so käl-ter und verachtungsvoller wirkenden Stimme auf russisch -ohne zu wissen, daß es Deutschmann verstand: »Hündin!«
Dann drehte er sich um und trat zur Tür.
Deutschmann sprang auf. Die Lähmung, die ihn beim Anblick des jungen fremden Mannes befallen hatte, wich von ihm. »Halt«, sagte er. Jetzt hatte er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem weichen, unentschlossenen und hilflos wirkenden Deutschmann von früher. Langsam ging er um den Tisch und stellte sich vor Sergej, der sich umgedreht hatte und ihn kalt ansah.
»Warum?«
»Wer bist du?« fragte Deutschmann.
Sergej lächelte. »Warum?« fragte er wieder.
»Wo lebst du?«
»Im Wald«, sagte Sergej langsam.
»Ich habe es gewußt«, sagte Deutschmann leise.
»Was?«
»Du bist ...«
»Was?«
Sie sahen sich einige Sekunden wortlos an, und dann nickte Sergej. »Da. Ein Partisan.«
Deutschmann hörte hinter sich Tanja leise aufschreien. Aber er wandte sich nicht um. Er sah in Sergejs harte Augen. Wie war es möglich, daß er, dieser Russe, sich nicht scheute, ihm, dem deutschen Soldaten, zu sagen, er sei ein Partisan?
Was wurde hier gespielt? Und das mitten unter deutschen Truppen - oder war es nicht so? War er, Deutschmann, in eine Falle geraten? Warteten draußen noch mehr von dieser Sorte auf ein Zeichen? Aber das war völlig ausgeschlossen - vom Dnjepr her hörte er die Pioniere sprengen. Der Morgen graute, auf den Straßen und auf der Brücke erwachte das Leben. Nachschubkolonnen polterten dumpf über die Holzbohlen - überall wimmelte es von deutschen Soldaten. Und doch stand hier ein
Partisan und bekannte sich furchtlos dazu.
»Ein Offizier«, sagte Sergej. Und dann, nach einer Weile, als Deutschmann nichts erwiderte, sprach er in einem fast fehlerfreien Deutsch weiter:
»Ich wollte Tanja besuchen, meine Braut. Aber die reine Jungfrau von früher ist eine Hündin geworden. Sie läßt sich mit einem verfluchten Feind ein, während ich kämpfe.« Seine Stimme klang leidenschaftslos, so als erzählte er eine ganz belanglose Geschichte. Dann drehte er sich wieder zu Tanja und zischte, doch jetzt auf russisch: »Hure«.
Später konnte sich Deutschmann nicht erklären, was ihn dazu getrieben hatte. Bis dahin hatte er es noch nie getan, nicht einmal als Junge. Aber jetzt hob er die Hand und schlug Sergej ins Gesicht. Mit der flachen Hand, weitausholend, klatschend. Sergej wich nicht zurück. Er rührte sich nicht. Er nahm die Schläge hin, und was das Schrecklichste daran war, er zählte sie mit einer harten, leidenschaftslosen Stimme: »Eins - zwei -drei - vier - fünf -.«
»Sechs«, schrie Deutschmann, und schlug noch einmal zu.
Sergej nickte. »Sechs. Für jeden Schlag ein deutscher Soldat.«
Deutschmann trat zurück, und wieder überfiel ihn das Gefühl der Unwirklichkeit. Tanja stand neben der Wand, das Gesicht hatte sie gegen die Mauer gelegt, ihr schmaler Rücken zuckte. Sie weinte. Deutschmann blickte wieder zu Sergej, der langsam zu sprechen begann:
»Ich hasse sie. Sie ist keinen Tritt wert. Sie trägt jetzt fremdes Blut in sich und du - du wirst mich jetzt gehen lassen. Ich weiß genau, was du denkst. Aber du wirst es nicht tun. Du wirst mich nicht den Gendarmen übergeben. Du hast Angst. Was tust du hier bei einer Russin, bei einer Partisanin? Du bist ein Mann aus dem Strafbataillon. Auch du bist ein Verräter!«
Dann drehte er sich um, nahm seine Mütze und ging.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Deutschmann etwas später und versuchte, sich aus Tanjas Umarmung zu lösen. »Ich komme wieder«, flüsterte er, »ganz sicher, ich komme wieder.«
»Ich habe Angst!«
»Ich weiß - was soll ich tun?«
»Du kannst nichts tun.«
»Ich komme wieder«, sagte Deutschmann und kam sich sehr erbärmlich vor. Sicher, er konnte nichts für sie tun, und dennoch ... Sie war nun schutzlos der Rache ihrer Landsleute ausgeliefert. »Es wird alles gut werden«, flüsterte er und wußte, daß er log. Nichts würde gut werden. Es gab nichts Gutes mehr für sie. Die Nacht, die hinter ihnen lag, hatte einen Abgrund vor ihnen geöffnet, in dem Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der kommenden Tage lauerten.
Er ging.
Zuerst langsam und dann immer schneller stapfte er über den Hang gegen die Stadt, wo ihn der Fahrer mit dem beladenen Schlitten erwartete. Er hatte sich schon verspätet. Die Posten an der Brückenauffahrt pendelten hin und her, ein Feldwebel der Feldgendarmerie schrie mit einem Lkw-Fahrer herum, der mitten auf der Straße einen Achsenbruch hatte und den ganzen Nachschubverkehr aufhielt. Dann lief er durch die engen, nun belebten Straßen der Stadt, die Hütte, Tanja und Sergej blieben hinter ihm und vor ihm ein neuer Tag im Strafbataillon.
Sergej Petrowitsch Denkow hatte hinter einem Lattenzaun gewartet, bis er Deutschmann weggehen sah. Dann ging er langsam zu Tanjas Hütte.
Tanja stand immer noch mitten im Zimmer. Als sie Sergej sah, hob sie die Hände erschrocken zum Mund und machte einen schnellen Schritt gegen den Herd - zur Wandvertiefung, in der sie die Pistole versteckt hatte.
»Laß sie liegen«, sagte er. »Ich müßte dich töten, wenn du sie herausnimmst.«
»Was willst du?« flüsterte Tanja.
»Das fragst du noch?«
»Was willst du tun - geh! Geh!« Die letzten Worte schrie sie voll tödlicher Angst vor dem großen, in seinen unförmigen Pelz gehüllten Mann, der sie mit einer kalten, drohenden Überlegenheit ansah.
»Ich gehe«, sagte er, »ich werde nicht wiederkommen - bis wir die Deutschen verjagt haben. Aber dann, wenn wir sie hinausgejagt haben, werde ich wiederkommen und dich töten. Das wollte ich dir sagen. Du wirst mir nicht entkommen. Versuche nicht zu fliehen. Es würde dir nichts nützen. Wir werden aufpassen. Und wenn ich dich getötet habe, werde ich alle holen und zu ihnen sagen: >Seht, das ist Tanja Sossnowskaja. Vielmehr - das war sie. Jetzt ist sie nur noch ein Kadaver. Früher einmal war sie eine von uns. Aber dann machte sie sich an einen Deutschen heran. Sie hat uns verraten. So wird es jedem gehen, der uns verrät .. .<«
Tanja lehnte gegen die Lehmwand. Ihre Hand, mit der sie an den Hals griff, zitterte. »Geh«, stöhnte sie. »Du bist ein Teufel!«
»Bin ich das - bin ich das? Ein Teufel und eine Dirne - wie das gut zusammenpaßt! Paßt das gut zusammen?« Während er sprach, kam er langsam näher, griff mit der Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht empor. »Sieh mich an, du Dirne, los sieh mich an! Was hast du getan? Hast du alles vergessen? Hast du uns alle vergessen?«
»Ich liebe ihn«, flüsterte sie.
»Hündin!« schrie er voller Wut und Schmerz, trat einen Schritt zurück und schlug auf sie ein. Wortlos, verbissen, ein Schlag nach dem anderen. Sie fiel neben dem Ofen auf den Boden, er beugte sich und schlug weiter auf die Kniende ein. Sie hatte die Arme schützend über den Kopf gelegt, wehrte sich nicht und schrie nicht. Mit geschlossenen Augen ertrug sie die Schläge, ein Bündel schuldbewußter, armseliger Mensch, bis es ihr schwarz vor den Augen wurde.
Sergej richtete sich wieder auf, drehte mit dem Stiefel die Ohnmächtige auf den Rücken und wartete geduldig, reglos, bis sie wieder zu sich kam und die Augen öffnete. Als er sicher war, daß sie ihn sah und wiedererkannte, sagte er:
»Ich komme wieder. Ich werde dich töten!«
Dann trat er aus dem Haus, schloß die Tür sorgfältig hinter sich zu und nickte freundlich einigen Pionieren zu, die mit langen Eisenstangen die gesprengten Eisschollen vom Ufer stießen. Nach allen Seiten demütig grüßend, ging er die Uferstraße entlang und verschwand in dem Gewirr halbzerstörter Häuser und Schuppen am Rande von Orscha.
In einer erhalten gebliebenen Banja erst fiel die Demut von ihm ab wie der Pelz, den er auszog und in die Ecke warf. Einen Augenblick stand er wie versteinert da, doch dann konnte er es nicht mehr ertragen. Mit den Fäusten und der Stirn schlug er gegen die Wand, und aus seiner Brust entrang sich ein entsetzlich anzuhörendes Schluchzen:
»Gib mir die Kraft, das zu ertragen!« schrie er. »O Gott, laß mich nicht verrückt werden - laß mich nicht verrückt werden!«
Es war das erstemal in seinem Leben, daß er Gott anrief. Aber er merkte es nicht. In ihm war sonst nichts als ein schrecklicher, brennender, unerträglicher Schmerz.
Zu derselben Stunde, als Deutschmann den Schlitten bestieg, ohne sich um den fluchenden Fahrer zu kümmern, der bereits eine halbe Stunde in der bitteren Kälte gewartet hatte, tauchte bei der 2. Kompanie im vorderen Grabenabschnitt eine dickvermummte und dennoch zackig aussehende Gestalt auf, die allgemeines Verwundern erregte: Oberleutnant Bevern. Er kam von der 1. Kompanie Oberleutnant Wernhers herüber, um die Schanzarbeiten der 2. Kompanie zu kontrollieren.
Der erste Soldat, auf den Bevern stieß, war Wiedeck. Er lehnte die Spitzhacke, mit der er vergeblich gegen den steinhart gefrorenen Boden ankämpfte, bedächtig gegen die Grabenwand, baute ein nachlässiges Männchen und meldete:
»Schütze Wiedeck bei den Schanzarbeiten. Keine besonderen Vorkommnisse.«
»Welche Kompanie?« schnauzte Bevern. »Ist das eine Meldung? Schanzen Sie etwa für Latrinenreiniger?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant!«
Bevern riß die Augen auf. »Was soll das heißen?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant!«
Was sollte Bevern tun? Gegen dieses »Jawohl« - und er wußte, daß dieser sture Soldat auf alle seine weiteren Fragen nur Jawohl sagen würde - konnte er nichts ausrichten, wenigstens nicht hier im Graben. So sagte er nur: »Wir sprechen uns noch, Wiedeck, wir sprechen uns noch!«
Wütend stapfte er weiter, den Graben entlang, vorbei an einigen Soldaten, die ebenfalls stramm grüßten und ihre Meldung so laut hinausbrüllten, daß die nächsten und übernächsten bereits gewarnt waren, bevor Bevern bei ihnen auftauchte.
In den halbfertigen Bunkern lagen die anderen Männer der 2. Kompanie und schliefen erschöpft. Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet, jetzt tagsüber durften sie ausruhen. Seit zwei Tagen mußten sie in den Stellungen bleiben. Es wurde befohlen, daß die Arbeit beschleunigt zu beenden sei. Aber sie waren ganz glücklich darüber, denn durch die Linien waren einige russische Scharfschützen gesickert und schossen vom nahen Wald aus auf alles, was sich in den Gräben bewegte. Sie waren so gut getarnt, daß man sie nicht ausmachen konnte. Ein deutscher Zug, der eingesetzt wurde, um sie aufzustöbern und zu liquidieren, war unverrichteterdinge zurückgekommen. Es war nichts zu machen. Der Wald war groß und dicht, und nicht nur ein einzelner Mensch konnte sich dorthin auf alle Ewigkeit verkriechen, sondern ein ganzes Bataillon oder Regiment. Zudem war durch diese Scharfschützen nicht nur die dünnbesetzte HKL bedroht, sondern auch die Männer des Strafbataillons. Und man war nicht bereit, ihretwegen die schwachbesetzte HKL noch schwächer zu machen und Leute zu Suchtrupps abzukommandieren. Der Antrag Oberleutnant Obermeiers und Hauptmann Barths, einen Zug des Strafbataillons - oder was noch besser wäre, eine ganze Kompanie - zu bewaffnen und in den Wald zu schicken, war bis jetzt unbeantwortet geblieben. So waren im Laufe von drei Tagen sechs Mann bei Obermeier und fünf bei Wernher durch Kopfschüsse ausgefallen.
Um wenigstens einigermaßen die Weiterarbeit zu sichern, hatten Obermeier und Wernher einige gegen den Wald vorgeschobene Posten aufgestellt, die mit ihren MGs auf jede verdächtige Bewegung schießen sollten. Allerdings waren diese Posten auf dem besten Wege, als erste abgeschossen zu werden. Bereits am ersten Tag fand die Ablösung zwei Tote hinter den Maschinengewehren; ihre Stahlhelme wiesen knapp über den Augen ein kleines, rundes Loch auf.
»Eine Saubande«, murmelte Bevern, als er einige Bunker besichtigt hatte. »Pennen wie die Ratten, ist das noch ein Krieg?« Tief gebückt - auch er wußte natürlich von der Gefahr, die von den Scharfschützen drohte, obwohl er eigentlich nicht so recht daran glaubte - ging er durch einen Laufgraben weiter nach hinten, um einen der Posten zu kontrollieren. Das letzte Stück Weges mußte er auf allen vieren kriechen, bis er zu einem Loch kam, in dem zusammengekauert ein Soldat - schlief.
Nein, es war kein Irrtum: Der Posten schlief.
Den breiten Kragen des Lammfellmantels hatte er hochgeschlagen, so daß nur der obere Teil des Stahlhelms heraussah, sein Gesicht war im Pelz vergraben, und in seinen regelmäßigen Atemstößen zitterten die dünnen Reiffäden, die sich rundum gebildet hatten. Die Hände hatte er in die Ärmel gesteckt und die Füße in Filzstiefeln unter den Mantel gezogen.
Das war ungefähr das Schlimmste, was Bevern passieren konnte. Ein schlafender Posten! Und als er kniend und unbeweglich auf den Schlafenden sah, erfüllte ihn fast triumphierende Befriedigung: Hier hatte er einen erwischt. Nur ganz kurz bedauerte er, daß er keinen Zeugen hatte. Aber das würde ja nicht notwendig sein. Sein Offizierswort würde bei der Verhandlung genügen, und die exemplarische Strafe, die nur Tod durch Erschießen heißen konnte, würde auf alle anderen in diesem verfluchten Haufen sehr erzieherisch wirken.
Sein Blick glitt langsam empor zu den Sandsäcken, die im Halbkreis, gegen den Wald sichernd, rund um das MG-Nest aufgebaut waren. Mitten darin befand sich eine schmale Scharte, davor stand das MG. Wenn er den Mann aufweckte, wollte er es nicht kniend tun, in einer, wie es ihm schien, lächerlichen Haltung, sondern so, wie sich’s gehörte: Hochaufgerichtet, auf ihn herabblickend. Langsam, jedes unnötige Geräusch vermeidend, rutschte er ins Loch und richtete sich auf - dabei immer zu den Sandsäcken aufschauend. Ob sie wohl genügend Schutz boten? Natürlich, sagte er sich, durch die kann keine Kugel durchdringen - und außerdem konnte ihn ja niemand sehen, wenn er den Kopf nicht herausstreckte. Dabei entging ihm, daß sich die unbewegliche Gestalt des Postens rührte. Als er wieder hinuntersah, den Mund bereits offen, um loszubrüllen, schaute er in zusammengekniffene, spöttische Augen - Schwaneckes.
Seine Verletzungen aus dem Messerkampf mit Tartuchin waren schmerzhaft, aber nicht gefährlich gewesen. Nachdem ihn Kronenberg gefunden und seine Stichwunden versorgt hatte, blieb Schwanecke noch ein paar Tage im Lazarett. Dann hatte ihn Bevern aufgestöbert. »Der Mann ist doch nicht krank«, hatte er zu Kronenberg gesagt. »Zum Faulenzen ist die Zeit zu ernst. Sorgen Sie dafür, daß sich Schwanecke morgen wieder dienstfähig bei seiner Einheit meldet ...«
Schwanecke hatte vor Wut gekocht.
»Aufwachen!« schrie Bevern und dachte nicht daran, daß es lächerlich war, »Aufwachen!« zu brüllen; und auch die einzige folgerichtige Antwort Schwaneckes ging an ihm vorbei, als hätte er sie gar nicht gehört. Er dachte nur daran, daß er ihn jetzt hatte. Jetzt gab es keine Ausflüchte und Mätzchen mehr. Der Mann war schon so gut wie tot. Und das war richtig so. Es war das Beste, was geschehen konnte, daß es gerade Schwanecke war, den er hier erwischt hatte.
»Warum? Ich bin ja schon wach«, sagte Schwanecke.
»Stehen Sie auf!«
Schwanecke stand langsam und sich reckend auf. Dann gähnte er. »Sie kommen immer in einem unrichtigen Augenblick«, sagte er, zum zweitenmal gähnend. »Ich habe gerade ...«
»Sie haben geschlafen!«
»Das wollte ich Ihnen ja sagen. Ich habe gerade geträumt, ich wäre in Hamburg mit so ‘ner hübschen Blonden ... Sie können gar nicht glauben, was für tolle Hüften sie hatte. Und nun kommen Sie ...«
»Sie haben geschlafen - und Sie geben es zu?«
»Na klar«, sagte Schwanecke. »Allerdings habe ich Sie schon bei der dritten Krümmung von hier ab gehört. Sie haben auf der Kriegsschule nicht aufgepaßt, Herr Oberleutnant! So darf man sich an der Front nicht anschleichen!« Sein Gesicht grinste, seine Stimme grinste - nur seine Augen waren kalt, leblos wie zwei Glaskugeln.
»Wissen Sie, was das bedeutet?« fragte Bevern lauernd.
»Nee. Was denn?«
Bevern sagte langsam: »Schlafen auf Posten in unmittelbarer Nähe des Feindes ...«
»Ach so - das meinen Sie! Und wie geht’s weiter?«
»Kriegsgericht«, sagte Bevern ruhig. »Und das wird gleich hier bei uns erledigt. Packen Sie Ihre Siebensachen, Sie kommen mit.« Er war ruhig, Schwaneckes dreckige Antworten prallten wirkungslos an ihm ab. Warum sollte er sich noch darüber aufregen, der Mann war sowieso erledigt.
»Darf ich nicht bevor nicht die Ablösung kommt«, sagte Schwanecke. »Leisten Sie mir so lange Gesellschaft, Herr Oberleutnant? Wir könnten uns - wir könnten uns aussprechen, Herr Oberleutnant. Was meinen Sie? ... Wir sind ja ganz allein hier, und wir bleiben noch eine ganze Weile allein. Es ist doch eine Gelegenheit ... ein Wort unter Männern ...«
Die kalte, überlegene Ruhe fiel langsam von Bevern ab. Schwaneckes Worte drangen nur nach und nach in sein Bewußtsein, doch dann verstand er. Über seinen Rücken kroch es eisig, und er machte einen Schritt zurück, als wollte er in den Laufgraben entweichen. Doch Schwanecke streckte ganz langsam den Arm aus, packte ihn an den Mantel aufschlägen, zog ihn zu sich und drehte sich dabei selbst so, daß er den Rückweg versperrte.
Bevern war unfähig, sich zu widersetzen. Es war zu ungeheuerlich, was jetzt geschah, es war unmöglich. Doch als er in Schwaneckes Gesicht sah, stürzte die Wirklichkeit über ihn: Es blieb wahr. Und dann sah er, wie sich Schwaneckes grinsender Mund öffnete und wie aus ihm langsam Worte kamen und wie Lebewesen in ihn drangen und von ihm Besitz ergriffen, bis jede Zelle seines Körpers von ihnen durchdrungen war:
»Vors Kriegsgericht, sagst du? Erschießen, sagst du? Puffpuff - und weg ist Schwanecke, meinst du? Das würde dir so gefallen, was? Schwanecke tot und Bevern - oder wie du schon heißt - freut sich wie ein Schneekönig ...«
»Lassen Sie mich vorbei!« zischte Bevern.
»Aber, aber, sachte, sachte! Ich habe gesagt, wir wollen ein Wort unter Männern sprechen, du Schwein! Kannst du dich erinnern? Wir haben über viele Sachen zu sprechen. Nicht doch, nicht die Pistole, was willst du damit? Ich müßte dir auf das Pfötchen schlagen - weg die Hände!«
Bevern ließ ab von der Pistolentasche. »Was wollen Sie -wissen Sie, was das bedeutet? Behinderung eines Vorgesetzten .«
»Halt’s Maul!« Schwanecke wischte sich über die Augen. Kleine Eisstückchen klebten an den Wimpern, jetzt grinste er nicht mehr, und Bevern hatte plötzlich das Empfinden, daß er weit, weit weg war von hier, wie ein Mann, der angestrengt über irgend etwas nachdachte. Und dann kam er wieder zurück, und als er weitersprach, grinste er nicht mehr:
»Du bist ein verdammtes Schwein - und ich werde dich jetzt erledigen. Was glaubst du, wie sich die andern freuen werden, wenn du ein toter Mann bist? Das wird ein Feiertag für das ganze Bataillon. Kriegsgericht - meinst du? Nicht ich werde ins Gras beißen - das kannst du mit mir nicht machen!«
»Sie - Sie -!« schrie Bevern mit einer hohen, fistelnden Stimme, sein Gesicht war verzerrt, und aus seinen Augen schrie unsinnige Angst. Und dann rief er um Hilfe, aber seine Stimme ertrank in der weißen Weite umher, und er wußte, daß ihn hier niemand hören würde. Es war umsonst, der Mann vor ihm war der Tod. Es gab keine Hilfe. Das wußte Bevern, und er schrie seine Angst hinaus, aber er schrie nicht nach Hilfe anderer Soldaten, sondern nach Hilfe jener Frau, nach der so viele tödlich verwundete Männer schrien, wenn sie ihr Leben mit dem Blut, das aus ihnen rann, mitten in Schmerzen entweichen fühlten. Er schrie »Hilfe!«, aber er meinte die Mutter: jene stille, bescheidene Frau, die er früher verachten zu müssen glaubte, weil sie sich nichts aus seinem Glauben machte und aus seinen Idealen; und er meinte nicht nur diese bestimmte Frau, die seine Mutter war, sondern alle Welten, die sich hinter diesem Wort verbergen, und die aus ihrem Schoß entspringen, und alle Mütter, die schützend die Hände um die weinenden Kinder legen: die letzte Instanz der Hilflosen und Sterbenden.
Mitten in diesen Schrei schlug Schwanecke zu.
Bevern sank betäubt zu Boden.
Nun handelte Schwanecke schnell und sicher, als hätte er es schon hundertmal durchexerziert.
Ohne den Blick von Bevern zu wenden, jagte er aus dem Maschinengewehr zwei, drei Feuerstöße gegen den Wald, in dem sich, wie er genau wußte, mindestens drei Scharfschützen verbargen. Dann schlug er mit der Handkante gegen Beverns Halsschlagader, packte ihn unter den Armen, hob den schweren, schlaffen Körper ächzend hoch, trug ihn hinter das Maschinengewehr und schob den Ohnmächtigen langsam empor.
Er brauchte nicht lange zu warten.
Schon nach zwei oder drei Minuten hörte und fühlte er einen dumpfen Schlag gegen Beverns Körper, und gleich darauf hörte er drüben im Wald einen Abschuß.
Er ließ den Körper fallen und beugte sich über ihn.
An der Nasenwurzel des leicht erstaunten, ein wenig verzerrten Gesichtes saß ein kleiner, runder, sauberer Einschuß. Der Stahlhelm wies hinten ein gezacktes Loch auf. Ein glatter Durchschuß. Manchmal ist der Krieg doch zu etwas nütze, dachte Schwanecke grimmig, und schießen können die Brüder, verdammt noch mal ...
Dann richtete er sich wieder auf, drehte sich um und jagte eine ganze Serie wütender, langer Feuerstöße gegen den Wald. Immer wieder drückte er auf den Abzug, bis der Gurt leer war. Dann legte er einen neuen ein und jagte auch diesen durch den Lauf, und ein wilder, düsterer Triumph erfüllte ihn, als er das rüttelnde Stoßen des Maschinengewehrs in seiner Schulter spürte und die rasenden Garben den Schnee von den Zweigen im Wald gegenüber peitschten. Seine Augen waren voll flak-kernden Irrsinns.
»So«, sagte er, als auch der zweite Gurt leergeschossen war. »Das genügt.«
Der Tod Oberleutnant Beverns war keine große Sensation. Er wurde registriert, in Listen aufgenommen, in Wehrstammrollen eingetragen. Hauptmann Barth sagte am Telefon zu Obermeier: »Er war ein irregeleiteter Junge - es gibt ‘ne ganze Menge davon.« Und Wernher, der seine Probleme, die Bevern betrafen, so plötzlich und einfach gelöst sah, sagte: »Armer Kerl - stirbt, ohne je ein Mädchen geliebt zu haben ...« Nur Krüll war recht nachdenklich und still. Daß dem schneidigen Bevern niemand eine Träne nachweinte, im Gegenteil, daß es aussah, als ginge ein Aufatmen durch das ganze Bataillon, vor allem aber durch die rückwärtigen Dienste, die Bevern mit Vorliebe unsicher gemacht hatte, machte ihn ängstlich oder gab ihm zumindest zu denken. Er wußte, daß er nicht weniger verhaßt war als Bevern. Wenn er auch ein wenig zahmer geworden war, nach seinem Erlebnis im Graben, wenn er auch fühlte, daß er etwas mehr in die Gemeinschaft der Soldaten gefunden hatte, war er sich seiner Untergebenen nicht sehr sicher - zumal er immer noch der Überzeugung war, daß ein Spieß im Strafbataillon vornehmlich dazu da war, um den Soldaten die Freude am Leben zu vergällen.
Für Schwanecke allerdings war die Sache mit Beverns Begräbnis hinter den Häusern von Babinitschi nicht zu Ende.
Als erster, im Graben noch, hatte ihn Unteroffizier Hefe ausgefragt.
»Bevern ist von den Scharfschützen geknackt worden!« hatte Schwanecke keuchend erzählt, wie ein geborener Schauspieler darauf achtend, daß in seiner Stimme das richtige Maß von Bestürzung war.
»Wo?«
»Bei mir, ganz vorne.«
»Ach ...« Unteroffizier Hefe hatte Schwanecke schief angesehen. »Besser konnte der Affe ja nicht fallen. Wer war dabei?«
»Keiner. Nur ich.«
»Also bist du der einzige Zeuge?«
»Na klar.«
»Und warum hast du nicht verhindert, daß der Idiot über den Graben guckt?«
»Kann ich einem Offizier befehlen?«
»Hast du ihn gewarnt?«
»Aber ja.«
Mit Obermeier war es dann schon schwieriger. Der Oberleutnant ließ ihn heranholen und verhörte ihn eingehend.
»Wie lange waren Sie mit dem Oberleutnant zusammen?«
Schwanecke sah gegen die Decke des Blockhauses. »Vielleicht - na, vielleicht fünf Minuten.«
»Und was sagte Oberleutnant Bevern?«
»Als er mich sah, sagte er: >Da bist du ja, Sauhund!««
Obermeier sah auf seine Hände. Wenn er auch kein Mitleid mit Bevern empfand, so kam ihm der Heldentod des verhaßten Adjutanten doch verdächtig vor, und seine Pflicht als Offizier war - und nicht nur die als Offizier -, daß dieser Tod restlos geklärt wurde. An jeder anderen Stelle hätte man Bevern den unglücklichen Schuß geglaubt und die Sache zu den Akten gelegt. Aber ausgerechnet bei Schwanecke, allein, ohne Zeugen. Das wird eine Situation gewesen sein, dachte er, wie sich Schwanecke eine ähnliche nur erträumen konnte. Die Konsequenzen, die aus diesen Überlegungen erwuchsen, waren ungeheuerlich. Sie waren zu abwegig, um weiter untersucht zu werden, und doch ... und doch: bei Schwanecke hatte man es nicht mit einem gewöhnlichen Soldaten zu tun. Er war ein Krimineller, und man brauchte nur in seine Augen zu sehen, um zu wissen, daß er auch ein Mörder sein konnte.
»Wie ist das passiert?«
»Ich sage: >Obacht, Herr Oberleutnant, da drüben liegen sibirische Scharfschützen<, und er sagt: >Haben Sie Angst, Sie Fla-sche?< Ich sage: >Nein, aber die schießen verdammt genau !< Und er sagt: >Blödsinn!< guckt über den Rand, und da macht’s bumm, und er kippt um. Aus war’s. Es ging alles sehr schnell, Herr Oberleutnant, er wollte ja immer beweisen, daß .«
Obermeier winkte ab. »Schon gut, gehen Sie jetzt, Melden Sie sich beim Oberfeldwebel Krüll.«
Aufatmend verließ Schwanecke den nachdenklichen Obermeier. Er bummelte hinüber zur Schreibstube, begrüßte ein paar alte Bekannte und trat dann bei Krüll ein. Er glaubte, die Sache nun endgültig hinter sich zu haben. Bevern war tot, was konnte ihm, Schwanecke, schon passieren? Er starb den Heldentod, dachte er böse, und dabei wollte er mich vors Kriegsgericht bringen, erschießen, das Erschießungskommando selbst leiten - bums, weg ist der Schwanecke. Aber dabei hat’s bums gemacht, und weg war der Bevern, und keine Spur mehr vom Kriegsgericht ...
Jetzt hat dich der Teufel geholt, dachte er, ich hab’s dir gesagt: Nicht mit mir. Mit allen anderen, aber nicht mit mir .!
Oberfeldwebel Krüll sah auf, als Schwanecke ohne anzuklopfen eintrat. Er lehnte sich zurück, verschränkte gelassen die Arme und nickte ein paarmal.
»Natürlich, wer denn sonst. Der Mann ohne Kinderstube. Der beinahe perfekte Sittlichkeitsverbrecher und Räuber!«
»Lassen Sie man das >beinahe< weg«, grinste Schwanecke.
»Und Mörder? Wie wär’s mit dem >beinahe perfekten Mör-der«
Schwanecke kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht verzog sich zu einer häßlichen Grimasse. Heiße Wut zuckte in ihm empor und überspülte für einen Moment seine lauernde, fast immer wache Vernunft.
»Sie kommen auch noch dran!« zischte er. Krüll fuhr auf.
»Was heißt - auch?« schrie er.
»Auch - heißt, daß Sie drankommen, wie wir alle drankommen werden«, sagte Schwanecke, wieder vorsichtig geworden.
»Auch - das kann mehr heißen! Halt mich nicht für dumm!«
Krülls Stimme war plötzlich heiser. Er hatte Angst vor dem klobigen Mann, der mächtig und ungebändigt vor ihm stand und ihn aus seinen kalten Fischaugen anstarrte.
»Kann es«, sagte Schwanecke ungerührt.
Krüll fühlte, wie über seinen Körper ein langes Zittern lief, wie sich seine Wut auf einmal entladen wollte.
»Ich weise es dir nach, mein Junge ... ich weise es dir nach, darauf kannst du Gift nehmen.« Sein dicker Kopf pendelte hin und her, wie immer, wenn er scharf nachdenken oder irgend etwas überlegen mußte. »Und wenn sie dir die Rübe abhacken, ziehe ich meine Sonntagsuniform an und saufe mich voll!«
Schwanecke gab keine Antwort. Doch er konnte es nicht unterlassen, in die Ecke des Raumes zu spucken, bevor er die Schreibstube verließ ...
Eine Stunde später trat Stabsarzt Dr. Bergen in das Haus, wo Obermeier seinen »Gefechtsstand« eingerichtet hatte. »Wenigstens für acht Tage haben wir jetzt Lazarettmaterial«, sagte er müde. »Ihr Deutschmann hat einiges organisiert. Nächste Woche soll er wieder nach Orscha gehen ... Die Heeresapotheke bekommt neues Material. Als ob etwas in der Luft liegt .«
»Mich wundert’s ja schon lange, daß der Iwan so still ist. Die Felder sind steinhart gefroren, es gibt nicht allzuviel Schnee ... die Russen können sich kein besseres Rollfeld für ihre Panzer wünschen. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, dann knallt es.«
»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Obermeier!« Dr. Bergen setzte sich und trank schnell einen Schluck Schnaps, den ihm Obermeier im Deckel seines Kochgeschirres reichte. »Aber ich komme nicht deswegen ... wenn’s losgeht, werden wir es früh genug wissen. Ich bin zwar kein alter Frontsoldat, aber man müßte aus Holz sein, um nicht zu spüren, daß dies -eh - wie man so sagt, die Ruhe vor dem Sturm ist. Was ich sagen wollte ... Dr. Hansen hat da etwas entdeckt, was er mir erst heute gesagt hat. Er hat darüber ein Protokoll angefertigt ... es geht um Bevern. Aber lesen Sie selbst, bitte.« Er reichte Obermeier einige Blätter Papier und trank noch einen Schluck Schnaps.
»Daß ihr Ärzte auch kein Deutsch schreiben könnt«, sagte Obermeier nach einer Weile seufzend.
»Also ich will’s Ihnen erklären: An der Leiche von Oberleutnant Bevern wurde neben dem Einschuß im Kopf noch eine Schwellung am Kinn und, was wichtiger ist, eine am Kehlkopf seitlich, mit einem kleinen Bluterguß, festgestellt. Das bedeutet, daß diese Schwellungen schon da waren, bevor Bevern durch den Kopfschuß getötet wurde. Können Sie sich das erklären?«
»Was meinen Sie damit?«
»Passen Sie auf: Es ist möglich, daß Bevern bei seinem Inspektionsgang durch die Gräben ausgerutscht und hingefallen ist. Das könnte die Schwellung am Kinn erklären. Oder glauben Sie, daß er etwa in eine Schlägerei verwickelt war?«
»Kaum anzunehmen«, sagte Obermeier.
»Also, das wäre die Schwellung am Kinn. Aber wie erklären Sie sich die Schwellung und den Bluterguß am Hals? Diese können durch keinen Sturz entstehen. Ich war eine Zeitlang -es ist schon lange Jahre her - Polizeiarzt. Solche Schwellungen am Hals entstehen nur, wenn man mit einem stumpfen Gegenstand dagegenschlägt. Etwa mit einem dicken Stock oder ...« Dr. Bergen schlug mit gestreckter Hand durch die Luft.
»Sie meinen - Handkantenschlag?« fragte Obermeier fas-sungslos.
»Kann sein ...« Dr. Bergen zuckte mit den Schultern. »Solche Schläge können, wenn sie mit großer Wucht ausgeführt werden, tödlich sein.«
»Und Sie meinen .«
Dr. Bergen winkte ab. »Nein, nein. Beverns Tod ist eindeutig durch ein Infanteriegeschoß verursacht worden. Vorne ‘rein, hinten ‘raus - und Sie wissen ja, daß die modernen Infanteriegeschosse mit ihrer Rasanz bei Kopfdurchschüssen verheerende Wirkungen haben können. Und das ist bei Bevern geschehen. Aber - und das ist, worüber Sie sich Gedanken machen müssen: Der Schlag gegen Beverns Kehlkopf genügte, um ihn bewußtlos zu machen. Und das muß kurz vor dem Tode gewesen sein. Ich bin kein Detektiv - und Sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Sie sind der Kompaniechef. Bei Ihnen ist das passiert .«
Schweigen.
Nach einer Weile sagte Obermeier langsam und schwer: »Wenn ich Sie recht verstanden habe, hat irgend jemand - wir wollen jetzt keinen Namen nennen - Bevern niedergeschlagen und ihn dann erschossen.«
Dr. Bergen trank wieder. »Hansen hat festgestellt, daß der Schuß nicht aus unmittelbarer Nähe abgefeuert wurde. Sie wissen ja, wir Mediziner können das. Wahrscheinlich war’s doch ein russischer Scharfschütze. Ich möchte mich nicht festlegen ... aber das, was Sie vorher gesagt haben, dürfte meiner Meinung nach der Wahrheit ziemlich nahekommen.«
»Also sprechen wir es aus: Schwanecke - niemand anders kann es gewesen sein - hatte Bevern zuerst k. o. geschlagen, ihn mit einem Handkantschlag noch tiefer betäubt und am Ende erschossen - oder von einem russischen Scharfschützen erschießen lassen. So etwas kann man arrangieren - wenn man Bescheid weiß ...«
»Es war Bevern, aber .«
»Sie meinen - aber es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als diesen Bericht an Hauptmann Barth weiterzugeben«, beendete Obermeier.
»So ist es.« Dr. Bergen trank den restlichen Schnaps aus. Auch wenn er widerlich schmeckte, war es doch ein Gesöff, das ihm half, das Ganze zu ertragen. Alles, was sich hier abspielte, war ungeheuerlich, zu ungeheuerlich, um es mit wachen Sinnen und klarem Verstand ertragen zu können. »Auch wenn Bevern ein Schwein war ... Mord bleibt Mord, ganz gleich, an wem er verübt wurde.«
»Ich werde gleich - ich werde nachher Schwanecke festnehmen lassen und ihn noch einmal verhören.«
Dr. Kukill hatte vergeblich versucht, Julia Deutschmann telefonisch zu erreichen. Da nach dem letzten Angriff britischer Bomberverbände die Leitungen zerstört waren, fuhr er hinaus nach Dahlem, getrieben von einer ihm bis dahin unbekannten Sorge und Ungewißheit, die sich immer mehr in Furcht wandelte, je länger er daran dachte, daß Julia den wahnwitzigen Plan ausführen könnte, Deutschmanns Versuche an sich selbst zu wiederholen.
Die Villa in Dahlem war verschlossen. Er schellte umsonst. Die Jalousien, durch Bombenabwürfe in der Umgebung zum Teil aus dem Rahmen gerissen, waren so weit heruntergelassen, wie es möglich war.
Dr. Kukill wartete eine Weile, dann öffnete er die kleine Vorgartentür und ging um das Haus herum. Nichts rührte sich. Das Haus sah grau, verlassen und leblos aus. Die Küchentür, die nach hinten in den Garten führte, war verschlossen. Julia war offensichtlich verreist. Doch merkwürdig - sie hatte ihm nie etwas davon gesagt. Aber dann sagte er sich, mit einer plötzlich aufkeimenden Bitterkeit, daß sie ihm, gerade ihm, sicher nie etwas sagen würde. Weder daß sie verreisen wollte noch irgend etwas anderes. Sie haßte ihn. Wie konnte er solch ein Narr gewesen sein, zu glauben, sie würde Deutschmann vergessen und seinen Wünschen entgegenkommen? Wohin konnte sie gegangen sein? Er wußte, daß sie keine Angehörigen mehr hatte. Ist vielleicht etwas mit Dr. Deutschmann vorgefallen? Vielleicht ist er in Rußland gefallen?
Dieser Gedanke, mit dem er in der letzten Zeit sehr oft gespielt hatte, war ihm nicht unangenehm. Und doch war da ein Unterschied zu früher, ein seltsames, bohrendes Gefühl der Unsicherheit - oder der Schuld? - wie er es früher nicht gekannt hatte. Früher war alles klar und einfach: Er begehrte Julia, er wollte sie haben, und er traute sich zu, sie zu gewinnen. Er mußte sie haben; ihr Widerstand reizte ihn nur und machte das Begehren oder das Besitzen zu einer fixen Idee. Er hatte bis jetzt alles bekommen, was er haben wollte. Warum sollte es mit Julia anders sein? Das schwierigste Hindernis war allerdings der lebende Dr. Deutschmann. Wenn er tot war, dann mußte ihm nach einer Weile des Trauerns Julia wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Was er dann mit ihr tun würde, wie es nachher weitergehen sollte, darüber macht er sich keine Gedanken.
Doch neuerdings war das alles nicht mehr so klar. Nach wie vor wollte er Julia für sich haben, aber anders als früher. Und er war nicht mehr ganz so sicher, ob er wirklich noch Deutschmanns Tod wünschte. Die Grenzen hatten sich verwischt, seine Empfindungen wurden seltsam kompliziert - ein Zustand, den er bislang nicht gekannt hatte. War das etwa -Liebe? Wenn es das war, dann war Liebe eine seltsame Angelegenheit ...
Bevor er wieder zu seinem Wagen ging, stand er noch eine ganze Weile im Garten und betrachtete das Haus. Irgend etwas in seiner Brust tat ihm weh, es stieg ihm in den Hals, es war fast ein physischer Schmerz. In diesen Augenblicken hätte er vielleicht seine ganze Karriere und alles das, was er war und was er vorstellte, darum gegeben, wenn die Tür plötzlich aufgegangen wäre und Julia mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukommen würde. Aber die Tür blieb verschlossen, das Haus war still und verlassen. So ging er wieder weg und fuhr davon. Am nächsten Tag wollte er wiederkommen, und er wußte schon, daß er immer wiederkommen würde - bis er sie fand. Er wollte sie suchen, er mußte sie finden, und sei es nur, um mit ihr über Belanglosigkeiten zu sprechen oder in ihrer Nähe zu schweigen.
Hinter einer schief hängenden Jalousie, seitlich verborgen von der Gardine, sah ihm Julia aus dem Wohnzimmer nach.
Das war ein anderer Kukill als der, den sie bis dahin gekannt hatte. Nicht mehr der eiskalte, selbstsichere Gerichtsarzt, der gesuchte Sachverständige, ein Liebling der Partei und der Frauen. Jetzt erinnerte er sie an den Kukill, der sagte, seine Nächte seien lang und seine Träume selten schön. Und noch etwas anderes war da, das ihn umgab und das in seiner Haltung zu lesen war. Aber sie konnte es nicht ergründen, und nachdem er weggefahren war, wollte sie es auch nicht mehr. Sie zwang sich, nicht mehr an ihn zu denken, als sie sich hinter Ernsts Schreibtisch setzte. Dr. Kukill war einstweilen nebensächlich. Später, wenn der Selbstversuch gelungen war, mußte er die Revision des Verfahrens einleiten. Später - wenn alles gut ging.