Kapitel 6

Schütze Hugo Siemsburg kam nach Orscha ins Feldlazarett. Er war der erste Verwundete des Bataillons 999. Ein Schultersteckschuß, der das linke Schulterblatt zertrümmert hatte. Siemsburg würde durch seine Verletzung für immer eine leicht schiefe Schulter behalten; er war somit untauglich geworden, einen Tornister zu tragen ...

»Netter Heimatschuß«, kommentierte Oberfeldwebel Krüll, als sich Siemsburg zum Transport ins Lazarett abmeldete. »Steckt kaum die Nase aus dem Bau - bum! - ist er wieder in der Heimat.«

»Das nächste Mal kannst du ja mitkommen«, meinte Unteroffizier Hefe anzüglich. »So einen Schuß kann ich dir jederzeit beschaffen.« Rußland schien die straffe, unmenschliche Disziplin im Bataillon etwas gelockert zu haben. Aber so ging es um diese Zeit nicht nur dem Strafbataillon 999, sondern allen Einheiten der deutschen Wehrmacht, die sich in den russischen Weiten herumschlagen mußten. Oft wich die Disziplin einem tiefen, starken Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Verbundenheit, wie es nur eine langandauernde Todesgefahr erzeugen kann, oft aber wurde es von Aufsässigkeit und Egoismus verdrängt, wobei jeder nur an sich selbst dachte und daran, wie er diese schreckliche Zeit überstehen konnte.

Deutschmanns Ambulanztasche kam in dieser Nacht zum ersten Male zum Einsatz. Mißtrauisch sah Krüll zu, wie Deutschmann Hugos Wunde, die er auf der schneeverwehten Straße nur notdürftig verbunden hatte, so gut wie möglich versorgte. Als er fertig war, wickelte er mit geschickten Händen vier Binden um die Schulter, durch die Achsel hindurch und befestigte sie mit einer Klammer. Krüll verzog den Mund. Er fühlte sich in diesem Augenblick neben Deutschmann klein und unwichtig.

»Vier Binden? Ist das nicht Verschwendung?«

»Wenn Sie einmal dran sind, werde ich nur zwei nehmen, Herr Oberfeldwebel«, sagte Deutschmann kalt, während er Hugo eine Tetanusspritze in den Hintern jagte.

Brummend ging Krüll weg. Das Leben der 2. Kompanie war an diesen beiden ersten Tagen knapp hinter der Front mehr als improvisiert. Sie lag hier in der Schnee-Einsamkeit am Rande von Gorki und wußte nicht, was sie hier tun sollte. Die Front selbst verlief sieben Kilometer östlich vor dem Wald. Auch dort war es in dieser Zeit still, als wären die Menschen und mit ihnen der Krieg im Frost erstarrt. Ab und zu kamen einige Munitionsschlitten vorbei. Der Kommandeur des vor ihnen liegenden Infanteriebataillons sah kurz herein und begrüßte sehr kameradschaftlich Obermeier, bis er erfuhr, daß hier eine Kompanie von 999 lag. Da wurde er sehr förmlich und fuhr bald wieder ab.

»Als hätten wir Krätze!« stellte Kentrop fest.

Es war, als spräche sich’s herum, daß ein Strafbataillon im Abschnitt lag. Zuerst nur ab und zu, dann aber immer zahlreicher, tauchten Offiziere, Zahlmeister, Feldwebel und einmal sogar ein Oberst auf - Divisionskommandeur der 26. Infanteriedivision auf der Durchreise nach Orscha -, um einen Blick auf den Betrieb zu werfen, der in einem solchen »Todeshaufen« herrschte. Sie wurden zunächst enttäuscht. Die Kompanie

- genauso wie die 1. Kompanie in Babinitschi, wo Oberleutnant Wernher mißmutig herumsaß und an seine Gutsherrin von Murowana dachte - lag in völliger Ruhe, machte ihren Dienst, der zunächst aus Sauberhalten der Quartiere und Freischaufeln der Anfahrtswege bestand, und döste im übrigen herum. Man erwartete Befehle des Bataillons. Sie wurden nicht nach Rußland an den Dnjepr geschickt, um zufaulenzen, das war klar. Schwanecke witterte es: »Diese Stille«, sagte er einmal zu Deutschmann, »das ist Mist. Irgendwas braut sich zusammen. Und wenn es losgeht, sitzen wir mitten im Dreck, sag’ ich dir. Es wird Zeit, daß wir irgend etwas unternehmen .«

Mit einem Nachschubschlitten wurde Schütze Siemsburg nach Orscha gebracht. Deutschmann mußte ihn begleiten und sollte gleichzeitig bei Hauptmann Barth einige wichtige Papiere abholen. Eigentlich sollte dies Peter Hefe tun, aber da Deutschmann sowieso nach Orscha fuhr, meinte Hauptmann Barth am Telefon: »Warum soll nicht mal ein Sanitäter Kurier spielen?«

Krüll verabschiedete sich von ihm mit den Worten: »Hauen Sie schon ab, Mann! Und wenn es unterwegs schießt, halten Sie ja Ihre Birne hin. Das wäre das Beste für Sie und für mich!«

Die Fahrt mit dem Motorschlitten nach Orscha ging glatt vonstatten. Wohl sahen sie hin und wieder zerlumpte, eingemummelte russische Bauern, aber der Unteroffizier, der den Schlitten fuhr, winkte ab. »Arme Kerle«, sagte er, »sie versuchen ihre Höfe zu retten - als ob es noch was zu retten gäbe. Sie wurden alle überprüft und sind froh, daß sie nicht mehr in ihren Kolchosen sein müssen. Viele sind Hiwis bei uns und versorgen unseren Nachschub. Partisanen sehen anders aus!«

Als sie durch Babinitschi fuhren, stand neben der Straße ein zerlumpter Kerl und winkte dem Schlitten zu. Sein eingefallenes Gesicht unter der hohen Fellmütze war gelblichbraun.

»Guten Morgen, Väterchen!« rief der Unteroffizier vom Schlitten herab.

Oberleutnant Sergej Petrowitsch Denkow grinste breit.

»Guten Morrgenn, Briderrchen!« rief er zurück und winkte wieder. Dann ging er weiter, hindurch durch Babinitschi, vorbei am Quartier Oberleutnant Wernhers gegen das freie Land zu, an dessen Horizont der dunkle Wald lag ...

In Orscha gab Hauptmann Barth dem wartenden Deutschmann ein dickes Kuvert. »Einsatzbefehle. Passen Sie gut auf!« sagte er abschließend.

Deutschmann grüßte und ging. Langsam stapfte er durch den schmutzigen auseinandergezogenen Ort. Er hatte Zeit bis zum Abend. Im Bataillonsgefechtsstand hatte er erfahren, daß der nächste Schlitten erst bei Anbruch der Dunkelheit zurückfuhr. So ging er zum Feldlazarett, einem der wenigen festen Ziegelbauten des Ortes, in dem früher eine Schule war, um Graf Siemsburg zu besuchen. Siemsburg war inzwischen neu verbunden worden und sollte mit dem nächsten Zug nach Boris-sow kommen. In Orscha hatte man keine Röntgenapparate, um ihn zu durchleuchten.

»Wenn ich Glück habe, können sie das Schulterblatt flik-ken«, sagte Hugo und lächelte schwach. »Allerdings kommt es darauf an, welcher Chirurg mich unter die Finger bekommt. Hier erzählt man, daß in Sokolow ein phantastischer Arzt sitzen soll. Ehemaliger Chefarzt einer Universitätsklinik. Aber dahin bringt man wohl keinen von 999 .«

»Auch nicht wenn er ein Graf ist?« fragte Deutschmann lächelnd. Siemsburg gähnte. Man hatte ihm eine Spritze gege-ben, die Schmerzen ließen nach, er wurde müde. »Auch dann nicht. Die Zeit der Grafen ist vorbei«, murmelte er. »Aber sag einmal, du bist doch selbst ein Arzt. Wird man mich wieder einigermaßen zusammenflicken können?«

»Von der Chirurgie verstehe ich nicht viel, aber soviel ich weiß, kann man das so machen, daß du später nicht mal merkst, daß du verwundet worden bist.«

»Hoffen wir’s«, murmelte Siemsburg, »hoffen wir’s. Mußt du jetzt gehen? Vielleicht sehen wir uns irgendwann, irgendwo einmal wieder .«

Deutschmann schlenderte durch die harten, festgefrorenen, vor Schneewehen fast unpassierbaren Straßen hinunter zum Dnjepr und blieb in der Nähe der hölzernen Brücke stehen, wo er später den Unteroffizier mit dem Motorschlitten treffen sollte. Eis trieb auf den trägen Wellen und brach sich an großen eisernen Dornen, mit denen die Pioniere die Brücke geschützt hatten. Ein Mädchen schleppte sich mit einem großen Korb Holz ab, setzte ihn ab und zu auf den Schnee, wischte sich über das Gesicht und hob den Korb dann wieder auf. So ging es langsam gegen ein kleines, im Schnee halb verstecktes Bauernhaus am Dnjepr zu.

Deutschmann sah dem Mädchen eine Weile zu und ging dann langsam zum Ufer hinunter, um ihr zu helfen. Hinter ihr blieb er stehen. Ihr Haar glänzte in der Sonne wie schwarzer Lack. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Seufzend bückte sie sich, um den Korb, den sie hingestellt hatte, wieder aufzuheben. Da legte er die Hand auf ihren Arm.

Sie fuhr herum, ihr Blick war voller Schrecken und Entsetzen. Über die aus dem schmalen Gesicht leicht heraustretenden Backenknochen lief eine kurze, blasse Röte. Sie preßte ihre Hände gegen die Brust und sah Deutschmann aus den großen schwarzen Augen ängstlich an.

»Hast du Angst?« fragte er. »Komm, der Korb ist viel zu schwer für dich. Ich trage ihn dir ins Haus.«

»Njet!« Sie schüttelte den Kopf. Die Angst in ihren Augen verflüchtigte sich. Über ihr Gesicht huschte ein kleines Lächeln. »Ich kann traggenn.«

»Du sprichst Deutsch?«

Sie nickte. »Ein bißchen«, sagte sie. »Ein wenigg.« Sie blickte auf die Schulter seiner Uniform und sah, daß er keine Schulterstücke trug. Wie hatte Sergej gesagt? Sie müssen eine Geheimwaffe ausprobieren. Fieberhaft überlegte sie. Was sollte sie tun? Sie mußte ihn ausfragen, festhalten, sie mußte ... Kein Soldat auf der Welt läuft ohne Schulterklappen herum. »Bist du schon lange in Orscha?« fragte sie. Deutschmann bückte sich und nahm den Korb mit Holzscheiten auf. »Geh voraus, ich trag’ dir den Korb ins Haus.«

»Danke, Soldatt ...«

Sie schritt ihm voran, in Stepphosen und welligen Stiefeln. Beim Gehen wiegte sich ihr Körper leicht; sie war schlank, fast unwirklich schmal in der Taille. Deutschmann hatte bislang eine andere, landläufigere Vorstellung von Russinnen. Er dachte, wie es üblich war, daß alle klein, dick und rund seien. Doch dieses Mädchen hier ...

»Serrr schwerr?« fragte sie nach hinten.

»Nicht sehr.«

»Nicht für einen Mann«, lachte sie. Ihre Zähne waren weiß wie der Schnee ringsherum.

Durch Deutschmanns Gehirn schoß ein kurzer, scharfer Gedanke an Julia. Sehr deutlich sah er sie plötzlich vor sich stehen und vergaß es wieder. Der Korb war schwer und drückte ihm auf die Schulter. Er war nicht gewohnt, Lasten zu tragen.

Das Mädchen stieß die Tür der Hütte auf. Deutschmann schleppte den Korb hinein und stellte ihn aufatmend neben das lustig flackernde Feuer, an den gemauerten Ofen.

»Nicht herumsehen«, sagte sie leise. »Es ist Krieg, und Krieg ist schmutzig.« Deutschmann lauschte entzückt dem Klang ihrer weichen, melodischen Stimme, die der starke slawische Akzent noch anziehender machte. Er hatte viel darüber gehört, wie hübsch es klingt, wenn Russinnen Deutsch sprechen. Nun hörte er’s zum erstenmal selbst. Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem sonst Sergej saß und betrachtete ein Ikonenbild, das verraucht und vom Alter dunkel geworden an der Wand neben dem Ofen hing.

»Die Heilige Mutter von Kasan«, sagte er.

»Du kennst sie, Soldatt?«

Deutschmann lächelte. »Wie alt bist du?« fragte er auf russisch.

Sie fuhr herum und starrte ihn wieder ängstlich geworden an.

»Zwanzig Jahre«, sagte sie, ebenso auf russisch.

»Sehr jung - und sehr hübsch«, sagte er. Ein merkwürdiger, nie gekannter Leichtsinn überkam ihn, ließ ihn leicht und fröhlich und neugierig auf den Ausgang dieses Abenteuers werden.

»Du sprichst Russisch?« fragte sie.

»Soviel wie du Deutsch.«

Über Deutschmanns Gesicht zuckte das schwache Licht des offenen Feuers auf dem Herd. »Wer bist du?« fragte er. »Wie heißt du?«

»Tanja«, sagte sie.

»Tanja - sehr hübsch. Und was machst du hier? Lebst du ganz allein?«

»Ja.«

»Hast du keine Angst - vor dem Krieg, vor uns?«

»Ja. Ich habe Angst. Vor dem Krieg - und vor euch. Warum hast du getragen Korb?«

»Um dir zu helfen. Er war zu schwer für dich.« Deutschmann erhob sich. »Also - Tanja - Tanjuschka, wie ihr sagt, ich muß jetzt gehen.«

»Wohin?«

»Wohin? Zu meinen Kameraden.«

»An den Wald von Gorki?«

Deutschmann fuhr herum und schaute sie mißtrauisch an. Aber sie lächelte ihn an wie ein unschuldiges Kind. Ihr Gesicht war mild und sanft, über ihr schwarzes Haar huschte rötlich der Widerschein des Feuers. »Woher weißt du das?«

»Das weiß jeder. Alle Truppen, die hier vorbeiziehen, gehen nach Babinitschi und Gorki.«

»Du bist nicht von Orscha?«

»Warum?«

»Du hast ein anderes Gesicht. Woher kommst du?«

»Von der Wolga ... Kennst du Wolga?«

»Nein.«

»Du würdest Wolga nie vergessen. Sie ist schön, wunderschön. Sie ist ...«

»Du bist wunderbar«, unterbrach Deutschmann sie leise.

Sie lachte. Es klang hell, silbern und frei. »Willst du essen?« fragte sie.

»Du hast doch selbst nichts. Ich habe keinen Hunger.«

»Es ist eine russische Sitte, du bist in Rußland, du bist mein Gast - ich habe Fleisch und Brot.«

Deutschmann nickte, unfähig zu sprechen. Er ging wie durch einen Traum und fürchtete zu erwachen. Tanja trat einen kleinen, schnellen Schritt gegen ihn und strich mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Er nahm ihre Hand und küßte sie. Die Hand war klein, schmal und paßte nicht hierher in diese halbverfallene Hütte, genausowenig wie das ganze Mädchen nicht hierher paßte. Aber er fragte nicht danach. Er lebte in einem Wunder. Das Mädchen war ein Wunder, und ihre Hand war eines und ihre Finger, die jetzt über seine Lippen strichen.

»Wie heißt du?« fragte sie.

»Deutschmann ...«

»Oh - kein schöner Name. Ein böser Name. Ich werde ihn vergessen. Du bist Michael, der große, strahlende Held Michael ...«

»Ja ...«, sagte er zitternd. Eine Schwäche durchzog ihn, gegen die er sich umsonst wehrte, ihr Zauber umfing ihn, und er wußte, daß er die Schwäche und den Zauber nie besiegen würde.

»Du bist schön«, flüsterte er, »du bist schön, du bist wunderschön .«

Deutschmann aß Fleisch und Brot, die Eier und die Butter. Tanja bediente ihn; sie stand am Herd und briet die Eier in einer großen, kupfernen Pfanne. Draußen zog der Abend über den Dnjepr. Das Eis krachte gegen die Brückenpfeiler. Dumpfe Sprengungen der Pioniere rollten durch die Dämmerung.

Tanja saß neben Deutschmann und starrte hinaus durch das Fenster und über den Fluß. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Sie schmiegte sich an ihn, als suchte sie Schutz bei diesem großen, fremden, seltsamen Mann, der so ganz anders war als Sergej und die anderen Männer, die sie bis dahin kennengelernt hatte, so verschieden von den deutschen Soldaten, die sie täglich sah. Ihren Kopf mit den glatten schwarzen Haaren hatte sie an seine Wange gelegt.

»Ich muß gehen«, sagte er endlich. Seine Stimme zerriß die zauberhafte Stille. Sie nickte und hob das Gesicht empor.

»Küß mich«, sagte sie kaum hörbar.

Er tat es. - Ihre Lippen waren weich und kühl.

»Tanja ...«, flüsterte er und immer wieder: »Tanja - Tanja ...« Was war mit ihm geschehen? Wie war das möglich? Er saß hier, mitten in Rußland, und hielt einen warmen, anschmiegsamen und leicht zitternden Mädchenkörper in den Armen und sank in eine weiche, zärtliche, dämmernde Stille, in der es nur noch ihn und sie gab.

Von der Brücke herüber tasteten Scheinwerfer den Dnjepr ab. Eine Autokolonne rumpelte mit aufheulenden Motoren über die Holzbohlen. Er mußte gehen. Er mußte sich losreißen von ihr. Es ging nicht. Julia ...

Deutschmann stand mit einem Ruck auf.

»Leb wohl«, sagte er heiser.

»Auf Wiedersehen, Michael ...«

Ihre Augen begleiteten ihn, bis er in der Dämmerung verschwand. Sie waren ängstlich und traurig.

Der Motorschlitten wartete schon auf ihn. Wortlos hockte er sich neben den schimpfenden Unteroffizier auf den unbequemen Sitz. Er hörte kaum, was der andere sagte. Er starrte in die Schneenacht, sein Blick war leer, abwesend. Er fror nicht in der klirrenden Kälte, er spürte nicht die Stöße des ungefederten Fahrzeugs. Er dachte an Tanja und an Julia und wieder an Tanja ...

Zwischen Gorki und Babinitschi überholten sie einen alten, wackeligen Bauernschlitten. Das kleine, struppige Pferdchen vorne zockelte durch den Schnee als kenne es nichts anderes: Schneesturm und Einsamkeit.

Vergnügt und höflich winkte Sergej Denkow dem Motorschlitten zu.

Aber auch ihn bemerkte Deutschmann kaum. Er sah die Augen Tanjas und hörte ihre weiche, singende Stimme. Sang der Südwind so, wenn er über die Wolga strich?

Oberleutnant Obermeier las die Befehle und Verordnungen, die Deutschmann aus Orscha mitgebracht hatte. Er las sie zum zweiten und zum dritten Male, ehe er ans Telefon ging und sich über die 1. Kompanie nach Orscha mit dem Bataillon verbinden ließ. Vorher jedoch warf er Oberfeldwebel Krüll aus dem Zimmer: »Sehen Sie mal zu, was die Feldküche zusammenbraut. Und kommen Sie vor einer halben Stunde nicht wieder.«

Zutiefst beleidigt verließ Krüll die »Schreibstube«.

Die Verbindung zu Hauptmann Barth kam schnell.

»Grüß Gott, Obermeier«, sagte Barths Stimme freundlich. »Was gibt’s«

Obermeier räusperte sich. Er wußte nicht, ob Barth wirklich freundlich war oder nur so tat. Bei Barth wußte man es nie genau.

»Ich habe soeben die Befehle bekommen, Herr Hauptmann«, sagte er. Die Papiere in seiner Hand zitterten.

»Ist ja fein. Freuen Sie sich?«

»Freuen - darüber könnte man geteilter Ansicht sein, Herr Hauptmann. Was heißt das: Zwischen Gorki und Babinitschi nach dem vorliegenden Plan Auswerfen eines Grabensystems? Das ist doch Schanzen. Sie sagten, wir sollten etwas anderes.«

»Alles überholt, Obermeier, alles überholt. Sie wissen ja, wie das geht: Heute das, morgen wieder etwas anderes. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, und so viel Köpfe, so viel Pläne. Wollen Sie noch mehr Zitate?«

»Wann sollen wir anfangen?«

»Morgen.«

»Die Erde ist bis zu einem Meter steinhart gefroren. Darauf liegt zirka siebzig Zentimeter Schnee.«

»Was hat das mit dem Schanzen zu tun? Es gibt Spitzhacken und für hartnäckige Fälle Sprengladungen.«

»Außerdem werden hinter Gorki mehr als anderthalb Kilometer der Strecke vom Feind eingesehen. Sollen wir etwa bei voller Feindeinsicht schanzen?«

»Obermeier, hören Sie mal zu!« Barths Stimme wurde trok-ken und hart. »Sie denken zuviel, und Sie reden zuviel. Wenn in dem Befehl steht: Auswerfen eines Grabensystems zwischen Gorki und Babinitschi, dann gilt das auch für den vom Feind eingesehenen Teil! Dort wird entweder nachts oder am frühen

Morgen gearbeitet. Das Oberkommando der Wehrmacht rechnet damit, daß nach Abflauen der Frostperiode, also etwa gegen Ende Februar, der Russe einen großen Gegenangriff unternimmt und den Keil, der noch immer auf Smolensk zeigt, zusammendrückt. Witebsk ist in Gefahr. Dort liegt kaum Schnee, die Schlammstraßen sind gefroren und sind eine ideale Rollbahn für die russischen Panzer. Im Süden - bei Kiew - stoßen die Russen über den großen Dnjepr-Bogen vor und wollen unsere Flanke aufreißen. Es stinkt an der ganzen Front, Obermeier. Hier soll eine Auffangstellung gebaut werden, von der ziemlich viel abhängt. Wieviel können Sie schon daraus ersehen, daß sie so knapp hinter der ersten Frontlinie ausgeworfen wird. Es geht um die Rollbahn, mein Lieber. Und die Truppen, die von Smolensk zurückgedrängt werden, sollen hier ein neues, verteidigungsreifes Grabensystem vorfinden. Darum müssen wir schanzen auf den Teufel komm ‘raus! Auch unter Feindeinsicht ...«

Obermeier legte die Papiere neben das Telefon. »Bei diesen Arbeiten wird die halbe Kompanie drauf gehen«, sagte er erschüttert.

»Sagen Sie besser: Zwei Drittel der Kompanie. An der Front gibt es Bataillone, die aus einem jungen Leutnant und zwanzig bis dreißig Mann bestehen. Im übrigen scheinen Sie immer noch nicht den Sinn der Sache erfaßt zu haben.«

»Also - ein besseres Todesurteil.« Obermeiers Stimme sollte spöttisch klingen, aber sie tat es nicht. Sie war erschrocken und verzweifelt.

»Todesurteil! Sie sind wirklich zu romantisch. Lassen Sie doch endlich diese großen Worte! Sie haben einen klaren Einsatzbefehl erhalten, weiter nichts. Glauben Sie ja nicht, daß Wernher besser dran ist. Er muß mit seiner Kompanie entlang der Straße nach Orscha Baumwälle bauen, um die Verwehungen aufzuhalten. Jede Nacht zerstören die Partisanen, was er tagsüber gebaut hat. In der letzten Nacht wurde er beschossen.

Er hat vierzehn Tote und vierunddreißig Verletzte. Eine ganze Partisanengruppe, die übrigens blendend geführt wird, lieferte ihm eine regelrechte kleine Schlacht mit MGs und Granatwerfern. Wollen Sie noch etwas wissen, Obermeier?«

»Nein, Herr Hauptmann.«

Obermeier hängte ab. Er saß in der halbdunklen Hütte und starrte auf die Kerzen, die auf den Blechkisten klebten.

Draußen brüllte Krüll herum. Er hatte Schwanecke, Wiedeck und Deutschmann überrascht, wie sie über einem Holzfeuer-chen eine Bouillon aus Brühwürfeln kochten. »Aus dem Paket von meiner Braut, kennen Sie sie nicht?« erklärte Schwanecke. Daß er kein Paket erhalten hatte, wußte er genausogut wie Krüll: Die Würfel hatte er bei dem zweistündigen Aufenthalt in Orscha aus der Rote-Kreuz-Verpflegungsstelle geklaut.

»Eine Bande!« schrie Krüll außer sich. »Welch eine Erlösung wäre für mich euer Heldentod!«

Obermeier trat aus der Hütte und winkte Krüll herbei. »Fünfundzwanzig Mann müssen heute nacht nach Babinitschi fahren und das Gerät holen. Drei Schlitten genügen. Ab morgen wird geschanzt.«

»Geschanzt?« Krülls Gesicht war dumpf und verständnislos. Er sah über die Schneewüste und verzog den Mund. »Hier?«

»Wo denn sonst?«

»Au Backe!«

Obermeier sah Krüll mit Widerwillen an. »Unterlassen Sie diese dämlichen Bemerkungen, Oberfeldwebel! Soviel mir bekannt ist, haben Sie bis jetzt noch bei keinem Arbeitskommando einen Finger krumm gemacht, also werden Sie’s hier auch kaum tun. Sparen sie sich Ihre große Fresse!«

Nachts zog ein Trupp von fünfundzwanzig Mann unter der Führung der Unteroffiziere Kentrop und Bortke mit drei Schlitten nach Babinitschi, um die Schanzgeräte abzuholen, die von einer Transporteinheit in Orscha dorthin gebracht worden waren.

Auf dem ersten Schlitten hockte Schwanecke hinter dem MG 42 und suchte mit wachsamen, zusammengekniffenen Augen die buschbewachsenen Schneefelder nach einer Bewegung ab. Sie fuhren an Oberleutnant Sergej Denkow vorbei, der unsichtbar, auch für Schwaneckes scharfen, spähenden Blick, tief in einem Gebüsch saß. Neben ihm hockte Tartuchin. Die dickverbundene, zerschossene Hand lag in einer Armbinde.

Ungehindert erreichten die drei Schlitten Babinitschi, wo die 1. Kompanie einem Holzfällerlager glich. Gefällte, vollbezweig-te Tannenbäume lagen am Straßenrand aufgestapelt und wurden mit Motorschlitten durch den Schnee geschleift. Fünf bis acht Mann richteten sie dann auf und stemmten sie in den Schnee und in die Löcher, die vorher mit Spitzhacken in den eisenharten Boden geschlagen wurden. Tanne an Tanne, dazwischen aufgeschichtete quergelegte Bäume ... ein grüner Wall gegen den Schneesturm und die Verwehungen, die in kürzester Zeit eine freigeschaufelte Straße wieder einebneten.

Der Chef der 1. Kompanie, Oberleutnant Wernher, saß mißmutig in seinem warmgeheizten Bauernhaus und schrieb die Verlustlisten der vergangenen Nacht. An einige Hinterbliebene schrieb er sogar persönlich. Er glaubte, das der Höflichkeit schuldig zu sein. Unter den Gefallenen waren ein ehemaliger Major, zwei bekannte Juristen und ein Schriftsteller, dessen Bücher auf der Goebbelsschen Verbotsliste standen. Nur als er schrieb: »Gefallen für Großdeutschland«, zögerte selbst Wernher und kam sich reichlich dumm vor. »Sie taten bis zuletzt ihre Pflicht«, schrieb er am Ende und »Ihr Tod war gnädig, das mag ein Trost sein.« Das war richtig so. Ein Trost. Sie haben es überstanden, dachte Wernher.

Die Übernahme der Schanzgeräte und der Pioniersprengladungen für besonders harten Boden vollzog sich reibungslos. Dann fuhren die Schlitten die Straße zurück nach Gorki. Sie ratterten wie Gespenster mit langen Schneefahnen hinter sich an Sergej und Tartuchin vorbei, die in ihrem Gebüsch kauerten.

»Jetzt!« sagte Tartuchin und grinste hart.

Sie starrten auf eine Stelle auf der Straße. Der erste Schlitten- der zweite ... »Verflucht!« zischte Tartuchin. Sergej biß die Zähne zusammen, daß die Muskelstränge aus seinen eingefallenen Wangen traten. Der dritte Schlitten ... Nichts!

Tartuchin schlug mit der rechten Faust in den Schnee. Sein gelbes Gesicht war vor Wut verzerrt.

Da -! Schon ziemlich weit hinter dem dritten Schlitten zischte eine grelle Flamme aus dem Schnee, eine krachende Detonation erschütterte die Nacht, ein Teil der Straße schoß in den Himmel und prasselte in schmutzigen Kaskaden wieder zurück.

»Spätzünder!« sagte Sergej bedauernd und spuckte wütend aus.

Es war, als ob für einen Augenblick die Erde die Hölle ausgespuckt hätte, und dann träumte die Landschaft wieder im tiefsten Frieden, als verschluckten Schnee und Frost jeden Laut. Der letzte Schlitten, auf dem Kentrop saß, bekam einige niederprasselnde Erdbrocken ab und machte einen Satz nach vorn.

Wie huschende Schatten sprangen die Männer von dem Fahrzeug, am weitesten Schwanecke mit seinem MG. Fünfundzwanzig Soldaten lagen flach im Schnee, um dem unsichtbaren Feind kein Ziel mehr zu bieten. Unteroffizier Bortke robbte zu Schwanecke und schob den Stahlhelm aus dem Gesicht, der ihm über seine Augen gerutscht war.

»Eine Mine«, sagte er.

»Und was für eine!«

Sie suchten die Gegend ab. Die Büsche, die vereinzelten Baumgruppen, die Senken, die sich bis zum Wald von Gorki hinzogen.

»Abwarten.« Schwanecke überblickte nachdenklich die Buschgruppen. Er witterte Gefahr wie ein gehetztes Wild. Irgend etwas sagte ihm, daß die Menschen, die die Mine gelegt hatten, noch nicht weg waren. Langsam zog er den Kolben des MGs an seine Schulter und streute eine schnelle, rasselnde Garbe über die Büsche hinweg, ging dann etwas tiefer und kämmte kurz über dem Boden die Zweige durch. Das helle, rasend schnelle Knattern des MGs war wie eine Erlösung. Hier und da tauchte ein dunkler Kopf aus dem Schnee auf, schoben sich kriechende Körper zu Gruppen zusammen.

Tartuchin und Sergej lagen tief im Schnee eingewühlt. Über sie hinweg, zentimeterhoch nur, pfiffen Schwaneckes Maschinengewehrgarben. Der Mongole kniff die schrägen Augen zusammen.

»Er ist es wieder, ich weiß es!« sagte er heiser vor Haß. »Ich weiß es ganz genau, so kann nur er schießen!« Über ihn hinweg surrten die Geschosse, brachen die Zweige ab und schüttelten Eissplitter über seinen Körper.

»Nichts!« sagte Bortke. »Ich hab’s ja gesagt, sie sind weg.« Er erhob sich und streckte die Hand empor. »Alles sammeln! Auf die Schlitten!«

Dunkle Gestalten stiegen aus dem Schnee und rannten zu den Schlitten. Gleich darauf zerriß das Knattern der Motoren die Nacht. Kentrop und Schwanecke gingen die wenigen Meter zur Sprengstelle zurück. Schwanecke das MG um den Hals gehängt, bereit, aus der Hüfte heraus zu schießen. Sie standen an dem Sprengtrichter, der über die ganze Straßenbreite ein gähnendes schwarzes Loch aufgerissen hatte.

»Das hätte genügt!« Kentrop wandte sich ab. »Noch mal Schwein gehabt!«

Tartuchin starrte auf den Mann mit dem MG. Durch seinen gedrungenen, breitschultrigen Körper flog ein Zittern. Sergej spürte es und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Ruhig -bleib ruhig!«

»Das ist er, Starschi Leitenant!«

»Wir werden ihn bekommen, Pjotr, darauf kannst du Gift nehmen!«

Sie sahen, wie die Schlitten anfuhren. Dann verebbte der Lärm der Motoren in der Ferne.

»Ich gehe zurück nach Orscha«, sagte Oberleutnant Sergej. »Sage den Genossen im Wald, daß sie sich ausruhen sollen. In drei Tagen komme ich zurück mit neuen Befehlen. Ich werde mit dem Genossen General sprechen.«

»Und wo erreicht man dich inzwischen?«

»Bei Tanja.«

Tartuchin grinste und schmatzte mit dem Mund. Sergej sah ihn wütend an, sagte aber nichts. Er kroch aus dem Busch, reckte sich in der eisigen Kälte und schlug die Arme um den Körper, um sich zu erwärmen.

Über dem Wald dämmerte es: fahlgrau, schneeverhangen, nur eine leichte Verfärbung des nächtlichen Himmels. Der Morgen.

Sergej ging über die Straße. Neben dem großen Minentrichter blieb er einen Augenblick stehen, sah hinein und zuckte mit den Schultern. »Nitschewo! Ein anderes Mal!« Dann lief er weiter gegen Babinitschi.

Ein kleiner Panjeschlitten zockelte über die Ebene. Fedja -der Sergeant Fedja, der einen armen Bauern spielte, winkte ihm zu.

»Nichts Neues?« Sergej stieg in den Schlitten.

»Njet, Starschi Leitenant.«

»Nach Orscha. Fahre um Babinitschi herum.«

Den Dnjepr erreichten sie, ohne einen deutschen Soldaten zu

sehen. Sergej lächelte still. »Die Weite ist ihr Tod«, sagte er langsam. »Wie kann ein Schiff, das über ein Meer fährt, glauben, das Meer gehöre ihm?«

In Babinitschi glaubte Oberleutnant Wernher seinen Augen nicht zu trauen, als Fritz Bevern unerwartet bei ihm auftauchte und wie die Erscheinung aus einer anderen Welt in seine Unterkunft stapfte. Wernher lag im Bett.

»Guten Morgen, Herr Wernher!« sagte Bevern und grüßte stramm. Wernher sah auf die Armbanduhr und stellte fest, daß es 4 Uhr morgens war. »Grüß’ Sie!« sagte er mißmutig und dachte, daß den verdammten Schnüffler der Teufel holen sollte. Was suchte er hier mitten in der Nacht? Wernher schlüpfte in seinen Uniformrock und strich sich mit beiden Händen über das Haar.

»Ich bin dienstlich hier. In Vertretung des Kommandeurs. Ich wollte Ihren Abschnitt inspizieren«, sagte Bevern steif.

»Bitte.« Wernher erhob sich. »Sie suchen sich genau den richtigen Morgen aus ... Bis um ein Uhr hatten wir drei Tote und sieben Verwundete. Wie viele es jetzt sind, weiß ich noch nicht.«

»Partisanen?«

»Nein, diesmal nicht. Wenn es Partisanen gewesen wären, würde ich kaum ...« Wernher sah grinsend zu seinem Bett hinüber, hob die Teetasse und blies in die dampfende Flüssigkeit. »Diesmal waren es reguläre Truppen. Meine Leute schanzen und bauen auf einer Breite von zwölf Kilometern, bei Feindeinsicht. Ab und zu wird dieses Gewimmel den Rußkis zu bunt, und sie ballern ein paarmal herüber. Um sich gewissermaßen in Erinnerung zu bringen: Bitte vergeßt nicht, daß wir auch noch da sind!«

»Unangenehm.« Oberleutnant Bevern blieb sitzen und sah sich um. »Haben Sie keine Karte? Sie müssen doch eine Karte Ihrer Strecke haben!«

»Aber ja, natürlich habe ich eine. Doch wozu brauchen wir eine Karte? Gehen wir doch hinaus und sehen uns den ganzen Kram selbst an. Es wird gleich hell sein - das heißt, ganz dunkel wird es hier sowieso nie.«

»Bei Feindeinsicht?« fragte Bevern zögernd.

»Warum nicht? Wenn meine Leute da arbeiten müssen, können wir ruhig zugucken!« sagte Wernher.

»Vergessen Sie nicht, daß diese - Leute - rechtmäßig verurteilt worden sind.«

»Und wir sind ihre Offiziere, die Vorbilder zu sein haben!« sagte Wernher ruhig. Bevern sah auf seine Hände.

»Bitte! Gehen wir.«

Später standen sie etwas außerhalb Babinitschis und sahen mit den Nachtgläsern hinüber zur HKL und zu dem Arbeitstrupp. Die Männer waren mit russischen Mänteln und Feldmützen bekleidet, die sie gefallenen Sowjets abgenommen hatten. Die erdbraunen Mäntel waren bei ihnen sehr begehrt, weil sie warmhielten und sie vor dem beißenden Schneewind und der klirrenden Kälte schützten. Wernher war nicht bis zu den Auffanggräben gefahren. Er wollte vermeiden, daß die russische Artillerie auf sie aufmerksam würde und neue Ausfälle in der Kompanie verursachte. Soviel war ihm Bevern nicht wert.

»Tagesleistung?« fragte Bevern und setzte das Glas ab.

»Wie vorgesehen.« Oberleutnant Wernher schlug den Kragen seines Mantels hoch. Er zitterte; die Kälte schnitt durch den Stoff und jagte eisige Schauer über seine Haut.

»Und bei Obermeier?«

»Ich nehme an, das gleiche. Er ist noch schlimmer dran als ich. Er hat eine Granatwerferkompanie der Russen gegenüber und liegt außerdem im Schußbereich eines russischen Feldartilleriebataillons. Die verpassen keine Gelegenheit, ihn ordentlich zu beharken ...«

Oberleutnant Bevern überblickte zufrieden das endlose Schneefeld vor sich. Das war die Front! Welch ein erhabenes Gefühl, an der Front zu sein! Soldat des Führers! Beschützer Großdeutschlands vor dem asiatischen Sturm!

Der junge, dumme, begeisterte Offizier konnte nicht wissen, daß er nur noch einige Tage Soldat des Führers sein sollte. Und er wußte nicht, daß er in den letzten Minuten seines Lebens nicht nach dem Führer, nicht nach Deutschland, nicht nach dem Ruhm und nicht nach den Auszeichnungen flehen würde, sondern nach seiner Mutter - nach der Frau, die ihm altmodisch und kleinbürgerlich vorkam und die zu seinem großen Kummer und Zorn wenig von den Idealen ihres Mannes und ihres Sohnes zu halten schien ...

Julia Deutschmann schrieb:

»Mein lieber Ernsti,das ist der fünfte Brief, den ich Dir schreibe. Der fünfte in der Reihe der Briefe, die ich nie abschicken werde. Junge Mädchen schreiben schwärmerische Tagebücher. Wenn man sie danach fragt, warum sie Tagebücher schreiben, behaupten sie, sie täten es für sich selbst, weil es ihnen einfach Spaß macht. Wenn sie einigermaßen intelligent sind, sagen sie, sie täten es, um Klarheit in ihre verworrenen Gedanken zu bringen. Doch bei allen sollen die Tagebücher ein Selbstzweck sein. Aber das sind sie nicht; jede Zeile, die sie schreiben, ist jemandem gewidmet. Es muß nicht ein bestimmter Mann sein - es ist der Prinz, auf den sie warten, der eines Tages kommen würde, um sie irgendwohin zu führen, wo es ein Meer von Liebe gibt.

Ich bin kein junges Mädchen mehr, und ich warte nicht mehr auf einen Prinzen, den es so, wie man sich ihn mit 16 oder 17

Jahren vorstellt, nirgendwo gibt. Aber eines habe ich doch noch mit der 17jährigen Julia gemein: Mein Herz ist voller Erwartung und voller Liebe. Mein Prinz bist Du, und mein Tagebuch sind diese Briefe an Dich. Zugegeben, oft warst Du ein recht nachlässiger und zerstreuter Prinz, manchmal auch ein schlecht gelaunter, nörgelnder und kratzbürstiger - und ich glaube kaum, daß Du Dich je ändern wirst. Aber was wäre eine Liebe wert, die sich davon beeinflussen ließe?

Schluß damit. Ich habe Angst, weiter so zu schreiben; denn ich will nicht wieder weinen. Ich habe zu oft geweint in den letzten Wochen, auch dann, wenn ich eigentlich keine Zeit dazu hatte. Du hast mich immer für eine selbstbewußte, energische Frau gehalten. Manchmal sogar, fürchte ich, für einen Blaustrumpf. Vielleicht war ich es auch. Aber jetzt, jetzt bin ich es nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch hilflos und voller Sehnsucht, und fast immer voller Angst und Furcht vor heute, vor der Stunde, in der ich gerade lebe und vor der nächsten und übernächsten ...

Vor einigen Tagen hat mich Dr. Kukill eingeladen: Der Mann, der den Stab über Dich gebrochen hat. Ich glaube, er weiß, daß ich ihn hasse und verabscheue. Aber er stellt sich blind und tut so, als ob nichts vorgefallen sei. Und doch bin ich fast sicher, daß auch er sich Gedanken macht über die Rolle, die er in Deinem Prozeß gespielt hat, und über seine unglückselige Rolle, die er tagtäglich spielt - spielen muß, wie er behauptet.

Er wollte, daß wir tanzen gehen nach dem Abendessen im Bosnischen Keller. Ich habe natürlich abgelehnt. Ich fragte ihn, ob und wie er es über sich bringen könnte, mit der Frau zu tanzen, deren Mann seinetwegen in diesem fürchterlichen Strafbataillon leben muß. Ich habe nicht mehr darauf geachtet, was ich sagte; ich konnte sein glattes Gesicht und seine Konversation einfach nicht mehr ertragen. Ebenso wie mich all die glatten nichtssagenden Gesichter um mich herum langweilten, Gesichter von Menschen, die so taten, als gäbe es nicht einen millionenfachen Tod rundum, legalisierten Mord, und all das Schreckliche, was dieser Krieg mit sich bringt. Ich dachte auch nicht mehr daran, daß er der Mann ist, der uns beiden vielleicht doch noch helfen kann. Es war leichtsinnig und unverantwortlich, ich weiß, aber ich fragte ihn, wie er es eigentlich fertigbringe, hier mit mir zu sitzen und so zu tun, als wären wir im tiefsten Frieden, als gäbe es nichts Wichtigeres, als Wein zu trinken und über Wein und andere belanglose Sachen zu sprechen und eine Frau zu umschwärmen mit dem Ziel, ihren Haß zu brechen und sie zu besitzen, obwohl nach seinen Gutachten bestimmt viele Menschen verurteilt und von einer unmenschlichen Justiz ermordet wurden.

Wie immer, konnte ich auch damals aus seinem Gesicht nichts herauslesen: Unbeweglich, fast steinern war es, als er mich ansah. Aber dann sagte er, mit einer Stimme, die ich an ihm noch nicht kannte: >Meine Nächte sind sehr lang. Und meine Träume und meine Gedanken sind selten schön ...< Warum sind sie das? Fühlt er am Ende seine Schuld? Weiß er um sie?

Ich weiß nicht, wie es kam, aber in diesem Augenblick tat er mir fast leid. Trotz allem. Sind wir Frauen nicht unvernünftig? Wenn wir in einem Menschen Tragik oder auch nur Hilflosigkeit zu erkennen glauben, dann bemitleiden wir ihn, und unser Blick wird getrübt. Dann wollen wir helfen und fragen uns nicht mehr, ob der Mensch unsere Hilfe auch wert ist.

Ich werde nicht klug aus diesem Mann. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich der selbstbewußte, unabhängige Mann ist, für den er sich ausgibt, oder nur ein hilfloses, schwaches Werkzeug der Stärkeren, ein Mann, der keinen Ausweg mehr findet aus der Sackgasse, in die ihn seine Gier nach Macht, nach Unabhängigkeit und Geld gebracht hat.

Wie dem auch sei, welche Gedanken ich auch wälze, das Wichtigste vergesse ich nie. Und das ist, Dich wieder herauszuholen, und sei es nur, daß Du zu einer normalen Truppe versetzt wirst. Nein, es stimmt nicht, was ich mir manchmal selbst vorgeworfen habe: daß ich alle die Frauen vergesse, deren Männer an der Front sind. Ich will keine Ausnahme sein, obwohl ich genauso wie alle diese Frauen wünsche, es gäbe den Krieg nicht und Du wärst bei mir. Aber ich will nicht, daß Du als Verbrecher angesehen und abgestempelt wirst, denn ich weiß, daß Du verurteilt wurdest, nur weil Du anderen helfen wolltest.

Ich war recht fleißig in den letzten Wochen. Ich habe Deine ganze Arbeit mit den Pilzkulturen wiederholt. Es ging schneller, weil ich alle Fehler und alle Sackgassen vermeiden konnte, die Dir damals so viel zu schaffen machten. Es ist mir gelungen, einige Kulturen des Strahlenpilzes voll zu entwickeln. Jetzt gehe ich daran, unsere geheimnisvollen >Mikrobentöter< zu isolieren. Wenn ich genug von dem >Aktinstoff< habe, mehr als damals bei Deinem unglücklichen Selbstversuch, dann werde auch ich einen Selbstversuch machen. Ich bin sicher, daß es diesmal gelingen wird und daß wir damals nur zu wenig davon gehabt haben, um eine wirksame Therapie durchzuführen. Ich bin sicher, daß es Dir gelungen ist, ein wirksames Mittel gegen die Infektionserreger zu finden, denen besonders jetzt im Krieg Zehn- oder Hunderttausende von Menschen erliegen müssen. Daran glaube ich nicht nur, weil ich Dich liebe. Das wäre falsch. In dieser Hinsicht bin ich unbestechlich. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß wir auf dem richtigen Wege waren. Wenn mein Selbstversuch gelingt, dann wird man Dich nicht mehr festhalten können.

Sonst ist es hier so wie immer: Bombenangriffe, Furcht, lange Schlangen vor den Lebensmittelläden, eingefallene, hungrige Gesichter, Hoffnungslosigkeit und sehr, sehr wenig von dem >Siegeswillen<, von dem >unser deutsches Volk< beseelt sein soll. Es ist ein großer Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem, was man im Radio hört oder in den Zeitungen liest. Und auch bei mir: Sehnsucht, Sehnsucht und Liebe. Ich denke an Dich, Ernsti, immer. Ich will an Dich denken, denn die Gedanken an Dich halten mich aufrecht und helfen mir über die Mutlosigkeit und Verzweiflung hinweg, die mich so oft überwältigen wollen. Wärst Du nur hier, könnte ich doch nur mit der Hand über Dein Gesicht fahren ... Jetzt würde ich sogar meine Wange an Deinem Stoppelbart reiben, also das, was ich früher nie tun wollte, weil Du ja so schrecklich aussahst mit den harten, roten Bartstoppeln ... Du brauchtest Dich nie mehr zu rasieren. Du könntest Deine Sachen überall in der Wohnung verstreuen, die leeren Tassen mitten im Zimmer auf dem Boden stehen lassen. Du könntest alles das tun, worüber ich mich früher so geärgert habe, wärst Du nur hier, wärst du nur hier, Ernsti ... Gute Nacht!«

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