Kapitel 13

Oberfeldwebel Krüll lag mit dem Unteroffizier Kentrop in einer flachen Mulde am Waldrand, preßte sich an den Boden und keuchte vor Angst. Das war das Ende. Wie konnte es so weit kommen? Aus!

»Mensch, Dicker, nimm dich zusammen«, sagte Kentrop tröstend.

»Aus - aus«, jammerte Krüll.

»Du sollst dich zusammennehmen! Nur hübsch abwarten!«

Aber Krüll sagte immer wieder nur: »Aus - aus - aus .«

Wiedeck war der erste, der aus der Mulde emporschnellte und gegen die deutsche HKL zu laufen begann.

Die Scheinwerfer waren weitergewandert, und die Dunkelheit war dick und grau wie stets kurz vor der Morgendämmerung. Wiedeck rannte wie ein Irrer. Und während er sich durch den Schnee arbeitete, dachte er an Erna, an die Kinder, und dann dachte er an nichts mehr und dann daran, daß er weitermußte, weiter, auch wenn ihm das Herz zu zerspringen drohte, weiter und dann wieder an Erna und an den Kleinen, den er nie gesehen hatte ...

Hefe sah hinter ihm her, und als er von der Dunkelheit verschluckt wurde, sprang auch er auf und begann zu rennen.

Obermeier sagte: »Halten Sie sich bei uns, Herr Bartlitz, ich springe jetzt.«

»Lassen Sie mich vorauslaufen, Herr Oberleutnant«, sagte Bartlitz.

»Nein, ich laufe vorneweg. Und ... es tut mir leid .«

»Was?«

»Daß wir hier so ... es tut mir leid, daß Sie im Strafbataillon ... Herr Oberst .«

»Lassen Sie das. Ich bin kein Oberst mehr, und ich glaube, ich wünsche auch nicht, wieder einer zu sein.«

»Ich habe Sie sehr schätzen gelernt ... ich bin .«

Über Bartlitz’ Antlitz huschte ein kleines, gütiges Lächeln. »Mit solchen Offizieren wie Sie wäre dies - dies alles nicht geschehen«, sagte er. »Aber Sie sagten vorhin >Herr Oberst< zu

mir. Meinten Sie es ernst?«

»Ja - jawohl - sicher!«

»Dann gebe ich Ihnen jetzt den Befehl, erst nach mir zu laufen. Sie wissen, wie das war in der alten Armee: die höheren Offiziere immer vorneweg. Leb wohl, mein Junge - lauf erst, wenn du glaubst, daß es richtig ist. Und vergiß nicht: Einer muß zurückkommen! Wie es auch ist: Einer muß zurückkommen!« Er legte die Hand auf Obermeiers Schulter, stieß sich dann ab, sprang aus der Mulde, rannte über das Feld, nach vorne gebückt, mit schlotternden Beinen und pendelnden Armen -ein Mann, der wußte, daß es sinnlos war, dem Schicksal zu entfliehen.

Obermeier wartete einige Minuten. Die Panzer waren jetzt über die deutschen Linien hinweggerollt. Die Partisanen und die russische Infanterie kämmten jetzt die rückwärtigen Gräben durch. Es wurden keine Gefangenen gemacht - aber es gab auch fast keinen deutschen Soldaten, den man gefangennehmen konnte, solange er noch fähig war zu laufen. Sie wußten alle zu genau, was sie erwartete, wenn sie in die Hände der Partisanen fielen.

Obermeier schnellte wie ein Sprinter über das verschneite Feld, vorbei an den Klumpen, die einmal seine Soldaten gewesen waren, vorbei an noch glühenden Panzerleibern.

Er rannte wie nie in seinem Leben. Er wußte, daß er fast keine Chance hatte, heil bei den eigenen Truppen anzukommen. Wenn, dann nur jetzt, in dieser Verwirrung, im Schütze der Dunkelheit, die sich jetzt langsam zu lichten begann. Es war eine verschwindend geringe Möglichkeit, aber er mußte es versuchen. Einer mußte zurückkommen.

Von der Seite her sah er plötzlich einen dunklen, heulenden Schatten auf sich zukommen: ein Panzer. Ein kleiner, stechend heller Scheinwerfer blitzte an der Stirnseite auf - und mitten in seinem Kegel stand Obermeier, zu einer Säule erstarrt, die Arme vorgestreckt, als wollte er ins Wasser springen.

Mit ein paar Sätzen war er außerhalb des Lichtkegels. Er rannte im Zickzack weiter, hinter sich hörte er das Hämmern des schweren MGs aus dem Panzer.

Ein Loch, dachte er, während ihm das Herz zu zerspringen drohte und ihm der Schweiß über das Gesicht rann, er mußte ein Loch finden ... ein Schützenloch ... einen Granattrichter . . einen Graben.

Auch Wiedeck sah den einsamen Panzer, der als Nachhut zurückgeblieben war. Er warf sich in ein flaches Granatloch und nahm den Kopf herunter. Hier war er einigermaßen sicher -jedenfalls konnte ihn die Panzerbesatzung kaum entdecken. Den ersten Teil des Weges hatte er hinter sich, jetzt war er bereits im ehemaligen Niemandsland zwischen den russischen und deutschen Gräben. Plötzlich fiel etwas auf ihn, ein schwerer Körper preßte ihn in die Erde und umklammerte seine Schulter.

»Geh weg, du Affe!« schrie Wiedeck.

»Ich bin’s, Bartlitz«, keuchte der Unbekannte auf seinem Rucken. »Rück zur Seite ... bist du’s, Wiedeck? Es reicht für uns beide.«

»Mensch, hoffentlich sieht uns der nicht!«

Wenig später fiel eine dritte Gestalt zu den beiden in den Trichter. Sie schnellte heran, wie von einem Katapult geschossen, legte sich flach über die beiden Körper und drückte Wiedecks Kopf mit beiden Händen herab, als dieser nachsehen wollte, wer es war.

»Kopf ‘runter«, zischte eine Stimme.

»Herr Oberleutnant ...«

»Ja, halt die Schnauze!«

»Also wieder zusammen ...«:, murmelte Bartlitz.

»Still!«

Sie lagen eng aneinandergepreßt in der flachen Mulde und

lauschten. Ganz in der Nähe klirrte es heran, donnernd, die Ketten knirschten, der Scheinwerferstrahl aus dem Panzer irrte über sie hinweg, kam zurück - und blieb auf Obermeiers Rük-ken, der flach über das Loch hinausragte, stehen.

»Er hat uns entdeckt«, sagte Obermeier leise.

»Aus -«, schluchzte Wiedeck.

»Noch nicht«, sagte Obermeier. »Er schießt nicht ... er will uns überrollen. Wenn er ganz ‘rankommt .«

Er brach ab, die beiden anderen hatten ihn verstanden.

Jetzt war das Klirren der Panzerketten ganz nah.

»Los«, schrie Obermeier, und alle drei sprangen auf und stoben auseinander. Der Panzer rollte über die Mulde, blieb stehen, drehte sich auf der Stelle. Der Deckel auf dem Turm sprang auf, und ein Kopf sah heraus. Gleich darauf fing das Maschinengewehr zu rattern an.

Der erste, den es erwischte, war Bartlitz. Wie festgenagelt bliebe er plötzlich stehen und sank dann stumm in sich zusammen.

Dann kam Wiedeck an die Reihe. Er fiel aufs Gesicht, seine Arme und Beine zuckten noch eine Weile, sein Körper warf sich in zwei, drei Krämpfen empor - bis er still und reglos liegenblieb.

Es gab keine Deckung. Obermeier rannte und betete. Das Maschinengewehr wirbelte jetzt den Schnee um ihn auf. Er rannte. Und dann hörte das Schießen des MGs auf, und ein krachender Schlag in seiner Nähe warf ihn zur Seite. Er rappelte sich wieder hoch und lief weiter. Und wieder ein Krachen und ein dumpfer Schlag gegen seinen Arm: Die Russen schossen mit der Kanone hinter ihm her. Er war ein schönes, lebendiges Ziel, ein einzelner Mann, der mühsam und schwankend durch den Schnee watete. Eine herrliche Zielscheibe -.

Die dritte Granate war ein Volltreffer.

Berlin:

Wider aller Erwarten hatte Dr. Deutschmanns Aktinstoff gewirkt. Julia Deutschmann erholte sich langsam, ihr Herz arbeitete zusehends besser, der Blutspiegel war weniger katastrophal. Professor Burger und Dr. Wissek verfolgten mit Erstaunen und Unglauben ihre Besserung und schmiedeten bereits Pläne für die Zukunft, Pläne, die sich um Deutschmanns Aktinstoff drehten. Welch einen Segen bedeutete diese Erfindung für die ungezählten Verwundeten mit infizierten Wunden!

Dr. Kukill wich nicht von Julias Seite. Sein abgezehrtes Gesicht war das erste, was Julia sah, als sie für einige Augenblicke aus der tiefen Ohnmacht erwachte. Zuletzt war es ihm auch noch gelungen, mit Hilfe seiner weiten Verbindungen, über die Schweiz, ein neuartiges englisch-amerikanisches Präparat zu beschaffen, ein »Antibiotikum«, wie es genannt wurde, um Julias Behandlung fortzusetzen. Der Aktinstoff war ausgegangen, und in Deutschmanns Haus suchte man umsonst nach Unterlagen, nach denen man neuen herstellen konnte. Deshalb war klar, daß man Deutschmann unverzüglich wieder nach Berlin holen mußte, denn nur er selbst konnte seine Versuche fortsetzen, um schließlich die Fabrikation des »Aktinstoffes« zu sichern. Er und Julia. Aber mit Julia war noch lange nicht zu rechnen; auch wenn es gelang, sie endgültig dem Tode zu entreißen - es konnte immer noch ein Rückschlag eintreten -, war sie für lange Wochen und wahrscheinlich sogar Monate unfähig, das Bett zu verlassen.

Welch ungeahnte Möglichkeiten!

Selbst wenn es noch ein Jahr oder sogar zwei dauern würde, bevor die Massenproduktion des »Aktinstoffes« möglich war, bedeutete dies einen ungeheueren Fortschritt in der Behandlung der infektiösen Krankheiten - vor allem aber kam es den Soldaten zugute. Man dachte in Begriffen, die sich immer wieder und fast ausschließlich um den Krieg drehten, und so war es nur verständlich, daß die ersten Gedanken der Ärzte der Wundbehandlung galten.

Als Julia aufwachte und in das über sie gebeugte Gesicht Dr. Kukills sah, kam in ihre leeren, abwesenden Augen, die wie zwei tiefe, dunkle Brunnen aussahen, erst langsam, nach und nach das Erkennen. Ihre Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut zu hören war. Dr. Kukill beugte sich noch tiefer. Atemlos lauschte er dem Flüstern, das schließlich ganz leise und undeutlich über ihre Lippen kam.

»Was - ist - geschehen - wo - bin - ich - hier ...«

»Sie waren sehr krank«, sagte er begütigend. »Jetzt geht es Ihnen wieder besser.«

»Was - ist - geschehen - mit .«

»Sprechen Sie nicht, Julia. Schlafen Sie. Versuchen Sie zu schlafen -!«

In ihre Augen kehrte jetzt Erinnerung zurück, ganz langsam, nach und nach, sie versuchte sich aufzurichten, aber durch ihren erschreckend abgemagerten Körper lief nur ein langes Zittern.

Sie sagte: »Selbstversuch - ist - ist - es .«

»Ja. Es ist gelungen. Beruhigen Sie sich, bitte -!«

»Werden Sie - werden Sie - Ernst .«

»Ja«, sagte Kukill, »ich werde ihn herausholen. Ich verspreche es Ihnen. Ich - ich habe bereits alle notwendigen Schritte unternommen. Haben Sie keine Angst. Und wenn Sie jetzt schlafen - dann«, er schluckte - »dann sage ich Ihnen etwas Schönes ... es wird Sie freuen .«

»Was ist - es -?«

»Ich habe mit Ihrem Mann gesprochen«, log er, »nein, nein nicht so, wie Sie denken«, beschwichtigte er sie schnell, als er sie zusammenfahren sah, »er ist immer noch in Rußland, ich habe telefoniert. Es geht ihm gut, er hat es mir gesagt, und er -er freut sich natürlich sehr, daß er zurückkommt ...«

»Weiß - er es!«

»Nein.« Und dann schnell, als bereute er seine Lüge: »Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Es ist immer noch Zeit, es ihm zu sagen.«

»Bitte ...«, sagte sie, schloß die Augen, und die nächsten Worte waren nur ein undeutliches, schwaches Murmeln, aber dann machte sie die Augen wieder auf und sprach sehr deutlich und klar, während ein kleines, glückliches Lächeln über ihr Gesicht huschte:

»Bitte - rufen Sie ihn noch einmal an - sagen Sie ihm - sagen Sie ihm - ich bin sehr glücklich - sehr glücklich .«

»Ja«, sagte er mit Überwindung, »ja, ich werde anrufen. Ich werde es tun, ich werde es ihm sagen.«

Aber sie hörte ihn schon nicht mehr. Sie schlief ein.

Diesmal ging es schneller. Dr. Kukill hatte wieder seinen Gruppenführer aufgeboten, der mit ihm zu der Fernsprechzentrale des Heeres ging. Schon nach anderthalb Stunden hatten sie die Verbindung nach Orscha. Doch hier blieben sie stecken, und erst nach langem Gerede konnten sie erfahren, daß an der Front alles drunter und drüber ging und daß sich der Divisionsstab bereits zum Aufbruch rüstete. Russen seien durchgebrochen, was, zum Teufel, wollten die in Berlin jetzt mit irgendeinem Deutschmann in irgendeinem Nest, das sicher bereits von den Russen überrollt worden war? Bewährungsbataillon 999? Was soll mit ihm sein? Warum, zum Teufel, konnten die in Berlin keine Ruhe geben? Dieses Bewährungsbataillon bestand nicht mehr. Aufgerieben. Aus. Warum viele Gedanken über seinen Verlust verschwenden - es gab noch ‘ne Menge andere Bataillone, die nicht mehr bestanden! Man hatte jetzt in

Orscha andere Sorgen. Jaja, aufgerieben! Nichts mehr übrig davon, Ende?

Ende!

Aufgerieben also, sagte Dr. Kukill leise vor sich hin, als er den Telefonhörer wieder auflegte. Aufgerieben - also wahrscheinlich tot oder in Gefangenschaft geraten, was soviel wie tot bedeutete. Er wußte nicht, was er darüber denken sollte. Es war klar, daß er dies Julia einstweilen verbergen mußte, bis sie außer Gefahr war. Dann konnte man weitersehen. Gut, er hatte sich alle Mühe gegeben. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Er hatte alles in die Wege geleitet, um Deutschmann wieder nach Berlin zu holen. Das war nicht gelogen. Wenn es aber so war ... wenn Deutschmann tot war, dann war es nicht seine Schuld. Und ... Julia wird es überwinden, sagte er sich. Vielleicht nicht so schnell, vielleicht wird sie noch ein Jahr lang trauern, vielleicht auch zwei - aber es gab keine Wunde, die mit der Zeit nicht heilte. Er mußte ihr Zeit lassen. Er mußte ihr ein guter, achtungsvoller Freund sein und sie behutsam wieder ins Leben führen. Dann - dann würde sie eines Tages erkennen, daß sie sich in ihm getäuscht hatte und dann ... dann ...

»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er zu dem Gruppenführer, der mit ausgestreckten Beinen in glänzend polierten Stiefeln auf einem Stuhl saß.

»Was ist los?« fragte er.

Dr. Kukill zuckte mit den Schultern. »Aufgerieben. Wahrscheinlich.« Er brauchte nichts weiter zu sagen. Der andere hatte ihn verstanden.

Durch Barssdowka rollten russische Panzer.

Von der einen Seite hatten sie die deutschen Stellungen aufgerollt, von der anderen Seite, vom Wald her, strömten die Partisanenverbände Denkows, mit ihm und Tartuchin an der Spitze, in das Dorf.

Stabsarzt Dr. Bergen und Kronenberg waren mit einem Teil der Verwundeten noch rechtzeitig weggekommen. Mit den letzten Fahrzeugen waren sie nach rückwärts gerast, über die Artilleriestellungen hinaus - etwas verwirrt und beruhigt zugleich über nur geringe Anzeichen der Nervosität bei den Artilleristen. Wie oft hatten sie solche panikartigen Erscheinungen schon durchexerziert! Ein russischer Einbruch? Unangenehm -und was weiter? Von rückwärts kamen bereits die ersten, in Eile zusammengerafften Reserven, um zum Gegenstoß anzutreten.

Und als Dr. Bergen, mit seiner Kolonne an den Straßenrand gedrängt, in die grimmigen, unbeweglichen Gesichter der Soldaten eines Sturmbataillons sah, die in ihren Kübelwagen langsam über die zerfahrene Straße in Richtung Front schaukelten, mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Gewehren zwischen den Knien, abenteuerlich und gefährlich aussehend in ihren weißen Tarnjacken mit weiß gestrichenen Stahlhelmen, da fragte er sich ein bißchen beschämt, ob seine überstürzte Flucht gerechtfertigt war.

Sie war es.

Die Russen kamen zwar nicht weit über Barssdowka hinaus, doch dort und anderswo, besonders aber dort, wo die Partisanen hinkamen, verbreiteten sie grollend und vom Blutrausch besessen den eisigen Schreckenshauch des Todes.

Unterarzt Dr. Hansen war in Barssdowka geblieben, bei den nicht transportfähigen Verwundeten, in Mehrzahl Kopf- und Bauchschüsse. Zu den Verwundeten seines eigenen Bataillons hatten sich noch einige aus den Infanterie-Einheiten zugesellt, die aus ihren Stellungen geworfen worden waren. Die Scheune war halbvoll, sie lagen still, mit großen, erschrockenen Augen gegen die Tür starrend, durch die jeden Augenblick die Russen kommen konnten. Zwischen den Betten und Strohsäcken ging Dr. Hansen hin und her, Ruhe und Zuversicht zusprechend und ausbreitend, Trost spendend und Linderung schaffend.

Über dem Eingang hing eine große Rot-Kreuz-Fahne, schwer und unbeweglich in der ruhigen, stillen Luft.

Und plötzlich hörte man sie kommen.

Schon eine ganze Weile hörten die Verwundeten die dröhnenden Panzermotoren und vereinzelte Schüsse. Jetzt aber hörten sie ihre Stimmen, kurze, heisere Ausrufe und dann ein langes, langanhaltendes, lautes Lachen.

Dr. Hansen nickte den Verwundeten zu und ging langsam zur Tür.

Tartuchin war der erste, der den Arzt in seinem weißen Kittel in der Tür stehen sah. Er verharrte einen Augenblick, hob seine Maschinenpistole und jagte eine kurze Garbe in das Tuch der Rot-Kreuz-Fahne über Hansens Kopf. Dann grinste er, doch plötzlich vereiste das Grinsen auf seinem breiten Gesicht, und er duckte sich zusammen: Hier waren noch deutsche Soldaten! Vielleicht traf er auch IHN, seinen großen Feind, unter ihnen. Verwundet? Egal, vielleicht hatte er sich unter die Verwundeten gemischt, vielleicht war er selbst verwundet, vielleicht ... und wenn er ihn nicht fand ... Gut! Hier, an diesen verfluchten Deutschen konnte er seinen Haß stillen. Nicht für immer, nicht einmal für lange Zeit, nur so lange, bis er neue fand. Was tat es, daß es Verwundete waren? Bevor sie verwundet wurden, hatten sie auf seine Brüder geschossen, hatten sie sie getötet, hatten sie ... jetzt werden sie das büßen!

Angespannt, mit vorgebeugtem Körper ging er gegen die Scheune, gegen den kleinen, schmächtigen Arzt, der mit unbewegtem Gesicht, ihm ruhig entgegenblickend, vor der Tür stand und den Weg in die Scheune versperrte.

»Idi!« Geh! sagte er, als er vor dem Arzt stand.

»Du bist ...«, begann der Arzt, der den ehemaligen Hilfswilligen erkannt hatte, aber Tartuchin unterbrach ihn ungeduldig: »Geh - geh!«

»Nein!« sagte der Arzt und rührte sich nicht von der Stelle.

»Nein?« wiederholte Tartuchin, und über sein Gesicht huschte ein schnelles, böses Lächeln. »Nein? Nein?«

Langsam, überlegend und - Dr. Hansen sah es: tödlich entschlossen hob er die Maschinenpistole, bis ihr Lauf dem Arzt genau gegen die Brust zielte.

»Nein?« sagte er wieder. »Nein?«

Es gab keinen Zweifel - Tartuchin würde schießen, wenn ihm der Arzt nicht aus dem Weg ging. Und doch rührte sich Dr. Hansen nicht.

In diesen wenigen, kurzen Augenblicken wuchs der junge, schmächtige Arzt über sich selbst hinaus. Er hatte eine tödliche, entsetzliche Angst, die sein ganzes Inneres zusammen-krampfte, die Haut auf seinem Körper zusammenzog - aber nichts davon drang nach außen. Ruhig, still, mit verschlossenem und ein bißchen hochmütig wirkendem Gesicht stand er vor Tartuchin, der jetzt wieder zu lächeln begann - ein breites Grinsen, das den Tod ankündigte.

»Stoj!« hörte man von der Straße her eine laute, befehlende Stimme. Tartuchins Grinsen erstarrte, dann wandte er den Kopf halb zur Seite und blickte über die Schulter mit bösem Blick gegen die Stimme.

Sergej Denkow kam langsam näher. Die Maschinenpistole hielt er unter den Arm geklemmt.

»Was willst du?« fragte er auf russisch, als er zu Tartuchin und Dr. Hansen kam.

Tartuchin zuckte mit den Schultern.

»Los, was willst du?« fragte Denkow wieder, und seine Stimme hatte jetzt einen scharfen Klang bekommen.

»Er will mich nicht ‘rein lassen«, sagte Tartuchin.

»Und du wolltest ihn umlegen, was?«

»Er ist ein Deutscher«, sagte Tartuchin.

»Kennst du ihn länger?« fragte Denkow leise, ohne den Blick von Tartuchin zu wenden, der jetzt unbehaglich zur Seite blickte.

»Los, kennst du ihn länger?«

»Ja.«

»Was hältst du von ihm?«

»Er ist ein Deutscher!«

»Und du bist ein Schwein!« zischte Denkow. »Du bist um keinen Deut besser als die Deutschen. Was hat er dir getan? Was hat er einem von uns getan? Nichts! Er hat unsere Bauern geheilt, als sie krank waren, und wenn ich mich recht erinnere, hat er auch dich einmal verbunden. Und du willst ihn töten! Verschwinde. Los, hau schon ab!«

Tartuchin trollte sich schweigend, mit einem bösen verbissenen Gesicht davon.

»Danke«, sagte Dr. Hansen aufatmend.

»Schon gut«, sagte Denkow, noch vor Wut kochend. »Geh mir jetzt aus dem Weg.«

»Was wollen Sie tun?«

»Du sollst mir aus dem Weg gehen!«

Dr. Hansen trat beiseite und sagte: »Wenn Sie nicht gekommen wären .«

Denkow, der an ihm vorbei in die Scheune treten wollte, blieb stehen, drehte sich zu ihm und sah ihn lange an. Dann sagte er: »Dann wären alle die ...«, mit dem Kopf zeigte er gegen die Scheunentür, hinter der die Verwundeten lagen, »... alle die tot. Ich weiß. Sehr oft kommt niemand dazu, um es zu verhindern. Es gibt solche und solche. Bei euch und bei uns. Kommen Sie mit!«

Die Verwundeten kamen in Gefangenschaft, Dr. Hansen an ihrer Spitze.

Auch das Haus der alten Marfa überrollte der Krieg. Die Panzer fuhren in einer langen, dröhnenden Kolonne daran vorbei. Tanja stand am Fenster und sah mit leeren Augen auf die Stahlkolosse. Sie haben mir meinen Michael genommen, dachte sie in grenzenloser Traurigkeit. Sie haben mir das Glück genommen ... ich hasse sie ... ich hasse sie!

Aber sie wußte eigentlich nicht, wen sie damit meinte. Die Deutschen? Die Russen? Den Krieg zwischen den Deutschen und Russen? Ihr Schicksal - oder ihre Schwäche und ihre Liebe dem deutschen Soldaten gegenüber?

Sie blickte sich nicht um, als sie hinter sich die Tür aufspringen hörte und ein eisiger Luftzug ins Zimmer kam. Aber auch ohne hinzusehen, wußte sie mit Sicherheit, wer gekommen war. Einen kleinen Augenblick lang hatte sie die unsinnige Hoffnung, sie wurde sich irren. Aber als sie Denkows Stimme hörte, wußte sie, daß es vergeblich war zu glauben, sie könnte ihm entkommen.

»Du?« fragte Denkow heiser.

Tanja lehnte die Stirn gegen die eisige Scheibe.

»Dreh dich um!«

»Warum? Du bist gekommen, um mich zu töten. Also tu’s!«

»Was tust du hier bei den Deutschen?« Denkows Stimme zitterte. Sie hörte seine Schritte näher kommen. Seine Hand riß sie herum.

»Seit wann ist Marfa eine - Deutsche?« fragte sie spöttisch.

Er starrte schweigend, mit harten, unbarmherzigen Augen in ihr Gesicht.

»Tu’s schon - frag nicht soviel!« sagte sie.

»Du bist ihm nachgelaufen, was? Du hast hier mit ihm geschlafen, während wir ...« Jetzt schüttelte er sie und schrie ihr ins Gesicht: »Warum hast du das getan? Warum?«

»Ich liebe ihn«, sagte Tanja schlicht. Sie schloß die Augen und flüsterte: »Kannst du das nicht verstehen?«

Denkow zögerte. Er wußte nicht, was er tun sollte. Draußen vor der Tür und durch das eroberte Dorf stürmten johlend und lachend seine Leute. Fanatische Hasser, in diesen Augenblik-ken blutgierige Bestien, die nach versteckten deutschen Soldaten suchten. Jetzt haßte er sie beinahe und haßte seine Aufgabe, sie zu befehligen. Er war ein Offizier. Er war nicht einer von denen. Es stimmte: Man mußte die Deutschen hassen, wenn man sie vertreiben wollte - aber man durfte keinen Augenblick vergessen, ein Mensch zu sein. Man mußte die Schuldigen bestrafen, je härter, desto besser. Aber man durfte nicht ehrlos werden. Die Schuldigen ... dachte er. Auch Tanja war schuld!

Die Tür ging krachend auf, und der riesige Mischa Serkono-witsch Starobin stürzte in das alte Haus. Seine Augen leuchteten, als er mit breitlachendem Gesicht schrie: »Genosse Oberleutnant- die Deutschen sind erledigt! Wir haben sie vertrieben - wir können die Wälder verlassen!« Erst jetzt sah er Tanja und blieb mit offenem Mund stehen. »Du?« fragte er langgedehnt.

Ein Schauer flog über Tanjas Rücken, als sie dieses Du hörte. Sie war bereit zu sterben, aber hinter diesem Laut verbarg sich nicht nur der Tod.

»Was willst du mit ihr machen, Genosse Oberleutnant?« fragte Starobin. Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht.

»Was soll man mit ihr machen?« fragte Sergej.

»Sie ist eine Verräterin!« schrie Starobin, aber seine kalt abschätzenden Augen teilten die Empörung, die er spielte, nicht mit.

»Ja ...«:, sagte Denkow schwer, »ja .«

»Gib sie mir!« sagte Starobin.

Tanja wich langsam an die Rückwand des Zimmers. Die Blicke der vier Augen, die sich an sie hefteten, waren das Grauenhafteste, was sie je gesehen hatte. »Nein«, flüsterte sie, »- tötet mich, aber nicht das, nicht das!«

»Gibst du sie mir?« fragte Starobin wieder. »Los, gib sie mir

- die Sache ist klar, sie ist eine Verräterin!«

»Ja. Die Sache ist klar«, sagte Denkow langsam, drehte sich um und ging aus dem Zimmer.

In diesem Augenblick setzte der deutsche Gegenstoß ein.

Es war ein magerer Angriff - aber er wurde geführt mit der verzweifelten Wut der Soldaten, wie sie nur aus Angst und Furcht und aus Selbsterhaltungstrieb entspringen kann.

Mit leichter Flak auf Selbstfahrlafetten, mit einigen Sturmgeschützen und Panzerabwehrkanonen, mit geballten Ladungen und Handgranaten gingen die ungenügenden Reserven und die in Eile gesammelten, versprengten Verbände gegen die Russen vor. Es war klar: Wenn es den Russen gelang, hier durchzubrechen, den Einbruch zu erweitern und nach Westen vorzustoßen, dann bestand nicht nur Gefahr für Einkesselung großer deutscher Verbände, sondern auch Gefahr für die ganze deutsche Front. So schickte sogar die Luftwaffe einige Sturzkampf-, Schlacht- und Jagdflugzeuge zur Unterstützung der in schwere Kämpfe verwickelten Infanterie.

Die Sowjets gingen zurück. Einige Panzer brannten. Die restlichen walzten die alten Wege nach hinten noch einmal flach, überrollten die ehemalige deutsche Stellung und verschwanden hinter den Wäldern, von wo sie gekommen waren. Schwere Straßenkämpfe um die verlorenen Ortschaften entbrannten, oft von Haus zu Haus in verbissenen Nahkämpfen. Die fanatischen, doch unausgebildeten Partisanen des Oberleutnants Denkow hatten schwere Verluste - bis sich die restlichen wieder in die schützenden Dickichte und in die Erdbunker des Waldes von Gorki verkrochen.

Starobin und seine Gruppe blieb am Leben und schleppte Tanja mit - hinter die alten russischen Linien.

Die verlorenen deutschen Stellungen wurden wieder besetzt und von der sowjetischen Infanterie gesäubert. So war das Ganze wie ein Spuk, der aus der Dunkelheit der Nacht hervorgebrochen war, beim Einbruch der nächsten Nacht wieder zerstoben, nur die ausgebrannten russischen Panzer und einige deutsche Sturmgeschütze sowie über die Ebene verstreute Leichen zeigten, daß vor kurzem hier eine wütende Schlacht getobt hatte.

Krüll hatte Glück.

Als der deutsche Gegenangriff begann, lag er in einem flachen Granattrichter im ehemaligen Niemandsland zwischen der deutschen und der russischen HKL. Bis dorthin hatte er sich langsam, nach und nach vorarbeiten können, kriechend, Meter um Meter, immer weiter über die Ebene, die ihm keine Dek-kung bot. Er hatte sehr viel Umsicht und Geduld gezeigt - aber nicht aus bewußter Überlegung, sondern einfach aus Angst. Er hatte Angst, den Kopf zu heben und um sich zu sehen. Er hatte Angst aufzustehen und loszurennen, wie es die anderen getan hatten. So kroch er - und das rettete ihm das Leben.

Als die russischen Panzer und die Infanterie vor dem deutschen Angriff zurückzufluten begannen, lag er in seinem Trichter und spielte den toten Mann. Ab und zu hörte er hastende Schritte und aufgeregte Worte der Russen, die an ihm vorbeiliefen, um ihre alten Stellungen zu erreichen. Er rührte sich nicht, er rührte sich auch dann nicht, als nahe an ihm ein rasselndes, dröhnendes Ungetüm vorbeifuhr, ein Panzer, und alles in ihm vor Angst und vor Verlangen aufzuspringen und blind davonzulaufen, schrie; doch die gleiche Angst lahmte ihn, ließ ihn kaum atmen und blieb in seinen Knochen auch dann stek-ken, als sich das Motorengebrumm des Panzers entfernt hatte und schließlich verstummt war.

Er war ein glaubwürdiger Toter: Seine Tarnjacke war voller Blut - aber das Blut stammte nicht von ihm, sondern von Un-teroffizier Kentrop. Eine deutsche Granate hatte diesem den halben Brustkorb weggerissen, als die eigene Artillerie Sperrfeuer schoß. Mit letzter Kraft hatte er sich in einen Granattrichter geschleppt - und dort fand ihn Krüll, auf seinem Kriechgang über das freie Feld. Kentrop lebte noch, aber Krüll, der Deckung suchte, schob ihn auf den Rand des Trichters und blieb so eine Weile, halb unter dem verblutenden Kentrop verborgen liegen - bevor er wieder weiterzog.

Als die letzten Russen vorbeigezogen waren und lange, lange nichts zu hören war, wagte er endlich den Kopf zu heben.

Die Ebene schien leer zu sein, und die erste Dämmerung färbte den Schnee und den Himmel grau. Er wartete, bis es Nacht war, dann kroch er weiter. Er hatte keine Schmerzen mehr in den gefühllos gewordenen Füßen, wie noch zwei oder drei Stunden vorher. Er war ruhig, und die Angst war von ihm gewichen. Aber er stand nicht auf, um gegen die nahen deutschen Gräben zu laufen. Er kroch weiter - und als er endlich ankam und aufstehen wollte, von einigen Landsern des Sturmbataillons umringt, brachte er es nicht mehr fertig. Er sackte wieder in sich zusammen und flüsterte mit gefühllosen, harten Lippen erstaunt: »Was ist denn, was ist los?«

»Nichts ist los, du bist wieder zu Hause, Kumpel!« sagte ein Landser und gab ihm zu trinken. Schnaps. Es rann wie Feuer durch Krülls Adern, und er versuchte noch einmal aufzustehen. Aber es ging nicht. Seine Beine wollten ihn nicht tragen.

Krüll hatte eine Nacht und einen Tag in der unbarmherzigen Kälte verbracht. Als er zurück »nach Hause« kam, waren seine beiden Füße erfroren, einer mußte später amputiert werden.

Auch Deutschmann und Schwanecke entkamen dem Gemetzel.

Als die russischen Panzer in der Ferne, gegen Barssdowka verschwanden und die russische Infanterie in immer neuen

Weilen hinter ihnen gegen Westen zog, krochen sie tiefer in den Wald und versteckten sich in einer Bodenmulde, die sie notdürftig vom Schnee säuberten.

»So«, sagte Schwanecke, »das hätten wir geschafft. Hier kann man es aushalten.«

»Wie lange?« fragte Deutschmann.

»Ewig.« Schwanecke zuckte mit den Schultern. »Bis die Luft rein ist. Du hast gesehen, die Russen sind durchgebrochen, und wenn sie schlau genug sind, dann rollen sie weiter, bis Berlin ...«

»Mach dich nicht lächerlich!«

»Was glaubst du denn? Nee, nicht ganz bis Berlin«, verbesserte er sich dann, »unsere sind auch nicht dumm, und die Russen sind nicht sehr oft schlau, verstehst du? Sie sind große Krieger, aber hier oben, verstehst du -«, er zeigte gegen den Kopf, »- hapert es manchmal. Sie hauen drauflos, immer ‘ran wie Blücher, boxen sich durch und fallen wie die Fliegen - wo ein schlauer General so ‘ne Umgehung machen würde und einen Kessel und so, verstehst du?«

»Ich bin kein General«, sagte Deutschmann überdrüssig. Er wollte Ruhe haben, er wollte nachdenken, aber dieser Schwätzer mußte immer reden und reden ... Warum war er eigentlich hier?

»Nee - und du wirst es auch nie werden«, sagte Schwanecke behaglich. »Du kannst höchstens ein prima Professor werden oder sonst was - aber nie ein General.«

»Das ist mir auch recht.« Deutschmann fischte in seinen Taschen nach Zigaretten, holte eine heraus und wollte sie anzünden. Doch ein heftiger Schlag auf die Hand schleuderte die Zigarette und die Streichhölzer in den Schnee, und als er überrascht aufblickte, sah er gerade in Schwaneckes böse, drohende Augen.

»Bist du verrückt - du Idiot?! Hier rauchen, was?«

»Na, hör mal ...«, begann Deutschmann, aber Schwanecke schnitt ihm das Wort ab.

»Schnauze!« Und nach einer Weile unbehaglichen Schweigens: »Siehst du - deshalb kannst du nie ein General werden, obwohl es auch dämliche Generäle gibt, und eine Menge dazu! Wenn du hier qualmst ... na, was glaubst du?«

»Jaja ...«, sagte Deutschmann. Schwanecke hatte recht. »Was wollen wir jetzt machen? Was hast du vor?«

»Abwarten«, sagte Schwanecke lakonisch. »Wenn die Russen weit genug vorgestoßen sind, dann kommen die Trosse, verstehst du? Alte Knacker, die keine Wut im Bauch haben, so wie die vorne oder die Scheißpartisanen. Dann erkunden wir die Lage, und wenn sie günstig ist, heben wir die Hände hoch und ergeben uns. Was meinst du, wie so’n alter Troßsoldat stolz ist, wenn er zwei Gefangene macht?! Kennst du die Internationale?«

»Nein. Warum?«

»Ich kenn’ sie, aber nicht ganz. Es wird genügen. Verstehst du: Wenn wir mit erhobenen Händen losmarschieren, singen wir die Internationale. Dann müssen die Brüder strammstehen- und können nicht schießen, ist doch klar, oder?«

Schwanecke grinste breit, und Deutschmann konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.

Doch etwas später, gegen Nachmittag, wurde die Lage ungemütlicher. Von der Front her kam immer heftiger werdendes Schießen, das sich rasch näherte. Jetzt hörte man auch wieder Panzer, und in die alten russischen Stellungen schlugen einige deutsche Granaten.

»Ich werd’ verrückt«, kommentierte Schwanecke diese veränderte Lage überrascht. »Soll das heißen, daß die Kumpels einen Gegenangriff machen?«

»Sieht so aus«, sagte Deutschmann trocken.

Als am Ende auch noch russische Infanterie - Schwanecke kroch an den Waldrand, um die Lage zu erkunden - gegen den Wald zog, wurde auch er nervös. »Nichts wie ab!« sagte er. »Wir müssen tiefer ‘rein, sonst erwischen sie uns - und das wäre nicht gut. Jetzt sind sie erst recht wütend, wo sie zurückgejagt werden. Wer hätte das gedacht -!«

Sie brachen auf.

Der Wald war still, tief verschneit, ab und zu polterte Schnee von den Zweigen und schlug dumpf zu Boden. Von weit her, wie aus einer anderen Welt, hörte man den Lärm der Schlacht. Der Atem dampfte vor ihren Gesichtern, als sie sich keuchend und vorsichtig, immer wieder verharrend und horchend, durch den Schnee und das Unterholz den Weg bahnten.

Es dämmerte.

»Halt -!« sagte Schwanecke plötzlich, der vorausging, und blieb wie angewurzelt stehen.

»Was gibt’s?«

»Ein paar Hütten, glaub’ ich«, gab Schwanecke flüsternd zurück und ging langsam in die Knie. Deutschmann tat es ihm gleich - und nun sah auch er durch die Zweige hindurch die dunklen Umrisse einiger, kaum aus dem Schnee ragender Hütten auf einer kleinen Lichtung.

»Ob sie bewohnt sind?«

»Wie soll ich das wissen. Man müßte nachsehen .«

»Na, denn los!« sagte Deutschmann, und Schwanecke sah ihn überrascht an. Aber er sagte nichts. Kriechend arbeiteten sie sich weiter vor, bis an den Rand der Lichtung. Jetzt konnten sie die drei oder vier Hütten gut übersehen.

Nichts rührte sich. Es war alles stumm, sie hörten nur ihr eigenes Atmen und die dumpfen, schnellen Herzschläge.

»Vielleicht gibt’s was zu fressen dort?« sagte Schwanecke.

»Wir haben ja noch etwas.«

»Eine kleine Reserve würde nicht schaden.«

»Du glaubst doch selbst nicht ... wie soll es hier was zu fres-sen geben -? Aber vielleicht -«

»Was?«

»Vielleicht - wenn die Hütten unbewohnt sind - könnten wir hier übernachten.«

»Na, ich weiß nicht ...«:, sagte Schwanecke zweifelnd.

»Warum nicht? Hier draußen können wir uns ganz schöne Erfrierungen holen.«

»Das stimmt.«

»Also los!«

Von Deutschmann war die Lethargie, die sich seiner gestern bemächtigt hatte, gewichen. Mit Gewalt versuchte er immer wieder, die Gedanken an Julia und ihren Tod zu verscheuchen. Und jetzt war es ihm gelungen. Er mußte am Leben bleiben. Er hatte eine Aufgabe. Er glaubte, den Weg vor sich zu sehen -oder zumindest ahnte er ihn: Julia ist gestorben, doch ihr Tod verpflichtete ihn mehr, als es alles andere zu tun vermochte. Man konnte sie nicht mehr zum Leben erwecken - aber man konnte diesem Tod wenigstens einen Sinn geben. Er mußte am Leben bleiben, koste es, was es wolle, und dann, später einmal, seine Arbeit dort fortsetzen, wo er aufgehört hatte.

Der Weg über die Gefangenschaft war bitter und hart - und gefährlich. Aber er schien ihm mehr Chancen zu versprechen als eine Rückkehr hinter die deutschen Linien. Wie viele von den Kameraden waren gestorben? Es fröstelte ihn, wenn er daran dachte, wie sie fielen und als graue Haufen liegenblieben

Vorsichtig, darauf achtend, daß er keinen Zweig berührte, schlich er aus dem Wald auf die Lichtung, seine Tasche (eine hatte er bei der Flucht durch den Wald weggeworfen), hinter sich herschleppend. Schwanecke folgte ihm, die Maschinenpistole im Anschlag.

Die Hütten waren verlassen.

Als sie die Tür zu der ersten auf stießen, blieb Schwanecke wie angewurzelt stehen. »Hier war noch vor kurzem jemand«, sagte er, in die Luft schnuppernd. »Vor zwei, drei Stunden, vielleicht vor einer.«

»Wie ...?«:

»Ich rieche es«, sagte Schwanecke bestimmt. »So was rieche ich immer.«

Die Dämmerung war jetzt tiefer geworden. Als sie aus der ersten Hütte traten, in der sie nichts Eßbares finden konnten, waren die Umrisse der drei anderen kaum noch zu erkennen. In der zweiten glühte noch ein Gluthäufchen unter der Asche, doch auch hier fanden sie weiter nichts als drei oder vier leere Kornsäcke.

Als sie um die Ecke der dritten und der größten bogen und an die Vorderseite kamen, fanden sie Tanja.

Schwanecke, der jetzt voranging, mit der Maschinenpistole unter dem Arm, wachsam, doch bereits etwas sorgloser geworden, stutzte.

»Mensch - da liegt jemand«, flüsterte Schwanecke über die Schulter und hob den Lauf der Maschinenpistole an. Deutschmann trat neben ihn, und jetzt sah auch er einen ausgestreckten menschlichen Körper, der mit dem Gesicht nach unten im schmutzigen Schnee vor der verschlossenen Tür der Hütte lag.

»Mensch ...«, sagte Schwanecke, »Mensch, Doktor ...«

Jetzt begannen beide zu laufen.

»Mensch, Doktor ...«, sagte Schwanecke noch einmal, »Mensch, Doktor, eine Frau .«

Die langen schwarzen Haare der Toten lagen wie ein seidiger Kragen um ihren weißen Nacken. Ihre Arme waren entlang des Körpers ausgestreckt mit den Handflächen nach oben, die Finger gekrümmt, so als wollte sie sich in den letzten Sekunden ihres Lebens an irgend etwas festklammern. Quer über den Rücken der dicken Wattejacke lief die Spur des Todes: vier kleine, runde Löcher, die die Kugeln einer Maschinenpistole inden gesteppten Stoff gefetzt hatten.

Schwanecke hatte sich als erster gefaßt. Er beugte sich über die Tote, packte sie an der Schulter und drehte sie behutsam um, als glaubte er, jede Berührung könnte ihr noch wehtun.

Deutschmann schwankte. Er trat ganz nahe an das Mädchen heran und sah ihr ins Gesicht. Ihre Züge waren gelöst, und fast schien es, als ob sie lächelte. Die wächserne Blässe ihres hübschen Gesichts stand in einem eigenartigen Kontrast zu ihrem schwarzen Haar. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, so, als ob sie noch im Todesschmerz den Namen geflüstert hatte, an den sie in den letzten Stunden immer wieder gedacht hatte: Michael ...

»Tanja ... Tanjascha ...«, keuchte Deutschmann.

»Wie? Kennst du sie?«

Deutschmann nickte.

»Ist das vielleicht -?«

»Ja.«

»Mensch«, sagte Schwanecke, »Mensch und so ...«

Deutschmann stand wie angewurzelt. Dann wich er langsam, wie unter einem schrecklichen Zwang, zurück, mit leichenblassem Gesicht und weit offenen, entsetzten Augen. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte keinen Laut heraus. Immer wieder starrte er auf die vier Ausschüsse, die die Watte wie aufgeplatzte Knospen eines Baumwollstrauches aus der Jacke getrieben hatten, und auf den Zettel, der mit einer verrosteten Nadel auf der Brust Tanjas befestigt war.

»Das sind vielleicht Schweine!« sagte Schwanecke böse und beugte sich nieder, um die Schrift auf dem Papier zu enträtseln. Auf russisch stand es dort »Deutsche Hure«, er verstand es nicht und fragte: »Was steht da, kannst du Russisch lesen ...?« Er sah sich nach Deutschmann um. »He, Doktor, was ist los?«

Deutschmann riß sich zusammen. Seine Glieder waren steif und bleischwer. Sie schmerzten ihn bei jeder Bewegung, sein ganzer Körper schmerzte ihn, aber er durfte nicht ... er durfte nicht zusammensacken, er mußte ...

»Komm«, sagte er mit einer Stimme, bei deren Klang es Schwanecke kalt über den Rücken lief, »komm!« Nur das. Aber der andere wußte, was er meinte, und lehnte seine Maschinenpistole gegen die Wand.

Sie nahmen das Mädchen, das nicht lange tot sein konnte, denn ihr Körper war noch nicht steifgefroren, und trugen es behutsam in die Hütte.

»Ich kann das nicht mitansehen ...«, murmelte er wütend. »Ich kann das nicht mitansehen - die Schweine! Die verfluchten Schweine!«

Sie begruben Tanja im Lehmboden der zweitgrößten Hütte. Eine alte, verrostete Schaufel, die sie gefunden hatten, war ihr einziges Gerät. Sie wechselten sich ab, und es dauerte fast drei Stunden, bis das Loch groß und tief genug war. Die ganze Zeit über sprachen sie kein Wort.

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