Am gleichen Abend erhielt Hauptmann Barth in Orscha den Einsatzbefehl der Division.
Was Wiedeck geahnt hatte, als er die Sonderzuteilungen an Schnaps beim Furier sah, was Krüll und die anderen befürchteten, ohne zu wissen, was es eigentlich war, wovor sie Angst hatten, war mit einem kurzen Schreiben und einem Telefonanruf Wahrheit geworden. Hauptmann Barth las den Einsatzbefehl durch, las ihn zum zweitenmal, blieb eine Weile regungslos sitzen und kurbelte dann die Division an. Er verlangte den Adjutanten, einen Hauptmann, der sich sofort meldete.
»Ach, Barth - Sie sind es«, sagte er jovial. »Ich habe eben an Sie gedacht - und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich auch Ihren Anruf erwartet.«
»Dann wissen Sie, worüber ich mit Ihnen sprechen will?«
»Aber klar.«
»Wie haben Sie sich das eigentlich vorgestellt? Warum müssen das gerade wir machen?«
»Da fragen Sie noch? Es ist zwar nicht die Regel, daß eine
Einheit, wie Ihre solche heiklen Unternehmen durchführt, aber der General meint, daß es gelegentlich einen Grund gibt, da einmal eine Ausnahme zu machen.
Sehen Sie, Barth, wir wollen uns nichts vormachen: Das Unternehmen ist verdammt gefährlich. Wir wissen das auch. Aber was sollen wir machen? Bei Witebsk greifen die Russen an, nur bei uns ist es noch still. Warum? fragt man sich bei der Armee. Der Boden ist hartgefroren, das beste Panzerwetter, das man sich wünschen kann. Und doch rührt sich nichts, obwohl die Russen wissen müßten, daß ihnen der Westen offenliegt, wenn sie hier durchbrechen. Es ist alles eben, keine großen Hindernisse ... Wir haben den starken Verdacht, daß sich dahinten bei den Russen irgend etwas zusammenbraut. Wir haben es schon mit Flugzeugaufklärung versucht, aber die Wolken hängen zu tief, und außerdem hat man schon zwei unserer Aufklärer abgeschossen. Die Frage ist: Was geht da hinten, hinter den russischen Linien, vor sich? Und um das herauszubekommen, muß Ihre zweite Kompanie, die dafür am günstigsten liegt, eingeteilt in mehrere Gruppen, durch die russischen Linien hindurchsickern und nachsehen, was da los ist.«
»Das ist genau das, was man ein Himmelfahrtskommando nennt. Ich bezweifle, daß überhaupt jemand zurückkommt«, sagte Barth langsam.
»Einer muß zurückkommen. Wenn dieser eine es schafft, hat er mehr geleistet, als ein ganzes Regiment schaffen könnte. Aber weswegen ich mit Ihnen sprechen wollte: Wir wissen beide, Barth, daß es bei Ihnen sicher eine Menge Leute gibt, die bei der ersten sich bietenden Gelegenheit überlaufen würden. Das war auch unser einziges Bedenken, Ihr Bewährungsbataillon mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wir riskieren es trotzdem, und wir werden es schriftlich machen, daß alle diejenigen, die das Unternehmen heil überstehen und zurückkommen, in ihre alten Einheiten versetzt werden und ihren ehemaligen militärischen
Rang zurückbekommen. Das dürfte ein gewaltiger Anreiz sein.«
»Ich finde ihn gar nicht so gewaltig.«
»Ich weiß, was Sie meinen. Wenn man einmal drüben ist, dann ist für einen der Krieg aus. Wir beide - und mit uns alle alten Hasen wissen aber, daß es nicht so einfach ist. Die Russen sind keine sehr guten Gastgeber, wenigstens nicht für uns. Da weiß man nie, was passieren könnte. Im Gegenteil wissen dann Ihre Leute genau, was geschehen wird, wenn sie zurückkommen.«
»Wenn jemand zurückkommt ...«
»Seien Sie doch vernünftig, Barth ... Wir können nicht anders, Barth, wir brauchen die regulären Truppen zum Auffangen der Offensive. Sie wissen ja, wie knapp wir mit den Leuten sind.«
»Und mein Bataillon brauchen Sie zum - bums, weg ist’s!«
»Warum eigentlich dieses lange Gespräch, Barth? Es stimmt, was Sie sagen - aber andererseits ist es die Bewährung für Ihre Männer. Gelingt der Erkundungsstoß oder besser - das Spähtruppunternehmen, dann wird eine Menge ihrer Leute rehabilitiert, und das ist ja auch etwas. Ansonsten ist es eben Krieg. Wir beide haben ihn nicht gemacht.«
»Nee«, sagte Barth, »das haben wir nicht.«
»Na, denn - ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie haben den genauen Zeitplan - er ist zwar knapp, aber er wird einzuhalten sein, wenn sich Ihre Leute beeilen. Wir warten auf Ihre Meldung. Ich wünsche Ihnen, beziehungsweise Ihrer zweiten Kompanie, viel Glück!«
»Na, denn los!« sagte Hauptmann Barth müde, als er den Telefonhörer auflegte.
Tanja war aus Orscha verschwunden. Als Sergej eines Nachts an die Tür klopfte und sie aufbrach, weil er keine Antwort erhielt, fand er die Hütte leer.
Vergeblich suchte er nach ihr. Er fragte die Bauern und die als Bauern verkleideten Partisanen, er ließ sie von Tartuchin und seinen wilden Gesellen suchen - doch sie blieb verschwunden, nirgends fand sich eine Spur von ihr. Aber er gab nicht nach: Wenn sie irgendwo in der Nähe war, wenn es ihr nicht gelungen war, sehr weit zu entschlüpfen, dann würde er sie finden. Es gab nichts, was seinen Leuten entging, kein Mensch konnte sich so verstecken, daß sie ihn nicht finden würden.
Wütend - und verzweifelt ging Sergej zurück in die Wälder, in die »Heimat der Wölfe«, wie sie von den Einheimischen genannt wurden, jetzt selber zu einem Wolf geworden, von Hunger nach Rache gepeinigt, blutgierig und gnadenlos.
Nicht weit von Barssdowka, etwas abseits liegend, standen einige niedrige, halbverfallene, windschiefe Bauernhütten. Sie wurden von alten Leuten bewohnt, die ihre Häuser nicht verlassen wollten und sich Heber mit ihnen zusammenschießen ließen, als vor der Front zu flüchten. In einer dieser Hütten wohnte auch die alte Marfa, eine Frau von über 70 Jahren, die von der Milch und der Butter einer Ziege lebte und fast den ganzen Tag über durch das kleine, halb blinde Fenster die deutschen Soldaten und die vorbeirasselnden Nachschubkolonnen anstarrte.
Nachts dann, wenn es ruhiger wurde, kamen durch den Hintereingang ab und zu dickvermummte Gestalten zu ihr, wärmten sich und verschwanden wieder, huschenden Schatten gleich, genauso leise, wie sie gekommen waren: die als Bauern verkleideten Partisanen, die durch die deutsche Front hindurchsickerten.
In einer dieser stillen, weißen, frostklirrenden Nächte kam Tanja zu der alten Marfa.
»Ach, du bist es, Tanjascha«, sagte die Alte und blinzelte das
Mädchen mit ihren schwimmenden, farblosen Augen an. »Du bist es! Du warst schon eine ganze Weile nicht hier.«
»Wie geht es dir?«
»Gut, gut, Töchterchen.« Die Alte strich sich mit knorrigen, durch Gicht gekrümmten Fingern über das alte, geflickte Kleid. »Was machst du hier?«
»Ich möchte bei dir bleiben.«
Die alte Marfa nickte. Sie sprach nicht weiter darüber, und während Tanja ins Haus ging und sich auf dem Heuboden ein Lager zurechtmachte, setzte sich die Alte wieder vor das Feuer und starrte versunken in die flackernden Flammen.
Tanja war beinahe glücklich. Von einer Luke des Heubodens konnte sie hinüber nach Barssdowka sehen. Dort war Michael, dort lebte jener fremde Mensch, der ihr so vertraut geworden war wie keiner vor ihm, dem sie gehörte und dem sie folgen wollte, wohin er sie auch führen würde.
Vielleicht würde sie ihn sehen. Vielleicht auch konnte sie ihn sprechen. Sie dachte daran, was sie ihm sagen wollte, wenn sie ihn fand, sie wollte ihm erzählen, wie die Welt plötzlich einsam war ohne ihn, wie sie auf ihn gewartet, und wie sie sich entschlossen hatte, hierherzukommen, um in seiner Nähe zu sein. Und sie würde ihm sagen, daß sie sich entschlossen hatte, alles hinter sich zu lassen, was ihr lieb und teuer war, um mit ihm sein zu können ...
Hauptmann Barth war überraschend in Barssdowka eingetroffen. Für Oberleutnant Obermeier kam er nicht unerwartet, denn Wernher hatte ihn von Babinitschi aus angekündigt.
Ohne sich um den verblüfften, stramm grüßenden Krüll zu kümmern, ging der Hauptmann in Obermeiers Unterkunft. Hier lagen auf einem ramponierten, roh zusammengezimmerten Tisch die Meßtischblätter des Schanzsektors der zweiten Kom-panie, die durchzogen waren mit grünen, roten und gelben Strichen.
»Schieben Sie den ganzen Kram beiseite«, sagte Barth, nachdem sich die beiden Offiziere begrüßt und die Hände geschüttelt hatten. »Sie brauchen das Zeug nicht mehr. Wenigstens vorläufig nicht.«
»Sie meinen ...?«:
»Ganz recht. Es ist soweit. Heute nachmittag geht’s los. Gestern abend hat mich der General höchst persönlich angerufen, um mir die Sache noch einmal zu erzählen. Den Herren scheint es sehr wichtig zu sein.«
»Und wir sind also endgültig dazu auserkoren, das Unternehmen durchzuführen?«
»Jawohl. Welch eine Ehre, was?«
»Na, ich weiß nicht .«
Hauptmann Barth holte aus der Kartentasche eine Karte der Umgebung von Gorki und breitete sie auf dem Tisch aus.
»Sehen Sie, ungefähr hier verläuft die Front. Da ist die russische Linie und - dahinter sind höchstwahrscheinlich große Panzerverbände aufgefahren und liegen in Bereitstellungsräumen. Nur ist alles unheimlich still, im Gegensatz zu Witebsk, wo der Teufel los ist. Aber der Generalstab meint, daß hier bei uns mit größter Wahrscheinlichkeit eine neue russische Großoffensive anlaufen wird. Mit der Flugzeugaufklärung ist es nicht weit her, der Himmel ist zu verhangen - und sie wissen ja, daß die Russen Meister der Tarnung sind.«
»Und ob ich das weiß!«
»Die einzige Möglichkeit, die Lage zu erkunden - ist ein großangelegtes Spähtruppunternehmen. Und jetzt wird’s kritisch. Unsere HKL ist ziemlich dünn besetzt. Alle vorhandenen Truppen werden für das Auffangen der ersten sowjetischen Angriffe gebraucht. Was dann kommt, wenn die Truppen verbraucht sind, wissen wir nicht. Die Armee hat auch keine nennenswerten Reserven. Kurz und gut, man kann keinen einzigen Mann der regulären Truppen aus der Front nehmen und zu dem Spähtruppunternehmen schicken. So kommt man auf die Idee, uns zu - verwerten ...«
»Wie sinnig!« sagte Obermeier.
»Nicht wahr? Wir haben also den Befehl, in der kommenden Nacht über die deutsche HKL hinaus und durch die russischen Linien zu schleichen, gruppenweise, unter Benutzung des Partisanenwaldes von Gorki, wo wir ebenfalls Truppenansammlungen vermuten, vor allem eine Menge Minenwerfer und leichter Feldartillerie. Sie wissen ja, wie gefährlich die russische Artillerie sein kann. Sie müssen nun mit ihrer zweiten Kompanie hinter die russischen Linien und ausspionieren, was sich da alles angesammelt hat. Das wäre alles.«
»Mir genügt’s. Glauben Sie, daß noch ein Mann zurückkommt?«
»Sie meinen - oder Sie befürchten, ihre Leute könnten sich scharenweise ergeben?«
»Auch wenn sie das nicht tun ... aber es ist ja fast aussichtslos. Die Russen werden uns der Reihe nach schnappen.«
»Einer wenigstens muß zurückkommen, ich sagte es Ihnen schon. Um der ersten Gefahr, nämlich der des Überlaufens wenigstens etwas vorzubeugen, können Sie Ihren Leuten folgendes sagen: > Jeder <, der nach dem durchgeführten Auftrag zurückkommt, wird seinen früheren Rang zurückerhalten und in seine ehemalige Einheit überstellt werden. Für ihn ist dann die Episode >Strafbataillon< zu Ende.
Und was das übrige betrifft ... ich weiß, was dieser Auftrag bedeutet. Und wir beide wissen, daß die Russen nicht auf den Kopf gefallen sind. Sie sind nicht blind. Aber Sie haben einige sehr gute, alte Soldaten dabei, alte Füchse, die sich nichts vormachen lassen und die mit fast jeder Situation fertig werden. Es stimmt schon: Ein Großteil Ihrer Leute wird draufgehen.
Vor allem die, die noch nie an der Front waren, die zu erschöpft sind, um solche Anstrengungen durchzustehen, und die nicht wissen, wie man sich an der Front bewegen muß. Wir können da nichts ändern. Wichtig ist, wie gesagt, daß zumindest einige zurückkommen und berichten.«
»Wenn ich daran denke, komme ich mir vor wie ein Schlächter, der eine Viehherde in die Wurstfabrik treibt.«
»Aber, aber, Obermeier! Wie können Sie Ihre Leute mit Vieh vergleichen? Ich weiß gar nicht, was Sie haben? Wir mußten doch darauf vorbereitet sein, unter anderem auch solche Aufträge durchzuführen.« Barth beugte sich wieder über die Karte und ging mit der Bleistiftspitze die mit Rotstift eingezeichneten Linien ab.
»Das ist der Generalfahrplan, Oberleutnant. Sie teilen Ihre Kompanie in zehn Gruppen ein, die völlig selbständig operieren. Für dieses Unternehmen wird jede Gruppe vollständig bewaffnet. Sie bekommen also zehn leichte MG 42, also das Beste vom Besten, zehn Maschinenpistolen, die restlichen Leute werden mit Karabinern ausgerüstet. Dazu Handgranaten - eben das übliche. Sie haben doch genug Männer in der Kompanie, die am MG ausgebildet sind?«
Obermeier nickte.
»Also gut. Abgemacht. Sie werden mir aus Barssdowka melden, sobald jemand zurückkommt und etwas Konkretes zu berichten hat.«
»Das wird leider nicht gehen, Herr Hauptmann«, sagte Obermeier trocken. »An meiner Stelle wird Unteroffizier Weg-ner die Kompanie übernehmen.«
»Wegner? Kenne ich nicht. Warum Wegner?«
»Weil ich mitgehen werde.«
Barth warf seinen Bleistift auf den Tisch und starrte Obermeier an.
»Obermeier, was ist denn los mit Ihnen? Machen Sie mir keinen Unsinn. Sie bleiben hier!«
»Bitte, geben Sie mir nicht den dienstlichen Befehl, Herr Hauptmann.«
Barth sah Obermeier lange und prüfend an.
»Was steckt dahinter, Obermeier? Warum gerade Wegner? Machen Sie jetzt wieder Ihre alten, sentimentalen Touren? Wollen Sie unbedingt ein Held sein? Ist etwa dieser Wegner -ein Familienvater?«
»Das sind viele, Herr Hauptmann.«
»Wie viele Kinder hat er?«
»Fünf«, sagte Obermeier. »Aber Sie dürfen mir glauben, es ist nicht nur deswegen ... ich will beileibe auch keinen Helden spielen. Ich will nur dort sein, wo meine Kompanie ist, und das, glaube ich, ist nur in Ordnung, oder nicht?«
»Mann ... aber ich glaube, Sie haben recht. Es ist eine verdammte Sache! Aber ich brauche Sie noch ... Stellen Sie sich vor, an Ihre Stelle würde so ein Heini kommen, wie Bevern, und das ist fast mit Sicherheit anzunehmen.«
»Sie würden schon mit ihm fertig werden, Herr Hauptmann. Im übrigen bin ich durchaus nicht bereit - nicht zurückzukommen. Ich komme wieder. Darauf können Sie sich verlassen. Schließlich bin ja auch ich ein alter Fuchs.«
Hauptmann Barth nagte nachdenklich, und wie es Obermeier schien, etwas niedergeschlagen an seiner Unterlippe. Dann sah er Obermeier an - und sah gleich wieder weg.
»Nun gut«, sagte er leise, »nun gut ... es tut mir leid ... wir haben uns trotz allem sehr gut verstanden ... ich mag Sie sehr gut leiden, Obermeier ...«, seine Gestalt straffte sich, und er lächelte Obermeier an: »Wir wollen nicht sentimental werden. Ich werde Ihnen den Befehl, daß Sie hierbleiben müssen, nicht geben ...«
Zu gleicher Zeit, als Barth mit Obermeier in Barssdowka über den bevorstehenden Einsatz der zweiten Kompanie sprach, bemühte sich Dr. Kukill in Berlin seit vier Stunden, eine Verbindung mit Orscha zu erreichen.
Er stand in der Heeresvermittlung neben einer Steckvermittlung, begleitet von einem SS-Gruppenführer, einem sehr guten Bekannten, dem er vor kurzem aus großer Verlegenheit geholfen hatte.
»Es muß doch möglich sein, Orscha zu erreichen!« sagte der Gruppenführer zu dem Soldaten an der Vermittlung. »Ich war zwar nie dort, aber dieses Kaff hat doch eine ziemlich große Bedeutung an unserer Front.« Und dann zu Dr. Kukill, der unruhig eine Zigarette nach der anderen rauchte und mit kurzen nervösen Schritten in dem Raum mit seinen vielen summenden Geräten herumlief: »Es wird schon klappen, Herr Doktor! Alles braucht eben seine Zeit. Bedenken Sie, welche Stellen wir in die Leitung einschalten müssen, um die Sprechbrücke zu erreichen. Wir schaffen es, Doktor, keine Bange!« Gutmütig stieß er den zusammenzuckenden Arzt gegen die Rippen.
»Ich hoffe, es wird nicht zu spät sein!« murmelte Kukill unruhig, und auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Er setzte sich neben den Obergefreiten, der an der Steckvermittlung saß und angestrengt in seine Kopfhörer lauschte. »Vier Stunden dauert das schon. Ich muß wissen. Ich muß wissen, wie die Dosierung ist ... wir haben keine Zeit zu Experimenten .«
»Ach du liebe Zeit - so kenne ich Sie ja gar nicht, Doktor!«
»Orscha ...!« sagte der Obergefreite. Kukill fuhr herum. »Geben Sie her!«
Aber der Obergefreite winkte ab. »Sie stecken weiter um -nach Babinitschi oder so ähnlich - Barssdowka. Wir müssen Geduld haben.«
»Herrgott - Geduld - Geduld - das sagen Sie schon die ganze Zeit!«
»Wenn wir Orscha erreicht haben, ist das andere halb so schlimm. Sie sehen, es klappt bei unserer Organisation!« sprach der Gruppenführer beschwichtigend.
»Da sind vier oder fünf andere in der Leitung«, sagte der Obergefreite nervös. Der verrückte Zivilist und das hohe SS-Tier gingen ihm auf die Nerven. Nun hockten sie schon seit geschlagenen vier Stunden hier und trampelten auf seiner Geduld herum, wegen diesem blödsinnigen Kaff Orscha ... Der Teufel soll sie holen! Er sagte: »Irgend jemand meldet sich ... aber es quatschen immerzu andere dazwischen!« Er rückte den Trichter näher an den Mund und brüllte hinein: »Hallo - hallo -! Hallo - Orscha! Hallo - Divisionsvermittlung Orscha! Trennen Sie die Störsprecher! Wichtige Durchsage aus Berlin. Geben Sie Babinitschi - Barssdowka - Hauptmann Barth. Trennen Sie ...«
Dr. Kukill wischte sich über die Stirn. Sie war klebrig und weiß. Der Gruppenführer zündete sich eine Zigarette an.
Sie warteten.
Und dann sagte der Obergefreite:
»Bataillon 999? Hauptmann Barth? Hallo - ist dort Hauptmann Barth? Ist dort Barssdowka - Hauptmann Barth?« Er sah zu Kukill auf und nickte heftig. Dieser riß den zweiten Hörer an sich.
»Wer ist dort? Hauptmann Barth? Der Kommandeur? Hier ist Berlin, hier ist Berlin, hallo, Hauptmann Barth!«
In Barssdowka saß Hauptmann Barth am Telefon und preßte den Hörer des Feldfernsprechers an das Ohr.
»Berlin«, schrie er. »Wer macht hier faule Witze? Welcher Idiot ist in der Leitung? Hier ist Hauptmann Barth. Ist dort die Divisionsvermittlung, hallo - Divisionsvermittlung -!«
»Hier Dr. Kukill! Berlin!« rief in Berlin Dr. Kukill in den Apparat. »Holen Sie bitte Herrn Dr. Deutschmann an den Apparat, verstehen Sie - Dr. Deutschmann! Dr. Deutschmann!
Zweite Kompanie!«
»Deutschmann?« Hauptmann Barth sah Obermeier verblüfft an. »Ist die Welt verrückt geworden? Hier wird ein Dr. Deutschmann aus Berlin verlangt. Unser Deutschmann - ich werd’ verrückt!« Er preßte den Hörer ans Ohr und schrie in die Muschel: »Jawohl - Ich lasse den Schützen Deutschmann holen! Warten Sie fünf Minuten.«
Draußen, vor dem Haus, über die Straße hinweg, die Krülls Schneeschippkommando frei schaufelte, gellten die Rufe: »Deutschmann zum Kommandeur! Deutschmann sofort zum Kommandeur!«
Der Ruf pflanzte sich fort und drang bis zu dem kleinen Revierbunker, in dem Deutschmann gerade einem Soldaten die Hand verband. Eine Quetschwunde.
»Deutschmann zum Kommandeur!« brüllte jemand in den Bunker.
Deutschmann nickte:
»In zehn Minuten. Ich muß erst verbinden.«
»Telefon aus Berlin, du Knallkopf!«
»Aus Ber.« Deutschmann sprang auf. »...lin«, beendete er tief ausatmend. Er kümmerte sich nicht mehr um den Verletzten. »Ich bin in fünf Minuten wieder hier!« schrie er, während er hinauslief. »Berlin ... meine Frau ... ich komme wieder ... halte die Binde solange ... ich .«
Er stolperte über die Straße, über Schneehaufen, über Eisbuckel. Er rannte wie um sein Leben.
»Ei - guck mal an, wie er laufen kann!« kam von irgendwoher Krülls Stimme, aber er achtete nicht darauf. Berlin, dachte er, Berlin - Julia - Julia!
Atemlos stürzte er in den Kompaniegefechtsstand. Barth hielt den Hörer immer noch ans Ohr, und auch Obermeier lauschte, tief über den Tisch gebeugt.
»Herr Hauptmann!« keuchte Deutschmann atemlos. Das
Zimmer, die Uniformen der Offiziere, der Tisch, die Wände drehten sich um ihn.
Barth winkte ab. »Hallo - Berlin! Berlin! Schütze Deutschmann ist hier. Wo ist Berlin? Was? Divisionsvermittlung - wo haben Sie Berlin? Weg? Sie Idiot - halten Sie die Verbindung fest!«
Er wartete. Deutschmann lehnte zitternd neben ihm am Tisch, und dann kam wieder eine kaum hörbare, quäkende Stimme, er steckte die Hand aus. Barth gab ihm den Hörer.
»Hier Deutschmann - Schütze Deutschmann!« sagte der schmale, zitternde Mann mit klangloser Stimme.
»Hier Divisionsvermittlung. Gespräch mit Berlin ist unterbrochen. Ich bekomme ihn nicht mehr ‘ran. Soviel ich verstehen konnte, war ein Dr. Kilill oder Krumbill .«
»Dr. Kukill ...«:, sagte Deutschmann heiser.
»Richtig, das war’s. Der war am Apparat. Er sagte etwas von einer Frau - Julia oder so ähnlich - und einem Serum, ich habe es nicht genau verstanden - und etwas von tot sagte er auch, es war alles sehr unklar. Kannst du damit etwas anfangen, Kumpel?«
»Können Sie mich nicht mehr verbinden?«
»Nee, geht nicht. Ist zu weit. Es ist endgültig weg. Kannst du damit etwas anfangen?«
»Ja - ich habe verstanden.«
Deutschmann legte den Hörer zurück und sagte vor sich hinstarrend noch zweimal: »Ich habe verstanden - ich habe verstanden - Julia ist tot.«
Hauptmann Barth sah hinüber zu Obermeier und zuckte mit den Schultern. Er verstand nichts von dem, was sich hier abspielte, aber soviel verstand er, daß dieser schmächtige leichenblasse Mann jetzt die Nachricht über den Tod einer Frau erhalten hatte, die Julia hieß. Und wenn er sich recht erinnerte, stand in Deutschmanns Papieren, daß er mit einer gewissen
Julia verheiratet war ...
Bitter. Aber was konnte man tun? In solchen Fällen war es -das wußte er aus Erfahrung - am besten, die Leute zu beschäftigen. Und sie sollten beschäftigt werden, diese Männer aus der 2. Kompanie, bei Gott! Er hob das Handgelenk und sah auf die Uhr.
»In einer Stunde rücken Sie zu den Ausgangsstellungen ab, Herr Oberleutnant«, sagte er dienstlich. »Und Sie, Schütze Deutschmann, haben Sie noch eine Frage?«
»Nein, Herr Hauptmann.«
»Es tut mir leid ...«:, murmelte Barth, »aufrichtig leid. Wenn ich recht verstanden habe ... Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen ...«
»Danke.«
Deutschmann ging hinaus, ohne zu grüßen, stand auf der Straße ohne Kopfbedeckung und mit offenem Uniformrock, so wie er aus dem geheizten Bunker herausgestürzt war. Von der Unterkunft her kam Schwanecke auf ihn zu. Als er Deutschmann sah, stutzte er und raffte den offenen Uniformrock vor Deutschmanns Brust zusammen.
»Mensch, du siehst aus wie eine Wasserleiche. Was ist denn los? Was wollen die aus Berlin?«
Deutschmann schwieg.
»Sind sie dir auf den Pelz gerückt? Laß uns abhauen, Kumpel!« flüsterte Schwanecke, während er sich vorsichtig umsah. »Heute nacht, verstehst du, jetzt ist’s viel einfacher ... keine Rotkreuzfahne mehr ... Wir bleiben einfach hinten ... So ‘n Erkundungsstoß ist genau das richtige für uns. Machst du mit?«
Deutschmann sagte immer noch nichts.
Schwanecke rüttelte ihn: »Was ist passiert? He - hörst du eigentlich? Bist du taub geworden? Was ist passiert?«
»Julia ist tot«, flüsterte Deutschmann.
»Was?« Schwanecke fuhr zurück. »Ja, dann ...«, stammelte er verwirrt, »... komm weg von hier, du holst dir den Tod. Hast du schon alles zusammengepackt? Wart mal, ich helf dir. Ja, Mensch, wenn’s so ist ...«
Willenlos, wie eine aufgezogene Puppe, ließ sich Deutschmann von Schwanecke wegführen. »So ‘ne Sache, so ‘ne verfluchte Sache!« murmelte Schwanecke, und in seiner heiseren Stimme schwang Mitgefühl für diesen großen, dünnen Mann, der an seiner Seite stolperte und den er, weiß der Teufel warum, verflucht gern leiden mochte.
In der ersten Abenddämmerung rückte die 2. Kompanie zur HKL ab. Es war noch Nachmittag, doch der graue Schleier der kommenden Nacht legte sich schon über die weiße, weite Ebene, mit dem dunklen Streifen des Waldes am Horizont.
Auch Oberfeldwebel Krüll war dabei - als Kompanietruppführer. Er wußte, wohin es ging, aber er dachte nicht daran. Warum auch? Es half nichts. Es half alles nichts. Jetzt war es soweit, und kein Mensch konnte etwas dagegen unternehmen. So trottete er mißmutig vor seinem Haufen her wie ein Ochse zum Schlachthof.
An diesem Nachmittag sah Tanja, wie eine Reihe deutscher Soldaten in weißen Tarnanzügen aus Barssdowka wegzog und bald danach in der Ebene untertauchte, in der Richtung gegen den Wald von Gorki. Sie ahnte nicht, daß unter ihnen auch Deutschmann war ...
Er ging als einer der letzten aus dem Dorf, zwei schwere Verbandstaschen über die Schulter gehängt.
Wiedeck stapfte vor ihm, ein blankgeputztes MG 42 in der Hand.
»Wie in alten Zeiten«, sagte er über die Schulter weg nach hinten. »Ich hab’ zwar was gegen die Sache, die wir erledigen müssen, aber nichts gegen die Spritze da. Und wenn du mich fragst, dann lieber mit so ‘ner Spritze durch das Land ziehen, auch wenn’s von den Rußkis wimmelt, als das sture Schanzen.«
»In fünf, sechs Stunden sprechen wir uns wieder«, brummte Schwanecke, der vor ihm ging, mit einer Maschinenpistole über der Schulter, Handgranaten hinter dem Koppel.
Aber Wiedeck hörte nicht hin. »Mensch, Ernst«, sagte er, »wenn die Sache klappt, dann ist’s vorbei mit diesem Scheißhaufen. Glaubst du, daß es mir gegen den Strich geht, hier zu dienen?«
»Wem geht es nicht?« fragte Schwanecke spöttisch.
»Ich kann dich verstehen«, sagte Deutschmann, um überhaupt etwas zu sagen. Er ging wie durch einen durchsichtigen, merkwürdig klaren Nebel, in dem alles, was um ihn herum geschah, seltsam deutlich, doch auch zugleich unwirklich und fern war. Er zwang sich, nicht an Julia zu denken. Er zwang sich, Wiedeck zuzuhören und ihn zu verstehen. Ja, er konnte ihn verstehen: Wie es auch war, ein Strafbataillon war die Einheit für Menschen, die sich gegen das Gesetz vergangen hatten. So sah er es jedenfalls, Wiedeck. Und was konnte für einen rechtschaffenen, ehrlichen Bauern schlimmer sein, als zu den Menschen gezählt zu werden, die sich gegen das Gesetz vergangen hatten? Seine Kinder sollten nie sagen: Mein Vater, der Verbrecher ... Welche Qual mußte das für ihn bedeuten! Wie konnte er noch seine Kinder Ehrlichkeit unter allen Umständen lehren, wenn er selbst ...? Daß es hier vor allem Menschen gab, die keine Kriminellen waren - wer wußte das schon? Aber es gab auch solche wie Schwanecke, die zu Recht bestraft wurden, auch wenn Schwanecke ein toller Bursche war, auf den man sich verlassen konnte. Gaben er und ihm ähnliche nicht den Ausschlag? Eine seltsame, unverständliche Welt!
»Wenn es klappt ...«, träumte Wiedeck weiter, »dann kommen wir zurück zu unseren Einheiten und ...«
»Und du glaubst das?« fragte Schwanecke spöttisch.
»Warum sollte ich nicht? Glaubst du, daß Obermeier lügt?«
»Nein, er nicht«, sagte Schwanecke. »Aber was kann schon
Obermeier gegen die anderen ausrichten?«
»Er hätte es nicht gesagt, wenn es nicht wahr wäre!« sagte Wiedeck mit Überzeugung. Wenn ein Offizier wie Obermeier bewußt lügen würde, dann - ja, dann ... woran konnte man dann noch glauben? Das konnte nicht sein! Wiedeck glaubte es, er glaubte, daß alles gut ausgehen würde, er glaubte, daß er zurückkommen würde und daß er dann wieder frei sein würde. Frei ... Er würde Urlaub bekommen und nach Hause fahren, plötzlich vor der Tür stehen ... mit Schulterklappen und Auszeichnungen ... wie sah wohl der Kleine aus? Und er wiederholte bei sich Obermeiers Worte, als sie auf der Straße vor der Schreibstube angetreten waren, kurz bevor sie abrückten.
»Männer«, hatte Obermeier gesagt, als er aus der Schreibstube gekommen war, einer von ihnen, genauso aussehend wie sie alle, im weißen Tarnanzug, mit einer umgehängten Maschinenpistole, Handgranaten hinter dem Koppel, »Männer, wir heißen: Bewährungsbataillon 999. Jetzt endlich ist es soweit: Wir sollen uns bewähren, und zwar über das übliche Maß hinaus. Wir machen einen Erkundungsvorstoß hinter die russischen Linien. Eine gefährliche Sache, ich weiß. Die Gruppenführer werden euch Näheres darüber sagen. Was ich jetzt noch zu sagen habe, ist folgendes: Jeder, der zurückkommt, wird sofort zu seiner alten Einheit versetzt und bekommt seinen ehemaligen Rang und seine Auszeichnungen zurück. Dann ist es aus mit dem Bewährungsbataillon, dem Strafbataillon, wie ihr, oder seien wir ehrlich, wie wir unseren Haufen nennen. Ich weiß: Vielleicht werden wir nicht alle zurückkommen. Wir wollen uns da nichts vormachen. Aber es liegt an uns selbst, ob und wie schwer unsere Verluste sein werden. Einzig und allein an uns selbst. Ich glaube, wir verstehen uns. Ich selber wurde zu dieser Einheit kommandiert. Weil ich aber glaube, zu euch zu gehören, gibt’s für mich nichts anderes, als mitzukommen. Das ist klar. Und ich komme auch zurück, darauf könnt ihr euch verlassen. Ich hoffe, übermorgen sehen wir uns alle wieder hier, so wie wir jetzt hier stehen. Und dann wollen wir einige Pullen leertrinken - auf den glücklichen Ausgang und -zum Abschied!«
»Ein toller Kerl!« sagte Wiedeck.
»Wer?«
»Obermeier.«
»Daß du dich man nicht täuschst ...«:, brummte Schwanecke, aber dann gab er sich einen Stoß und grinste über die Schulter: »Du hast schon recht. Er ist in Ordnung.«
Ja, Obermeier war in Ordnung, dachte Schwanecke. Schwer in Ordnung. Wenn alle anderen so wären ... Wenn er selbst, Schwanecke, sich mit dem Oberleutnant nicht so gut verstand, dann war das eigentlich seine, nicht Obermeiers Schuld. Und plötzlich - wie schon so oft und immer öfter in letzter Zeit, tat es Schwanecke fast schmerzhaft leid, daß er ein Außenseiter war und auch in Obermeier und anderen anständigen Leuten seine Gegner sehen mußte. Sie waren es, daran konnte man nicht rütteln - und es war ein Elend, daß es so war. Wieviel schöner wäre es, wenn sie alle am gleichen Strang ziehen würden - er, Obermeier, Wiedeck, Deutschmann. Verdammt, dachte er, es ist eine verfluchte Sache ... zu spät -!
So zog die 2. Kompanie, leise mit den Waffen klappernd, durch die heraufdämmernde Nacht, Phantomen gleich, die sich kaum von der grauweißen Fläche rundherum abhoben.
Vorneweg, neben Unteroffizier Hefe - Oberleutnant Obermeier. Mit der zweiten Gruppe Oberfeldwebel Krüll. Dann Unteroffizier Kentrop. Und andere, in einer langen, langen Reihe. Bartlitz, der ehemalige Oberst. Ein degradierter Major.
Ein Musiklehrer. Ein Rechtsanwalt. Ein Taschendieb. Ein Studienrat. Ein Architekt und wieder ein Rechtsanwalt. Ein Sittlichkeitsverbrecher. Ein Zuhälter. Ein Homosexueller. Ein Bauarbeiter. Ein Metzger. Ein Oberregierungsrat. Ein Einbrecher. Ein ehemaliger Kreisleiter. Ein Arzt ...
Vor ihnen, wo die HKL lag, war die Nacht dunkel und schweigsam. Frost. Eine Leuchtkugel. Und plötzlich das Rattern eines MGs.
An ihrem Dachfenster stand Tanja und sah hinter der schweigenden Kolonne her, als sie schon lange nicht mehr zu sehen war. Und dann sah sie noch eine ganze Weile hinüber nach Barssdowka, und ein kaum sichtbares, trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie leise flüsterte: »Gute Nacht, Michael, schlaf gut ... schlaf gut -!«
In der HKL wechselte Obermeier mit dem jungen Leutnant der Infanterie einige Worte. Der Leutnant wußte Bescheid. Sie verglichen noch einmal ihre Uhren und sahen dann lange und schweigend zu den russischen Linien.
»Haben Sie keine Angst, daß die Hälfte Ihrer Leute überläuft?« fragte der Leutnant schließlich.
»Warum?«
»Na ja, was man so hört ... es sind ja schließlich Verbrecher ... Kommunisten ...«
»Sie müssen es ja wissen«, sagte Obermeier, und der Ton seiner Stimme ließ den Leutnant verstummen.
»Noch zwanzig Sekunden«, sagte Obermeier nach einer Weile zu dem dumpf vor sich hinbrütenden Krüll. Er hatte die Uhr mit dem Leuchtzifferblatt dicht vor die Augen gehalten. »Noch 15 - 10 - 5 - ‘raus!«
Über den Grabenrand kletterten lautlos die ersten Gestalten. Dann war die erste Gruppe durch. Abstand. Zweite Gruppe. Abstand. Dritte - vierte - fünfte - sechste Gruppe.
»Macht’s gut!« flüsterte Obermeier zu Unteroffizier Kentrop.
»Aber ja!« Kentrop grinste den Oberleutnant an. Seine Zähne leuchteten weiß. Dann verschwand er und seine Leute hinter ihm.
Siebente - achte - neunte Gruppe. Jetzt war Obermeier selbst dran. »Los!« gab er sich den Befehl, sah kurz zurück zu seinen schweigenden, wartenden Leuten, die zusammengedrängt im Graben standen, sagte: »Es wird schon schiefgehen!« und kletterte über den Grabenrand. Vor ihm war Dunkelheit, und er tauchte in ihr unter wie ein flüchtiger, lautloser, greifbarer Schatten.
»Wenn das man gut geht!« murmelte der Leutnant, und dann sagte er zu dem Unteroffizier, der unmittelbar neben ihm stand: »Verdammt will ich sein, wenn ich an deren Stelle sein möchte.«
Zu gleicher Zeit, als die Gruppen der zweiten Kompanie weitverteilt in das Niemandsland zwischen der deutschen und der russischen HKL schlichen, erfolgte ein kurzer Feuerschlag der deutschen Artillerie und ein Scheinangriff im Bereich des Nachbarregiments: die geplante Ablenkung, die die Aufmerksamkeit der Russen an eine andere Stelle lenken sollte. Die Partisanen im Walde von Gorki unter Sergej Denkow wurden alarmiert. Gleich danach zogen sie jenseits der zweiten Kompanie als Bereitschaft an den Waldrand. Der Weg für die dem Wald am nächsten liegende Gruppe der zweiten Kompanie war frei.
Obermeier mit seiner Gruppe, Krüll mit dem Kompanietrupp und Unteroffizier Hefe mit zehn Mann wateten durch den tiefen Schnee im Wald, keuchten durch Verwehungen, schwitzten trotz beißender Kälte, fluchten und gönnten sich keine Ruhepause. Die Gruppenführer blieben ab und zu stehen und sahen auf den Kompaß, um sich nicht zu verirren. Hier die Richtung zu verlieren war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Sie waren schon durch die russischen Linien hindurchgekommen und konnten jeden Augenblick auf feindliche Einheiten hinter der HKL stoßen, auf Reserven, die in diesen Räumen in Bereitstellungen liegen mußten.
Stunden vergingen, und die Männer waren der völligen Erschöpfung nahe - als sie plötzlich am Waldrand standen.
Obermeier sah auf die Uhr. Es war ein Uhr zwölf.
Vor ihnen lag eine Ebene, durchsetzt mit Buschgruppen und einzelnen Bäumen, dahinter konnte man im fahlen Licht des russischen Winters die dunklen Umrisse eines Dorfes erkennen, und vor ihnen, zwischen dem Waldrand und dem Dorf, standen - riesigen schwarzen Schatten gleich - hinter den Büschen, unter den Bäumen, getarnt mit Zweigen und ganzen Buschgruppen - russische Panzer.
»Meine Fresse«, sagte Schwanecke leise. »Ne ganze Armee! T 34! Wenn die losrollen -!«
»... dann haben wir nicht mal mehr Zeit genug, den Hintern zusammenzukneifen ...«:, beendete Wiedeck.
»Da helfen uns auch alle deine Taschen nicht mehr«, sagte Schwanecke zu Deutschmann und grinste ihn an.
»Haltet die Klappe!« sagte Hefe nervös.
»Mensch, werd’ nur nicht kribbelig«, sagte Schwanecke. »Die Frage ist, was wir jetzt zu tun haben. Gesehen haben wir ja, was wir sehen sollten, oder?«
»Ungefähr«, sagte Wiedeck.
»Also, nichts wie ab«, beschloß Schwanecke. Sein Plan stand fest, jetzt war die Gelegenheit günstig. Auf dem Rückweg durch den Wald konnte er einfach zurückbleiben, unbemerkt verschwinden und dann eine passende Gelegenheit abwarten, um sich den Russen zu ergeben. Die Sache würde nicht ganz leicht auszuführen sein, denn mit einem einzelnen Gefangenen machten die Russen sehr oft keine großen Umstände.
Eine Maschinenpistolengarbe war weitaus einfacher als der Rücktransport nach hinten. Andererseits dürfte es aber bestimmt auch Russen geben, die stolz sein würden, einen Gefangenen zu machen, und sehr froh, ihn zurücktransportieren zu können - möglichst weit hinter die Front. Denn auch die Deutschen schossen nicht mit Erbsen - und sie trafen sehr gut ... Ob ein Deutscher oder Russe, hinter der Front ist es immer sicherer. Aber er hatte ja Zeit. Unter seinem Tarnanzug hatte er eine hübsche Proviantreserve, die er in weiser Voraussicht organisiert hatte, bevor sie losgezogen waren. Er konnte warten, und er war nicht gewillt, sich in unnötige Gefahr zu begeben, jetzt, kurz vor seinem Ziel, am wenigsten.
Mitten in diese Überlegungen stießen aus der Ebene eins -zwei - drei grüne Leuchtkugeln in die Luft und verzauberten den Nachthimmel zu einem riesigen, grünlichen Gewölbe, unter dem die Gesichter der Soldaten eine fahle, grünliche Leichenfarbe annahmen.
Im gleichen Augenblick kam Bewegung in die Stahlkolosse, als wären sie Ameisen, die durch einen Fußtritt aufgescheucht wurden. Ein Heulen und Donnern schwoll an, wurde lauter und durchdringender, füllte die ganze Landschaft aus, die ersten Panzer rollten träge an, mit knirschenden, vereisten Ketten und hämmernden, noch kalten Motoren, die Verkleidungen fielen, die Büsche wurden abgerissen.
Es mußten an die fünfzig oder mehr Panzer gewesen sein. Immer schneller rollten sie am Waldrand entlang, vorbei an den fassungslos starrenden deutschen Soldaten, die sich tief in die Schneemulden duckten und erschrocken den Aufmarsch der Stahlkolosse verfolgten.
»Meine Fresse«, sagte Schwanecke, »jetzt sind wir mitten im Schlamassel!«
»Wie meinst du das?« fragte Deutschmann.
»Siehst du denn nicht, die rollen jetzt bis an den Weg durch den Wald und dann gegen unsere HKL. Wenn sie durch den Wald sind, dann hauen sie unsere HKL kurz und klein. Wir sind mitten in einen Aufmarsch gestolpert.«
»Was sollen wir tun, was sollen wir tun?« fragte Peter Hefe zitternd.
»Jetzt kommt gleich die Infanterie«, sagte Schwanecke behaglich.
»Wieso?«
»Na, hinter den Panzern kommt immer die Infanterie. Wenn die uns hier erwischt, dann .«
»Dann gnade uns Gott«, beendete Wiedeck.
»Also, Kommandant, gib schon einen Befehl!« sagte Schwanecke zu Peter Hefe.
Doch der Unteroffizier starrte nur mit weit aufgerissenen Augen zu den vorüberrollenden Panzern. Er konnte sich nicht rühren, sein Denken war wie ausgeschaltet, er hatte ähnliches noch nie gesehen. Das war Rußland. In Frankreich war es anders, ganz anders. In Frankreich sah man nur ab und zu französische Panzer, die nichts waren im Vergleich zu diesen da, und wenn er sie gesehen hatte, waren sie meist abgeschossen und verbrannt. Aber diese hier! Von ganz fern hörte er Wiedeck sagen:
»Na, los, los!«
Nur schwer löste er seinen Blick von den Stahlkolossen, sprang auf, drehte sich um und begann zu laufen. Die anderen hinter ihm her. Jetzt mußten sie wieder den Wald durchqueren, auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren. Das würde leichter sein, da sie auf dem einigermaßen ausgetretenen Pfad gehen konnten. Doch dafür erwartete sie auf der anderen Seite ein fast unüberwindliches Hindernis: Die russischen Panzer würden sie, auf dem Waldweg fahrend, überholen. Auf dem anderen Waldrand würden sie sicher, aus der Bewegung heraus, in einer weitauseinandergezogenen Gefechtsordnung antreten und in dieser Formation die deutsche HKL angreifen. Sie mußten also zwischen den Panzern hindurch, und nicht nur das, auch über die jetzt gewiß vollbesetzte russische HKL hinweg zu den eigenen Linien gelangen. Das war unmöglich. Und doch liefen sie, keuchend, stolpernd, den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Was sie auf der anderen Seite des Waldes erwartete, darüber zerbrachen sie sich nicht den Kopf. Noch nicht. Genausowenig wie die anderen Gruppen der zweiten Kompanie, die in der gleichen Lage waren.
Schon vor Morgengrauen waren sie wieder an dem der deutschen HKL zugekehrten Waldrand. Und fast gleichzeitig mit der Gruppe Hefe kamen auch die anderen Gruppen an. Schweratmend, ausgepumpt, warfen sie sich in den Schnee. Es war genau das eingetroffen, was vorauszusehen war: Die russischen Panzer hatten sie überholt und standen in weiter Reihe auf der Ebene zwischen dem Waldrand und der deutschen HKL!
Oberleutnant Obermeier hockte mit Bartlitz in einer Mulde und starrte auf die Panzer. Plötzlich flammten Scheinwerfer auf und bestrichen das ganze Feld zwischen der deutschen HKL und dem Waldrand mit ihren grellen Lichtkegeln. Sie erfaßten eine Gruppe grauer Gestalten, die sich hinwarf und in den Schnee vergrub, doch nicht schnell genug ...
»Das sind unsere«, sagte Bartlitz. »Ganz bestimmt! Sie wollten ‘rüber ...«
»Herrgott - warum latschen sie herum wie beim Blaubeersu-chen!« Obermeier stöhnte es fast.
»Sie wissen es nicht anders«, sagte Bartlitz trocken, während beide auf den Scheinwerferkegel starrten, der dort verhielt, wo die kleine Gruppe im Schnee lag. »Wie sollen sie wissen, wie man sich in Rußland an der Front zu benehmen hat! Man hat es sie nie gelehrt.«
Jetzt kamen aus dem Wald andere dunkle Gestalten angerannt; sie arbeiteten sich schnell durch den tiefen Schriee, dick vermummt, mit Pelzmützen auf dem Kopf, Maschinenpistolen mit großen Magazinen in den Händen.
»Russen ...«, sagte Bartlitz.
Man hörte das rasende Hämmern eines deutschen Maschinengewehrs, die Russen warfen sich hin, einige sackten in sich zusammen.
»Idioten - jetzt schießen sie auch noch!« sagte Obermeier.
Ein Panzer schwenkte den Turm, und das laute Tacken eines russischen Maschinengewehrs mischte sich in die kurzen Feuerstöße des deutschen, das bald darauf verstummte. Einige deutsche Soldaten, immer noch im Scheinwerferkegel, standen mit hocherhobenen Armen auf, aber das MG aus dem russischen Panzer schoß weiter, jetzt erhoben sich auch die russischen Soldaten, und man hörte das rasende Tacken einiger Maschinenpistolen. Die Deutschen sanken nach und nach in sich zusammen.
»Mein Gott, mein Gott«, stöhnte Obermeier.
»Jetzt wissen wir, was wir zu erwarten haben«, sagte Bartlitz leise. »Wir müssen es versuchen. Wir müssen weiter. Jetzt wird bald die Infanterie ausschwärmen. Dann erwischen sie uns ... Sie haben es ja gesehen!«
In diesem Augenblick sagte auch Wiedeck zu Hefe, kaum fünfzig oder sechzig Schritte entfernt von Obermeier und Bartlitz: »Es hilft nichts, wir müssen ‘rüber. Jetzt ist’s noch dunkel, aber nicht mehr lange. Wo sind die anderen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Hefe.
Wiedeck sah sich um. »Deutschmann, Schwanecke, Mölders.«
»Wie soll ich das wissen?« sagte Hefe gereizt. »Sicher sind sie zurückgeblieben, weiß der Teufel ...« Es kümmerte ihn nicht, wo die anderen waren. In ihm lebte nur noch der Wunsch, aus diesem Hexenkessel herauszukommen, hinter die deutschen Linien, nur weg von hier! Aber wie?
»Soll ich vorneweg laufen?« fragte Wiedeck.
»Jaja, lauf schon. Versuch es.«
Bevor Wiedeck losrannte, sah er von links, aus Richtung Gorki, eine lange Schützenkette russischer Infanterie ankommen. Es war höchste Zeit. Und indem gleichen Augenblick setzten sich auch die russischen Panzer wieder in Bewegung. Aus den russischen Gräben standen Infanteristen auf und begannen, laut schreiend und wild schießend, gegen die deutsche HKL zu rennen. Die Front erwachte zu einem schrecklichen Inferno. Die deutsche Artillerie schoß. Panzerkanonen bellten auf und Flammenbündel zitterten durch den Nachthimmel. Zwei - vier - sieben Panzer explodierten, brannten aus, glühend wie in einer riesigen Schmiede, aber die anderen fuhren weiter, unbeirrt, mit heulenden Motoren, aus den langen Rohren in Bewegung schießend.
Etwas tiefer im Wald, doch so, daß sie noch einigermaßen nach draußen in die Ebene sehen konnten, lagen Deutschmann und Schwanecke in einer Mulde, hinter einem dicken, gefällten Baumstamm. Hier waren sie einigermaßen sicher.
»Solange keine Infanterie kommt, passiert uns nichts«, sagte Schwanecke zu dem entsetzten Deutschmann. »Die Panzer können uns hier nichts anhaben.«
»Die sind jetzt schon in der deutschen HKL!« flüsterte Deutschmann.
»Na klar, was glaubst du sonst? So ‘ne Feuerwalze können die paar Männeken bei uns nie aufhalten!«
»Was sollen wir tun?«
»Nur mit der Ruhe! Laß das den Vater Schwanecke machen. Für uns beide ist jetzt der Krieg aus. Ich habe das Gefühl, daß das unser letzter Rabatz war!«