Kapitel 8

Hinter einer Kate, in der Nähe des Kompaniegefechtsstandes der 2. Kompanie des Strafbataillons, wurde Schütze Werner Katzorki, das Rattengesicht, begraben. Sein Grab lag etwas abseits der zwei Reihen schiefer, schneeverwehter Birkenkreuze; am Tage, als er gefallen war, schlug eine verirrte Granate zwischen sie und riß eine flache Mulde in das steinhart gefrorene Erdreich: Eine willkommene Hilfe für die zwei Hiwis, die Gräber auszuheben hatten.

Das Rattengesicht wurde ohne viel Aufhebens beerdigt. Es war Nacht, und die Kompanie arbeitete vorne an den Ausschachtungen. Nur einige wenige von denen, die am Tage draußen waren, standen etwas hilflos um die flache Mulde, die Katzorkis Grab werden sollte. Der Tote war schon steif gefroren: Mit weit offenem, grinsendem Mund lag er auf einer Zeltplane neben dem Loch. Auf seinem Bauch lag der abgerissene Arm, die riesige Wunde schimmerte rosig durch den weißen Reif, der sich auf ihr niedergeschlagen hatte.

»Na denn«, sagte Wiedeck zu den beiden Hiwis, die teilnahmslos danebenstanden, »macht weiter.«

Die Hiwis packten die Zeltplane auf einer Seite, hoben sie an und rollten den steifen Körper in die Grube; es war verboten worden, die Toten mit Zeltplanen zu begraben. Zeltplanen waren rar, Lebende konnten sie gut gebrauchen, Tote aber brauchten keine mehr.

Vorne, an der Front, blitzte es unausgesetzt. Das Krachen des Artilleriefeuerüberfalls rollte dumpf über die Ebene, dazwischen hörte man das rasende Rattern der deutschen Maschinengewehre und das bedächtigere Tacken der russischen. Ein Hiwi stieg in das Loch und bettete Katzorki so, daß sein Gesicht gegen den stumpfschwarzen, nie ganz dunklen Himmel sah.

Dann buddelten sie ihn zu.

Es wurde keine Rede gehalten und keine Salve geschossen. Bevor der Tote noch ganz zugedeckt war, verließen die Soldaten das Grab. Das einzige, was man für den Toten tun konnte, hatte Deutschmann getan: Auf ein rohes, auf das Birkenkreuz genageltes Brettchen hatte er mit Tintenstift geschrieben:

Soldat Werner Katzorki * 1912 |1943 und darunter klein und flüchtig: Vielleicht hat er es jetzt besser.

Wieder einmal tauchte in Babinitschi Oberleutnant Bevern auf. Was er dort wollte, wußten weder Wernher noch Obermeier, der schnell angerufen wurde - in dem Augenblick, in dem Bevern aus dem Schlitten kletterte, den Mantel zuknöpfte, die Meldung entgegennahm, einen Unteroffizier freundschaftlichleutselig tadelte, weil er keinen Stahlhelm trug, und Wanda, Wernhers Dolmetscherin, nachblickte, die an ihm vorbeiging. Trotz des unförmigen dicken Mantels und der Filzstiefel, die sie trug, konnte man unmöglich übersehen, daß sie verteufelt hübsch war.

»Weibsstück!« knurrte der Adjudant erbittert, als er Wanda nachsah - und dachte im gleichen Augenblick an einen Vortrag, den er beim nächsten Schulungsabend halten wollte: Die Unterwanderung der Moral des deutschen Soldaten durch die russische Frau.

Wernher legte den Telefonhörer wieder auf, betrachtete vom Fenster her Bevern und grinste vor sich hin. »Der wird heute nacht schlecht schlafen«, sagte er zu seinem Spieß. »Wenn der Kerl nicht aus Ton ist, muß Wanda zumindest einen Gedanken bei ihm hinterlassen haben.«

»Es dürfte kaum anzunehmen sein, Herr Oberleutnant«, murmelte der Spieß, bevor er den Raum verließ. Er trug eine Brille, hatte ein gelehrtes Aussehen und sprach - wenn er nicht gerade wütend war - sehr gewählt.

Bevern und Wernher schüttelten sich die Hände.

»Bin wieder im Lande, Herr Wernher! Wundern Sie sich darüber?«

Wernher hob die Schultern.

»Wundern? Nein - warum?« antwortete er gleichmütig. »Im Krieg muß man immer mit unangenehmen Überraschungen rechnen.«

»Danke.« Bevern bekam ein steifes Kreuz. Doch dann überlegte er, daß er sich zusammennehmen und den ersten Schritt zu einer Versöhnung tun mußte oder wenigstens zum guten Einvernehmen, denn Versöhnen mußten sie sich ja eigentlich nicht, da sie ja nie gestritten hatten. Das Offizierskorps mußte zusammenhalten wie Pech und Schwefel, in guten wie in schlechten Zeiten, besonders in schlechten oder - schwierigen. »Warum sind Sie eigentlich so abweisend?« fragte er beschwichtigend. »Sie tun geradeso, als ob ich auf der Welt wäre, nur um Sie zu ärgern. Wir müssen zusammenhalten, wir sitzen ja doch alle zusammen in einem Boot.«

»Nur, daß Sie verkehrt rudern«, brummte Wernher mißmutig.

»Sie sind ungerecht. Ich tue nur meine Pflicht.«

Wernher setzte sich. »Aha«, sagte er, »nur Ihre Pflicht. Gut, gut. Vor drei Tagen zum Beispiel haben Sie die Urlauber aus dem Lazarett oder dem Truppenverbandsplatz Barssdowka in Orscha gesammelt und haben mit ihnen einen Ausmarsch gemacht. Das war Ihre - Pflicht, was, Herr Bevern?« Den letzten Satz sagte er langsam und betonte jede Silbe. »Verwundete, die bei jeder regulären Truppe für sechs Wochen nach Hause geschickt würden. Ich weiß, ich weiß ...«, winkte er ab, als Bevern etwas entgegnen wollte, »wir sind keine reguläre Truppe, bei uns gibt es keinen Urlaub. Bei uns gibt es nur eine Erholung in der Etappe. Erholung in Orscha. Daß ich nicht lache! Und dort, in dieser >Erholung< - da stehen Sie, sammeln die Männer, die zum Teil noch halb offene Wunden haben und marschieren mit ihnen hinaus. Drei-vier, ein Lied! Sie lassen sie durchs Gelände robben, Sie veranstalten Kasernenhofdrill, machen Grußübungen, Parademarsch, Gewehrkloppen und Nachtmärsche - und das mit Leuten, die sich kaum auf den Beinen halten können!«

Oberleutnant Bevern sah aus dem Fenster. Sein junges Gesicht war hochmütig und verschlossen.

»Abhärtung!« sagte er schließlich. »Militär und Krieg sind keine Ausflugsfahrt ins Blaue. Bewegung hat noch nie jemandem geschadet.«

»Das fragen Sie mal jemanden, der mehr davon versteht. Zum Beispiel einen Arzt.«

»Ach was!« sagte Bevern wegwerfend.

»So was nennt man Sadismus, Herr Bevern.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Nirgendwo steht, daß Rekonvaleszenten unmilitärisch behandelt werden sollen. Gesund oder - weniger gesund, sie bleiben Soldaten! Ja - verstehen Sie denn nicht, Herr Wernher, wir brauchen Soldaten, ganze Kerle, hart und unnachgiebig gegen sich selbst. Nur dann werden auch sie hart, unnachgiebig und mitleidlos gegen unsere Feinde sein. Sie sind doch Offizier, das müßten Sie verstehen! Hören Sie, Herr Wernher, wir müssen einen verdammt schweren Kampf ausfechten, vielleicht ist es noch ein langer Weg zum Endsieg ...«

»Hören Sie damit auf! Wenn ich das höre, denke ich an eine Schallplatte mit einem Sprung, die immer dasselbe leiert: hart -hart - hart - Endsieg - Endsieg - Endsieg .«

Bevern fuhr herum. Sein Gesicht und seine ganze angespannte Gestalt drückten einen einzigen Gedanken aus: Jetzt hab’ ich dich.

»Sie glauben etwa nicht daran?« fragte er leise, lauernd.

»Wieso?« Wernher sah den andern treuherzig an. Mein Gott, wie dumm du bist, dachte er, wie entsetzlich dumm! Und ausgerechnet du glaubst, mich zu erwischen!

»Ihre Äußerung .«

»Hören Sie, Bevern, dafür könnte ich Sie belangen. Sie wollen mir Worte in den Mund legen, die ich nicht einmal im Traum sagen würde. Es spricht nicht für Ihre intellektuellen Fähigkeiten, wenn Sie das, was ich damit sagen wollte, nicht verstehen können, nämlich: Warum soll man immer ein Wort wiederholen, von dem man ohnehin weiß, daß es wahr ist und daß es nichts anderes geben kann. Sie wissen ja: Ein Wort kann durch allzu häufige Wiederholung nur entweiht werden. Und das Wort >Endsieg< muß uns allen heilig sein.«

Bevern schwieg verblüfft. Alles andere hätte er erwartet, nur das nicht. Er ballte die Fäuste in den Manteltaschen und sagte schließlich hilflos, nur um etwas zu sagen:

»Wenn - wenn wir uns darüber klar sind - warum dann diese Distanz zwischen uns?«

Wernher erhob sich. Er trat einen Schritt vor und sah Bevern kalt an:

»Unsere Weltanschauung beinhaltet zugleich Achtung vor einem Menschen, Herr Bevern. Sie sind ein schlechter Nationalsozialist. Ich bin nicht in der Partei, und doch würde ich mir Sachen, die Sie tun, niemals erlauben. Ich verabscheue Sie. Was Sie mit den Leuten machen, die endlich einige Tage Ruhe haben sollen, weil sie verwundet sind, weil sie für Deutschland geblutet haben - auch wenn sie in einem Strafbataillon sind, ist gelinde gesagt hundsgemein. Ich schäme mich, mit Ihnen die gleiche Offiziersuniform zu tragen. Sie sind nicht nur ein schlechter Nationalsozialist. Sie sind auch ein Schwein, ein sadistisches Schwein!«

Oberleutnant Bevern verließ wortlos die Bauernhütte. Leichenblaß, wie betäubt, blieb er einige Augenblicke auf der Straße stehen. War das noch Wernher - der zwar spöttische, aber doch verträgliche Wernher? Er sprach wie Obermeier, er sprach wie alle Feiglinge, denen es die deutsche Wehrmacht zu verdanken hatte, daß sie nicht mehr die durchschlagende, unbesiegbare Kraft der ersten Jahre hatte. Bröckelte das Offizierskorps auseinander? Was hat er gesagt? Ein schlechter Nationalsozialist! Und das mir! Ausgerechnet mir! Ein schlechter Nationalsozialist! Weil ich diese Höllenbrut in Orscha durcheinander jagte, weil ich jede Minute meines Lebens für die Idee opfere, weil ich ... diese Distanz zwischen uns?

Langsam, niedergeschlagen ging er zu seinem Schlitten. Und in ihm reifte der Entschluß, trotz allen Widerständen noch mehr als bisher sein Leben der Idee zu weihen. Er wußte, daß er nicht allein war, daß hinter ihm noch andere Männer standen, und er war bereit, sein ganzes Sein in die Waagschale zu werfen für den Sieg; für den wirklichen, endgültigen Sieg, nicht nur über die Feinde draußen, auch gegen die, die sich in den eigenen Reihen eingeschlichen haben. »Abfahren, zum Bataillon!« rief er dem Fahrer mit scharfer, überkippender Stimme zu.

Wernher rief schnell Obermeier an und erzählte ihm, was in seiner Hütte vorgefallen war. Obermeier schwieg eine Weile, und dann kam seine Stimme dünn und verzerrt durch den Draht:

»Du bist wahnsinnig, Wernher!«

»Ich habe es satt, Fritz!«

»Hör mal - ich - wir müssen den Kopf oben behalten, Wernher, wir dürfen uns nicht hinreißen lassen. Was soll aus unseren Leuten werden, wenn wir plötzlich ... wenn wir etwa genauso wie viele von ihnen als Schützen irgendwo in einer Strafeinheit landen?«

»Man kann nicht immer daran denken«, sagte Wernher mit mühsam verhaltener Stimme.

»Aber man muß es versuchen.«

»Ich mußte mich zurückhalten, um nicht seine Fresse zu zerschlagen.«

»Das kann ich dir bei Gott nachfühlen. Halt dich zurück ... Kommst du heute ‘rüber?«

»Ich werd’s versuchen.«

»Also bis dann. Wir müssen irgend etwas finden. Es dürfte doch nicht so schwer sein, diesen Scheißkerl unschädlich zu machen!«

Wernher legte den Hörer auf und sah nachdenklich durch das

Fenster dem Schlitten nach, der schon weit draußen über die Steppe glitt.

Durch die Nacht rumpelte der Schlitten.

Es schneite. In dicken, trägen Flocken rieselte der Schnee aus dem Grauschwarz des Himmels. Lautlos deckte er das Land zu. Vor den Kufen des Schlittens wirbelte der Neuschnee in Wolken auf und stäubte über die vermummte Gestalt, die das Fahrzeug lenkte. Durch den Vorhang aus weißen Perlenschnüren hob sich die schwarze Wand des Waldes nur unklar gegen den Horizont ab. Auf der rechten Seite der Straße stachen in weiten Abständen einige runde Pfähle aus dem Schnee hervor, an denen sich der verwehte Neuschnee immer höher emporhob: Die Kennzeichen der verlegten Telefonkabel, die täglich von den Störtrupps abgegangen wurden.

Schwanecke hielt sich mit beiden Händen fest. Ab und zu fluchte er. Der Schlitten sprang über vereiste Schneebuckel, immer wieder wurde er hochgeschleudert und elend durcheinandergeschüttelt. Die Maschinenpistole, die er sich um den Hals gehängt hatte, schlug ihm in die Magengrube. Der kleine Motor unter seinem Sitz heulte hoch und durchdringend. Ob er diese dauernde Überbelastung aushielt?

Plötzlich sah Schwanecke auf der Straße eine Gestalt aus dem Schneetreiben auftauchen. Eine kleine, zottlige Gestalt in einem dicken Pelz, genauso vermummt wie er selbst. Einsam, verloren stand sie inmitten der grauweißen Weite. Als der Schlitten herankam, hob sie die Hand, ohne sich zu rühren.

Schwanecke trat auf die Bremsen. Der Schlitten rutschte noch etwas, schleuderte, dann stand er. Er stellte den Motor ab und kletterte von seinem Sitz. Den Riemen der Maschinenpistole hob er über seinen Kopf und nahm die Waffe in die Hand. Langsam ging er gegen die stumm wartende Gestalt.

Dann erkannte er ihn, blieb wie angewurzelt stehen, beugte sich vor und hob die Mündung der Maschinenpistole an.

Pjotr Sabajew Tartuchin hob beide Hände zum Zeichen, daß er keine Waffen trug. Aus zusammengekniffenen Augen, deren Pupillen man überhaupt nicht mehr wahrnehmen konnte, starrte er Schwanecke an, schweigend einige lange Augenblicke, bis er schließlich den Mund öffnete und mit steifen Lippen sagte:

»Da bist du!«

Über Schwaneckes Rücken lief ein eisiger Schauer. Sein Blick löste sich von Tartuchin und glitt schnell sichernd über die schneebedeckte Steppe. Tartuchin lächelte schwach.

»Wir sind ganz allein, Briderrchen ...« Er machte eine weitausholende Handbewegung, die die ganze Unendlichkeit einschloß, die sich um sie und über ihnen ausbreitete. »Niemand sieht zu ...«

Schwanecke nickte. »Gut.« Seine Stimme war ihm selbst fremd. Er wußte, daß er kämpfen mußte, und er wollte kämpfen, obwohl er mit einem einzigen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole den andern von der Straße wegfegen konnte. Aber das war zu leicht. Das war nicht das Richtige. Es war zu einfach, abzudrücken, er wollte mehr, und er ahnte, daß sich dieses Mehr genau mit Tartuchins Absichten deckte. »Na los, mach weiter!« sagte er, und in seiner Stimme schwang ein kleines, unlustiges, triumphierendes Lachen.

Tartuchin griff in die Tasche seines Pelzes und hielt Schwanecke zwei kurze, leicht gebogene Dolche entgegen. Sogar jetzt, in der Dunkelheit, konnte Schwanecke sehen, daß ihre Griffe reich verziert waren.

»Schön - verkaufst du sie?«

»Du oder ich!« sagte Tartuchin.

»Machst du’s nicht billiger?«

Tartuchins Lächeln gefror.

»Such dir eins, sie sind gleich.«

Schwanecke zog seinen Handschuh aus und tippte mit dem Zeigefinger gegen die Schneide eines Dolches. Der Dolch war scharf wie ein Rasiermesser.

»Nicht schlecht ...«

Tartuchin nickte: »Er muß durch den Pelz ...«

Schwanecke nahm einen Dolch, wog ihn in der Hand, warf ihn empor, fing ihn geschickt wieder auf und trat dann zwei Schritte zurück.

»Warum Pelz, du gelber Affe?« Er knöpfte seinen dicken Lammfellmantel auf, zog ihn aus und warf ihn in den Schnee hinter sich. Dann sicherte er die Maschinenpistole und warf sie auf den Mantel. »Wir brauchen keinen Pelz in der Hölle, mach weiter!«

Tartuchin zögerte kurz. Dann schälte auch er sich aus seinem zottligen Pelz und warf ihn in den Schnee. Zitternd vor Kälte und Erregung standen sie sich gegenüber. Im Osten, über den verschwommenen Wäldern wurde der Himmel fahl.

»Mach schon, du Mißgeburt!« zischte Schwanecke, duckte sich und streckte die Hand mit dem Dolch leicht vor.

Tartuchin federte in den Knien. Die Schneide seines Dolches schimmerte matt.

So standen sie sich gegenüber. Keiner dachte mehr. Und plötzlich schnellte Tartuchin mit einem ächzenden Laut vor, stieß mit der Hand blitzschnell zu, doch Schwanecke wich aus, zog das Knie an und trat Tartuchin gegen den Unterleib.

Der Mongole brüllte auf. Tierisch, wie ein angeschossener Wolf. Sein Körper klappte zusammen, doch sein Gesicht blieb aufwärts gekehrt. Schwanecke stürzte vor und stieß die Faust mit dem Dolch gegen dieses Gesicht, in die verzerrte Fratze, die wie ein Irrwisch vor ihm hin und her huschte.

Tartuchin wich dem Stoß aus. Er drehte sich um seine eigene Achse und stieß zu, als Schwanecke an ihm vorbei, hinter seinem eigenen Stoß herfiel.

Schwanecke konnte nicht ausweichen, er sah eigentlich den blitzschnellen Stoß des Mongolen gar nicht. Ein heißer, stechender Schmerz in der rechten Hüfte durchjagte ihn. Und fast zugleich fühlte er etwas Warmes über seinen Schenkel fließen.

»Hund, du verfluchter!« keuchte er, sprang zur Seite und stolperte. Das rechte Bein wurde leblos, er konnte sich nicht mehr darauf stützen.

Tartuchin umkreiste ihn. Er warf einen kurzen, schnellen Blick auf die Schneide seines Dolches, sah, daß sie blutig war und begann zu grinsen. Ein wilder Taumel ergriff ihn. Blut! Blut! Sein Blut! »Ich werde dich töten!« keuchte er. Und wieder: »Ich werde dich töten!« keuchte er. Und wieder: »Ich werde dich töten - ich werde dich töten!«

Schwanecke schwieg. Sein rechter Schenkel brannte wie Feuer. Er haßte den andern nicht mehr. In ihm war ein kalter, eisiger Wille zum Töten. Er war ruhig. Und der Schmerz nicht sein eigener Schmerz. Er war außer ihm, denn nichts, was nicht töten hieß, hatte mehr Platz in seinem Körper. Er sah das gelbe, verzerrte Gesicht um sich kreisen und bewegte sich mit, immer um sich selbst, den Dolch in der vorgestreckten Faust. Und dann plötzlich warf er sich wie von einer Sehne abgeschnellt auf die kleine, zusammengebückte Gestalt des Mongolen. Sein Sprung kam so plötzlich, lautlos und unvorbereitet, mit einer eiskalten, berechnenden Wildheit, daß Tartuchin nicht mehr ausweichen konnte. Er ließ sich nur in den Schnee fallen und stieß die Faust mit dem Dolch nach oben. Aber er traf Schwanecke nicht. Er sah Schwaneckes Gesicht über sich, ganz nah, jedes Barthaar erkennend: Ein kaltes, regungsloses, erstarrtes Gesicht, das sich nicht einmal verzog, als Tartuchin weitausholend zustach und Schwanecke in den Rücken traf.

Da brach in Tartuchin eine Welt zusammen. Er spürte die kurze Dolchklinge in seinen Körper dringen, einmal - noch einmal - und er fing grell, um sich schlagend, zu schreien an. In seiner Stimme waren Angst, Grauen, Verzweiflung über den Tod, der auf ihm hockte - und Sehnsucht nach dem Leben. Mit einem verzweifelten Aufheulen schleuderte er Schwanecke zur Seite, rollte abseits und sprang zugleich mit Schwanecke wieder auf. Und dann sah er die Hand des Deutschen mit dem Dolch wieder vorzucken.

Da verlor Tartuchin die Kraft und sein Gesicht.

Er wandte sich ab und rannte schreiend die Straße entlang, durch den wirbelnden Schnee laufend, sich vorwerfend, nur weiter, so weit wie möglich von diesem Dämon, in die fahle Dämmerung, die über die Wälder kroch und die Spitzen der Bäume aus dem Schwarz des Himmels hob. Hinter sich hörte er lautes, irres Lachen. Mit blutendem Gesicht, den brennenden Körper voller Wunden, taumelte er voran. Er weinte.

Er keuchte und sprach - aber wahrscheinlich dachte er nur, daß er es laut sagte, denn die Worte sprangen ihn von überall her an, er war voll von ihnen: »Er ist stärker als ich, er ist viel stärker - ich habe Angst - ich habe Angst, er ist der große, einsame und furchtbare Wolf ...«

Er merkte nicht einmal, daß er in den Schnee fiel und auf allen vieren dem Wald entgegenkroch. Hinter sich zog er einen roten Streifen wie eine dünne Schnur, die sich von seinem Körper abspulte. Er dachte: Laß mich sterben - laß mich sterben - er hat mir die Kraft genommen, den Mut und die Seele ... Aber er kroch weiter, richtete sich auf und taumelte dem Wald zu. Mit der Hand schöpfte er etwas Schnee hoch und drückte ihn auf die brennenden Wunden im Gesicht.

Schwanecke fiel in die Knie, als Tartuchin hinter dem Schneevorhang untergetaucht war. Er lachte immer noch, aber sein Lachen hatte sich gewandelt. Der Triumph war aus ihm verschwunden und machte der Verzweiflung über den rasenden Schmerz Platz. Seine rechte Seite war wie abgestorben, und die Wunde im Rücken brannte, als habe jemand Salz hineingestreut. Mit dem Kopf sank er in den Schnee und fühlte die eisige Kälte dankbar auf seiner Stirn. Doch er durfte nicht - durfte nicht ... Auf den Knien rutschte er über die Straße, zog sich wimmernd an dem Schlitten empor, auf den Sitz und fiel über das Steuerrad.

Er mußte weiter. Jede verlorene Minute brachte ihn näher an den Tod, und er wollte nicht sterben. Er mußte weiter, weiter ... er tastete nach dem Zündschlüssel, drehte ihn herum, gab Gas, der Motor sprang an: klappernd, kalt geworden, rumpelnd. Der Sitz schüttelte.

Und dann schoß der Schlitten heulend davon, von der Straße weg, in einem Bogen über das Feld, zurück zur Straße und mit höchster Geschwindigkeit auf Barssdowka zu.

Schwanecke lag über dem Steuerrad. Er fuhr durch eine nebelhafte Traumwelt, in der nur seine Schmerzen wirklich waren. So kam er in Barssdowka an: ein heulender Schlitten, der wie betrunken von einer Straßenseite zu anderen fuhr und vor dem Verbandsplatz schleudernd in einen hohen Schneehaufen raste.

Langsam, als wollte er auch jetzt noch nicht nachgeben, fiel Schwanecke auf die Seite, versuchte sich festzuhalten und rollte dann zusammengekrümmt in den Schnee.

Kurz darauf fand ihn Jakob Kronenberg ohnmächtig im Schnee liegen.

Berlin:

Dr. Franz Wissek, Chirurg an der Charite, behauptete von sich, er sei ein Glückspilz. Dies läßt sich nur aus seinem Wesen erklären; ein anderer an seiner Stelle hätte von sich gesagt, er sei ein Pechvogel: Dr. Wissek hatte nämlich nur ein Bein und auch sonst am Körper einige tiefe Narben, die ihm das Jahr 1941 geschlagen hatte.

Doch hatte seine private Philosophie - aus der Nähe gesehen einiges für sich. Als hoffnungsvoller junger Chirurg wurde er 1939 eingezogen und arbeitete in Polen - Frankreich - auf dem

Balkan - und dann im Rußlandfeldzug an ungezählten Truppenverbandsplätzen. 1941 wurde bei einem Gegenangriff der Russen sein Verbandsplatz überrollt. Die deutschen Truppen fanden ihn nach dem Gegenangriff in einem Loch liegen; sein halb abgerissenes Bein hatte er, so gut es ging, selbst abgebunden. Noch am gleichen Tage wurde es ihm amputiert. Er hätte also allen Grund zur Niedergeschlagenheit. Aber Niedergeschlagenheit paßte nicht zu Wissek, und so sagte er, die meisten seiner Kameraden wären bei dem russischen Artillerieüberfall gefallen, er aber blieb am Leben. Zudem fielen jeden Tag soundso viele junge Menschen. Er aber lebte noch. Ist das etwa kein Grund zu behaupten, man sei ein Glückspilz? Ob mit oder ohne Bein, das bleibt sich gleich. Mit einem Bein kann man genausogut operieren wie mit zwei, zumal seine Kollegen Orthopäden so verteufelt gute künstliche Beine zu bauen verstünden. Die Sonne scheint auch für die Menschen mit einem Bein, sagte er. Und weiter - und das, was man so über ihn hörte, schien ihm recht zu geben - es gäbe auch ‘ne Menge hübscher Frauen, denen es überhaupt nichts ausmachte.

Genauso unbekümmert wie gegen seine eigenen Leiden - bei den langen »Stehsitzungen« im Operationssaal hatte er oft unerträgliche Schmerzen -, war er auch gegen Vorurteile jener Zeit, und was noch wichtiger war, gegen wirkliche oder vermeintliche Gefahren, die aus ihr erwuchsen. Er war früher, bevor Deutschmann zum Strafbataillon kam, sein und Julias Freund gewesen. Er blieb es auch weiterhin.

Und so kam es, daß Julia zu ihm ging, als sie alle Vorarbeiten für den Selbstversuch beendet hatte und darangehen konnte, ihn durchzuführen.

Groß, etwas vornübergebeugt, sich schwer auf sein gesundes Bein stützend, mit lachenden grauen Augen und einem dunklen, wirren Haarschopf über der Stirn, begrüßte er Julia in einem Gang der Charite.

»Ich hab’ dich lange nicht gesehen, Mädchen«, sagte er, und Julia, die in den letzten Wochen und Monaten sehr empfindlich geworden war, bemerkte, daß er sich wirklich freute, sie zu sehen. Es wurde ihr warm ums Herz, und sie fragte sich, warum sie nicht schon eher zu ihm gegangen war - irgendwann, um eine oder zwei Stunden mit ihm in einem Lokal zu sitzen oder draußen auf dem Wannsee zu segeln. Aber dann sagte sie sich, daß es so sicher besser war: Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie nahe daran war, ihr Herz an den großen, unbekümmerten Jungen zu verlieren - genauso wie ein paar Dutzend Mädchen und Frauen vor ihr und nach ihr. Er hatte damals sogar vom Heiraten gesprochen, aber Julia hatte den begründeten Verdacht, daß er desgleichen öfter sagte. Nun ja, vielleicht hätte sie ihn heiraten können, aber sie war nicht bereit, mit einem Mann zu leben, der bewundernd hinter jedem Paar hübscher Mädchenbeine herblickte. Dann lernte sie Ernst kennen, und danach gab es keine Frage mehr, ob sie »Franzl«, wie sie ihn alle nannten, doch noch nehmen sollte.

»Ich brauch’ was von dir«, sagte sie, »du kannst mir bestimmt helfen.«

Der junge Arzt hakte sie unter und zog sie den Gang entlang. »Du weißt, Mädchen, daß du von mir alles haben kannst. Komm, gehen wir in meine Bude, ich habe jetzt ein bißchen frei, wir können ein Glas Schnaps trinken und von alten Zeiten reden. Es war doch schön, oder?«

»Sehr«, sagte Julia.

Sein künstliches Bein schlug hart gegen den glänzenden Fußbodenbelag, und Julia dachte einen kurzen Augenblick daran, wie schwer es diesem jungen, gesunden Menschen, Hansdampf in allen Gassen, sportbegeisterten Schwerenöter doch sein mußte mit seinem Gebrechen - trotz aller zur Schau getragenen Unbekümmertheit und Wurstigkeit. Aber dann dachte sie wieder an das, was sie von ihm haben wollte, und daran, ob es ihr gelingen würde, es auch zu bekommen.

Trotz Überfüllung der Charite hatte es Dr. Wissek fertiggebracht, eine kleine Kammer im obersten Geschoß für sich zu bekommen, obwohl er eine hübsche Villenwohnung in BerlinDahlem hatte. »Hin und wieder braucht man eine Schmollecke bei den ekligen Chefs«, sagte er, als er mit Julia im Aufzug nach oben fuhr. »Außerdem muß man ab und zu in Ruhe meditieren können ...« Allerdings war es in der Klinik allgemein bekannt, daß er gar nicht so selten zu zweit meditierte.

Oben angelangt, bot er Julia den einzigen Stuhl an, setzte sich selbst auf das einfache Feldbett und holte aus einem Schränkchen eine Flasche Kognak und zwei Wassergläser. »So läßt sich’s leichter reden«, lächelte er Julia an, während er einschenkte; und genauso wie früher, konnte sie auch in diesem Augenblick verstehen, daß es wenige Frauen gab, die diesem netten Windhund widerstehen konnten.

Sie tranken, und er schenkte gleich wieder ein.

»Nicht doch, oder willst du unbedingt ein Saufgelage veranstalten?« fragte sie. Der Kognak wärmte sie und überzog ihr Gesicht mit einer leichten Röte.

»Hübsch bist du - viel hübscher noch als damals«, sagte er leise, während er sie bewundernd anblickte.

»Laß uns über ernste Sachen sprechen«, sagte sie abweisend aber es tat ihr wohl, daß er es gesagt hatte, es tat ihr gut, hier zu sitzen und mit ihm Kognak zu trinken - auch wenn es aus einem Wasserglas war, aus dem schon weiß Gott wie viele vor ihr Kognak getrunken hatten.

»Schieß los, was gibt’s?«

»Du weißt, daß sich Ernst mit Aktinomyzessarten beschäftigte, mit Strahlenpilzen ... Er war schon ziemlich weit, als diese - diese ...«

»Schweinerei passierte. Sprich’s ruhig aus«, sagte der Arzt kurz.

»Ja. Wir hatten zu wenig Zeit, um die Versuchsreihe zu beenden. Aber wir waren überzeugt, auf dem richtigen Wege zu sein.«

»Wie ich Ernst kenne ... wird es wahrscheinlich stimmen.«

»Kurz - wir hätten noch ein bißchen Zeit haben sollen, dann wären wir soweit, es mit Streptokokken, Staphylokokken, vielleicht auch mit Typhuserregern aufzunehmen. Es ist eine ganz neue Sache - es ist uns gelungen, einen Stoff zu isolieren, der in kürzester Zeit diese Mikroben tötet, sie einfach verschwinden läßt, du hättest das sehen müssen ...« Sie hatte sich in Erregung geredet, der Arzt beugte sich gespannt vor, sprang dann auf und sagte:

»Moment mal, was hast du gesagt, einen Stoff abgesondert, der diese Biester einfach verschwinden läßt ... aus Strahlenpilzen?«

»Ja.«

»Weißt du auch, was du da sagst?«

»Natürlich weiß ich das!«

»Aber das ist ja - das ist ja großartig! Wenn das wirklich stimmt, Mädchen, das ist ja mehr als großartig! Wenn du wüßtest, wie schwer wir es mit diesen alten, eiternden, jauchenden Wunden haben ... na ... warte einmal, ich muß mich zusammennehmen, erzähl weiter!«

Er setzte sich wieder, trank seinen Kognak in einem Zug aus und schenkte sich gleich wieder ein.

»Du kennst mich - jedenfalls gut genug, um zu wissen, daß ich nie etwas zuviel gesagt habe ...«:, sagte Julia.

»Das stimmt. Viel zu wenig«, grinste der Arzt.

»Bleib bitte ernst. Also wir haben diesen Stoff isoliert, und dann machte Ernst einen Selbstversuch.« Jetzt sprach sie sehr langsam und überlegt weiter. Sie durfte keinen Fehler machen. Sie mußte das bekommen, was sie von ihm wollte - und wenn sie lügen mußte.

»Das war falsch, er hätte es nicht machen sollen, es war noch zu früh. Nun ist er weg, ich bin ganz allein - und was sollte ich schon tun? Ich habe an der Sache weitergearbeitet. Ich habe wieder etwas von diesem Stoff hergestellt - >Aktinstoff< nannten wir ihn - und möchte ein paar Tierversuche machen. Was ich von dir brauche, ist Eiter von einem Patienten, der eine Staphylokokken-Infektion hat, am liebsten hätte ich Staphylokokkus aureus. Du wirst doch hier irgend etwas Ähnliches haben, eine Pyodermie, eine Furunkulose ...«

»Für einen Tierversuch?« Der Arzt sah sie fragend, forschend und zweifelnd an.

»Ja«, sagte sie und erwiderte seinen Blick. Ihr Herz klopfte langsam und schwer. Und mit gespielter Leichtigkeit - wie gut können doch Frauen spielen, wenn sie etwas erreichen wollen -setzte sie hinzu: »Natürlich, was denn sonst? Du hast doch sicher solche Patienten?«

Der Arzt Dr. Franz Wissek kannte Julia von früher her als eine umsichtige, zielstrebige Ärztin, die ihre Absichten immer sehr energisch in die Tat umsetzte. Gewiß war die Arbeit, mit der sie sich jetzt befaßte, nicht ungefährlich. Aber er war sicher, daß sie genau wußte, was sie tat und was sie wollte. Warum sollte er ihre selbstgestellte Aufgabe erschweren? Es gab keinen Grund dazu. Andererseits verschaffte es ihm eine gewisse Befriedigung, gerade Julia zu helfen - nicht nur deswegen, weil er früher einmal geglaubt hatte, sie würde seine Frau werden, sondern auch, weil sie die Frau des verpönten Dr. Deutschmann war, des Mannes, dessen Namen einige seiner Kollegen nicht einmal mehr auszusprechen wagten, obwohl sie früher stolz behaupteten, seine Freunde zu sein.

»Nun ja«, sagte er, »wenn’s so ist - mit diesen Biestern kann ich dir immer dienen. Ich habe hier einen sehr hübschen Fall. Einen Mann mit einem mächtigen Gesichtsfurunkel. Ich bin nicht sicher, daß wir ihn durchkriegen.«

»Genau das Richtige. Komm, laß uns gehen.«

»He, so schnell schießen die Preußen nicht! Trink zuerst deinen Kognak aus. Aber mir scheint, du hast gar nicht gemerkt, was für ein tolles Gesöff das ist. Ich hab’ ein paar Flaschen von einem Parteibonzen bekommen, den ich von einer sehr unangenehmen Krankheit geheilt habe.« Er grinste breit. »Das gibt’s auch noch, ob du’s glaubst oder nicht.«

»Hast du auch Privatpatienten?«

»Das darf man ja nicht - aber kannst du mir verraten, wie man auf Lebensmittelkarten satt wird? Ab und zu kommt jemand zu mir, meistens hohe Herren und ihre Damen ... man muß mitnehmen, was sich einem bietet.«

»Das ist eine der häufigsten Redensarten, die man in diesen Tagen hört. Aber du hast dich auch schon früher daran gehalten ... Komm, gehen wir jetzt.«

»Also gut«, sagte der Arzt und stand auf.

Der Patient, ein Mann von etwa vierzig Jahren, trug einen Verband, der das ganze Gesicht bedeckte. Schweigend, mit schnellen, geschickten Fingern nahm Dr. Wissek den Verband ab. Julia zuckte zusammen, als sie das Gesicht des Kranken sah: Es war verschwollen, die Augen waren hinter den dicken Wülsten kaum zu sehen, die Lippen waren eitrig verkrustet, und an einem Nasenflügel saß ein großes Geschwür, aus dem Eiter hervordrang.

»Sieht schon besser aus«, sagte der Chirurg, und Julia wußte, daß diese Worte für den Patienten gedacht waren, nicht für sie. Der Kranke bewegte die Lippen, doch aus seinem Mund kam nur ein unverständliches Lallen. Er mußte gräßliche Schmerzen haben.

»Nur ruhig«, sagte der Arzt. »Wir wollen eine kleine Eiterprobe entnehmen - immerhin haben Sie einen ganz schönen

Furunkel, der wert ist, näher untersucht zu werden. So, mit dem Laboratorium und dem ganzen Drum und Dran.« Seine Stimme war sanft, plaudernd, sie beruhigte den Patienten, und Julia dachte, daß er der geborene Arzt war: Ein Mann, der wußte, was Schmerzen waren, der sie selbst erleiden und immer wieder von neuem besiegen mußte, ein Mann, dessen Stimme und dessen Hände verrieten, daß er allein um zu helfen da war, um zu helfen und zu trösten.

Mit einem Spatel strich er vorsichtig etwas Eiter ab und schmierte ihn in eine kleine flache Schale. »Das wird genügen«, sagte er später, als er mit Julia wieder auf dem Gang stand. »Ein paar hundert Millionen Staphylokokken sind sicher drin. Unser Bakteriologe hat gesagt, es sei einwandfrei der Staphylokokkus aureus. Deine Viecher werden es nicht leicht haben. Arbeitest du mit Mäusen?«

»Ja.«

»Kann ich einmal vorbeikommen?«

»Sicher kannst du das. Aber nicht, bevor ich etwas Endgültiges weiß!«

»Und wann wird das sein? Du kannst dir ja denken, daß mich die Geschichte ungeheuer interessiert.«

»In einigen Tagen. Ich denke, vielleicht fünf, sechs Tage. Ich werde dich anrufen.«

»Tue das. Ich werde warten.«

Erich Wiedeck saß in einem halbfertigen, abgestützten Bunker und rauchte eine Zigarette - die letzte aus seiner Zuteilung als sich der schmale Eingang verdunkelte und sich eine breite Gestalt in den Bunker schob. Wiedeck blieb die Zigarette auf halbem Weg zum Mund in der Luft hängen. Zuerst dachte er, er irrte sich - doch es stimmte:

Krüll.

»Da wirst du doch verrückt«, murmelte er fassungslos, während er langsam aufstand.

»Na, ihr Schlappschwänze? Schon Feierabend? Ach ja - da ist ja nur einer drin. Wo sind die anderen?«

»Wer?« fragte Wiedeck.

»Na - die anderen. Oder baust du etwa den Bunker allein?«

»Ich hab’ da noch etwas zu tun gehabt«, sagte Wiedeck. Es stimmte nicht ganz. Er hatte sich in diesem Bunker eine halbe Stunde vor der Ablösung versteckt; er wollte Ruhe haben, er war hundemüde, und im Bunker war es einigermaßen warm. Jedenfalls wärmer als draußen, wo dieser verdammte Wind über die Ebene zog und die Schneekristalle wie Nadeln ins Gesicht stachen.

»Na, ich weiß nicht«, polterte Krüll. »Scheint ganz gemütlich hier zu sein. Soldatenspielen - welche Wonne! Jetzt weiß ich auch, warum die fünfzig Meter Graben fehlen. Statt zu schanzen, sitzt ihr hier herum. Es war Zeit, daß ich einmal selbst nach dem Rechten sehe!«

Erich Wiedeck drückte die Zigarette bedächtig aus, verwahrte die Kippe in der Brusttasche und setzte sich wieder. Krüll starrte ihn entgeistert an und brüllte dann laut:

»Hopp, hopp - ‘raus aus dem Bunker und ‘ran an die Spitzhacke.«

»Nee«, sagte Wiedeck, »Ablösung ist bereits fällig. Ich bin schon seit zehn Stunden - die ganze Nacht - hier. Und die ganze Zeit hab’ ich nichts zu fressen gekriegt und keine Ruhe gehabt. Feierabend!«

»Ruhe? Ist die Wehrmacht etwa ein Sanatorium?« schrie Krüll. Er kam sich sehr stark vor. Mit Hefe und Kentrop war er mit vier Schlitten von Gorki an die Schanzstellen gefahren, in der Morgendämmerung, bei Feindeinsicht, ohne daß die Russen auf sie reagiert hätten. Das ließ in Krüll den Verdacht aufkeimen, daß alle Meldungen von den Sowjets, die auf jeden

Punkt schossen, der sich über das Schneefeld bewegte, weit übertrieben seien und nur dazu dienten, eine ruhige Kugel zu schieben. Allein, das blieb noch rätselhaft, woher die große Zahl der Verwundeten und Toten kam. Aber darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Wahrscheinlich gab’s ‘ne Menge Selbstverstümmelungen. Himmel, man wird besser aufpassen müssen!

Gleich nachdem er in den ausgehobenen Gräben angelangt war, beschloß er, einen Erkundungsgang zu machen - und anstatt hart arbeitender Männer fand er müde, in den Bunkern und auf den Grabenböden hockende Gestalten, die auf Ablösung warteten. So kam er auch zu dem kleinen, vorgeschobenen SMG-Bunker, in dem Wiedeck hockte.

Es sah gar nicht so schlecht aus, in solch einem Bunker. Harte Erdrinde, Holzbretterverschalungen, dicke Abstützbalken, ein paar Nischen, in denen man Bretterbetten mit Strohsäcken aufstellen konnte. Richtig komfortabel. Aber er hatte noch Zeit, er konnte sich später umsehen, zunächst einmal mußte er diesen widerspenstigen Wiedeck zum Teufel fahren lassen. Er machte den Mund auf, um loszubrüllen, doch ein gefährliches, entferntes Donnern ließ ihn innehalten. Gleich darauf heulte es durch die Luft, vier-, sechs- und achtmal krachte es, der Boden und die Bunkerwände vibrierten leicht, als ginge durch sie ein Fieberschauer. Krüll hielt sich an einem Abstützbalken fest und zog den Kopf tief ein. Sein dickes Gesicht war blaß geworden, und auf seiner Stirn standen trotz eisiger Kälte plötzlich Schweißtropfen.

»Was is’n los?« fragte er, als der Feuerüberfall vorbei war.

»Russen«, sagte Wiedeck lakonisch. Er hatte sich von seinem Bretterstapel nicht gerührt. Zusammengesunken, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, saß er da und sah Krüll an.

»Russen? War das .«

»Artillerie. Ich dachte, Sie wüßten das, oder waren Sie noch nie draußen?«

»Schnauze!« bellte Krüll. Wiedeck hatte eines seiner tiefsten Geheimnisse angerührt. Seinen Papieren nach hatte er bereits Fronteinsatz hinter sich - 1939 in Polen und 1940 in Frankreich. Daß seine Einheit durchweg als Reserve eingeteilt war, die viele Kilometer hinter der vorstürmenden Truppe marschierte, den Kanonendonner nur von weitem hörte, sich aber sonst vornehmlich mit Hühnchen, Eiern, Wein und anderen Annehmlichkeiten eines Vormarsches beschäftigte, das brauchte ja niemand zu wissen. Später machte er Dienst in der Etappe, wo er Rekruten und danach den Soldaten des Strafbataillons beizubringen hatte, wie sie sich im feindlichen Feuer verhalten sollten. Die Einschläge der leichten russischen Artillerie rund um den Bunker waren die ersten, die er in seiner langen soldatischen Laufbahn aus solcher Nähe erlebte.

»Geht das oft so?« fragte er, kleinlaut geworden.

»Die Russen haben Sie kommen sehen. Jetzt lassen sie Sie nicht mehr ‘raus«, sagte Wiedeck gleichgültig. »Sind Sie mit der Ablösung gekommen?«

»Ja, natürlich, mit wem denn sonst.«

»Oh, verdammt, dann muß ich mich ja beeilen!« Wiedeck erhob sich, schnallte die Feldflasche ans Koppel und setzte den Helm auf. Während er die Kapuze seines Tarnanzuges über den Helm zog und unter dem Kinn mit dem Zugband befestigte, schielte er zu Krüll hinüber, der immer noch den Pfosten umklammerte. »Bleiben Sie noch hier, Herr Oberfeld?«

»Ja, natürlich!« Doch Krülls Stimme war nicht mehr so entschlossen. Er hatte vergessen, daß sich Wiedeck vorhin eine ungeheuerliche Disziplinlosigkeit erlaubt hatte, für die er ihn zur Rede stellen wollte. Er beneidete den Abgelösten und suchte nach einer Möglichkeit, sich ihm anzuschließen. Aber wie? Der Kompaniechef hatte ihm befohlen, die Gräben auszumessen, und er selbst hatte gesagt, es am hellichten Tag tun zu wollen. Ich bin ein hirnverbrannter Idiot, dachte er, wie konnte ich nur ... wie konnte ich nur? Aber allein bleiben wollte er hier nicht. Das konnte keiner von ihm verlangen. Er würde mit Wiedeck zurückgehen, zu den anderen, da wird man schon weitersehen. Nur nicht allein bleiben! Eine einzelne Granate heulte hoch über den Bunker hinweg und schlug krachend ins Hinterland. Nur nicht allein bleiben .!

»Wo wollen Sie hin, Wiedeck?« fragte er heiser.

»Zur Sammelstelle. Die warten auf mich.«

Er trat hinaus aus dem Bunker, und Krüll ging hinter ihm her. Draußen herrschte die lange russische Dämmerung, vor einem trüben, grauen, schneeverhangenen Tag.

»Höchste Zeit - hoffentlich sind sie nicht ohne mich weg«, murmelte Wiedeck. Er hatte Angst, die Ablösung verdöst zu haben, er mußte sich beeilen, sonst konnte ihm passieren, daß er den ganzen Tag hier festgenagelt war. Tagsüber konnte man nicht über das Schneefeld.

Und dann kam es.

Von den russischen Linien gab es einen Riß durch den Himmel. Und dann rauschte es, pfiff, heulte, orgelte es durch die Luft, eine blitzende, schwarze Feuerwand stieg vorne aus der Erde, dort, wo die deutsche HKL lag.

Wiedeck sah über den Grabenrand, drehte sich dann nach dem wie ein Häufchen Elend zusammengekauerten Krüll um und schrie: »Los jetzt - wenn Sie mitkommen wollen! Jetzt geht’s noch, dann nicht mehr. Dann schießen die Russen Sperrfeuer, und wir können uns nicht mehr rühren.«

Es war ein gewöhnlicher trommelfeuerartiger Überfall der schweren russischen Artillerie vor einem Angriff der Panzer und der Infanterie in der frühen Morgendämmerung. Ein vorbereitender Feuerüberfall, wie er zu dieser Zeit, und bestimmt auch zu dieser Minute, an Hunderten von Stellen der Ostfront losbrach, und einen Tag einleitete, der so voll Sterben, Qualen und tödlicher Angst war wie ungezählte Tage vor ihm und nach ihm.

Es war kein besonders starker Feuer Überfall. Jedenfalls erreichte er nicht die vernichtende, wütende Zerstörungskraft anderer Feuerüberfälle, die Großoffensiven einzuleiten pflegten. Aber für Soldaten, die ihn über sich ergehen lassen mußten und nichts andres tun konnten, als sich in die gefrorene Erde zu krallen und auf den Schlag zu warten, der sie auslöschen würde, war es die Hölle auf Erden.

Hölle für die Infanteristen in der HKL. Ein Vorgeschmack auf die Hölle, die bald kommen mußte, für die Soldaten des Strafbataillons dahinter. Und eine Hölle für Krüll, der sich plötzlich einer Situation gegenübersah, die er sich bis jetzt nicht vorstellen konnte. Wohl wußte er, daß man im Krieg sterben konnte. Aber dieser Tod hatte für ihn immer etwas Glo-rienumwobenes, Schmerzloses - ein tapferer, großartiger Soldatentod, von dem er überdies annahm, daß er ihn nie treffen würde. Das aber, was jetzt geschah, war etwas ganz anderes. Das, was jetzt riesengroß vor ihm aufstand, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Soldatentod aus den Büchern. Es war ein elendes, anonymes, unpersönliches, angstvolles Krepieren. Es kam auf ihn zu, es drohte ihn zu umschlingen, unter sich zu begraben und machte ihn zu einem furchtgepeinigten Häufchen Mensch, der sonst nichts tun wollte, der keinen Wunsch mehr hatte, als den, zu leben. Am Leben zu bleiben.

Und als einige russische Granaten kurz vor dem Graben krepierten, in dem Wiedeck und er hockten, und als er sah, daß Wiedeck wirklich weglaufen wollte, der einzige Mensch außer ihm in dieser grauenhaften, von detonierenden Granaten zerrissenen Weite, verlor er das letzte Fünkchen Selbstbeherrschung. Er wollte nicht, er konnte nicht weiter und noch weniger konnte er allein bleiben. So umklammerte er Wiedecks Arm und schrie: »Sie bleiben ... Sie bleiben ... nicht weggehen, nicht!«

»Zum Teufel, lassen Sie mich los!« schrie Wiedeck zurück und versuchte ihn abzuschütteln. Aber Krüll klammerte sich wie eine Klette an ihn und zog ihn herab. »Loslassen!« schrie Wiedeck und duckte sich vor einer heranzischenden und in der Nähe krepierenden Granate.

»Ich kann nicht allein - ich kann nicht hierbleiben!«

»Dann kommen Sie doch mit!«

»Wiedeck ...«, keuchte Krüll, »Wiedeck, Mensch, wir sind doch Kameraden, bleib hier und hilf mir beim Ausmessen, hörst du?«

»Ich bin doch nicht verrückt!«

»Wiedeck - Erich .«

»Scheiß drauf!« Er riß sich los, aber Krüll gab nicht nach. Er sprang hinter ihm her und riß ihn zurück. Halb hockend klebten sie eng aneinandergepreßt an der Grabenwand.

»Ich sag’ dir zum letztenmal - laß mich los. Du sollst mich loslassen, sonst schlag’ ich dir den Schädel ein!« sagte Wiedeck kalt und beherrscht. Aber er wußte, daß er sich nicht mehr lange würde beherrschen können. Es war nicht das erste Mal, daß er einen Mann zusammenbrechen sah. Aber alle vor Krüll waren seine Kameraden gewesen. Dieser aber hier, dieses Schwein, der Schinder mit dem großen Maul ... er mußte ihn loslassen, sonst ...

»Du kannst doch nicht deinen Kameraden allein lassen - sie schießen!« stammelte Krüll mit grauem, eingefallenem Gesicht. Über sein Kinn lief der Speichel. Ein Bild unmenschlicher, widerlicher Angst. Und genau das war es, was Krüll nicht hätte sagen dürfen. Jeder andere, ja, aber nicht Krüll. Wiedeck hob die Hand und schlug dem Oberfeldwebel mit ganzer Kraft ins Gesicht und noch einmal und zum drittenmal. Krüll sank in sich zusammen, aber Wiedeck hob seinen Kopf empor und schlug immer wieder in diese widerliche, verzerrte Fratze. »Kamerad«, zischte er, »du und ein Kamerad! Ja, sie schießen. Es ist ja Krieg. Scheiß in die Hosen, du Kamerad, und dann stirb den Heldentod, du erbärmlicher Hund! Du elender, erbärmlicher Hund! Ich schlag’ dich tot!«

Doch plötzlich ekelte ihn dieses Häufchen Elend an. Es wurde ihm gleichgültig. Er schlug noch einmal und wie abschließend zu, daß Krülls Kopf gegen die Grabenwand donnerte. Dann rannte er, den Kopf eingezogen, durch den Graben, warf sich hin, als eine Granate heranheulte und etwa dreißig Meter vor ihm einschlug, sprang wieder auf und lief weiter, der Sammelstelle zu.

Als er um die Ecke des Grabensystems flitzte, war der Platz leer. Der Schnee war zertreten von vielen Stiefeln, eine einsame Schaufel lehnte an der Grabenwand. Ziemlich weit weg hörte er schanzen - das wird die Ablösung sein, die tagsüber arbeitete. Ab und zu sah er das Blatt eines Spatens über den Grabenrand blitzen, den kurzen Strahl einer geschwungenen Spitzhacke. Erd- und Schneehaufen quollen aus der Erde, als würde ein riesiger Maulwurf das Land zerwühlen. Die russische Artillerie schoß jetzt Sperrfeuer hinter die deutsche HKL. Nicht lange und das Feuer würde zurückverlegt werden - und dann war er mitten drin.

Wiedeck wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die anderen waren abgerückt. Er war für den ganzen Tag hier festgenagelt. Und er mußte sich beeilen. Der beste Bunker war eigentlich der, aus dem er jetzt gekommen war. Aber dort war Krüll ...

Wiedeck lief zurück.

Er fand Krüll immer noch an der Stelle, wo er ihn stehengelassen hatte; zusammengesunken, voll Erde und Dreck hockte er auf dem Grabenboden und sah ängstlich und dankbar zugleich empor, als Wiedeck mit der Stiefelspitze gegen ihn stieß.

»Bist du wieder zurück?« fragte er mit kleiner, gebrochener

Stimme, als ob er nicht glauben wollte, daß er nicht mehr allein sei, nicht mehr allein in diesem schrecklichen Graben, mitten in einer schrecklichen, drohenden Welt, die es darauf anzulegen schien, ihn zu vernichten.

»Die andern sind abgehauen, ich bin zu spät gekommen, weil du mich festgehalten hast, du Scheißkerl. Jetzt können wir den ganzen Tag hier hockenbleiben. Los, komm jetzt mit in den Bunker.«

Wiedeck spürte keinen Haß mehr gegen Krüll, seine Wut war verflogen, und zurück blieben nur Gleichgültigkeit und eine Spur von geringschätzigem Mitleid.

»Den ganzen Tag«, murmelte Krüll, als er hinter Wiedeck in den Bunker kroch. Er wußte, daß er sich elend benommen hatte. Aber er schämte sich dessen nicht; es war ihm gleichgültig. Man konnte Heldentum nicht befehlen. Er war kein Held. Warum sollte er das verbergen? Mit zitternder Hand holte er aus seiner Tasche eine Packung Zigaretten, brach sie auf und hielt sie Wiedeck hin.

Wiedeck nahm eine Zigarette, ohne Krüll anzusehen. Er konnte diesen erbärmlichen Anblick kaum ertragen. »Solltest du nicht die Gräben ausmessen?« fragte er spöttisch. »Es fehlen noch fünfzig Meter, erzählte mir Hefe, und du hättest das herausbekommen. Du hast das doch genau berechnet. Paß mal auf - ich mach’ dir einen Vorschlag: Wenn die Iwans sich beruhigt haben, gehen wir hinaus und messen nach. Du mißt, und ich schreibe auf - wenn wir bis dahin nicht abgekratzt sind.«

»Wie meinst du das?«

»Ja, hörst du blöder Hund nicht, daß die Russen angreifen? Mach deine Ohren auf!«

Ganz deutlich hörte man von vorne, von der HKL, das rasende Rattern der Maschinengewehre, das Gedröhn der Granatwerfer - und dann ein paarmal hintereinander das helle trockene Krachen der Handgranaten. Und dahinter war noch ein Geräusch; kaum hörbares, manchmal lauter aufdröhnendes Gebrumm schwerer Motoren.

»Panzer«, sagte Wiedeck. »Hoffentlich brechen sie nicht durch.«

Krüll sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Es war jetzt etwas Kindliches in ihnen, ein Staunen und Nichtbegreifen, das seinem grauen, nicht mehr ganz so aufgedunsenen Gesicht den Schein einer nahezu rührenden Hilflosigkeit gab. Aber Wiedeck sah es nicht. Und hätte er es gesehen, so würde es keinen Eindruck auf ihn gemacht haben.

»Wir wollen hoffen«, sagte er dann, »daß die Kumpels vorne durchhalten. Und dann gehen wir messen. Obermeier hat es doch befohlen, oder?«

»Obermeier kann mich kreuzweise«, sagte Krüll.

»Ach nee!« meinte Wiedeck spöttisch. »Wer hat denn immer von der Disziplin gequatscht? Warst du es, oder war ich das?«

Rruuums, schlug es ganz in der Nähe ein.

»Das war knapp«, sagte Wiedeck ruhig.

Krüll hockte auf der Erde. Sein Mund war voller Gallensaft, bitter, in der Kehle brennend. Er konnte es hier drinnen nicht mehr aushalten. Er konnte nicht mehr hier sitzenbleiben und auf das Ende warten, das mit einer tödlichen Sicherheit auf ihn zukam. Er mußte etwas tun, etwas unternehmen, er mußte ‘raus, weg von hier, so weit wie möglich, nur weg aus dieser Rattenfalle! Er sprang plötzlich auf und taumelte gegen den Ausgang des Bunkers.

»Halt! Wohin?« Wiedeck bekam ihn an der Tarnjacke zu fassen und riß ihn zurück. »Wo willst du hin, du Idiot?«

»Laß mich!« schrie Krüll. »Laß mich los. Ich will ‘raus!« Mit geballten Fäusten schlug er um sich, sein Gesicht hatte die hilflose Kindlichkeit verloren und war erschreckend drohend und verzerrt. »Ich will weg von hier«, brüllte er. »Die Panzer ... ich will weg!«

Es war nicht sehr leicht, ihn zu überwältigen. Wiedeck atmete schwer, als Krüll endlich auf einem Bretterstapel lag und nur noch leise vor sich hin wimmerte. »Reiß dich endlich zusammen!« sagte er kalt, »du benimmst dich ja schlimmer als ein Weib!«

»Ich will ‘raus hier - ich will ‘raus!« wimmerte Krüll und dann sah Wiedeck, wie er an seiner Pistolentasche nestelte. Doch bevor er die 08 aus dem Futteral reißen konnte, schlug ihn Wiedeck mit einigen harten, wuchtigen Schlägen nieder und nahm ihm die Pistole weg.

Draußen heulte es laut und durchdringend durch die Luft, und dann schlug es langanhaltend donnernd in die Erde, viele Explosionen, die wie eine einzige klangen.

Stalinorgeln.

Wiedeck sah nach, ob eine Kugel im Lauf der Pistole war. Dann sicherte er die Waffe wieder. »Wo hast du die Munition?«

»Warum?« fragte Krüll störrisch.

»Los, gib schon her!«

Krüll gab ihm vier Munitionsstreifen. Das war so gut wie nichts. Aber wenn die Russen tatsächlich durchbrachen, wollte Wiedeck wenigstens nicht ohne Waffe in der Hand zum Teufel gehen.

Er schob die Pistole hinter das Koppel.

»Los, Krüll, ‘raus jetzt!«

»Wohin denn?«

»An die frische Luft. Los doch!«

Durch die dichten Explosionen rannte Wiedeck Krüll voraus. Er brauchte sich nicht umzusehen, er wußte, daß Krüll ihm wie ein Schatten folgte. In weiten Sprüngen hetzte er der Senke zu, wo der Auffanggraben endete. Krüll keuchte ihm nach. Den Helm hatte er verloren, er warf sich hin, wenn Wiedeck sich in den Schnee warf und sprang auf, wenn Wiedeck wie ein gehetzter Hase durch die Einschläge jagte.

In den Minuten ihrer Flucht nach hinten bestand Oberfeldwebel Krüll seine Feuerprobe. Er machte eine Wandlung durch wie vor ihm schon unzählige Soldaten. Nicht daß er ein anderer geworden wäre - er blieb der alte, rücksichtslose, beschränkte Oberfeldwebel, der er bis dahin gewesen war. Aber die hündische, wimmernde Angst fiel von ihm nach und nach ab. Er gewann wieder Selbstsicherheit zurück, und die Welt um ihn rückte wieder in ihre gewohnten Dimensionen. Das heißt, es war die Welt, die er bis dahin kannte, verändert nur durch das brüllende Inferno um ihn, durch Granateinschläge, spritzende Erde, surrende Splitter ... Sicherlich blieb in ihm immer noch Angst zurück; aber es war die normale Angst aller Soldaten, die in ihren Gräben weiter aushielten und gegen die Angreifer ankämpften. Wiedecks Angst oder Hefes oder Kentrops oder Deutschmanns ...

So war Krüll nach langen Jahren des Uniformtragens doch noch ein Soldat geworden, der mit einem Male verstand, daß es gerade die entsetzliche panische Angst vor dem Tode ist, die viele blind in ihren Untergang rennen läßt. Wie vorhin in dem Bunker, als er herauslaufen wollte und ihn Wiedeck niederschlagen mußte, damit er es nicht wirklich tat und mitten in die krepierenden russischen Granaten lief. Genaugenommen hatte ihm also Wiedeck das Leben gerettet. Aber auch darüber machte sich Krüll keine großen Gedanken; auch nicht später. Wiedeck hatte nur das getan, was er, Krüll, in Zukunft auch tun würde. Jedem gegenüber, der die gleiche Uniform trug und mit dem er sozusagen in einem Boot saß.

Aus dem anmaßenden, selbstsüchtigen Einzelgänger Krüll wurde jetzt ein Mann, der keine dieser Eigenschaften verlor und dennoch in eine Gemeinschaft gefunden hatte, wie sie nur Männer kennen, die gemeinsam lange Zeit hindurch auf Leben und Tod verbunden waren.

In einem gut ausgebauten Bunker weiter rückwärts warteten sie das Ende des russischen Feuerüberfalls ab. Die HKL hatte dem russischen Angriff wieder einmal standgehalten. Und als der Feuerzauber vorbei war, ging Krüll hinaus, um Obermeiers Befehl auszuführen und die Gräben auszumessen. Wiedeck befahl er, im Bunker zu bleiben. Und als eine halbe Stunde später ein Mann mit warmem Kaffee, einem Kanten Brot und etwas Schnaps erschien und es Wiedeck gab, mit der Bemerkung, die Sachen schicke Oberfeldwebel Krüll, fragte sich Wiedeck verblüfft, was mit dem Spieß geschehen sei. Doch während er die dünne schwarze Brühe trank und an dem Brotkanten kaute, begann er zu verstehen. Er war ein alter Frontsoldat, und oft schon hatte er Ähnliches erlebt.

Hoffentlich legt es Krüll jetzt nicht darauf an, das EK zu verdienen, dachte er. Wahrscheinlich wäre er jetzt imstande, Dinge zu drehen, wie man sie von »heldenhaften deutschen Soldaten« in den Zeitungen liest. Und so ein Krüll, dachte Wiedeck schläfrig, wäre noch gefährlicher als der alte ...

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