Kapitel 3

In der Baracke 2 der 2. Kompanie sah Bevern etwas, was ihn zunächst sprachlos werden ließ. Darin erging es ihm nicht anders als zwei Abende zuvor Oberfeldwebel Krüll: Er entdeckte Schwaneckes Bildersammlung.

Schwanecke war gerade dabei, auch die Stirnseite seines Bettes und den Holzrahmen an der Seite mit den Bildern nackter Mädchen zu zieren.

Oberleutnant Bevern trat näher.

»Aha - da sind Sie ja wieder!« sagte er laut, als er hinter Schwanecke stand. Dieser drehte sich grinsend herum.

»Wie können Sie einen so erschrecken, Herr Oberleutnant? Sind sie nicht hübsch?«

»Sie -«, begann Bevern, aber Schwanecke ließ sich nicht beirren.

»Gefallen sie Ihnen, Herr Oberleutnant? Die Blonde da - die ist aus Berlin. Toll, was? Wenn Sie wollen -«, er beugte sich vor und sagte zu dem zurückweichenden Offizier vertraulich, als hätte er ihm ein Geheimnis zu verraten, »- wenn Sie wollen, Herr Oberleutnant, gebe ich Ihnen ihre Adresse. Wenn Sie mal nach Berlin fahren - von der kann der beste Mann noch ‘ne Menge lernen.«

Bevern fröstelte. Er konnte kaum atmen. Mit einem zischenden Laut stieß er die Luft aus der Nase und fuhr sich mit dem Zeigefinger hinter den Kragen.

»Fehlt Ihnen was?« fragte Schwanecke besorgt.

Bevern jagte ihn eine halbe Stunde über den Kasernenhof. Dann war er müde und heiser, aber Schwanecke grinste noch immer. Alles, was man ihm von der Anstrengung anmerken konnte, war ein bißchen Schweiß. »Sie können das beinah so gut wie mein Ausbilder bei den Rekruten«, sagte er, als er vor Bevern stand. »Was die Adresse angeht ...«

»Schweigen Sie -!« schrie Bevern.

Nach weiteren fünfzig Kniebeugen durfte Schwanecke gehen. Seine Knie zitterten, aber er grinste und ließ sich nichts anmerken. Nicht der, dachte er böse, nicht dieser -! Ich krieg’ dich mal dran, paß bloß auf, ich krieg’ dich mal dran -!

Deutschmann war fertig. Mit der Latrine und auch sonst.

Bis jetzt hatte ihn eine Art von Galgenhumor aufrechtgehalten. Nun war es vorbei damit; er war zu erschöpft, zu hoffnungslos, zu sehr erledigt, um in Krülls und anderer Unteroffiziere Geschrei und Schikanen nur eine hohle Aufgeblasenheit mit nichts oder nur wenig dahinter zu sehen. Durch die lange, schwere Krankheit körperlich ausgehöhlt, durch die Haft, den Prozeß und immer neue Demütigungen zermürbt, brauchte er seine ganze übriggebliebene Kraft, um sich aufrechtzuhalten, schutzlos der deprimierenden Umgebung preisgegeben. Jetzt fühlte er keinen Zorn mehr, keine Verbitterung, er war nur noch schwach und müde.

Nachdem er den Eimer, Putzlappen und die Besen aufgeräumt und sich gewaschen hatte, wankte er unter Aufbietung seiner letzten Kräfte in die Unterkunft, nur noch von einem Wunsch erfüllt: eine Zigarette und schlafen. Tagelang schlafen, ohne sich zu rühren. Sein linker Arm schmerzte unerträglich -der Arm, den er sich bei seinem Selbstversuch infiziert hatte, der nun mit Narben überzogen und völlig abgemagert war.

Die schwache, nackte Birne verbreitete ein trübes, unbestimmtes Licht. An dem langen, roh zusammengezimmerten Tisch in der Mitte spielten einige Soldaten Karten, aber die meisten lagen schon auf ihren Pritschen. An einem Ende des Tisches saß der lange Oberst und starrte auf seine verbundene

Hand. Der ehemalige Major in einem Armeestab machte sich unlustig mit dem Besen zu schaffen; er hatte Stubendienst.

Deutschmann ging zu seinem Spind und holte aus der hintersten Ecke die Zigarettendose. Sie war aus schwarzem Leder, in Silber eingefaßt, mit seinem Monogramm in der unteren Ecke: ein Geschenk Julias. Dann setzte er sich an den Tisch, klappte die Dose auf und ließ sie vor sich liegen.

»Hat dich Krüllschnitt zur Schnecke gemacht, was?« fragte ihn ein Kartenspieler, ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem Rattengesicht. Er lachte und zeigte dabei spitze gelbe Zähne. Früher einmal war er »Schlepper« in Berlin gewesen und ein kleiner Dieb, der das Stehlen nicht lassen konnte.

Deutschmann nickte. Er war zu müde, um zu antworten. Er war zu müde, um die Hand zu heben und eine von den zwei Zigaretten, die er sich für heute abend aufgespart hatte, aus der Dose zu nehmen und sie anzuzünden.

In diesem Augenblick polterte Schwanecke breit grinsend in die Stube. »Mensch«, sagte er, nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, »er dachte, er kann mich zur Sau machen. Aber er irrt sich.«

»Wo ist er jetzt?« fragte ein Kartenspieler.

»Er ist müde. Ging schlafen. Der verfluchte Hund. Der nicht«, sagte Schwanecke, »der Mann ist noch nicht geboren, der Karl Schwanecke fertigmachen kann.«

»Spielst du mit?« fragte das Rattengesicht.

»Gleich.« Jetzt sah Schwanecke den zusammengesunkenen Deutschmann. »Was is’n mit dir los?«

Deutschmann rührte sich nicht. Schwanecke ging um den Tisch und stellte sich neben ihn. »Was is’n los?« fragte er noch einmal. »War vielleicht jemand böse zu dir, Professor?«

Deutschmann hob die Hand und betastete die Zigaretten in der Dose. Und dann sah er plötzlich Schwaneckes große, behaarte Hand mit breiten Fingern und kurzen, schmutzigen Fingernägeln nach der Dose greifen und sie wegziehen.

Er sah auf.

Schwanecke drehte die Dose hin und her, betrachtete sie genau, nickte ein paarmal mit dem Kopf, hob sie vor die Nase, schnupperte daran, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an.

»Geben Sie bitte die Dose her«, sagte Deutschmann schwach.

»Ganz hübsch«, sagte Schwanecke. »Was willst du dafür haben?«

»Geben Sie die Dose zurück!«

»Ich geb’ dir zwei Bilder. Du kannst sie selbst aussuchen.«

Deutschmann stemmte sich hoch und griff nach der Dose. Schwanecke wich einen Schritt zurück, steckte die Dose in die Brusttasche, knöpfte die Tasche zu, in seinem Mundwinkel steckte die rauchende Zigarette, die Augen hielt er vor dem Rauch verkniffen. »Ich heb’ sie auf«, sagte er mit verzogenem Mund, »bis du dich entschlossen hast, was du dafür haben willst. Drei Bilder. Kapiert?«

Damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Er drehte sich um und ging zu den vier Kartenspielern. Deutschmann stützte sich auf den Tisch, schloß einen Augenblick die Augen, riß sie wieder auf und rief schrill, verzweifelt, fassungslos: »Die Dose ... geben Sie mir die Dose wieder!«

Der lange Oberst sah auf.

»Wer gibt?« fragte Schwanecke das Rattengesicht.

»Werner ... setz dich«, sagte das Rattengesicht.

Schwanecke zog mit dem Fuß einen Schemel unter dem Tisch hervor und wollte sich setzen. Doch da fühlte er sich an der Schulter gepackt und herumgewirbelt. Erich Wiedeck war auf bloßen Füßen lautlos herangekommen und stand jetzt vor ihm. Sein Gesicht war gerötet. »Gib ihm die Dose wieder, du Schwein!« sagte er.

»He ... langsam, Hände weg!« grinste Schwanecke.

Deutschmann stieß sich vom Tisch weg, machte zwei lange Schritte und packte Schwanecke am Arm. Dieser machte eine leichte, schnelle Bewegung, der keine Anstrengung anzusehen war, als ob er eine lästige Fliege wegwischen wollte. Deutschmann wurde weggefegt wie ein dünnes Blatt Papier, fiel rücklings über einen Schemel, schlug mit dem Kopf hart gegen einen Spind und blieb benommen liegen.

»Du Schwein!« zischte Wiedeck und packte Schwanecke an der Brust. Doch dieser schlug ihn mit einem kurzen, harten Haken in den Magen. Wiedeck ächzte, klappte zusammen wie ein Taschenmesser und wurde von dem zweiten Schlag Schwaneckes, der mit schrecklicher Wucht von unten her gegen sein Kinn schmetterte, wieder emporgerissen. Es gab einen kurzen trockenen Laut, als ob jemand mit flacher Hand auf nasse, festgetretene Erde geschlagen hätte. Wiedeck krachte mit dem Hinterkopf gegen eine Spindtür und rutschte langsam, mit glasigen Augen, zu Boden. Und während all dies geschah, grinste Schwanecke mit bleckenden, weißen Zähnen, schief, ohne die brennende Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen.

»Wumm ... Vorkriegsschule«, sagte das Rattengesicht und fuhr sich mit schneller, feuchter Zunge über die Lippen.

»Noch jemand?« knurrte Schwanecke. Er stand leicht vorgebeugt da, die Augen vor dem Zigarettenrauch zusammengekniffen, sein klobiger, muskulöser Körper strahlte geballte Energie, katzenhafte Geschmeidigkeit und eine unbändige Kraft aus. »Noch jemand?« fragte er zum zweitenmal, und sein tierhaftes Grinsen vertiefte sich.

»Gib’s denen nur!« sagte ein Kartenspieler.

»Memmen ... Setz dich, Karl ...«:, sagte das Rattengesicht.

Doch da stand der lange Oberst langsam auf und ging schweigend um den Tisch. Zwei Schritte vor Schwanecke blieb er stehen und richtete sich auf. Wiedeck drehte sich ächzend auf den Bauch, versuchte sich hochzustemmen, sackte wieder zusammen und blieb mit dem Gesicht auf dem Boden liegen.

»Was willst du denn hier?« fragte Schwanecke den Oberst.

»Geben Sie sofort die Dose zurück!« sagte der Oberst.

Das Rattengesicht wieherte laut lachend auf, ein Kartenspieler stand langsam auf und lehnte sich mit verschränkten Armen über den Tisch.

»Ach!« sagte Schwanecke. »Und was noch? Hör mir zu, du lange Latte von einem verkrachten Oberst, hör mal gut zu: Mach dich ja nicht wichtig, hörst du? Denk ja nicht, du bist noch was! Du kannst mir überhaupt nicht imponieren, du bist genauso der letzte Dreck wie ich, verstehst du? Hau ab, sonst geht’s dir schlecht! Los! Hau schon ab!«

Der Oberst hatte mit unbewegtem Gesicht zugehört. Und als sich Schwanecke wegdrehte, sagte er wieder, jedoch jetzt mit schneidend erhobener Stimme: »Geben Sie die Dose sofort zurück und entschuldigen Sie sich bei Doktor Deutschmann und Wiedeck! Haben Sie verstanden?«

Schwanecke schnellte wie von einer Stahlfeder angetrieben herum. Wütend riß er die Zigarette aus dem Mund und schleuderte sie zu Boden.

»Maul halten!« schrie er. »Du sollst das Maul halten, du aufgeblasener >Von

Obersten, zog sie zusammen, streckte die linke Hand schlagbereit nach hinten, und das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich tu’s, wenn du nicht sofort sagst: Jawohl, Herr Schwanecke! Hast du mich verstanden: Jawohl, Herr Schwanecke ...!«

»Loslassen!« sagte der Oberst heiser.

»Jawohl, Herr Schwanecke!« zischte Schwanecke! »Ich bring’ dich um! Ich bring’ dich um, wenn du’s nicht sagst!«

Lähmende, tödliche Stille breitete sich in der Stube aus. Es bestand kein Zweifel: Schwanecke meinte es ernst, und keine Macht der Welt schien imstande, ihn zurückhalten zu können. Der lange, blasse Mann, der früher Oberst war, Eichenlaubträger und Divisionskommandeur, und jetzt nur noch Schütze Gottfried von Bartlitz im Strafbataillon 999, bedeutete für ihn die Verkörperung jener verhaßten Mächte, denen er sich sein Leben lang beugen mußte, vor denen er immerfort auf der Flucht war, gejagt wie ein räudiger Hund, in elenden, stinkenden Löchern vegetierend, sein verdammtes Leben und die Mutter, die ihn geboren hatte, verfluchend. Und trotzdem war das Leben in ihm zu mächtig, als daß er irgendeinen der Polizisten oder Feldgendarmen erwürgt hätte, die hinter ihm her waren, seit er sich erinnern konnte. Er wußte: das wäre sein Tod. Und er durfte nicht in die Fettmasse, die Oberfeldwebel Krüll hieß, hineinschlagen, bis nur noch ein wabbelnder, blutiger Haufen übrigblieb; er durfte nicht dem lackierten Affen von Oberleutnant Bevern die dünnen Knochen brechen, bis kein bißchen wimmerndes Leben mehr in ihm war. Sie waren für ihn unerreichbar, denn hinter ihnen stand die Macht, die das Fallbeil bediente. Aber hier hatte er einen. Hier konnte er nach dem lebenden Körper eines Mannes greifen, der früher zu den anderen gehörte und jetzt auf diese Seite der Barrikaden verschlagen wurde, ihn zwischen seinen mächtigen Händen zerquetschen, sein hochmütiges, widerliches Gesicht zu einem blutigen Brei zerschlagen und allen ihm ähnlichen in dieser gottverfluchten Baracke zeigen, wer hier der Herr war. Er konnte es tun: wer fragte jetzt noch nach einem Oberst von Bart-litz?

»Ich zähle bis drei. Eins -.«

»Genug jetzt, mein Junge«, unterbrach ihn eine sanfte, ruhige Stimme aus der Ecke. Ein noch junger, untersetzter, unscheinbar blond aussehender Soldat kam langsam an den Tisch. Seine bloßen Füße tapsten auf dem Holzboden.

Schwanecke zählte: »Zwei und -.«

»Dreh dich herum!« sagte der junge Soldat lauter.

Schwanecke schien ihn erst jetzt zu hören. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, maß mit einem schnellen Blick den neuen Gegner und wendete sich dann wieder zum Oberst. Seine linke Hand ballte sich zur Faust.

»Hierhersehen -!« schrie der junge Soldat auf, flankte wie ein geübter Turner über den Tisch und riß den überraschten Schwanecke vom Oberst.

»Mach ihn kalt, Schwanecke!« schrillte Rattengesichts Stimme durch den Raum. Er sprang auf, und es schien, als wollten sich jetzt auch die anderen Kartenspieler einmischen.

Doch sie kamen nicht dazu.

Was jetzt geschah, ging so schnell vor sich, daß später kaum einer beschreiben konnte, wie der junge, neben dem bulligen, bärenstarken Schwanecke knabenhaft-zerbrechlich wirkende Soldat mit dem Gegner fertig wurde. Zwei Köpfe fegten wie ein Wirbel durch die Stube, rissen den Tisch um, man hörte nur Schwaneckes wütendes Knurren, sein keuchendes Atmen und plötzlich einen unmenschlichen, spitzen, schrillen Schmerzensschrei.

Der junge Soldat löste sich geschmeidig vom liegenden Schwanecke, stand noch einen Augenblick über ihn gebeugt, richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare.

»So -«, sagte er.

Schwanecke lag auf dem Rücken und starrte mit glasigen, schmerzerfüllten Augen gegen die Decke. Über seine Schläfen rannen Tränen. Er öffnete den Mund, aus dem vorhin der schreckliche Schrei gekommen war, klappte ihn wieder zu, durch die Stille drang ein lang ausgezogenes, furchtbar anzuhörendes Knirschen, wie von brechenden Zähnen. »Was ist -«, stammelte er, und wieder:

»Was ist das - was ist das -.«

»Um Himmels willen - was haben Sie mit ihm gemacht?« fragte der Oberst.

»Nichts Besonderes. Es tut ihm nicht lange weh. Ein bißchen Jiu-Jitsu. In einer halben Stunde ist er wieder der alte.«

»Steh auf!« sagte der junge Soldat zu Schwanecke.

Der sah ihn zuerst verständnislos an, dann kam in seine Augen wieder Leben, Erkennen - und Furcht. Ächzend beugte er sich vor, hockte einige Augenblicke auf Knien und Händen, schüttelte den Kopf und zog sich dann, sich auf einen umgeworfenen Hocker stützend, auf die Beine. Schmerzvoll gekrümmt, mit hängenden Armen stand er vor dem Gegner, noch benommen von dem schnellen Überfall.

»Gib jetzt die Dose zurück«, sagte der junge Soldat ruhig.

Schwer, langsam, als hätte er eine Last zu tragen, die weit über seine Kräfte ging, schleppte sich Schwanecke durch die Stube und gab Deutschmann die Zigarettendose zurück.

»Auch die Zigarette«, sagte der junge Soldat.

Schwanecke nahm aus der Brusttasche eine Zigarette und hielt sie hin. Deutschmann zögerte.

»Nehmen Sie’s«, sagte der Soldat.

Deutschmann tat es.

»Und jetzt entschuldige dich«, sagte der Soldat.

»Schon gut. Es tut mir leid«, sagte Schwanecke.

»Ich danke Ihnen, junger Mann, es war höchste Zeit!« sagte der Oberst.

Der Soldat drehte sich langsam zu ihm und sah den Obersten lange an. »Sie haben mir nicht zu danken«, sagte er dann mit seiner ruhigen, doch jetzt ein klein wenig zitternden Stimme. »Ich habe es nicht Ihretwegen getan. Wenn es allein um Sie ginge, würde ich nicht mal einen Finger krumm machen, Sie -Offizier. Sie sind selbst schuld, wenn Sie hier sitzen und von solchen Leuten verprügelt werden -«, mit dem Kopf zeigte er gegen Schwanecke, der kraftlos auf einen Schemel gesunken war. »Sie haben selbst geholfen, die Leute hochzubringen, von denen Sie hierhergeschickt wurden, weil Sie nichts gegen sie unternommen haben, als es noch Zeit war. Mehr noch: Ihr habt sie sogar unterstützt - ihr Offiziere!« Seine Stimme war jetzt eisig und verächtlich. Und dann machte er einen schnellen, lautlosen Schritt gegen den verwirrt dastehenden Oberst, beugte sich vor und sagte: »Wissen Sie, warum ich hier bin? Weil ich einen Schweinehund von einem Offizier genauso verprügelt habe wie den da. Und er hat’s bei Gott mehr verdient. Schwanecke habe ich nur beigebracht, daß ich keine Lust habe, die Tyrannei der wildgewordenen Spießer und von Offizieren gegen die der Gosse einzutauschen. Dem kann man es auf diese Art beibringen, den anderen - euch nicht. Ihr gebt keine Ruhe, bevor ihr nicht ins Gras beißt.«

Achtlos, wie angeekelt, schob er den leichenblaß gewordenen Oberst beiseite und blieb vor Schwanecke stehen: »Wie geht’s?« fragte er. Seine Stimme war sanft und freundlich.

»Mensch!« Schwanecke sah auf. Sein Blick war hündisch ergeben. »Wie hast du das gemacht? Du mußt es mir beibringen. Bis jetzt hat mich noch niemand untergekriegt.«

»Ich werd’ mich hüten«, sagte der junge Soldat lächelnd. »Hilf jetzt die Bude aufräumen. Der >Gärende< muß jeden Augenblick kommen.«

Julia Deutschmann saß am Schreibtisch ihres Mannes und schrieb:

»Lieber Ernsti,

ich weiß, daß Du diesen Brief nie bekommen wirst. Und trotzdem schreibe ich Dir; ich möchte mit Dir sprechen, Dir sagen, was ich denke und fühle, ich möchte Dir erzählen, wie ich lebe. Es ist ein schlechter Ersatz, vor mir liegt ja nur ein leeres Papier, ich sehe Dich nicht wirklich. Nur wenn ich die Augen schließe und versuche, Dein Gesicht herbeizuzaubern, so bist Du da: groß, dünn, mit langen, ungelenk am Körper herabhängenden Armen, großer, schöner Stirn und grauen, erstaunten Kinderaugen. Aber Du bist auch nicht da; und wenn ich glaube, Dein Bild festhalten zu können, dann verschwindet es, zerfließt langsam, unaufhaltsam ...

Vor einigen Tagen habe ich mit der >Nachtarbeit< angefangen; ich will, so schnell es geht, die Arbeit wiederholen, die wir in diesen zwei Jahren getan haben, bevor Du weggeholt wurdest. Manchmal gelingt es mir, ganz dabeizusein; dann vergesse ich auch die ewige, bohrende, zurückgedrängte Angst, ich könnte es nicht schaffen, ich könnte Dir nicht helfen, es wäre zu spät für jede Hilfe - und ich sehe plötzlich unsere Arbeit wie ein neues, fast fertiges Gedankengebäude vor mir stehen.

Wie glücklich waren wir doch in diesen zwei Jahren, glücklich trotz des Krieges! Wir haben es nur nicht gewußt. Oder nicht immer gewußt, weil wir uns unter dem täglichen Kleinkram begraben ließen, dem Ärger mit Bezugsscheinen, der Müdigkeit, dem Verdruß über Mißerfolge, Rückschläge und Trugschlüsse. Ich weiß, manchmal war ich ungeduldig, vielleicht auch zänkisch, immer wieder stolperte ich über Kleinigkeiten. Daß es unwichtige Kleinigkeiten waren, das weiß ich jetzt, damals wußte ich es nicht. Was würde ich heute alles dafür geben, Deine Wäsche in der ganzen Wohnung zusammenzusuchen, wenn Dir plötzlich einfiel, Dich umzuziehen! Was würde ich heute dafür geben, wenn Du mir gegenübersäßest und Du Deinen Teller leerschaufeltest, als ginge es um eine Wette im Schnellessen! Wie glücklich wäre ich heute, wenn wir am Abend in unserer >Gemütsecke< wieder zusammen sitzen könnten und Du meine Fragen nur mit einem >Ha< beantworten würdest! Wie habe ich mich über dies alles und über tausend andere Kleinigkeiten damals geärgert! Wie ungehalten war ich, wenn Du unseren Hochzeitstag vergessen hast - und vergessen hast Du ihn ja oft. Und - wie wütend war ich, wenn ich glaubte, daß Du meine Arbeit, von der ich überzeugt war, daß sie mindestens so wichtig ist wie die Deine, nicht richtig gewürdigt hast.

Ernsti, mein Ernsti, wie lächerlich, kindisch und unwichtig war das! Heute erkenne ich es. Heute weiß ich, daß es allein maßgebend ist: Wer bist Du? Was hast Du getan? Wichtig ist allein unsere Liebe, und wichtig ist: Was bin ich? Was habe ich getan? Wichtig ist, den Platz zu erkennen, auf dem man steht, auf dem ich stehe, die Aufgabe zu sehen, die ich zu erfüllen habe.

Nein, ich bin keine zweite Madame Curie. Aber ich will den Platz, auf den ich gestellt worden bin, ausfüllen. Heute sehe ich, daß es nicht meine Aufgabe ist, mit Dir zu wetteifern, sondern Dir zu helfen. Und jetzt - jetzt ist meine Aufgabe vor allem, Dich nicht nur für mich allein zu erhalten, sondern auch für die anderen, für Deine Arbeit, für Deine Träume, für das, was Du getan hast und was Du noch tun würdest.

Ich sehe meinen Weg.

Ich weiß, es ist gefährlich, was ich tue, aber ich muß es tun. Wenn ich nur mehr Zeit hätte! Wenn ich nur wüßte, wie Du lebst, wo Du bist!

Wenn ich an Dich denke, Ernsti, dann werde ich wieder zu einem kleinen verliebten Mädchen, das in den Sternenhimmel sieht und von dem Mann träumt, dem es gehören möchte. Ich gehöre Dir, ganz, Du lebst in mir, wir haben eine lange und doch so schrecklich kurze Zeit zusammen verbracht - und trotzdem möchte ich einen kleinen, winzig kleinen Stern für uns beide aussuchen; wenigstens ihn könnten wir beide sehen. Klein müßte er sein, fast unsichtbar, dann würde er nur uns gehören, dann gäbe es niemand sonst, der zu ihm hinaufschaut und in ihm den anderen sucht.

Es ist sehr spät abends. Schlaf gut, Ernsti, ich mache die Augen zu, denke ganz fest an Dich, und vielleicht, vielleicht werde ich Deinen Gutenachtkuß fühlen: an den Mund, an die Augen -und zuletzt an die Nasenspitze ...«

Julia legte die Füllfeder weg, lehnte sich zurück, schloß die Augen und lächelte.

Über ihre Wangen glitten stille, glitzernde Tränen.

Am Mittwoch, am Tage seiner Ankunft, hatte Schwanecke den Oberfeldwebel Krüll dazugebracht, daß er eine Weile nicht wußte, was er tun sollte. Und am Samstag gelang es ihm, den Spieß sprachlos werden zu lassen, eine Tatsache, die dem Oberfeldwebel seit seinen Anfängen als Unteroffizier seitens der Untergebenen nicht mehr passiert war.

Schwanecke hatte ein Meisterstück vollbracht.

Hinter der Baracke 2, in welcher der erste und der zweite Zug der 2. Kompanie lagen, stand eine Kiste. Und in der Kiste lag ein Kaninchen.

Oberfeldwebel Krüll ging zuerst daran vorbei, ohne sonderlich darauf zu achten, obwohl eine Kiste hier nichts zu suchen hatte. Er war zu sehr mit dem Problem Oberleutnant Bevern und der vorgeschriebenen Abmagerungskur beschäftigt. Dann aber blieb er stehen, rekapitulierte das Geschehene und fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum.

Ohne Zweifel: Es war eine Kiste, und in der Kiste hockte ein lebendes, wohlgenährtes Kaninchen.

»Wem gehört das Viehzeug?« schrie Krüll außer sich.

Wütend blickte er auf die Soldaten, die nach dem Revierreinigen frei hatten und in den letzten Strahlen der herbstlich flachen Sonne standen. »Deutschmann, wem gehört das Vieh?«

»Ich weiß es nicht, Herr Oberfeldwebel!« brüllte Deutschmann zurück. Er hatte bereits gelernt, daß die Lautstärke beim Militär wesentlich war. Je lauter, desto besser. Je lauter der Soldat, desto mehr wird er von seinen Vorgesetzten geschätzt.

»Mir -«, sagte Schwanecke und trat zwei Schritte vor.

»Ach -«, schnappte Krüll.

»Jawohl. Ich bin ein Tierfreund, Herr Oberfeldwebel.« Schwanecke strahlte Krüll an. »Ich kann ohne so ein kleines, liebes Tierchen nicht leben.«

»Woher?«

Krüll stand über die Kiste gebeugt und betrachtete das fette Tier. Es ließ ab von einer Mohrrübe und rückte erschreckt in den Hintergrund. Drei Fragen peinigten den Oberfeldwebel:

Erstens: Woher kam das Kaninchen?

Zweitens: Woher kam die Kiste?

Drittens: Woher kam die Mohrrübe?

»Zugelaufen -«, sagte Schwanecke.

Der Oberfeldwebel wandte sich wortlos ab und ging. Vor der Schreibstube traf er auf Oberleutnant Obermeier, der gerade das Lager verlassen wollte, und meldete ihm den unerhörten Vorfall. Doch dieser hatte nur ein halbes Ohr für Krülls Nöte. »Freuen Sie sich doch über das Leben in der Kaserne, genießen Sie es noch ausgiebig!« sagte er und klopfte dem strammstehenden Spieß auf die Schulter. »Wenn wir einmal nach Rußland kommen, wird das sowieso anders.«

Dann ging er, und Krüll stand allein auf dem weiten Platz und sann darüber nach, was der letzte Satz bedeuten sollte. Vor dem Wort »Rußland« hatte er eine höllische Angst. Weil er aber die Fähigkeit besaß, Unangenehmes alsbald fortschieben zu können, und weil er wußte, daß es nichts einbringt, sich mit Rätseln herumzuschlagen, gab er die unnützen Überlegungen auf und wandte sich wieder dem naheliegenderen und greifbaren Problem zu - dem Schützen Schwanecke und seinem Kaninchen.

Mit großen, weit ausholenden Schritten eilte er um die Baracke.

»Geklaut!« sagte er zu Schwanecke, als er ankam. Es klang endgültig, es gab keine Zweifel mehr.

»Zugelaufen!«

»Und die Kiste ist auch zugelaufen, was? Und die Mohrrübe ist auch zugelaufen, was? Kommt durch die Luft gesegelt -sssst - schon ist alles da!«

»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«

Krüll zog die Luft durch die Nase ein, bis es aussah, als würde er jeden Augenblick platzen. »Um den Platz! Marsch, marsch!« brüllte er. »Schneller! Schneller!«

Schwanecke trabte und grinste.

»Noch einmal!« schrie Krüll, als Schwanecke zurückgelaufen kam. Und Schwanecke trabte wieder. Dann blieb er schnellatmend vor Krüll stehen.

»Geklaut!«

»Aber, Herr Oberfeldwebel! Was denken Sie von mir? Zugelaufen!«

Das war der Augenblick, in dem es Krüll innerlich einen Riß gab. Er wandte sich stumm ab, um wegzugehen - und stolperte fast über Oberleutnant Bevern, der unbemerkt herangekommen war und wortlos die Szene beobachtete.

Krüll wollte eine Meldung machen, doch Bevern winkte ab. Langsam, mit einer dünnen Gerte seine Stiefel peitschend, trat er gegen Schwanecke.

»Sie sind also ein Spezialist in Karnickeln?« fragte er freundlich.

»In Karnickelböcken.«

Deutschmann drehte sich ab. Er konnte es nicht mehr mitansehen. Mein Gott, dachte er, der Mann redet sich noch einmal vor ein Erschießungskommando!

Bevern zog die Augenbrauen hoch. »Wieso Böcken?«

»Ich benutze sie zu Studienzwecken, Herr Oberleutnant. Ir-gend’ne Kleine sagte einmal zu mir, ich wäre ein Kaninchenbock. Seitdem beobachte ich die Viecher, aber ich bin noch nicht draufgekommen, was sie damit meinte.«

»Und - das Kaninchen war plötzlich da. Es ist Ihnen einfach zugelaufen?«

»Jawohl. Es saß auf einmal vor mir und machte Männchen. Daran erkannte ich, daß es ein Kaninchenbock war.«

»Wieso?«

»Eine Häsin würde ein Weibchen machen, Herr Oberleutnant.«

Auf dem Appellplatz geschah dann etwas, was sogar Hauptmann Barth zuviel wurde. Er öffnete das Fenster und stoppte die Bevernsche Stunde mit einem kurzen und lauten »Halt!«

Schwanecke mußte sich auf den Bauch legen und quer über den großen Platz hin und her wie ein Wurm kriechen. Durch den Staub, durch den Dreck der Küchenabfälle, durch einige Pfützen aus der verstopften und überlaufenden Latrine der 1. Kompanie, immer das Gesicht auf dem Boden. Und Bevern gab das Tempo an, indem er pfiff.

Nach dreimaliger Überquerung des Hofes ertönte Hauptmann Barths »Halt«.

Lässig, mit federndem Schritt, ging Bevern in die Offiziersbaracke und ließ Schwanecke im Dreck liegen.

»Was soll das, Herr Oberleutnant?« fragte Barth hart, als Bevern eintrat.

»Ich habe diesem Schwanecke beweisen müssen, daß der Mensch vom Lurch abstammt.«

»Unsinn!«

Bevern wurde steif.

»Und damit glauben Sie, den Krieg zu gewinnen?« Hauptmann Barth winkte ab. Gehen Sie! hieß das. Gehen Sie sofort, Sie Dreckhaufen! Bevern verstand und ging. Doch bevor er nach der Türklinke griff, hielt ihn Barths Stimme auf: »Ich würde mir an Ihrer Stelle diesen Mann nicht zum Feinde machen. Wir kommen nach Rußland ... Gehen Sie jetzt!«

Schwanecke stand taumelnd auf. Sein Gesicht war dreckverkrustet, unmenschlich verzerrt, schreckenerregend. Schweratmend lehnte er sich an die Barackenwand.

Deutschmann lief weg und brachte ein Kochgeschirr voll Wasser. Dann knöpfte er Schwanecke das Hemd auf. Schwanecke sah ihn mit glasigen, verständnislosen Augen an. In langen Zügen trank er das halbe Kochgeschirr leer und schüttete sich das restliche Wasser über den Kopf. »Oberleutnant Bevern -«, murmelte er dann mit gepreßter, unnatürlicher Stimme.

Deutschmann fröstelte. Mein Gott, dachte er, ich möchte nicht in Beverns Haut stecken.

»Willst du noch Wasser?« fragte er Schwanecke.

»Danke, Kumpel, es war genug. Willst du eine Zigarette?«

In diesem Augenblick bewunderte der vornehme, stille Dr. Deutschmann den Schwerverbrecher Karl Schwanecke. Und in diesem Augenblick faßten der Akademiker und der Kriminelle eine stille, wortlose Zuneigung zueinander, die sie durch das Gefühl, daß sie beide - und alle anderen mit ihnen - nur einen gemeinsamen Feind hatten, um so stärker empfanden.

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