Kapitel 2

Die Hoffnung ist ein Stehaufmännchen. Auch in der dunkelsten Verzweiflung finden wir plötzlich ein Körnchen Hoffnung, verborgen zuerst, doch dann wachsend und größer werdend, einem sich ausbreitenden, immer helleren Sonnenstrahl ähnlich. Es stimmt wohl: Oft ist es eine falsche Hoffnung, trügerisch und unwirklich, an die wir uns klammern; sie ist erwachsen aus unseren brennenden Wünschen und Vorstellungen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Aber darauf kommt es nicht an: Wir werden stärker durch sie, sie hilft uns, uns selber und unsere Resignation zu überwinden, und läßt uns schließlich, zerstört und unerfüllt, einen Ausweg erkennen oder erahnen - das Körnchen einer neuen Hoffnung.

So erging es auch Julia Deutschmann.

Der Hoffnungsstrahl, den sie nach der demütigenden, vergeblichen Unterredung mit General von Frankenstein zu sehen glaubte, hieß Dr. Albert Kukill.

Seltsam genug: Dr. Kukill war der Sachverständige im Prozeß gegen Ernst. Der Mann mit einem eiskalten Intellekt, dessen Urteile messerscharf und endgültig waren und in allen Prozessen als unfehlbar galten. Wäre Dr. Kukill nicht gewesen, wäre Ernst kaum verurteilt worden. Der General hatte gesagt: »Ich selbst bin in diesen Sachen ein Laie und stütze mich auf korrekte, wissenschaftliche Analysen bekannter Sachverständiger.« Also gab es keinen anderen Weg, als diese Sachverständigen zu überzeugen, daß sie unrecht hatten, dachte Julia. Genaugenommen -einen Sachverständigen: Dr. Kukill.

Wenn Dr. Kukill zugab, daß er sich geirrt hatte, dann gab es doch noch eine Revision des Urteils, dann gab es kein Strafbataillon 999 mehr für Ernst.

Sie wußte, daß ihre Aufgabe nicht leicht war. Sie war selbst Ärztin und kannte viele Kollegen - aber verschwindend wenige waren darunter, die bereit gewesen wären, einen Fehler zuzugeben. Dr. Kukill schien nicht einer von ihnen zu sein. Aber vielleicht, wenn sie es richtig machte, wenn sie die richtigen Worte wählte, wenn sie klug vorging - ja, es war die einzige Möglichkeit, die übrigblieb, wollte sie Ernst helfen.

So kam es, daß sie gegen Abend des gleichen Tages, als sie mit General von Frankenstein gesprochen hatte, vor Dr. Kukills

Villa in Berlin-Dahlem stand und ihren ganzen Mut zusammennahm, bevor sie auf die Klingel drückte. Vorher anmelden wollte sie sich nicht; das Dienstmädchen oder die Sekretärin würden mit Sicherheit gesagt haben, Dr, Kukill sei verreist oder sonst was, wenn sie ihren Namen gehört hätten. Sie mußte unverhofft kommen, plötzlich vor ihm stehen, das Gespräch mit ihm erzwingen, ihm keine Frist geben, seinem schlechten Gewissen zu entfliehen.

Nun stand sie vor ihm.

Er trug einen eleganten Zweireiher, sein graues Haar war glatt zurückgekämmt, sein schmales Gesicht zeigte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem spähenden Raubvogel. Und seine Augen paßten dazu: Sie waren grau, hart, überlegen.

Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, als er Julia sah; und wenn er sich ihr gegenüber - oder besser: Ernst, ihrem Mann, gegenüber schuldig fühlte, dann verstand er es zu verbergen. Aber selbst dann: Sah ein Mann so ruhig und überlegen aus, der sich schuldig fühlte?

Julia wurde unsicher.

Er reichte ihr die Hand wie einer guten alten Bekannten. Dabei lächelte er, sein Gesicht verlor mit einem Schlag die Härte und die unnahbare Strenge, und als er sprach, brach aus ihm seine charmante Wiener Art hervor, der betörende Tonfall einer Stimme, die er zu gebrauchen verstand wie ein Instrument: Sie konnte brüllen, eisig dozieren und bezaubernd plaudern.

»Sie wissen, warum ich gekommen bin?« fragte Julia, dankbar für das Dämmerlicht im Vorraum, das ihre zitternden Hände und ihr heißes Gesicht verbergen half. Sie zwang sich zur Ruhe, doch ihre Stimme bebte.

»Ich kann es mir denken, gnädige Frau, oder besser: Kollegin. Wir sind doch Kollegen? Aber kommen Sie, warum stehen wir hier herum? Was es auch ist, was Sie mit mir zu besprechen haben, wir können es uns bequemer machen.« Er öffnete eine dunkle Eichentür und führte sie in den mit zierlichen Möbeln ausgestatteten Salon, der zum Garten hin lag.

Ein großes Glasfenster, beinahe eine Glaswand, ließ den Blick frei in den großen, baumbestandenen, parkähnlichen Garten, der jetzt in die erste Abenddämmerung eingehüllt war. Zwischen Rhododendron und Fliederbüschen lag halb versteckt ein Schwimmbecken.

Dr. Kukill drehte das Licht an und zog die schweren Vorhänge zu. Dann deutete er lächelnd auf einen großen, zitronengelben Sessel: »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Julia setzte sich. Wie brachte es der Mann nur fertig, unausgesetzt zu lächeln und so ruhig zu erscheinen - obwohl er doch wissen mußte, was sie von ihm wollte?

»Ich möchte mit Ihnen über alles noch einmal sprechen«, begann Julia. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr zur Ruhe zu zwingen, sie war ruhig. Der Mann, der aus der Wand einen Bartisch herausklappte, war ihr Gegner. Ein Gegner, den man nur mit kühl rechnendem Verstand besiegen oder in die Enge treiben konnte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Sinn es hätte«, sagte er und drehte sich hin zu ihr. »Aber sagen Sie zuerst - was wollen Sie trinken, einen Kognak? Armagnac 1913? Ich habe ihn für die liebsten Gäste.« Er brachte es tatsächlich fertig, dies ohne eine Spur von Ironie in der Stimme zu sagen.

»Bitte«, sagte Julia.

Dr. Kukill zündete eine Kerze an, wärmte zwei Schwenkgläser über der kleinen flackernden Flamme an und schenkte dann die goldbraune Flüssigkeit ein - etwa fingerbreit voll in jedes Glas. »Es gibt Menschen«, plauderte er währenddessen, »die mir dies alles übelnehmen, das Haus hier oder den Kognak aus dem Jahre 1913, wenn Sie wollen. Es sei keine Zeit dafür, meinen sie. Welche Zeit soll dann dafür sein? Laut Versicherungstabellen beträgt die Lebenserwartung des heutigen Europäers etwa 66 Jahre. Durch den Krieg wird sie einen beachtlichen Fall nach unten machen. Morgen kann es soweit sein - aus für immer. Soll man da das Leben nicht zu würzen versuchen, was meinen Sie?«

»Daran habe ich noch nicht gedacht«, sagte Julia.

»Aber nicht doch! Nicht so bitter!« lächelte er, setzte sich, hob das Glas, betrachtete es prüfend gegen das Licht und sah dann Julia an: »Kommen Sie, trinken wir - auf Ihr Wohl!«

»Ich weiß nicht, was Sie für ein Mensch sind«, begann Julia dann, »vielleicht sehen Sie wirklich nur das hier« - mit der Hand machte sie eine kleine Gebärde, die Kukills Salon, sein Haus, den Garten, den Kognak auf dem Tischchen und seine Worte umfaßte - »vielleicht kümmern Sie sich wirklich nicht darum, was um Sie vorgeht.«

»Kaum«, lächelte Dr. Kukill.

»Aber das andere gibt es auch«, sprach sie weiter, ohne ihn zu beachten. »Gestern gab es einen Luftangriff und viele Tote, und heute wird es wahrscheinlich wieder einen Angriff geben und vielleicht noch mehr Tote, und es gibt Rußland und Italien und immer wieder den Tod, aber auch kleine, scheinbar kleine Sachen, die anderen Menschen das Leben bedeuten - oder das, wofür sie leben.«

»Ihren Mann, das meinen Sie doch?« sagte Dr. Kukill trok-ken.

»Ja«, antwortete Julia und sah ihn voll an. »Das ist meine Welt. Verstehen Sie mich doch - ich - ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen sollte als zu Ihnen. Es war alles eine Verkettung tragischer Umstände.«

»So würde es ein Jurist nennen. Wir wollen einfacher sprechen: Es war ein Irrtum, das wollten Sie doch sagen?«

»Und Sie? Was sagen Sie?«

Dr. Kukill schob die Unterlippe vor und betrachtete sinnend seine schmalen, weißen Hände: »Und wenn es wirklich ein

Irrtum gewesen wäre ...?«

Julia sprang auf: »Und das - das sagen Sie? Ihr Gutachten hat Ernst den Hals gebrochen, Ihretwegen wurde er verurteilt! Und nun - nun sitzen Sie seelenruhig hier und sagen: Und wenn es wirklich ein Irrtum gewesen wäre?«

»Bitte, beruhigen Sie sich doch! Setzen Sie sich! Mein Gutachten war rein wissenschaftlicher Art. Es war fundiert, es war gerecht, es war nach dem Stand der heutigen Wissenschaft gehalten. Als Sachverständiger vor Gericht können Sie nicht mit Möglichkeiten operieren, mit Annahmen, mit Hypothesen.«

»Wir haben doch gute Ergebnisse erzielt .«

Dr. Kukill hob die Hand leicht an. »Wieviel Versuchsreihen haben Sie durchgeführt?«

»Etwa dreißig.«

»Und dabei wollen Sie von guten Ergebnissen sprechen? Sie als Ärztin? Aber lassen wir das. Wie sieht - oder wie sah die Sache aus?« Er legte die Finger gegeneinander und betrachtete Julia sinnend. Er war nur halb bei diesem Gespräch, das sinnlos war, nutzlos, ermüdend: Ernst Deutschmann war nicht zu helfen. Und einen Augenblick lang dachte er überdrüssig daran, daß er nur seine Zeit vergeude. Aber - sie war hübsch, elegant, gepflegt und mutig. Nein, mehr: Sie war schön. Von ihr ging ein eigentümlicher Zauber aus, wie man ihn bei einer schönen Frau nur selten findet, eine Mischung aus Klugheit, Zielstrebigkeit, reinem Willen und Hilflosigkeit. Was wünscht sich ein Mann mehr? dachte er, ein wenig neidisch auf Ernst Deutschmann. Was wird aus ihr, wenn er im Strafbataillon umkommt? Und während er nach Worten suchte, um sie von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen zu überzeugen, dachte er, daß sie eine hübsche, schöne Witwe werden würde - aber bestimmt keine lustige. Das heißt: Sie war schon so gut wie eine Witwe.

»Sehen Sie«, begann er, »betrachten Sie die Sache von unserem Standpunkt. An dem Tage, nachdem Ihr Mann den Einberufungsbescheid bekommen hatte, erkrankte er. Einige Zeit später stellt sich heraus, daß er sich den Eiter eines schwer infizierten Menschen besorgt hat, der todkrank war, und sich damit heimlich infizierte - um angeblich im Selbstversuch die Wirkung eines von ihm gefundenen Gegengiftes genau zu erproben. Eine Infektion mit Staphylokokkus aureus dieser Art zieht eine jahrelange Rekonvaleszenz nach sich, jahrelange Untauglichkeit für den Wehrdienst.« Die letzten Worte sprach er langsam und betont aus. Als Julia nicht antwortete, fuhr er fort:

»Das hat er gewußt. Aber das wissen auch wir: Wegen solcher Infektionen, die meist tödlich verlaufen, haben wir in diesem Krieg Zehntausende verloren. Nun will ich ihm allerdings keine Selbstmordgedanken unterschieben. Es ist durchaus möglich, daß er glaubte, ein - sagen wir Serum gefunden zu haben. Und daß er sich, wie alle ihm ähnlichen - soll ich sagen wissenschaftlichen Fanatiker oder Helden? - infizierte, um seine Entdeckung zu erproben. Das ist es, warum ich meinte, seine Verurteilung könnte ein Irrtum sein: Ein Irrtum, also nicht eine Selbstverstümmelung, um dem Wehrdienst zu entgehen, sondern eben ein bedauerlicher Mißgriff. Allerdings kann ein Militärgericht diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen. Die Tatsache bleibt, daß er sich selbst verstümmelte. Das allein ist entscheidend.«

»Aber - ich bin überzeugt, ich war die ganze Zeit dabei, ich weiß, daß er auf dem richtigen Wege war. Wir hatten nur so wenig Zeit, es mußte so schnell gehen ...«

»Ich schließe auch diese Möglichkeit ein. Aber ein Richter kann es nicht tun. Ich habe Ihnen bereits gesagt: Es gibt kein wirklich wirksames Mittel gegen Infektionen dieser Art. Und ich bezweifle, daß Ihr Mann bei all seinem Talent so genial ist, daß er allein und ohne Hilfe das gefunden hätte, was eine ganze

Welt von Forschern seit Jahren umsonst sucht. Das war es, was ich vor dem Gericht ausgesagt habe. Es war und ist meine ureigenste Überzeugung. Welches Interesse sollte ich denn daran haben, Ihren Mann - übrigens, haben Sie es schon mit einer Revision versucht?«

»Ja«, sagte Julia.

»Und?«

»Man sagte mir - es war ein SS-Mann - man sagte mir ...«:, sprach sie stockend, als fürchtete sie sich vor dem, was sie sagen mußte, oder vor der Erinnerung an den Mann, der es ihr gesagt hatte, »- sollte der Fall Deutschmann in eine Revision gehen, dann stünde am Ende eines neuen Prozesses das Fallbeil.«

Schweigen.

Dr. Kukill zündete sich eine Zigarette an. »Wieso ein SS-Mann?« fragte er dann.

Julia zuckte mit den Schultern.

»Und - was wollen Sie jetzt tun?«

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren groß, schwarz, fiebrig.

»Kann man nichts tun?« fragte sie leise, mit zitternder Stimme. Sie stand auf, ging um den Tisch, klammerte sich an seinem Oberarm fest, während er hilflos sitzen blieb, erschrocken und wider seinen Willen von ihrem Leid und ihrer Verzweiflung mitgerissen. »Sie können etwas tun - Sie können es sicher - bitte - es hängt nur von Ihnen ab, ich weiß es - zu wem soll ich sonst gehen? - Sie können sagen, daß es ein Irrtum war, er wird dann zurückkommen - bitte, bitte, tun Sie etwas -«

Er versuchte, sie zu beruhigen, aber er sah, daß sie ihn nicht hören wollte, daß sie nicht glauben wollte, Ernst sei verloren, daß man nichts mehr für ihn tun konnte - nicht, nachdem sich die Schranke des Strafbataillons hinter ihm geschlossen hatte. Sie standen sich gegenüber, und als er ihr gesagt hatte, daß er für ihren Mann nichts tun konnte, sah er sie schweigend an und dachte wieder, daß sie von jener fraulichen Schönheit war, die man nicht genießt, sondern verehrt und anbetet, einer Schönheit, der Leid und Verzweiflung nichts anhaben, sondern sie nur vertiefen konnten - und ein kleiner, scharfer Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Er wird nicht wieder zurückkommen. Dann ...

»Doch«, sagte sie nach einer Weile und sah ihn weiter an, sah durch ihn hindurch, nicht mehr hier in diesem Zimmer mit dem Mann, der sich gespannt und plötzlich seltsam erregt vorbeugte und sie anstarrte. »Doch«, wiederholte sie, »es gibt eine Möglichkeit. Ich war bei all seinen Versuchen dabei. Ich habe alle seine Aufzeichnungen. Ich werde weitermachen. Ich werde seine Versuche wiederholen. Und wenn es sein muß, auch den Selbstversuch. Ich werde .«

»Um Gottes willen!« rief Dr. Kukill aus.

»... ich werde beweisen, daß er recht gehabt hatte. Und dann wird man ihn herausholen und ihn weiterarbeiten lassen. Dann .«

»Das wäre - um Gottes willen, es könnte Ihr Tod sein!« Dr. Kukill sah die Frau vor ihm erschrocken an.

»Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen«, sagte Julia.

An diesem Abend, als Julia Deutschmann wie gejagt in ihre Wohnung zurückhastete, den Mantel achtlos über einen Sessel warf, in das rückwärts gelegene Laboratorium ihres Mannes lief, einen weißen Kittel überwarf und die durcheinandergeworfenen Aufzeichnungen zu ordnen begann, geschah im Lager »Friedrichslust« bei Posen, dem Stammsitz des Strafbataillons 999, folgendes:

Oberleutnant Wernher, Kompaniechef der 1. Kompanie, ritt über den Kasernenhof: eine einsame, stumme, dunkle Reitergestalt mit lose umgeworfenem Regenumhang. Die Pferdehufe knirschten auf dem Kies. Er war auf dem Weg zu einer deutsch-polnischen Gutsbesitzerin, die trotz ihrer Jugend bereits Witwe war; ihr Mann war im Polenfeldzug gefallen.

Hauptmann Barth, Bataillonskommandeur, saß in seinem Zimmer unter einer Stehlampe und las »Tom Sawyers Abenteuer«. Seine Füße in Socken baumelten über die Sessellehne, manchmal lächelte er. Dann wurde sein Gesicht fast jungenhaft, frei und gelöst.

Oberfeldwebel Krüll stapfte mit dem Stahlhelm auf dem Kopf über den Kasernenhof. Manchmal übersprang er eine Pfütze, einmal blieb er stehen und sah gegen den Himmel. Wahrscheinlich war er auf dem Wege in die Mannschaftsunterkünfte, um seinen allabendlichen Budenzauber zu veranstalten.

Oberleutnant Obermeier folgte ihm eine Weile mit dem Blick. Dann drehte er sich um, zog das Verdunkelungsrollo vor das Fenster, tastete sich durchs Zimmer, knipste Licht an und schloß einen Augenblick geblendet die Augen. Er goß sich ein halbes Glas voll Hennessy ein und trank den scharfen Kognak in einem Zug herunter. Er hatte beschlossen, sich heute abend zu betrinken.

In den Unterkünften erwartete man die Ankunft des UvD, sich besorgt fragend, welche Stube heute an der Reihe war, Krülls Bedürfnis nach Abwechslung zu befriedigen.

Dies war, wie kaum anders zu erwarten, die Unterkunft, in die die vier Neuankömmlinge eingeteilt waren.

Krüll fand zuerst auf dem Boden unter dem letzten Bett einen Kieselstein, vielmehr ein etwas größeres Sandkorn. Er hob es auf, zwischen dem Daumen und Zeigefinger haltend, mit weitgespreizten restlichen Fingern, und ließ es wieder wortlos auf den Boden fallen.

Er sagte nichts.

Dann stellte er schweigend einen Schemel vor einen Spind und fuhr mit dem Zeigefinger oben hin und her, doch er fand keinen Staub. Aber er fand ihn auf einem Deckenbalken und auf einem Fensterrahmen und schmierte ihn dem strammstehenden Stubendienst - dies war der frühere Oberleutnant Stub-nitz, den er heute schon einmal über den Hof gejagt hatte -über die Wangen, über die Stirn, über die Nase, kreuz und quer, in schönen, gleichmäßigen Karos.

Dabei sagte er immer noch nichts.

In der Stube herrschte lähmendes, schweres Schweigen, nur Krülls Schritte über den knarrenden Boden und hin und wieder sein verächtliches Schnauben durch die Nase waren zu hören. Niemand rührte sich: Zweiundzwanzig Männer lagen lang ausgestreckt auf dem Rücken, mit den feuchtriechenden Decken bis zum Kinn zugedeckt, die Arme an den Körper gedrückt, Knie und Füße zusammengepreßt - gewissermaßen »stillgestanden« im Liegen - und warteten auf das Unausweichliche. Aus der Ecke kam das schwere, rasselnde Atmen des Schützen Reiner, gewesenen Dr. Friedrich Reiner, Rechtsanwalt in München, seit 1939 Insasse des Konzentrationslagers Dachau, seit Frühjahr 1943 zum Strafbataillon 999 begnadigt: Er litt an Asthma.

Als Krüll meinte, Schütze Stubnitz sähe kariert genug aus, begann er mit der Spindkontrolle. Aus dem ersten warf er nur das Waschzeug auf den Boden, den zweiten leerte er ganz aus, den dritten und vierten ließ er stehen, aus dem fünften warf er die Wäsche, den sechsten räumte er ganz aus.

Dabei sagte er immer noch nichts.

Der siebente Spind gehörte Karl Schwanecke.

Als Krüll ihn öffnete, prallte er zurück: Der Spind war tatsächlich eine Katastrophe. Das einzige, was ordnungsgemäß, das heißt, in militärischer Ordnung angebracht war, waren Bilder nackter Mädchen auf der Innenseite der Tür.

Krüll unterdrückte seine Neugierde, beschloß gleichzeitig, sich die Bilder einmal in Ruhe anzusehen, und jagte die Männer aus den Betten. An sich hatte er vorgehabt, vor der Gymnastik auf dem nachtdunklen Kasernenhof noch die Füße der Liegenden anzusehen. Er verzichtete darauf und ließ dafür alle zweiundzwanzig an Schwaneckes Spind im Paradeschritt vorbeimarschieren und »die Augen links« machen.

Dann jagte er sie auf den Hof.

Es dauerte etwa eine halbe Stunde: Komisch anzusehende, in ihrer unfreiwilligen Komik tragische Männergestalten in kurzen Nachthemden, mit klappernden Holzpantinen an den Füßen, jagten aufgescheuchten, weißen Nachtvögeln gleich über den Kasernenhof, übten Entengang, Hasensprünge, Froschhüpfen.

Als es zu Ende war, waren drei Männer dem Herzzusammenbruch nahe: der asthmatische ehemalige Rechtsanwalt,

Deutschmann und von Bartlitz; andere waren nur noch halb ohnmächtige, wankende, leichenblasse, schwitzende, mit Dreck bespritzte Gespenster. Alle, außer Schwanecke: Schwanecke machte es anscheinend nichts aus. Er grinste und verfluchte grinsend den Oberfeldwebel und mußte deshalb einige Extrarunden drehen. Aber das Grinsen verging ihm nicht. Es verging ihm nie, auch später nicht.

Dann kam noch eine gute Stunde Waschen und Stubenreinigen, und so war es elf vorbei, als sie endlich in den Betten lagen, mit einiger Aussicht, die Nacht ungestört durchzuschlafen.

Ernst Deutschmann lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und zwang sich, ruhig, tief und gleichmäßig zu atmen. Sein Herz raste. Langsam wurde es besser, das Schwindelgefühl verflog, zurück blieb nur eine schwere, lähmende Schwäche, die seinen Körper zu einem reglosen Bleiklumpen machte.

Im Bett daneben lag der Bauer Wiedeck, der Mann, den er im Militärgefängnis in Frankfurt an der Oder kennengelernt hatte. Er war sein Zellengenosse gewesen, schweigsam, mürrisch, verschlossen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, obwohl sie stets zusammen waren: in der Zelle, auf dem täglichen Spaziergang im Gefängnishof und in der Werkstatt, wo sie die Sohlen der Militärstiefel mit Nägeln beschlugen. Freunde waren sie erst geworden, als ein Feldwebel, dem Deutschmanns Gesicht nicht paßte, in der Mittagspause einige Kisten voller Nägel umwarf und Deutschmann befahl, sie wieder einzusammeln. Wiedeck hatte ihm dabei geholfen, wortlos, verbissen, finster.

»Wie geht’s?« hörte er jetzt Wiedeck flüstern.

»Besser«, flüsterte er zurück.

Schweigen.

»Verfluchte Schweine!« flüsterte Wiedeck nach einer Weile.

»Mach dir nichts draus«, sagte Deutschmann.

Und wieder Stille. Und dann:

»Woran denkst du?«

»An Julia«, sagte Deutschmann.

»Ich auch. An Erna. Hast du Kinder?«

»Nein.«

»Ich habe zwei. Nein, jetzt sind’s drei.«

»Maul halten!« kam von irgendwoher eine Stimme.

Und dann begann Erich Wiedeck zu erzählen. Leise, flüsternd, mit langen, schweigenden Pausen, ungelenk, nach Worten suchend. Und trotzdem wuchs vor den Augen des still liegenden, lauschenden Deutschmann eine Welt empor, die ihm bisher fremd geblieben war. Er hörte das schwere Atmen des Asthmatikers und das Schnarchen Schwaneckes nicht mehr. Die dumpfriechende, von undurchdringlicher, säuerlicher Finsternis erfüllte Stube versank und wurde weit, weit wie die Felder von Pommern.

So kam der ehemalige Obergefreite Erich Wiedeck, dekoriert mit dem EK I, Silberner Nahkampfspange, Silbernem Verwundetenabzeichen, zwei Panzer-Ab schußstreifen, kurz vor seiner

Beförderung zum Unteroffizier, in das Strafbataillon 999:

Der Wind stand leicht über den Feldern von Melchow.

Es war gegen Mittag. Über die Feldwege ratterten einige Trecker. Kahlgeschorene Männer in alten, zerrissenen Lumpen saßen auf den hüpfenden Sitzen, einige Frauen und Mädchen in bunten Kopftüchern folgten den Spuren der großen Räder. Russische Landarbeiter, Bauern aus der Ukraine, aus dem Kaukasus, aus Weißrußland, aus den Feldern um Minsk und den Sonnenblumenäckern der Steppe von Saporoshje, eingefangen wie Wild, nachts aus den Betten geholt, in Viehwagen gepfercht und nach Deutschland gebracht, um die Ernte zu retten, die den Sieg bedeuten sollte.

Wiedeck ließ die Ähren seines Roggens durch die Finger gleiten. Sie waren dick, prall gefüllt mit Körnern, schnittreif wie noch nie ein Korn in den letzten Jahren. Die Felder standen voll davon: achtzig Morgen unter dem Pflug. Roggen, Weizen, Hafer, Kartoffeln, Gerste, Zuckerrüben.

Er sah hinüber zu den Treckern und den Russen, die lachend ins Dorf zogen. Sonnabend. Feierabend. Das Wetter war gut. Die Sonne stand und würde in den nächsten Tagen nicht weggehen.

Sie schaffen es nicht, dachte er. Sie können es nicht schaffen. Die paar Russen, die Frauen, ein paar Trecker - die Ernte verkommt auf den Feldern, wenn sie nicht gleich geschnitten wird. Und dann dachte er daran, daß Erna, seine Frau, schwanger war, daß in knapp drei Wochen das Kind kommen mußte, daß sie einen schweren Leib hatte, sich kaum bücken konnte und unter der Sonne und der schweren Arbeit litt.

Er sah über seine Felder, über das Meer der wogenden Ähren, und er rechnete im Geist die Stunden und Tage aus, die man brauchte, um es zu schneiden und vor Beginn des Regens einzufahren.

Als er am frühen Nachmittag wieder nach Hause kam, stand Erna in der Tür und sah ihm entgegen.

»Wo bleibst du nur?« fragte sie besorgt. »Dein Zug fährt in zwei Stunden.«

»Ich habe mich umgesehen«, sagte er knapp. Er sah sie an: Ihr Leib war schwer.

»Das Korn steht gut«, sagte sie, während sie die Schürze abband. »Komm, iß noch etwas. Einen Kuchen habe ich auch gebacken, zum Mitnehmen.«

»Wer wird es schneiden?«

»Was?«

»Das Korn.«

»Ich -.«

»Du?«

»Natürlich. Und drei Russen. Wenn sie bei Pilchows fertig sind, kommen sie zu uns. Sie bringen den großen Binder mit.«

»Es wird zu spät sein.« Er sah gegen den Himmel. Die Sonne schien noch acht Tage! Wenn es regnen würde, verfaulte das Korn auf dem Feld.

»Komm -!« Erna zog ihren Mann ins Haus. »Es geht eben nicht anders. Was wir einfahren können, tun wir. Das andere ...«, sie schüttelte den Kopf. »Einmal ist dieser Krieg auch vorbei, und dann wirst du wieder besser sorgen können.«

»Es ist eine Schande, daß es verfault«, sagte er starrköpfig. Er setzte sich in der Wohnküche an das Fenster und sah hinaus. Dann drehte er sich herum zu Erna, die am Herd stand und Kaffee aufgoß. Bohnenkaffee, abgespart von den seltenen Sonderrationen der Lebensmittelkarten für den Tag, an dem Erich auf Urlaub kam. Die ganze Küche duftete danach. Und auf dem Tisch stand ein dicker Rosinenkuchen. Sogar eine weiße Manschette hatte sie herumgebunden, so, als sei heute sein Geburtstag oder sonst ein Feiertag. Ein Feldblumenstrauß stand daneben - Blumen von seinen Wiesen.

Er wandte sich ab und starrte wieder hinaus auf das Land. »Ich bleibe«, sagte er knurrend.

»Was?« Erna sah ihn verständnislos an. Sie stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und setzte sich. »Was hast du gesagt?« »Ich fahre nicht.«

»So blieb ich«, erzählte Erich Wiedeck dem Freund, der Dunkelheit und sich selber, und vielleicht erzählte er es nur, weil es finster war und niemand seine feuchten Augen sehen konnte. »Ich habe ihr gesagt, daß mein Antrag auf Verlängerung des Urlaubs durchgekommen ist und daß ich so lange bleiben darf, bis ich die Ernte einbringe. Aber -«, sagte er, »ich bin nicht nur deswegen geblieben, verstehst du? Der Arzt hatte gesagt, sie muß sich vor der Geburt schonen, aber wie sollte sie sich schonen, wenn ich weg war und wenn sie alles allein machen mußte? Und dann, wenn sie’s nicht machen könnte, was sollten sie essen? Was wäre bei diesen Abgaben von der Ernte für sie übriggeblieben? Die Felder haben getragen wie noch nie - und sie hätten hungern müssen. Verstehst du, warum ich nicht weggehen konnte?«

»Ja«, sagte Deutschmann.

»So blieb ich und brachte die Ernte ein. Ich habe geschuftet wie ein Tier. Ich habe fast nicht geschlafen, von frühmorgens bis in die Nacht war ich auf den Feldern, und dann mußte ich auch noch die Hausarbeit machen. Aber -«, und jetzt schwang in seiner flüsternden Stimme Triumph mit, »- aber ich habe die Ernte eingebracht. Alles. Immer habe ich gewartet, daß die Kettenhunde kommen und mich holen. Sie sind nicht gekommen. Es tut mir nur leid .« Er unterbrach sich.

»Was?« fragte Deutschmann.

»Es tut mir nur leid, daß ich nicht noch länger geblieben bin. Bis Erna ihr Kind bekam. Vielleicht ist es ein Sohn. Was meinst du, ob es ein Sohn ist?«

»Sicher«, sagte Deutschmann.

»Ich hätte vielleicht doch noch so lange bleiben können. Aber mit der Zeit, später, als ich die Ernte eingebracht hatte, habe ich es doch mit der Angst zu tun bekommen. So fuhr ich ab. Meine zwei Mädchen brachten mich zum Bahnhof, Erna konnte nicht mit. Die ältere Tochter ist fünf Jahre und heißt Dorthe, und die zweite ist drei Jahre und heißt Elke. Ich fuhr ab und sagte ihnen: Seid immer lieb zur Mutti, weil sie Schweres erleben würde, sie dürften nicht böse sein, und sie versprachen es mir, und ich glaube es ihnen, sie sind brave Kinder, ich glaube es ihnen - wenn ich nur wüßte, ob Erna ... glaubst du, daß alles gutgegangen ist?« fragte er mit zitternder Stimme, lauter, drängend, als könnte ihm Deutschmann als Arzt eine erlösende Antwort geben, die ihn von all den peinigenden Fragen befreien und ihm die Gewißheit geben würde, daß sein Opfer nicht umsonst war.

»Sicher«, sagte Deutschmann, »ganz sicher!«

»Ich hätte noch ein paar Tage bleiben sollen«, sagte Wiedeck müde. »Dann würde ich’s ganz genau wissen. So aber ...«

So aber ... dachte Deutschmann. Immer wieder bleibt: So aber -. Hätte ich das getan oder hätte ich’s nicht getan, wäre alles anders gekommen, so aber ...

Jetzt weiß ich’s: Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch lebe. Das Serum in seiner jetzigen Form ist wirkungslos. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht so hastig vorgehen sollen. Ich hätte alles besser durchrechnen und durchdenken sollen. Dann wäre es nicht so weit gekommen. So aber ...

»Schlaf gut«, sagte er leise.

»Ja -«, sagte Wiedeck. Er konnte nichts anderes sagen. Er weinte.

Am nächsten Tag, nach dem Arbeitseinsatz, bekam das ganze Bataillon Schreiberlaubnis. Die alten Hasen behaupteten, es stünde etwas bevor, weil sie schreiben durften; wahrscheinlich würden sie nach Rußland kommen.

Deutschmann schrieb an seine Frau Julia:

»Mir geht es gut, Julchen. Das Essen ist reichlich, und auch sonst fehlt es mir an nichts - nur Du fehlst mir, Rehauge, Du weißt nicht, wie! Ich möchte Dich so gerne sehen - aber das ist einstweilen nur ein frommer Wunsch. Habe keine Angst um mich, gib auf Dich acht, besonders jetzt, bei den vielen feindlichen Luftangriffen. Bitte, paß auf Dich auf, Rehauge, ich will Dich gesund und schön wiederfinden, wenn ich zurückkomme.

Kuß, Dein Ernsti.«

Erich Wiedeck schrieb:

»Liebe Erna,

ich weiß immer noch nicht, wie es mit der Geburt war, und ob Du gesund bist und ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, schreib mir bitte. Wenn es ein Junge ist, gib ihm den Namen Wilhelm, nach meinem Vater, Du weißt schon, wenn es ein Mädchen ist, dann soll es Erna heißen, wie Du. Mir geht es ganz gut, nur habe ich Sorgen um Dich und die Kinder, aber wir wollen Gott vertrauen, daß sich alles zum Guten wendet und ich bald nach Hause komme. So grüße ich Dich und die Kinder.

Dein Mann Erich.«

Beide Briefe waren um einige Worte länger, als die Vorschrift erlaubte. Im Hinblick auf das bevorstehende Kommando ließ man sie jedoch durchgehen.

Daß irgend etwas im Gange war, hätte nun auch ein Blinder sehen können. Obermeiers Kompanie brach den Arbeitseinsatz ab und blieb im Lager. Außerdem kam für Hauptmann Barth ein neuer Adjutant.

Barth hatte zunächst verständnislos auf die Zuweisung gesehen, die ihm vom Kommandeur der Strafeinheiten zugeschickt wurde. »Ein neuer Kamerad, meine Herren«, sagte er zu Obermeier und Wernher. »Ein Oberleutnant, Fritz Bevern heißt er. Aus Osnabrück. Ein verdienter Mann, scheint mir: HJ-Führer, Vater Kreisleiter, Kriegsschule mit Sehr gut absolviert, vor allem im Fach Politik ausgezeichnet. Kriegsverdienstkreuz I. Klasse, EK II. Er kommt heute noch.«

»So etwas brauchen wir hier. Das suchten wir doch schon lange, nicht?« seufzte Oberleutnant Wernher.

»Er kann doch auch ein netter Junge sein.« Hauptmann Barth legte die Zuweisung in eine Mappe. »Warten wir ab. Auf jeden Fall bekomme ich einen Adjutanten. Ganz groß, was? Entlastung des Kommandeurs und Verbindung zur Truppe. Ich fürchte nur, daß er bald überflüssig werden wird.«

»Sie sprechen in Rätseln, Herr Hauptmann«, sagte Wernher. Barth grinste: »Was soll er noch verbinden, mit wem soll er mich verbinden, wenn wir erst einmal drei oder vier Wochen in Rußland sind?«

»Und außerdem sind Sie ein Schwarzseher, Herr Hauptmann. Darf ich mich abmelden?«

»Ist das Pferd gesattelt?« fragte Barth hinterhältig.

»Seit einer Stunde schon.«

»Viel Spaß. Sie bleiben hier und unterstützen mich, Obermeier?«

Bevern kam in einem höchst feudalen Auto angefahren, einem Horch-Achtzylinder, der einmal einem Rittergutsbesitzer gehört hatte.

Als der neue Adjutant ausstieg und federnd zur Kommandeursbaracke ging, lief ein vielstimmiges »Ach« durch die Fensterreihen der Baracken. Blanke Stiefel, Maßuniform, gekniffte Mütze auf dem Ohr, hellgraue Wildlederhandschuhe, eine Pistole in einer hellbraunen, eigenen Pistolentasche. Das Modellbild eines Offiziers. Ein Mannequin aus der Uniformschau: Wie sieht der korrekt angezogene Offizier im Dienstanzug aus?

Barth steckte sich eine Zigarette an. Was soll ich mit diesem geschniegelten Affen anfangen? fragte er sich erschrocken. Himmel - der wird sich maniküren, wenn wir durch den russischen Dreck latschen!

Er irrte sich. Fritz Bevern trat sofort zur Offensive an, als die Vorstellung beendet war und man sich bei einem Glas Rotwein weiter beschnupperte und abtastete.

»Als ich ins Lager fuhr«, erzählte Bevern und nahm einen kurzen, abgehackten Schluck aus dem Rotweinglas, »flegelte sich am Lagertor ein Subjekt herum, mit einem Besen in der Hand. Ich dachte zuerst: Ob das ein Russe ist? Nein, meine Herren, es war ein deutscher Soldat! Tatsächlich! Ich lasse anhalten, sehe ihn mir schärfer an, aber der degenerierte Bursche grüßt immer noch nicht. Sah aus wie ein Untermensch! Und dann - steckt er den Finger in die Nase und popelt. Eine Unverschämtheit! Ich fragte ihn, wie er hieße. Und, was meinen Sie, was er darauf antwortete?«

»Was«, fragte Barth interessiert.

»Ha -.«

»Wie war das?«

»Er sagte: Ha? Unerhört!«

»Und wie hieß er?« fragte Obermeier.

Bevern knöpfte seine Brusttasche auf, zog einen Zettel heraus, knöpfte die Brusttasche wieder zu und las: »Karl Schwanecke, aus der 2. Kompanie. Es war gar nicht so leicht, es aus ihm herauszubringen. Der Bursche ist stocktaub. «

»Was ist er?« fragte Barth und konnte dabei kaum ein breites Grinsen verbeißen.

»Stocktaub.«

»Der Kerl hört besser als Sie und ich zusammen«, sagte Barth genußvoll. Bevern sah verdutzt und sehr wenig geistreich aus. Obermeier lächelte.

»Er hört so gut wie ...«:, brachte Bevern heraus.

Barth nickte. »Außerdem ist er Spezialist in Einbruchdiebstählen, Raubüberfällen und kleinen Mädchen. Früher war er Gefreiter und soll ein tollkühner Bursche gewesen sein.«

»Ich werde ihn mir morgen vornehmen.« Beverns Gesicht war gerötet. »Eine unerhörte Frechheit!«

»Hoffentlich werden Sie mit ihm fertig werden«, sagte Barth und stieß eine blaue Rauchwolke gegen die Decke.

»Warum sollte ich nicht?«

»Haben Sie schon in einem - in einer solchen Einheit gedient?«

»Ich hatte bisher andere Aufgaben zu erledigen, Herr Hauptmann«, sagte Bevern mit durchgedrücktem Kreuz.

»Dann werden Sie sich umstellen müssen, mein Lieber. In Ihrem Interesse. Das ist nicht eine x-beliebige Einheit.

Es ist ein Strafbataillon.« Dieses Wort buchstabierte er nach seiner Art fast genußvoll ausdehnend. »Hier haben Sie Menschen wie Schwanecke, die keine Autorität anerkennen, außer der ihrer eigenen Triebe und Wünsche. Merken Sie sich: keine Autorität, am wenigsten die der Schulterstücke. Dann haben Sie hier Menschen, die sich einer anderen Autorität beugen, der ihrer sogenannten Ideale, die Ihren, ich wollte sagen - eh -unseren Idealen entgegengesetzt sind wie etwa Schwaneckes Verbrecherinstinkten. Ihre Autorität, Bevern, kann auch diesen Menschen genausowenig Angst einjagen wie Schwanecke und seinesgleichen. Und weiter gibt es da noch eine dritte Gruppe: Männer, die selbst nicht wissen, wie sie herkamen - das sind wahrscheinlich die zahlreichsten. Es gibt alle möglichen Schattierungen darunter: Ja - sogar Männer ohne Rückgrat, die Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen werden, bis zu solchen, die partout mit dem Kopf durch die Wand wollen.«

»Sollen wir etwa kapitulieren?« fragte Bevern entrüstet.

»Ich habe gesagt: umstellen«, sagte Barth ernst. »Sehen Sie sich unseren Oberleutnant Obermeier an. Sein Vater war Offizier. Sein Großvater auch. Sein Urgroßvater war einer der langen Kerls des Soldatenkönigs. Und er selbst? Ein alter Fronthase, mit allen Wassern gewaschen. EK I, Das Deutsche Kreuz in Gold und so weiter. Er wurde sogar einmal im Wehrmachtsbericht erwähnt. Als er hierherkam, glaubte er, es gäbe für ihn nichts Neues unter der Sonne. Nach einer Woche wurde er ganz klein. Jetzt ist er wieder ein bißchen gewachsen.«

»Auf alle Fälle werde ich erst einmal diesen - diesen Schwanecke auf dem Appellplatz fertigmachen, daß er sein eigenes Gehirn als Rührei frißt. Gewissermaßen zur Abschreckung.«

»Sie bedienen sich einer wundervoll plastischen Sprache«, meinte Obermeier höflich. »Wo haben Sie das gelernt? Etwa aus der neuesten Ausgabe des deutschen Militärjargons, verfaßt von Oberfeldwebel Krüll und herausgegeben für alle Unteroffiziere?«

»Ha -!« sagte Barth wonnig.

Bevern schwieg verbissen. Welch eine Bande! dachte er grimmig. Schlappsäcke! Kapitulieren vor diesen Lumpen, die man nur aus Mitleid vor dem Galgen rettete. Umstellen? Lächerlich! Er sah aus dem Fenster. Die zweite Kompanie exerzierte. Hohläugige Gestalten mit verbissenen Gesichtern und dreckverkrusteten Uniformen.

Schnell sah Bevern weg. Ihn ekelte. Alle erschießen, dachte er. Das wäre die beste Lösung.

Am Abend, als Obermeier in der Stadt war und ein Kino besuchte, als Wernher bei der Gutsbesitzerin überlegte, ob er noch etwas essen oder schon schlafen gehen sollte, und Hauptmann Barth am Radio saß und Beethoven hörte, strich Oberleutnant Bevern durch die Baracken und stellte sich auf seine Weise dem Bataillon vor.

Zunächst traf er auf Oberfeldwebel Krüll.

Krüll kam von einer Inspektion zurück. Er hatte Deutschmann noch einmal in die Latrine gejagt, weil sie angeblich nicht sauber genug war. Eine Weile stand er dann mit den Händen auf dem Rücken hinter dem umherkriechenden Wissenschaftler, beobachtete verächtlich schnaufend seine Arbeit mit Eimer und Putzlappen und versprach schließlich, in einer halben Stunde wiederzukommen. »Wenn es dann hier nicht aussieht wie in einem Operationssaal, Sie Oberputzer, wischen Sie den ganzen Boden mit Ihrer intellektuellen Visage auf, haben Sie verstanden?«

In dieser Hochstimmung seiner Macht traf er auf Bevern und baute ein Männchen.

»Wie heißen Sie, Oberfeldwebel?« fragte Bevern lässig.

»Oberfeldwebel Krüll, Herr Oberleutnant!«

»Ach - Sie sind also Oberfeldwebel Krüll -!« sagte Bevern überrascht.

»Jawohl, Herr Oberleutnant!« Krüll strahlte. Um seinen Ruhm wußte auch schon dieser Neue! Doch er würde kaum gestrahlt haben, hätte er geahnt, daß Oberleutnant Bevern in diesem Augenblick beschloß, sich an ihm für Obermeiers Frechheit zu rächen.

»Wieviel wiegen Sie, Oberfeldwebel?« fragte Bevern.

Krüll sah in den Nachthimmel. Der ist verrückt, durchfuhr es ihn.

»Ich weiß es nicht, Herr Oberleutnant!«

»Sie wiegen 190 Pfund, Oberfeldwebel.«

»Ich - glaube, nicht so viel -.«

»Wieviel wiegen Sie?«

»190 Pfund, Herr Oberleutnant.«

»Entschieden zuviel, Oberfeldwebel, meinen Sie nicht auch?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!«

»Mindestens vierzig Pfund zuviel!«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.«

»Die müssen Sie ‘runterkriegen, Oberfeldwebel.«

»Jawohl, Herr Oberleutnant.« Nun dachte der verwirrte Krüll, diese dämliche Fragerei hätte ihr Ende gefunden und er könnte gehen, aber er irrte sich. Der Neue machte keine Anstalten, ihn zu entlassen, im Gegenteil, die Niedertracht kam erst.

Eigentlich hätte es Krüll wissen müssen: Die Methode des Neuen war genau die gleiche wie die seine.

»Fangen wir gleich damit an, Oberfeldwebel«, sagte Bevern und erhob dann seine Stimme zu schneidender Schärfe: »Kehrt marsch!«

Krüll trabte. Dann lief er, ‘rauf und ‘runter. Mit puterrotem Gesicht und weit aufgerissenem Mund. Seit fünf Jahren lief er zum ersten Male wieder. Das Hemd klebte an seinem schwitzenden Körper. Er verstand die Welt nicht mehr. Es war unfaßbar: Bis heute, bis zu diesem Augenblick, hatte er gedacht, er stünde mit den Offizieren auf der gleichen Seite der Barrikade. Und nun machte ihn dieser polierte Affe zu einem von der anderen Seite. Er keuchte. Und Beverns schneidende Stimme hämmerte in sein zermartertes Gehirn: »Schneller, Oberfeldwebel, los, schneller! Das macht den Körper geschmeidig und frei! Das ist gut für die Bronchien! Kehrt marsch!«

Dann war es zu Ende, Krüll durfte gehen und beschloß, sich besinnungslos vollaufen zu lassen.

Aber für Bevern war das erst der Anfang.

Alle werde ich fertigmachen, dachte er grimmig, entschlossen, unversöhnlich. Alle! Die verdammte Bande von

Mannschaften! Die Unteroffiziere! Alle! Und die hundsopportunistischen Offiziere. Alle! Mitsamt Obermeier und Barth!

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