Nautilus — Unterseite

Es dauerte einige Zeit, bis jemand das Wort ergriff. Schließlich sagte Zigeuner kaum hörbar:»Habt ihr Patente für diese Transportmethode?«

Mavra Tschang lachte.

»Nein, und ich fürchte, die wird auch nie jemand bekommen.«Sie sah zu Marquoz hinüber. »Ihre Energiepistole können Sie behalten. Auf Nautilus funktioniert sie nicht. Nur unsere eigenen Waffen tun das.«

Marquoz schaute sich um. In Wahrheit hatte er Angst, obwohl er das nicht einmal Zigeuner gegenüber erkennen ließ. Er stand plötzlich vor dem völlig Unbekannten und kam sich vor wie ein Kind unter den weisesten Erwachsenen. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Hier ist noch jemand«, erklärte Zigeuner plötzlich. »Und mit dem Unsichtbarkeitstrick hat das auch nichts zu tun. Da ist jemand, überall um uns, etwas ganz Unheimliches.«

Marquoz und Yua spürten es ebenfalls — eine fast übernatürliche Präsenz, in der Luft schwebend.

Mavra Tschang gab ihren Leuten einen Wink. Sie steckten ihre Waffen ein und gingen.

Mavra, Marquoz, Zigeuner und Yua standen auf einer erhöhten Plattform in der Mitte eines ovalen Raumes. Über ihr hing ein großer Parabolspiegel. Die Plattform hätte unter der Antenne gelegen — oder was das sein mochte, wenn sie hinausgedreht und ganz ausgezogen worden wäre. Mehrere Meter darüber verlief ein Balkon im Kreis um den Raum; eine Metalltreppe gegenüber führte zu ihm hinauf. Schiebetüren mochten vom Balkon hinausführen, aber es war zu schwierig, Umrisse zu unterscheiden, und ein starker Sicherungszaun und ein Geländer behinderten die Sicht ohnehin. Es herrschte Stille, abgesehen von einem leisen Summen, als läge der ganze Raum im Inneren einer gigantischen Maschine.

»Sind Sie wirklich mit Nathan Brazil verwandt?«fragte Yua schließlich.

Mavra Tschang lächelte schwach.

»In gewisser Weise ja. Das liegt natürlich viele, viele Jahre zurück. Es ist lange her, seit wir in menschlichen Gebieten gewesen sind.«

»Was ist das hier?«fragte Marquoz.

»Sie sind auf einem Planetoiden weit draußen im Weltraum, außerhalb normaler Handelswege und jeder Behausung«, erwiderte sie. »Dies ist in der Tat ein völlig autarkes Fahrzeug. Wir sind tief im Inneren, und unterhalb des Äquators. Die nördliche Halbkugel ist, wie Sie sehen werden, der Erde nachgebildet worden und sehr schön. Meine Besatzung und ich leben dort die meiste Zeit.«

»Das ist Zinders Computer, nicht wahr?«sagte Marquoz mit einem Blick in die Runde.

Mavra reagierte erstaunt.

»Hmmm… Ja, so ist es. Ich sehe schon, wir sollten Sie nicht unterschätzen.«

Marquoz schien sich gefangen zu haben. Er sah zu der noch immer betäubt wirkenden Yua auf.

»Ich vermute, daß Sie hier auf heiligem Boden stehen, meine Liebe. Ich möchte wetten, daß vor über siebenhundert Jahren an eben dieser Stelle Ihre Vorfahrinnen geschaffen worden sind.«

Yua blickte fassungslos von einem zum anderen.

»Hören Sie, ich vergesse ganz, auf meine Manieren zu achten«, sagte Mavra Tschang. »Bitte, steigen Sie von der Plattform herunter. Ein, zwei Meter genügen, wenn Sie sich nicht hinüberbeugen.«Sie gehorchten, und Mavra rief zufrieden:»Obie, wie wär’s mit einem Tisch und Stühlen und vielleicht etwas Gutem zu essen?«

Es kam keine Antwort. Alles, was sie hörten, war ein leises Surren über sich, als die kleine Parabolschüssel sich über die Plattform hinausschwang. Ein purpurnes Leuchten, dann fuhr der Parabolspiegel zurück.

Ein Bankettisch, überhäuft mit Speisen aller Art, war aufgetaucht, umgeben von gepolsterten Stühlen, einer davon offenbar Yua angepaßt, die auf ihren Schweif Rücksicht nehmen mußte. An einer Stelle gab es keinen Stuhl; Chugach pflegten auf ihren Schwänzen zu sitzen.

Zigeuner war als erster am Tisch; er war zu dem Schluß gekommen, man werde ihn nicht umbringen, und da er Hunger hatte, fand er sich mit der Situation einfach ab.

»Mensch, seht euch das an! Ein Festmahl für einen König!«sprudelte er hervor, dann sah er Mavra Tschang ein wenig ängstlich an. »Ist das alles echt?«

Sie lächelte und nickte.

»Hundertprozentig. Nicht einmal künstlich hergestellt. Nach der Kunstnahrung, die Sie Ihr ganzes Leben gewöhnt waren, wird Ihnen vielleicht nicht alles schmecken, aber versuchen Sie es.«

Es gab keine andere Möglichkeit, und sie näherten sich alle dem Tisch. Marquoz war baß erstaunt, an seinem Platz einen großen Braten vorzufinden.

»Takliss!«sagte er entgeistert. »Gebratener Takliss! Ihr wißt nicht, wie lange das her ist!«

Während sie aßen, erklärte ihnen Mavra verschiedenes.

»Lassen Sie sich als erstes erklären, wie wir hergekommen sind«, begann sie. »Wir hatten häufig anderswo zu tun, zuletzt in M51, und nachdem wir vor ein paar hundert Jahren vorbeigeguckt und gesehen hatten, wie der Kom-Bund mit seinen nicht-menschlichen Rassen zurechtgekommen war und daß alles glatt zu verlaufen schien — wir waren höchst überrascht, darf ich Ihnen sagen —, beschlossen wir dahinzugehen, wo wir gebraucht wurden. Da wären wir noch, wenn Obie nicht gespürt hätte, daß etwas nicht stimmte. Sehen Sie, wir hatten hier tatsächlich ein kleines Beben — wie praktisch jeder Ort im Universum.«

»Obie?«fragte Marquoz.

»Guten Abend, Bürger.«Eine angenehme Tenorstimme tönte aus der Leere. »Mein Name ist eigentlich ein Akronym, aber die Wörter sind so veraltet, daß sie ihren Sinn verloren haben. Mavra, ich dachte schon, Sie stellen mich überhaupt nicht vor!«rügte er.

»Tut mir leid«, sagte sie achselzuckend. »Ich dachte, du möchtest sie dir erst ansehen, bevor sie wissen, daß du hier bist.«

»Ich hab’ es gewußt«, warf Zigeuner kauend ein.

»Richtig«, sagte Obie. »Sie haben manches Interessante an sich, Sir.«

Yua machte einen immer verblüffteren Eindruck, und Marquoz sagte beruhigend:»Er ist ein Computer, meine Liebe. Praktisch befinden wir uns in seinem Inneren.«Er grinste. »Da ich die Aufzeichnungen über die Vernichtung von Neu Pompeii gesehen habe, finde ich das alles natürlich sehr überraschend.«

Mavra Tschang nickte.

»Sie kennen also die Geschichte von Trelig?«

»Wie die meisten heutzutage. Manche Historiker verdanken der Sache ihren Ruf.«Er berichtete kurz von Tortoi Kais Forschungen und dem Grund für die Aufhebung der Geheimvorschriften.

Mavra schüttelte den Kopf, als sie von den Dreel und den Zinder-Vernichtungsgeräten hörte.

»Wir wußten, daß gegen einen äußeren Feind eine Waffe eingesetzt worden war — wir haben viele Funkgespräche abgehört und in den letzten Tagen viele Computeranlagen angezapft. Mit Ihrer Hilfe können wir die letzten Lücken schließen.«

»Aber gern«, sagte Marquoz. »Sagen Sie, wer waren Sie, und woher kommen Sie und alle diese Leute?«

»Obie hat seinen eigenen Untergang natürlich nur vorgespiegelt«, erklärte Mavra. »Die Explosionen, die ihn von Ben Yulins Kontrolle befreiten, haben ihm völlige Alleinkontrolle verliehen. Er ist von allen unabhängig. Als die anderen fortgingen, beschloß ich zu bleiben.«

»Beschlossen hast du zu sterben«, sagte Obies Stimme. »Sie war vom Schacht umgewandelt worden und hatte außer als Mißgeburt im Kom-Bereich keine Aussichten, deshalb blieb sie. Sie ließ die anderen in dem Glauben, sie sei tot, weil sie wußte, daß der Kom-Bund mich sprengen würde, bevor er das Risiko lief, daß ich unkontrollierbar wurde. Ich holte uns heraus, dann schlossen wir uns zusammen. Die anderen — bei der letzten Zählung waren es einundsiebzig — stammen von verschiedenen Rassen, und wir haben sie auf unseren Reisen übernommen. Ausgestoßene mit unserer Zielbewußtheit, könnte man sagen.«

»Mir kamen sie sehr menschlich vor«, warf Yua ein.

Mavra lächelte.

»Obie hat eben gesagt, ich sei verwandelt worden. Ich war mißgestaltet. Er behob das, machte mich zu dem, was ich gewesen war. Er erhält mich jung und in bestem Zustand. Jeder von uns kann jede Gestalt annehmen, die Obie kennt oder sich vorzustellen vermag, mit allen Kräften oder Fähigkeiten, von denen wir meinen, wir brauchten sie.«

»Und welchem Anlaß verdanken wir das Vergnügen dieses Besuches?«fragte Marquoz. »Und weshalb sind wir hier?«

»Warum gerade Sie es sind, nun, das ist eher Zufall«, erwiderte Mavra. »Ein Glück, soviel ich sehen kann. Als Obie den Riß im Raum-Zeit-Kontinuum spürte, sind wir nämlich zuerst zur Schacht-Welt geflogen, um festzustellen, ob der Hauptcomputer beschädigt war.«

Yua hielt den Atem an.

»Sie haben den Heiligen Schacht der Seelen besucht?«

»Heilig hin, heilig her, ich habe auf dieser verrückten Welt viel zuviel Zeit verbracht.«

»War der Schacht nun beschädigt?«fragte Marquoz.

Sie nickte.

»Der Schacht-Computer war durch die eingesetzten, ungebremsten und unzureichend abgeschirmten Vernichtungsgeräte beschädigt«, erläuterte Obie. »Jetzt ist das noch keine große oder klaffende Wunde, aber der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum wächst. Der Schaden wird dadurch größer, da es das Loch und nicht der Schacht ist, der den natürlichen Zustand der Dinge darstellt. Der Schacht leistet Außerordentliches, um die Ausbreitung zu behindern, aber ausschalten kann er sie nicht.«

»Als wir den Ursprung des Problems aufgespürt hatten, landeten wir hier«, fuhr Mavra fort, »und konnten den Grund schnell feststellen, obwohl es uns nicht gelang, allzu nah heranzukommen. Obie verspürte so nah an der Verwerfung starke Schmerzen. Deshalb sind wir jetzt etwas weiter hinausgegangen.«

»Aber das erklärt uns nicht«, sagte Yua.

Mavra nickte.

»Darauf komme ich gleich. Nun, ich landete auf einer Grenzerwelt, um mich einzustimmen — seit damals hat der Kom-Bund sich wahrlich verändert —, und als erstes fragten mich ein paar Langberockte, ob ich Nathan Brazil sei. Es dauerte nicht lange, bis ich über die Gemeinde des Schachtes und ihre Führerinnen, die Olympierinnen, informiert war. Es fiel mir nicht schwer dahinterzukommen, wer die Olympierinnen sein mußten, obwohl ich schon maßlos überrascht war. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sie in der Lage sein würden, sich fortzupflanzen, schon gar nicht reinrassig.«

»Den Ersten Müttern wurden zwei männliche Nachkommen geboren«, warf Yua ein. »Darauf haben wir unsere Rasse aufgebaut.«

Mavra nickte und fuhr fort:»Ich sagte mir jedenfalls, daß ich mehr über diese Gemeinde wissen mußte, und zwar schnell, weil wir sie brauchen.«

»Der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum erweitert sich sehr schnell«, sagte Obie ergänzend. »Wenn man ihm nicht Einhalt gebietet, wird er den gesamten Kom-Bereich in hundertfünfzig Jahren verschlingen. Allerdings wird er schon in ungefähr hundert Jahren alles Leben vernichtet haben. Dann wird der Riß weitergehen — immer schnell sich ausdehnend. Ich kann ihn nicht reparieren. Das liegt nicht nur außerhalb meiner Kräfte, sondern während er sich erweitert, erzeugt er Störungen in der ganzen Wirklichkeit, wie wir sie kennen. Ich meine, nun, stellen Sie sich die ganze Wirklichkeit, das ganze Raum-Zeit-Kontinuum, als eine Art Bettlaken vor. Reißen Sie es in der Mitte auf und fangen Sie an, von allen Seiten daran zu ziehen. Nicht nur erweitert sich der Riß, sondern durch das ganze Laken laufen Kräuselungen. Der Raum, die Zeit, die ganze Wirklichkeit werden verzerrt und verlieren ihre Stabilität. Im Augenblick bemerken Sie diese Unbeständigkeiten noch kaum, aber sie werden, bevor es zu Ende geht, schlimmer werden, viel schlimmer.«

»Es gibt also nur eines, was wir tun können«, fuhr Mavra fort. »Wir müssen Nathan Brazil finden. Er hätte sofort, als sich das einstellte, zur Schacht-Welt gerufen werden müssen, um den Schaden zu beheben, aber das ist nicht der Fall gewesen. Entweder ist der Mechanismus beschädigt worden, oder er weigert sich aus irgendeinem Grund hinzugehen. Soviel wir wissen, ist er im ganzen Universum der einzige, der den Schacht-Computer reparieren kann. Entweder finden wir ihn, oder unsere Heimat hört auf zu existieren. So einfach ist das.«

Marquoz dachte nach. Er hatte an sich keinen Anlaß, der Frau zu glauben, aber angesichts seiner Kenntnisse auch keinen, an ihren Worten zu zweifeln. Trotzdem, es blieben Fragen.

»Ich muß wieder von vorne anfangen«, sagte er argwöhnisch. »Weshalb sind wir drei hier? Warum nicht ein Mitglied des Präsidiums oder der Ratspräsident oder jemand von ähnlicher Bedeutung?«

Mavra Tschang lächelte.

»Zum Teil war es Zufall, Ihre Rolle, meine ich. Ich hatte es auf Yua abgesehen.«

Die Priesterin merkte noch stärker auf, blieb aber stumm.

»Was wir am wenigsten kennen, ist die Geschichte der Gruppe, nachdem Obie und ich das Weite gesucht hatten«, erklärte Mavra. »Wir mußten also eine lebende Olympierin finden, und davon gibt es nicht viele. Wir zielten schließlich auf die Massenversammlung, um sie uns zu holen. Als sie ganz entrüstet zurückkam, lauschte ich und kam dahinter, daß sie den Kom-Bund um Hilfe ersuchte, Brazil zu finden. Ich beschloß, auf Sie zu warten.«

Marquoz nickte. Es ergab Sinn.

»Ich möchte mehr über Sie wissen«, sagte er zu Mavra. »Ich möchte wissen, wer Sie sind, und was Sie meinten, als Sie sagten, Sie wären Brazils Urenkelin.«

»Mich interessiert das auch«, fügte Yua hinzu.

Mavra lehnte sich zurück.

»Ich war früher eine Art Mädchen für alles, gegen Geld zu haben, für anständige Dinge, versteht sich. Ein Frachterkapitän, der Nebenaufträge übernahm. Rätin Alaina heuerte mich an, bei Treligs Vorführung dabeizusein. Das tat ich, und wir fanden uns plötzlich alle auf der Schacht-Welt wieder. Ich brauchte mehr als zwölf Jahre, um von dort fortzukommen. Was die Frage angeht, ob ich Brazils Urenkelin bin, handelt es sich in erster Linie darum, wie man das betrachtet. Ich war die Enkelin von Leuten, die Brazil zum Kom-Bereich zurückbrachte, nachdem sie auf der Schacht-Welt gewesen waren; er gab ihnen in neuen Körpern ein neues Leben. Als die Heimatwelt meiner Eltern totalitären Kräften anheimfiel, holte Brazil mich heraus — meine Großeltern, inzwischen alt geworden, waren auf die Schacht-Welt zurückgekehrt — und brachte mich zu einem Frachterkapitän. Durch chirurgische Eingriffe bekam ich Ähnlichkeit mit ihm.«Sie sah, wie Yua die Augen aufriß, und fügte hinzu:»Ich war damals noch ganz klein, und es war das einzige Mal, daß ich ihn sah.«

Sie richtete den Blick wieder auf Marquoz. »Nun, auf der Schacht-Welt traf ich auf meine Großeltern in neuer Gestalt. Sie gehörten zu den Leuten, die unseren Kampf mit Ben Yulin überlebten. Er verwandelte die ganze Gruppe in seine Traumfrauen — die Schweife waren ein nachträglicher Einfall, seine Art von Humor — meine Großeltern eingeschlossen. Sie wurden die Gründerinnen von Olympus, eure Ersten Mütter doch wohl.«

Yua war ein wenig bestürzt über die beiläufige Weise, in der man über ihren Glauben und die verehrten Ersten Mütter sprach, sagte aber nichts. Zigeuner dagegen war mit seinem Essen fertig und machte sich nun sorglos über das von Yua und Mavra Unberührte her.

Marquoz schwieg nachdenklich. Was sie sagte, war logisch, und er wäre der letzte gewesen, sich darauf zu versteifen, daß die Zinder-Vernichter nicht alles verpfuscht hatten. Das Loch wuchs ganz entschieden weiter, und sie waren alle machtlos, es zu stopfen.

»Sagen Sie, Yua«, meinte er bedächtig, »mit einem Minimum an Frömmigkeit und Religion etcetera, woher wissen Sie denn, daß Nathan Brazil Gott ist?«

Die Olympierin wirkte ein wenig überrascht, als sie sich plötzlich im Mittelpunkt sah.

»Aber zwei der Ersten Mütter — sie seien gepriesen — haben das gesagt. Sie erklärten, sie wären mit Nathan Brazil auf dem Planeten des Schachtes gewesen, und ER hätte ihnen nicht nur erklärt, ER sei Gott, sondern ihnen das auch durch SEINE Werke gezeigt.«

»Ah, meine Großeltern«, sagte Mavra. »Versteht sich.«

Der Chugach wandte sich der kleinen Frau zu.

»Und?«

»Obie versteht mehr davon als ich«, erwiderte sie achselzuckend. »Er hat ihre Erinnerungen bis zum letzten Abschied und auch die meinen viel vollständiger, als ich mich entsinne. Also, Obie?«

Der Computer antwortete nicht, aber sie hörten das Surren der kleinen Parabollampe über der Plattform. Marquoz schrie auf und wollte von der Plattform springen, aber es war schon zu spät. Der violette Strahl erfaßte sie alle.

Sie befanden sich an einem seltsamen Ort, ohne jede Ähnlichkeit mit irgendeinem zuvor gesehenen. Es gab Wände mit unverwechselbaren Steuerelementen, Schaltern, Hebeln, Tasten und offenbar einem großen Bildschirm. Nein, kein Bildschirm, sahen sie, sondern ein langer, dunkler Tunnel, ein gewaltiges Oval, zurückreichend, so weit das Auge reichte oder die Perspektive den Blick gewähren ließ. Als sie genauer hinschauten, konnten sie sehen, daß die Schwärze von Billionen winziger, kohlschwarzer Punkte, Knöpfen ähnlich, hervorgerufen wurde, vor dem Grau-Schwan der sie einfassenden Oberfläche so nah zusammengedrängt, daß sie selbst die Wände zu sein schienen. Zwischen den schwarzen Punkten zuckten in wilder Geschäftigkeit elektrische Blitze, Billionen flackernder, haardünner Lichtbogen von einem kleinen, schwarzen Punkt zum anderen, scheinbar wahllos, obwohl sie aus irgendeinem Grund wußten, daß alles einem Plan entsprach.

Sie waren nicht allein in der Kammer. Drei waren menschlich: eine junge, geschlechtslos gemachte Frau aus einer der insektenartigen Kommunalwelten, eine zweite, junge Frau, voll entwickelt, aber schwach und ausgezehrt wirkend, und ein Junge, ebenfalls aus einer der Klon- und Gen-Manipulations-Fabriken. Bei ihnen befanden sich, was eine Meerjungfrau zu sein schien, auf einem Riesenwesen von der Art einer gigantischen, fremdartigen Küchenschabe reitend; ein grünes Pflanzenwesen mit einem Kopf vom Aussehen eines gekrümmten Kürbis und langen, dünnen, rankenartigen Gliedern; ein mächtiges Wesen, das aussah wie ein menschlicher Rumpf mit sechs Armen und ein walroßartiges, schnurrbärtiges Gesicht auf einem zusammengerollten Schlangenkörper — und die Erscheinung, die auf irgendeine Weise bewirkte, daß alle anderen irgendwie verwandt zu sein schienen.

Es war gallertartig, eher formlos, ein gigantisches, schlagendes, pulsierendes Herz auf sechs langen, kräftigen Tentakeln. Es schien weder Augen noch Ohren noch irgendwelche anderen Sinnesorgane zu besitzen.

»Das fremdartige Wesen ist ein Markovier«, konnten sie Obies Stimme erläutern hören. »Das ist Nathan Brazil in seiner wahren Gestalt. Ihr befindet Euch im Inneren des Schachts der Seelen, in einem Kontrollraum für eine der Rassen, vermutlich der unsrigen, so, wie die beiden Frauen — Vardia und Wu Julee, zwei von Yuas Ersten Müttern, übrigens nicht zufällig Mavras künftige Großeltern — sich daran erinnerten.«

Sie nahmen jetzt wahr, daß die Szene, dreidimensional und lebensecht, in Wirklichkeit ein Bild war, erstarrt und unverrückbar. Obie wählte nun seinen Ausgangspunkt, und die Szene begann abzulaufen. Zum erstenmal sahen sie, daß die sechsarmige Walroß-Schlange neben anderen eine Waffe auf das Wesen richtete, das Obie Nathan Brazil nannte.

»Nate! Zurück!«warnte der Schlangenmann drohend. »Du kannst getötet werden, das weißt du!«

Die pulsierende Masse neigte sich dem Schlangenwesen ein wenig zu.

»Nein, Serge, das kann ich nicht. Das ist nämlich das Problem. Ich habe euch gesagt, daß ich kein Markovier bin, aber niemand wollte darauf hören. Ich bin hergekommen, weil ihr die Steuertafel beschädigen und einer Rasse Schaden zufügen könntet, von der ich vielleicht nicht einmal etwas weiß. Ich wußte, daß ihr das hier nicht gebrauchen könnt, aber ihr seid jetzt alle ganz wahnsinnig geworden, und einer oder mehrere von euch könnten zerstören, könnten die Gefahr auf sich nehmen. Aber in eurem Wahnsinn ist keiner von euch auf den Gedanken gekommen, die eigentliche Frage zu stellen, die eine unbeantwortete Frage in dem Rätsel. Wer hat die markovische Gleichung stabil erhalten, die grundlegende für das Universum?«

Es herrschte plötzlich betäubtes Schweigen, abgesehen von einem unheimlichen Wamm, Wamm, Wamm wie dem Pochen eines großen Herzens. Schließlich sprach Brazil weiter.

»Ich bin aus der ungerichteten Urenergie des Kosmos gebildet worden. Nach zahllosen Jahrmilliarden erlangte ich Selbst-Bewußtsein. Ich war das Universum und alles in ihm. Über die Äonen hinweg begann ich zu experimentieren und spielte mit den wahllosen Kräften ringsum. Ich bildete Materie und andere Formen der Energie. Ich schuf Zeit und Raum. Aber bald wurde ich sogar dieser Spielsachen müde. Ich bildete die Galaxien, die Sterne und Planeten. Ein Gedanke, und sie waren. Ich sah die Dinge sich bilden und wachsen, den Regeln zufolge, die ich aufstellte. Und auch ihrer wurde ich müde. So schuf ich die Markovier und sah sie nach meinem Plan sich entwickeln. Aber selbst damals war die Lösung nicht befriedigend, denn sie kannten und fürchteten mich, und ihre Gleichung war zu vollkommen. Ich kannte ihre gesamte Entwicklungslinie, also veränderte ich diese. Ich führte einen Zufallsfaktor in die markovische Gleichung ein und löste dann den direkten Kontakt mit ihnen. Sie wuchsen heran, sie entwickelten sich, veränderten sich. Sie vergaßen mich und breiteten sich von selbst aus. Da sie indes geistige Spiegelungen von mir waren, litten auch sie an meiner Einsamkeit. Ich konnte mich ihnen, so, wie ich war, nicht anschließen, weil sie mich gefürchtet und mit Ehrfurcht behandelt hätten. Sie dagegen hatten mich vergessen, und während sie sich geistig erhoben, starben sie materiell. Es gelang ihnen nicht, heranzureifen und mir gleichberechtigt zu werden, meine Einsamkeit zu beenden. Ihr Stolz wollte ein Wesen wie das meine nicht als Genossen anerkennen, und ebensowenig konnten ihre eigenen Ängste und ihre Eigensucht zulassen, daß sie zueinander fanden. So beschloß ich, einer von ihnen zu werden. Ich schuf eine Markovierhülle und schlüpfte hinein.«

Die Szene erstarrte wieder, und Obies Stimme sagte:»Eine Wiedergabe des letzten Vorkommnisses vor über tausend Jahren, als man den Schacht der Seelen betrat und Änderungen vornahm. Obwohl die Wirklichkeit dessen, was ihr miterlebt habt, ein wenig anders sein mag, weil es aus dem Gedächtnis rekonstruiert worden ist, hatte ich zwei Schilderungen zur Verfügung, so daß alles ziemlich genau zutrifft.«

Sie fanden sich auf der Plattform wieder, und der kleine Parabolschirm kehrte bereits an seinen Platz zurück. Zigeuner stellte fest, daß Obie die Gelegenheit benützt hatte, um den Tisch abzuräumen.

»He, Computer!«rief der schwarzhaarige Hochstapler. »Wir könnten ein Vermögen machen, wenn wir so etwas im Theater vorführten.«Er wurde nicht beachtet.

»Der endgültige Beweis!«sagte Yua selbstzufrieden. »Jetzt seht ihr, daß wir recht haben. Ihr seht das Problem und die Dringlichkeit. Wir wollen Nathan Brazil finden, damit wir IHN anbeten und SEINE Gnade erbitten können.«

»Obie?«sagte Marquoz mit einer Spur von Zynismus. »Hat ihm jedermann diese Geschichte abgenommen?«

»Ortega nicht — der Ulik oder die sechsarmige Schlange, die Ihr gesehen habt. Auch nicht das Zwillingswesen Vardia, die Pflanze, eine Czillanerin, die mit Ortega darin übereinstimmt, daß Brazil ein wahnsinniger Markovier-Außenseiter sei, der an dem großen Experiment einfach nicht teilgenommen habe und möglicherweise Betriebsleiter des Schacht-Computers gewesen sei — der Chefmechaniker, wenn man will — mit dem Auftrag, dafür zu sorgen, daß alles richtig funktionierte. Ein Großteil der Schacht-Welt hält ihn nach wie vor dafür.«

»Und was meinst du?« drängte Marquoz.

»Daß es einen Ersten Schöpfer gegeben hat — möglicherweise in der Art, wie er behauptet —, stimmt mit dem überein, was wir über die Dynamik unseres Universums wissen«, erwiderte der Roboter. »In Nathan Brazils Charakter gibt es sehr viele Unstimmigkeiten. Manches deutet darauf hin, daß wahr ist, was er sagt, manches, daß er viel weniger ist, als er angibt. Ortega ist ein Neuankömmling auf der Schacht-Welt. Er war ursprünglich ein Kom-Frachter-Kapitän, der wie Brazil in ein Mitglied der Rasse verwandelt wurde, wie Ihr es gesehen habt. Ortega kannte Brazil persönlich und beruflich und glaubte selbst nach dieser Vorführung nicht. Ich ziehe es wie Ortega und die Czillanerin vor, mit meinem Urteil abzuwarten. Ortega war nach eigenem Eingeständnis ein Lügner, Dieb und Schurke; er hat Brazil genauso charakterisiert. Ich möchte aber meinen, daß es gar keine Rolle spielt, ob wir Brazil für einen Gott halten oder nicht. Das liegt völlig neben der Sache und könnte etwas sein, das wir niemals genau wissen werden. Das einzige, was feststeht, ist, daß er weiß, wie man die ungeheure Maschine, die Schacht der Seelen genannt wird, bedient. Als solcher ist er nach unserem Wissen das einzige Wesen, das ihn reparieren könnte. Da er den Schacht so eingestellt hat, daß er ihn bei jedem Problem ruft, müssen wir davon ausgehen, daß das geschehen ist — ich habe den Ruf sogar abgehört. Daher müssen wir annehmen, daß Brazil, falls er noch am Leben sein sollte, es vorgezogen hat, den Hilferuf nicht zu beantworten. Warum das? Bei dem damaligen Vorfall hatte er einen Großteil seiner Erinnerung verloren. Das oder etwas ähnlich Schädigendes könnte ihm auch jetzt zugestoßen sein. Dann ist es sogar noch wichtiger, daß wir ihn finden. Als er das letztemal im Schacht war, stellte er ihn so ein, daß er sich für keinen außer ihm selbst öffnet.«

Marquoz seufzte.

»Dann ist ja alles klar. Fangen wir an.«

Die Hohepriesterin wirkte erstaunt, aber auch erfreut.

»Wir werden viel Hilfe brauchen«, betonte Mavra Tschang. »Er wird sich gut versteckt haben. Selbst wenn es uns gelingen sollte, ihn auszugraben, kommt er vielleicht dahinter und vergräbt sich noch tiefer — falls sein Verschwinden in der Tat Absicht ist und nicht ein Anzeichen für etwas Unheilvolleres. Wir können uns nicht an die Regierung wenden — dort besitzt er offenbar großen Einfluß. Also die Gemeinde.«

Yua war hingerissen.

»Wir werden natürlich alle Hilfsmittel für die Suche einsetzen. Ich werde veranlassen —«

»Ich werde veranlassen!«zischte Mavra. »Ich glaube, ich muß erst sehen, wer und was sich mit mir zusammentut.«

»Aber Sie können nicht nach Olympus!«wandte Yua ein. »Es ist verboten — und Sie könnten dort ohnehin nicht überleben. Sie haben dafür nicht die physische Anpassungsfähigkeit!«

Mavra lächelte.

»Doch. Marquoz, würden Sie und Zigeuner von der Plattform treten und sich dort hinstellen, wo wir waren, als das Essen serviert wurde?«

»Mit Vergnügen!«sagte Zigeuner und entfernte sich von der Plattform möglichst weit. Auch Marquoz war nicht begierig darauf, sich der Prüfung durch den Computer mehr als nötig auszusetzen.

»Obie, du weißt, was du zu tun hast«, sagte Mavra.

»Richtig, Mavra«, antwortete der Computer freundlich. Der Parabolspiegel drehte sich heraus. Yua stand auf und wollte etwas sagen, vielleicht protestieren, aber es war schon zu spät. Die Gestalten, der Tisch, die Stühle — alles wurde von dem violetten Glanz eingehüllt und verschwand. Die Plattform war leer.

»Also, was…?«begann Zigeuner, aber Marquoz hob eine kleine, grüne Hand.

Und da waren sie. Zwei Gestalten tauchten auf, ohne das Mobiliar.

Vor ihnen standen zwei Yuas, völlig gleich aussehend. Zwei Hohepriesterinnen.

»Yua, Sie werden mich zum Tempel bringen. Wir nehmen ein gewöhnliches Raumschiff; ich möchte keinen Verdacht erregen«, sagte eine der Erscheinungen.

Die zweite Yua drehte sich um und kniete vor der Sprecherin nieder.

»O ja, Herrin«, sagte sie leise. »Ihr braucht nur zu befehlen, und ich muß gehorchen.«

»Erinnere mich daran, daß ich ja nicht auf die Plattform steige, ja?«sagte Marquoz beiläufig zu Zigeuner.

Zigeuner nickte zerstreut.

»Das Ding ist mir einfach zu schnell«, meinte er trocken.

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