Nautilus

Die Kom-Computer waren, Obie ausgenommen, die größten und schnellsten Datensammler,—«analysatoren und Verteiler von Wissen im Kom-Bereich des Weltraums. Hinzugefügt worden war Obie, eine angenehme menschliche Persönlichkeit, die die Fähigkeit, Millionen verschiedener, komplizierter Projekte gleichzeitig auszuführen, unter einer Maske verbarg.

Trotzdem beklagte er sich nie über die Langsamkeit des menschlichen Denkens. Obie betrachtete sich als menschliches Wesen und verhielt sich dementsprechend.

Über die Geschwindigkeit und Vielseitigkeit, die zur Verfügung standen, hinaus, mußte man sich mit den Problemen von Bürokratie und interstellaren Entfernungen herumschlagen. Was man an Informationen benötigte, wäre Obie vermutlich in Sekundenbruchteilen verfügbar gewesen — wenn er die Daten besessen hätte. Diese wurden jedoch auf tausend Planeten innerhalb eines riesigen Gebietes gesammelt, von Millionen Abteilungen, dann gespeichert, schließlich korreliert, zuletzt — manchmal erst Jahre später — den höheren Behörden übermittelt. Die Suchenden konnten nicht darauf warten, bis diese Informationen endlich an die Kom-Zentrale gelangten; sie mußten hingehen und sie selbst einholen.

Und das war die Aufgabe der Gemeinde des Schachtes. Die Akoluthen sondierten, sortierten, speicherten und gaben weiter, was sie konnten. Sie waren überall. Wenn sie die Informationen kostenlos erlangen konnten, taten sie das; wenn es amtlicher Sanktionierung bedurfte, wurde sie erlangt; wenn das nicht ging, flehten oder bestachen sie oder stahlen, was sie brauchten. Mavra Tschang war einmal Expertin für Computerdiebstahl gewesen; Obie erwies sich als noch besserer Lehrer.

Gelegentlich wurden Akoluthen mit der Hand in der Informationskasse ertappt. In solchen Fällen kümmerte sich Marquoz direkt um menschliche und niedrige Behörden; wenn alles andere scheiterte, konnten Mavra und die Besatzung von Nautilus jeden überall herausholen. Brauchte man eine Tarnung, so durfte man sich darauf verlassen, daß Obie sie lieferte.


* * *

Obie arbeitete an den drei gemeinsamen Punkten von Brazils Vergangenheit.

Es gab nur noch eine kleine Zahl von jüdischen Gemeinschaften, die sorgfältig überwacht wurden. Dann der Beruf — Brazil war immer Kapitän gewesen. Das verschaffte ihm Beweglichkeit, Frieden und Ruhe nebst Anonymität — all das brauchte er. Als Mavra von der Befreiung zweier Akoluthen zurückkehrte, die angeschuldigt waren, weggeworfene Unterlagen gestohlen zu haben, wollte sie von Obie hören, was sich ergeben hatte.

»Fortschritt ist, was man darunter versteht«, sagte Obie philosophisch. »Bis jetzt habe ich immens viel Informationen über jüdische Kapitäne gesammelt — es gibt enorm viele davon, wenn man bedenkt, wie klein die Minderheit ist —, aber sehr wenig Konkretes. Ich habe eine Reihe von Kandidaten, die alle nicht Nathan Brazil sein mögen. Ich brauche eine zusätzliche Korrelation.«

»Wovon zu was?«

»Alle jüdischen Kapitäne und Brazils Leben und sein Verschwinden — das sind die Daten, die immer noch einlaufen. Melden Sie sich in zwei Stunden, wenn ich alles habe. Da kann ich vielleicht Genaueres sagen.«

Sie ging also an die Oberfläche und bat Marquoz und einige der Olympierinnen, sich später mit ihr zu treffen. Am späten Nachmittag, als Mavra sich mit Obie wieder in Verbindung setzte, war er weitergekommen.

»Wissen Sie, was ein Rabbi ist?«fragte er unvermittelt.

Sie räumte ein, daß sie es nicht wußte.

»Nun, das ist ein Priester im jüdischen Glauben — nur hat er keine mystischen Kräfte, weder echte noch eingebildete. Der Ausdruck bedeutet wörtlich ›Lehrer‹ und zeigt an, daß er sich auf jüdisches Gesetz und jüdische Kultur spezialisiert hat, so daß er ein Experte ist — wie jeder andere akademische Beruf eben auch das Ergebnis von Ausbildung ist. Jeder jüdische Tempel hat einen Rabbi, von der Gemeinde seiner Kenntnisse im Glauben halber ausgewählt. Aber es gibt sehr viele Rabbis, die keine Gemeinde haben, die sogar andere Berufe ausüben, aber trotzdem für Experten gehalten werden und andere Leute unterrichten können. Viele davon spezialisieren sich auf die Feinheiten des Gesetzes und leben den Glauben, obwohl sie ihr Geld in weltlichen Berufen verdienen. Im Grunde durchaus faszinierend. Wissen Sie zum Beispiel, daß es drei Rabbis gibt, die gleichzeitig Frachterkapitäne sind?«

Sie war erstaunt.

»Kapitäne? Religiöse Lehrer?«

»Sehen Sie, was ich meine. Und trotzdem ist das ein dreifach gutes Leben, weil es nicht nur lukrativ ist und viel Zeit für das Studium bietet, sondern sich auch als der beste Weg erweist, die kleinen, über Hunderte von Welten verstreuten Gemeinden zu erreichen. Von den dreien haben alle zu irgendeiner Zeit Tätigkeiten ausgeführt, an denen auch Brazils Schiff beteiligt war. Zwei davon scheinen im Lauf der Jahre — ja, Jahrzehnte — engen Kontakt mit Brazil gehabt zu haben, so daß sie als seine Freunde gelten dürfen. Aber nur einer ist Besitzer eines eigenen Schiffes; die anderen arbeiten für Reedereien. Ich war schon früher darauf gestoßen, verwarf den Mann aber, weil er zu den Chassidim gehört — der strengsten Sekte oder Abart des Judaismus, deren Mitglieder sich an starre Vorschriften für Kleidung, Essen, religiöse Formen und Verhaltensweisen halten müssen. Die Chassidim existieren in einer modernen Welt, ohne Kompromisse zu schließen, und bleiben bei ihren Jahrtausende alten Gesetzen. Ich hatte nicht damit gerechnet, Brazil in einer solchen Rolle zu finden, weil er ganz offensichtlich nur wenige dieser Vorschriften beachtet hat. Außerdem ist der bewußte Rabbi alt; er hat bereits zwei Verjüngungen hinter sich und ist größer und dicker als Brazil, mit weißem Vollbart. Aber heute eingegangene Daten überzeugen mich von der Logik des Ganzen.«

»Ich kann zwar einsehen, daß das eine leicht anzulegende Maske wäre«, sagte Mavra, »aber darüber hinaus?«

»Nun, ich konnte für einen Zeitraum von drei Jahrzehnten die Flugroutenbeschreibungen vom Schiff dieses Mannes und Brazils ›Stehekin‹ rekonstruieren. Sie wären entsetzt, wenn Sie sähen, wie oft ihre Wege übereinstimmen — und man darf nicht vergessen, daß sie beide Eigner ihrer Schiffe sind, so daß sie nicht gehalten waren, sich einem Routenchef zu unterwerfen. Ihre Nebenausflüge interessierten mich besonders. Sie besuchten in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren praktisch jede streng jüdische Gemeinschaft. Während der zwanzig Jahre vor Brazils Verschwinden hatten sie bei der einen oder anderen Gemeinde gemeinsam die höchsten jüdischen Feiertage mitgefeiert. Sie kannten einander über sehr lange Zeit hinweg sehr gut.«

»Aber scheidet er damit nicht aus? War es nicht Brazils Arbeitsmethode, an die Stelle eines jungen Mannes zu treten?«

»Das hier ist genausogut. Ein alter Mann, der alle seine Zeitgenossen überlebt hat. Ein Frachterkapitän von hohem Ruf und bekanntem Namen. Aber wichtiger noch ist, daß Brazil und dieser Mann sich ungefähr sechs Monate vor Brazils Verschwinden auf einem kleinen Planeten trafen. Unser Mann war alt, er hatte medizinische Probleme, seine Untersuchung stand bevor, und ohne Verjüngung konnte er praktisch nicht durchkommen — die medizinischen Unterlagen zeigten indessen an, daß er eine weitere Verjüngung einfach nicht auszuhalten vermochte. Vier Monate danach kam er jedoch mit fliegenden Fahnen ohne Verjüngung durch eine vollständige Untersuchung!«

»Vier Monate?«sagte Mavra verwirrt. »Du hast doch gesagt, sie hätten sich sechs Monate vorher getroffen.«

»Sicher! Verstehen Sie denn nicht? Damals tauschten sie die Identität. Brazil nutzte die verbleibende Zeit, um den Rest dessen zu beschaffen, was er brauchte, um diesen Mann glaubhaft darzustellen, dann wurde er zu ihm, während der alte Rabbi als Brazil mit der ›Stehekin‹ davonflog — als ein Brazil demnach, der seine eigene Untersuchung erst ein Jahr zuvor bestanden hatte und die nächste erst in drei Jahren über sich ergehen lassen mußte.«

»Muß denn nicht jemandem aufgefallen sein, daß Brazil sich in einen alten Mann verwandelt hatte?«fragte sie.

»Gewiß. Wenn man ihn gesehen hat. Falls er aber Häfen bediente, wo man ihn nicht kannte, und wenn er in seinem Schiff blieb, entstand gar kein Rätsel. Die ›Stehekin‹ nahm während dieser Zeit keine Passagiere auf, beförderte jedoch Fracht. Zwei Monate nach dem Tausch wird für einen ›Überfall‹ gesorgt. Brazil kommt um. Fertig.«

»Und was ist aus dem Mann geworden, den er ersetzt hat? Ist er gestorben oder was sonst?«

»Mag sein. Das kommt darauf an. Überlegen Sie, was Brazil ihm bieten konnte. Ein alter Mann, der überall gewesen war und alles gesehen hatte, dem man Lebensunterhalt und Lebensfreude wegnehmen wollte — man muß den Weltraum lieben, wenn man zweihundert Jahre darin arbeitet —, mit der Aussicht, bald zu sterben. Was Brazil ihm bieten konnte, war ein neues Leben in einem neuen Körper, eine Wiedergeburt, neue Erlebnisse und neue Abenteuer!«

Mavra schalt sich eine Närrin.

»Natürlich! Markovier-Tore gibt es überall! Brazil hätte ihm erklären können, wie man sie benützt, ihn vielleicht sogar zu einem davon führen können. Er ist auf die Schacht-Welt gegangen!«Obie lachte leise.

»Möchte wissen, was er jetzt für ein Wesen ist. Ich würde zu gern sehen, wie es ihm gelingt, koscher zu leben.«

»Was?«

»Lassen Sie nur. Nicht wichtig. Ich bin überzeugt davon, daß Nathan Brazil jetzt Rabbi David Korf ist, Kapitän des Fracht-Raumschiffs ›Jerusalem‹.«

»Dann brauchen wir nur noch herauszufinden, auf welchem Planeten die ›Jerusalem‹ als nächstes landet, und sie dort erwarten!«sagte Mavra erregt.

»So sieht es aus«, bestätigte Obie. »Bis auf einen Punkt. Nach dem Tausch wechselte Korf sein Arbeitsgebiet total — wohl, um die Gefahr, Leuten zu begegnen, die den richtigen Korf genau kannten, möglichst geringzuhalten. Der Haken bei der Sache ist, daß er ein völlig unabhängiger Mann ist. Es könnte Jahre dauern, bis die Dokumente, die für einen solchen unabhängigen Unternehmer belangvoll sind, eingereicht werden. Ich habe alles überprüft, finde aber nach einem Zeitpunkt von ungefähr vor sechs Jahren keinen Hinweis darauf, daß die ›Jerusalem‹ je einen Beförderungsvertrag abgeschlossen oder in unserer kleinen Ecke des Weltraums irgendeine Fracht befördert hätte. Brazil hat nicht nur seine Nummer mit dem Verschwinden abgezogen, diesmal scheint er auch sein Raumschiff mitgenommen zu haben.«

Dem Lizenzierungsamt zufolge war Rabbi Korf in der Tat zurückgekehrt und hatte seine Lizenz erst ein Jahr zuvor erneuert. Das war rätselhafter als ein völliges Untertauchen. Die letzte Erneuerung zeigte an, daß Korf und die ›Jerusalem‹ noch Dienst taten und sogar einer Neubewertung bedurften. Aber wo? Und für wen? Es gab keine Angaben darüber.

»Streng privat, vielleicht?«meinte Marva. »Etwa illegal?«

Marquoz, der kurz vor den anderen erschienen war, zeigte sich skeptisch.

»Wenn so illegal, warum dann die Erneuerung, die Bestätigung seiner Identität? Wenn nicht, dann braucht er die Tarnung — also ging es auch um legale Geschäfte. Nein, ich glaube, er transportiert noch immer ganz offen und legal Fracht zwischen Kom-Welten.«

»Ausgeschlossen«, sagte Obie. »Wir haben alle Welten im Auge, wie Ihnen die Leute von der Gemeinde bestätigen werden.«

Marquoz legte den Reptilkopf auf die Seite und lächelte spöttisch.

»Nein, habt ihr nicht. Durchaus nicht. Was deine Gemeinde im Auge hat, sind menschliche Welten. In nicht-menschlichen Gebieten sind die Akoluthen nicht sehr beliebt — und genau dort könnte man der Sekte doch am besten ausweichen.«

Obie schwieg kurze Zeit.

»Die Kosten meiner Konstruktion waren astronomisch hoch«, sagte er dann, »mein Erbauer war vielleicht das größte Genie der Menschheit. Ich kann jede Berechnung in einem so kurzen Zeitraum bewältigen, daß er dem organischen Hirn unbegreiflich ist. Vielleicht verraten Sie mir, warum ich daran nicht gedacht habe.«

»Ganz einfach«, sagte Mavra trocken. »Obie, dein Problem ist, daß du denkst wie ein menschliches Wesen, nur schneller.«

»Also gut«, gab der Computer zurück. »Was nun? Im Kom-Gebiet gibt es viele nicht-menschliche Welten, die mit den menschlichen verbündet sind, und wir haben weder die entsprechenden Archive noch das geeignete Personal, das die Daten beschaffen könnte.«

»Ich würde mich mit den verbündeten und assoziierten Welten nicht abgeben«, erklärte Marquoz. »Wenn er ausschließlich dort tätig wäre, brauchte er sich nicht umzumelden. Nein, er hält sich im Kom-Bund selbst auf, also bei einer von sehr wenigen Rassen. Einige können wir sofort ausscheiden — zum Beispiel meine eigene, die ausschließlich von einer nationalisierten Reederei bedient wird; weiterhin die nicht-organischen Jungs, weil die ganz anderen Handel treiben; auch die nicht auf Kohlenstoff beruhenden, nach meiner Meinung. Er hat den menschlichen Sektor gemieden, weil er nicht die ganze Zeit in seinem Schiff sitzen wollte. Er hatte Lust, unter die Leute zu gehen, also dort, wo wir ohne künstliche Hilfen die Luft atmen und den Schnaps saufen können. Damit wird das Feld aber ziemlich klein, nicht?«

»Das finde ich auch«, sagte Obie. »Das Schema ist beständig. In meinen Speichern stellte ich fest, daß er schon immer eine Vorliebe für Rhone-Zentauren gehabt hat — die auf der Schacht-Welt Dillianer genannt werden. Sie entsprechen auch allen anderen Punkten —, obwohl das seinerseits ein Problem ist, weil die Rhone selbst eine raumfahrende, sich ausdehnende Rasse sind, beinahe so groß wie die Menschheit, möglicherweise älter und viel weiter verbreitet. Ohne die Hilfe der Gemeinde wird es verzweifelt schwer sein, ihn aufzuspüren. Er hat gut gewählt.«

»Ich glaube nicht, daß das so schwer sein kann«, sagte Mavra plötzlich. »Ich weiß zwar nichts von ihnen und ihrer Kultur — ich bin nur einmal kurz in Dillia gewesen, was nicht zählt —, aber wenn die Rhone sehr weit fortgeschritten sind, haben sie ihre eigene Bürokratie und zentralen Steuerungen. Sie führen irgendwo Aufzeichnungen und verstehen davon gewiß soviel wie die Menschen.«

»Schlimmer können sie kaum sein«, schnaubte Marquoz.

Sie lächelte und nickte.

»Dann suchen wir also diese Daten.«

Alle Blicke richteten sich auf Marquoz. Er seufzte.

»Also gut«, sagte er. »Ich will sehen, was ich tun kann.«

Es erforderte zehn Tage und einen kleinen Einbruch. Die Rhone, weit besser organisiert als der Kom-Bund selbst, verlangten in fünf zentralen Marinebezirk-Ämtern Schiffslisten, damit diese, wenn sie überfällig waren, aufgespürt werden konnten. Die menschlichen Kom-Gebiete forderten lediglich, daß das Schiff vor dem Abflug an zwei Stellen Unterlagen einreichte; in vielen Fällen unterblieb selbst das.

Als Rhone getarnt und mit säuberlich gefälschten Anweisungen versehen, schickte man sieben von der Nautilus-Besatzung zu jedem Marinebezirk. Sie mußten einen Marineoffizier von mittlerer Rangstufe finden, der Zugang zu Verkehrsunterlagen hatte. Je dienstjünger er war, desto besser — solange er die Codes und Parolen kannte und die richtigen Ausweise besaß, auf welche die Rhone sich besonders verließen.

Als die Informationen eintrafen, ließ Marquoz von Obie einen Computerausdruck anfertigen, damit die anderen ein Hilfsmittel besaßen. Der dritte Bezirk zeigte deutlich, was sie suchten, wie Obie ihnen sofort hätte mitteilen können, wenn er gefragt worden wäre. Er verstand die Leute aber gut genug, um ihnen ein paar kleine Siege zu überlassen.

»Da steht es«, sagte Marquoz und wies auf eine einzelne Zeile. »›Jerusalem‹, HC 23 A 768744, Klasse M, umgebaut, Ankunft Meouit 27 HYR. Muß nichts Wertvolles befördert haben, weil alle Verschlüsselungen fehlen. Vermutlich Korn oder Bier oder dergleichen.«

Mavra lächelte.

»Soviel ich weiß, würde Nathan Brazil gegen eine Ladung Bier nichts einzuwenden haben.«

»Ich auch nicht«, gab der kleine Drache zurück. »Das Datum 27 HYR entspricht, glaube ich, dem 24. Juni. Das wäre in fünf Tagen. Weiß jemand, wo dieses Meouit ist?«

»Obie weiß es«, sagte Mavra zuversichtlich. »Ich glaube, wir werden vor ihm da sein.«Sie seufzte. »Es ist wohl an der Zeit, einen Kriegsrat einzuberufen. Wir wissen jetzt, wo der Mann, für den wir ihn halten, in fünf Tagen sein wird. Wir müssen aufpassen, daß wir das nicht verpatzen.«

Sie versammelten sich erneut. Auf einer Seite der Brücke befand sich der fast nie benützte Haupt-Kontrollraum. Obie überwachte sich und die gigantische Maschinerie von Nautilus jetzt ganz allein. Auf der anderen Brückenseite lag der kleine Raum mit der Parabolschüssel und dem instrumentenübersäten Balkon. Das war Zinders Labor gewesen, und Obie bevorzugte den Ort als sein ›Büro‹, sein wahres ›Zuhause‹, für Sitzungen.

Fünf Olympierinnen versammelten sich in ihren großen Umhängen, drei Aphrodites und zwei Athenen, dazu Mavra, Zigeuner und Marquoz.

Als sie alle saßen, Marquoz ausgenommen, der nirgends anders saß als auf seinem Schwanz, eröffnete Obie die Konferenz.

»Zuerst möchte ich das Selbstverständliche aussprechen«, begann er. »Wir sind auf direktem Kurs unterwegs nach Meouit. Mit einem Raumschiff würden wir Wochen brauchen. Ich warte auf die Mitteilung der Besatzung an der Oberfläche, daß unsere anderen Gäste für das, was wir den ›Fall‹ nennen, gesichert sind. So wird es sich anfühlen — als stürzten Sie einen tiefen Schacht hinunter. Bitte, erschrecken Sie nicht; das geht vorüber. Selbst ich verspüre dabei Unbehagen, vor allem, seit es den Riß im Raum-Zeit-Kontinuum gibt. Gut. Sie dürfen zuallererst nicht vergessen, daß wir trotz der monatelangen, harten Arbeit nur mutmaßen, Rabbi Korf sei in Wahrheit Nathan Brazil. Es besteht eine, wenn auch von mir gering eingeschätzte Möglichkeit, daß Korf Korf ist. Darauf müssen wir für alle Fälle vorbereitet sein.«

»Du hast Kräfte«, sagte eine der Olympierinnen. »In manchen Fällen kannst du sogar Leute von irgendwo hierherbefördern. Warum tust du das nicht einfach auch mit Korf, um jedes Problem zu umgehen? Wir könnten hier bei geringem Risiko feststellen, was wir wissen müssen.«

»Was Sie sagen, trifft zu«, räumte Obie ein, »aber nur bis zu einem gewissen Grad. Um, wie Sie sagen, Individuen hierherzubefördern, muß ich da unten einen Sensor haben, der auf den Betreffenden eingepeilt ist. Mavra ist in den Fällen, die Sie kennen, dieser Brennpunkt gewesen, aber wir können nicht sicher sein, daß wir nah genug herankommen und lange genug an der Stelle bleiben können, um das zu ermöglichen. Vergessen Sie, bitte, auch nicht, daß dieser Mann, wenn er Nathan Brazil ist, wie ein Mensch aussehen, aber etwas sein wird, das wir nicht sind — Teil eines anderen Universalplanes. Wir sind alle — alle miteinander — Nebenerscheinungen der markovischen Gleichungen. Unsere Wirklichkeit wird aufrechterhalten von dem großen Computer, den die Markovier konstruiert haben, dem Schacht der Seelen. Nathan Brazil dagegen nicht. Er ist von diesem Computer unabhängig, außer darin, daß er ihm hilft, die von Brazil gewählte Erscheinungsform beizubehalten, und ihn vor dem Tod zu schützen. Er könnte ihn auch davor schützen, von mir heraufgeholt zu werden. Er könnte mich schwer beschädigen, während ich versuche, Brazil zu befördern, obwohl er nicht zu den Grundgleichungen gehört. Das dürfen wir nicht riskieren, jedenfalls so lange nicht, bis wir mehr wissen. Nein, direktes Handeln ist nicht zu umgehen. Wir müssen ihn überzeugen, daß er zu uns kommen muß.«

»Dann sehe ich ein schweres Problem voraus«, warf Mavra ein. »Er hat sich große Mühe gegeben, nicht entdeckt zu werden. Wenn er merkt, daß wir ihm auf die Schliche gekommen sind, wird er flüchten, und wir finden ihn vielleicht nie rechtzeitig. Wir müssen vorsichtig und im geheimen vorgehen — alle Fluchtwege müssen abgeschnitten sein.«

»Das ist lächerlich!«schnaubte eine der Athenen. »Wenn ER gefragt wird, ob ER wirklich Nathan Brazil sei, wird SEIN großer Plan Erfüllung finden, und ER wird SEINE wahre Macht zeigen.«

»Woher wißt ihr das so genau?«fuhr Mavra auf. »Ja, ja, alles hat sich bisher so ergeben, wie euer Glauben das behauptet — aber vielleicht braucht es da doch ein bißchen mehr. Denkt daran, daß er bis vor ungefähr einem Dutzend Jahren an der Öffentlichkeit war und unverhüllt aufgetreten ist. Er muß allein von Zollbeamten mindestens hunderttausendmal gefragt worden sein, ob er wirklich Nathan Brazil sei. Versteht ihr? Ich glaube, ihr steht vor einem Problem — selbst nach eurem eigenen Glauben diktiert die Logik, daß ihr ihn mit seinem wahren Namen ansprechen müßt, damit er es zugibt — und seinen wahren Namen kennen wir nicht. Wenn ich da recht habe, treibt ihr ihn in eine Panik, genau wie Marquoz gesagt hat.«

»Sie — Sie wollen uns nur verwirren«, sagte die Olympierin nach einer Verlegenheitspause. »Es ist die Logik des Bösen!«

»Denkt logisch«, mahnte Obie. »Wenn ihr recht habt, ist nichts verloren, sobald wir unsere Methoden anwenden. Ihr bekommt Gelegenheit, eure Frage zu stellen. Wenn wir recht haben, verliert ihr diese Chance, vielleicht für immer, wenn ihr es ablehnt, nach unserem Vorschlag zu verfahren. Im Grunde bleibt euch gar keine Wahl.«

Eine der Athenen, offenkundig die Führerin, sah ihre Schwestern an und richtete den Blick wieder auf die übrigen Anwesenden. Obzwar Fanatikerin, war sie nicht dumm.

»Nun gut«, sagte sie schließlich. »Wie ihr meint. Aber wir erhalten unbehinderten Zugang zu IHM, sobald die Verbindung hergestellt ist?«

»Sobald wir wissen, daß er nicht entkommen kann, ja«, versicherte Obie. »Mein Wort darauf.«Soviel euch das dann nützt, fügte er im Inneren hinzu, obwohl er an Mavras Miene erkennen konnte, daß sie dasselbe dachte.

»Er wird ein schnelles Schiff haben und jederzeit davonfliegen können«, betonte Marquoz. »Man muß vorsichtig an ihn herantreten, ihn überraschen, mit Raffinesse, aber nicht mit Gewalt. Wir wollen ihn als Freund. Es macht mir Sorgen, daß er die Hilferufe des Schachtes der Seelen nicht beachtet hat, obwohl ihr sagt, er hätte sofort dorthin zurückgerufen werden sollen.«

»Ganz meine Meinung«, bestätigte Obie. »Entweder ist sein Gedächtnis wieder im Verfall begriffen, oder er hat die Signale bewußt unbeachtet gelassen. Trifft ersteres zu, können wir ihm vielleicht aufhelfen, aber im zweiten Fall könnte er sich auch unserer Kontrolle entziehen. Wir müssen vorsichtig sein. Irgendwelche Vorschläge?«

Mavra nickte.

»Obie, weißt du noch, wie du mir die Erinnerungen meiner Großeltern an ihre Odyssee mit Brazil auf der Schacht-Welt vorgespielt hast?«

»Ja.«

»Ich glaube, er hat Wu Julee wirklich geliebt. Sie liebte ihn ganz gewiß. Die Schacht-Welt hatte sie in eine Dillianerin — einen Zentaur — verwandelt, und du hast gesagt, daß er eine Vorliebe für Zentauren hat. Ich frage mich… Angenommen, du verwandelst mich in ein Ebenbild von ihr als Zentaur? Außer für Nathan Brazil würde das niemandem etwas bedeuten. Selbst wenn sein Gedächtnis verschüttet ist, könnte das etwas bewegen. Was alle anderen auf Meouit betrifft, wäre ich nichts weiter als ein attraktives Rhone-Wesen mehr. Ich habe mir die Verschiffungsdaten angesehen — er hat keine Rückfracht, wird also auf Verdacht irgendwohin fliegen, wenn er hier nicht etwas bekommt. Er wird auf der Suche nach Fracht landen. Wie wäre es, wenn ich mich als Vertreterin einer Spedition an ihn wende? Aus seinen Reaktionen auf mein Auftreten werden wir erkennen können, ob Korf Brazil ist. Ein Zusammentreffen mit mir müßte für ihn gefühlsmäßig und finanziell unwiderstehlich sein.«

»Und wir würden an den vereinbarten Stellen im Inneren warten«, warf Marquoz ein. »Gefällt mir.«

»Aber mir nicht«, fauchte die Athene. »Wenn die Heilige Frage nicht auf der Stelle augenblicklich gestellt wird, laufen Sie Gefahr, daß er eine Falle wittert und die Verabredung nicht einhält.«

»Wir beschatten ihn sofort, wenn wir ihn entdecken«, versicherte Mavra. »Sobald er das Weite suchen will, packen wir zu. Wir können ihn mit Gewalt holen, wenn er sich entschließt, zur ›Jerusalem‹ zurückzukehren. Ergreift er in irgendeiner anderen Richtung die Flucht, wird er auf einer Rhone-Welt mehr als auffällig sein.«

»Und wir müssen Sie ohnehin heimlich hinunterbefördern«, ergänzte Obie. »Die Rhone sind auf die Gemeinde oder die Olympier nicht sonderlich gut zu sprechen. Kommen Sie schon, Sie haben erklärt, daß Sie mitmachen.«

Die Olympierin stand auf und schien etwas sagen zu wollen, dann setzte sie sich wieder.

»Also gut, einverstanden.«

»Du solltest mit uns hinuntergehen, du hast ihn früher kennengelernt«, sagte Marquoz zu Zigeuner.

Zigeuner schüttelte den Kopf.

»Nein. Tut mir leid. Ich will nichts anderes sein, als ich bin. Aber die Masche klingt gut. Das sollte klappen. Ich verfolge das von hier aus.«

»Wie du meinst«, sagte der Chugach achselzuckend. »Ich habe aber ebenfalls nicht den Wunsch, ein Rhone zu sein«, sagte er ins Leere.

»Nicht nötig«, erwiderte der Computer. »Die Olympierinnen werden auch keine. Ihr könnt alle gemeinsam warten. Wir schicken jemand von der Besatzung hinunter, um ein Lagerhaus zu mieten und eine Scheinfirma zu gründen — das läßt sich ungefähr in einem Tag machen. Außerdem werden sie herumhorchen. Wir benützen eines der Ersatzschiffe, um Sie hinzubringen; wir tarnen Sie als Fracht oder dergleichen und schaffen Sie ins Lagerhaus. Dann warten wir.«

»Ja, dann warten wir«, sagte Marquoz seufzend.

»Der Fall steht bevor!«warnte Obie. Bevor jemand reagieren konnte, erlosch die Welt rings um sie. Schwärze ohne Ende hüllte sie ein, während sie hinabstürzten, zu einem Punkt tief, tief unter ihnen.

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