Meouit

Die Vorausmannschaft von Nautilus hatte gute Arbeit geleistet. Das Lagerhaus war schäbig und stand in einer üblen Gegend, aber nah am Raumflughafen und selbst für jemand, der dort noch nie gewesen war, leicht zugänglich. Auf dem kleinen Schild stand in der Kom-Handelssprache ebenso wie in der Landessprache Zhosa ›Reederei Durkh‹. Das Schild wirkte alt und abgewetzt, nicht funkelnagelneu, was es in Wirklichkeit war.

In Taiai, der größten Stadt auf Meouit, war es kalt und fast schon dunkel. Hier und dort schwebten Schneeflocken herab. Eine junge Rhone-Frau in einer teuren Pelzjacke betrachtete die Szene, begleitet von mehreren größeren Rhone-Männern.

Sie schien kaum zwanzig zu sein, nicht schön, aber angenehm zu betrachten, sogar ein wenig sexy, mit langen, braunen Haaren. Ihre Haut war von hellem Braun, auf beiden Seiten des Kopfes ragten ihre spitzen Ohren empor und schienen sich unabhängig voneinander zu drehen. An den Hüften ging der beinahe menschliche Rumpf in kurzgeschorenes, hellbraunes Fell über, das einen vollkommenen Pferdeleib bedeckte. Gegen die Kälte brauchte sie nur die Jacke; unter dem Rumpf war sie durch Fell und Unterhaut-Fettgewebe gut geschützt.

»Nicht schlecht«, sagte sie bewundernd. »Ganz und gar nicht schlecht.«

Der männliche Rhone, der direkt neben ihr stand, größer und muskulöser als sie, freute sich.

»Gehen wir hinein und begrüßen die anderen?«schlug sie vor. Er schob eine der Türen für sie auf. Die Beleuchtung im Inneren erzeugte im Halbdunkel einen Lichtkeil, als sie eintraten. Der letzte Zentaur schloß die Tür.

Die junge Rhone schnupperte kurz, dann blickte sie in eine Ecke.

»Wie haben Sie sich gehalten, Marquoz?«fragte Mavra Tschang laut.

Der kleine Drache stakte aus der Dunkelheit, eine dicke Zigarre paffend.

»Ziemlich scheußlich, wenn ich ehrlich sein soll«, schnaubte er. »Möchten Sie auf einer fremden Welt in einem Schuppen eingesperrt sein und zwei Tage lang nur religiöse Fanatikerinnen zur Gesellschaft haben?«

»Tut mir leid«, sagte sie mitfühlend, »aber wir mußten Sie alle dann einschmuggeln, wenn das eben möglich war. Sie hätten sich von Obie zu einem Rhone machen lassen können«, erinnerte sie, »dann wären Sie die letzten zwei Tage draußen gewesen und hätten es bequem gehabt.«

»Danke, ich bleibe lieber ich selbst«, knurrte er. »Aber ich sehe schon, daß Zigeuner der einzig kluge Kopf war. Er liegt auf Nautilus im Federbett und frißt sich voll wie ein Pferd.«

»Wir gehen bald zum Raumflughafen«, sagte Mavra. »Die Strapazen sind fast vorbei. Unser Mann ist in einer Umlaufbahn und soll in etwa zwei Stunden herunterkommen, um die Zoll- und Freigabeformalitäten zu erledigen.«

Eine Olympierin trat aus dem Schatten.

»Denken Sie an Ihr Wort!«sagte sie warnend. »Er muß zu uns gebracht werden!«

»Wir halten uns an die Abmachung«, versprach Mavra. Sie wandte sich an die zwei Leute von der Nautilus-Besatzung. »Dann los, Leibwächter! Ich möchte so bald wie möglich dort sein, damit wir ihn nicht verpassen.«Sie verabschiedete sich von den anderen. Einer der Männer schob die Tür auf und schloß sie hinter ihnen. Ein Windzug kalter Luft war alles, was außer dem Warten blieb.

Die Olympierinnen traten in die Schatten zurück, und die Anführerin wandte sich an die anderen drei.

»Zwei Stunden«, flüsterte sie. »Seid ihr bereit?«

Eine der anderen drehte sich um, nahm den Umhang ab und zog aus dem Stoffutter vier kleine, hochmoderne Pistolen und verteilte drei davon.

Auch das war ein Grund, weshalb die Olympierinnen nicht über Obie nach Meouit hatten gelangen wollen.

Marquoz verbrachte die Zeit mit Besatzungsmitgliedern in Rhone-Gestalt; einer hatte Würfel mitgebracht. Auf die Olympierinnen achteten sie überhaupt nicht, was deren Wünschen entsprach.

»Ladung prüfen«, flüsterte die Anführerin. Das leise Summen bei der Inbetriebnahme blieb ungehört.


* * *

Mavra Tschang vertrieb sich die Zeit im Reedereibüro und versuchte, gelangweilt zu wirken, aber tief innen fühlte sie sich beinahe wie ein kleines Mädchen, das auf die Ankunft eines Lieblingsonkels wartet, gleichzeitig fürchtend, der Onkel könnte sie vergessen haben.

Die Schleppraketen hatten die Umlaufbahn des Frachtschiffs stabilisiert, das Pilotenboot würde mit dem Lotsen und dem Kapitän herunterkommen, damit die Fracht verzollt werden konnte.

Mavra schaute zu, und ihr Herz schien einmal auszusetzen, als die Anzeigetafel im Büro der Hafenbehörde den Namen ›Jerusalem‹ aufleuchten ließ, daneben die Registernummer und die Worte ›Im Hafen‹.

Die Zeit schleppte sich dahin. Einer ihrer beiden Begleiter, der so tat, als fülle er Formulare aus, beugte sich herüber und flüsterte:»Sie müssen sich beruhigen. Sie sehen aus, als rechneten Sie jeden Augenblick damit, daß ihr langvermißter Ehemann zurückkommt.«

Mavra nahm sich zusammen und tat so, als suche sie im Vorraum nach Frachtlisten. Wenn Brazil nicht bald kam, würde jemand im Hafenamt sich fragen, warum sie so lange brauchte, um die richtigen Formulare herauszusuchen.

Plötzlich ging die Tür zischend auf. Der Pilot, das Gesicht zerfurcht und alt, was zu seinem gefleckten, grauen Teint zu passen schien, kam als erster herein, gefolgt von dem Verlademeister. Die beiden sprachen miteinander, und es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, daß sie nicht zueinander, sondern zu einer dritten, zwischen ihnen halb verborgenen Person sprachen.

Der erste Gedanke Mavras war, daß Korf zu groß erschien; fast 1,70 m groß. Er trug einen seltsamen, flachen Hut, unter dem lange, grauweiße Locken herabhingen und sich mit einem Vollbart von derselben Farbe vermischten. Man konnte nur Augen und Nase sehen. Die Gestalt des Rabbis war verhüllt durch einen schweren, schwarzen Mantel, der bis zu seinen Knien reichte. Wenn das Äußere etwas besagt, war er zwanzig Kilogramm zu schwer und ein Jahrhundert zu alt.

Auch die Stimme war unangenehm; sehr hoch und nasal, ganz anders als der tiefe Tenor, an den Mavra sich erinnerte. Sie verzagte; das war gewiß nicht der Mann, den sie suchten. Aus, dachte sie; wir haben danebengegriffen. Soviel Mühe, und alles umsonst. Sie sah zu ihren Begleitern hinüber und entdeckte auf ihren Gesichtern dieselben Gefühle. Einer wies mit dem Kopf kaum merklich zur Tür, und sie nickte knapp. Sie gingen zur Tür. Ihre Hufe klapperten auf dem harten Kunststoffboden, als sie an den beiden Rhone und Rabbi Korf vorbeimarschierten, die sich immer noch unterhielten.

»Der Mais befindet sich also in loot-Behältern?«fragte der Verlademeister mit tiefer Baßstimme.

Korf nickte.

»Ja. Sollte nicht mehr als zwei, drei Stunden dauern, um an sie heranzukommen. Nur die Baustoffe —«

In diesem Augenblick achtete Mavra nicht auf jene bürokratische Gesinnung, die Böden einwachsen läßt, und sie rutschte ein wenig aus. Korf und die beiden Rhone blickten auf.

Der Rabbi widmete sich, als er sah, daß ihr nichts passiert war, wieder seinen Unterlagen, dann riß er den Kopf hoch und starrte sie an. Mavra, die verlegen war, bemerkte das kaum, aber aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, daß sie mehr als die gewohnte Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie blieb vor der Tür stehen und drehte ihren menschlichen Rumpf halb herum, um den Menschen anzusehen; für Sekundenbruchteile begegneten sich ihre Blicke, und irgend etwas in diesen Augen und in dieser Miene jagten ihr einen Schauer über den Rücken.

Ihre Begleiter, die nichts davon merkten, waren schon im Freien, bevor ihnen auffiel, daß sie fehlte.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie durch meine Ungeschicklichkeit gestört habe«, sagte sie, bemüht, sich zu fassen. »Meine Mitarbeiter und ich warten auf den Kapitän des Schiffes, das eben eingetroffen ist, aber der müssen Sie sein, und ich sehe, daß Sie geraume Zeit beschäftigt sein werden. Ich — ich fürchte, ich bin das Geschäft noch nicht gewöhnt«, sagte sie mit listiger Nervosität.

Der Kapitän faßte sich rasch, obwohl er sie noch immer merkwürdig ansah.

»Der Kapitän bin ich, Bürgerin. Was wollten Sie von mir?«

»Mein Vater ist im Import-Export-Geschäft. Er und seine Mitarbeiter nehmen an einer Tagung in Hsuir teil, wo sie eben ein großes Geschäft abgeschlossen haben. Sie baten mich festzustellen, welche Schiffe ankommen und — nun ja, möglicherweise leer abfliegen. Vom Geschäft verstehe ich nicht viel, wissen Sie, aber da alle auf der Tagung sind, bin ich die einzige, die sie anrufen konnten.«Es klang so aufrichtig, daß sie sich beinahe selbst glaubte. »Aber ich sehe, daß ich zu früh gekommen bin.«

Der Kapitän nickte.

»Das fürchte ich auch. Das Entladen wird Stunden dauern, und ich möchte gerne richtig baden und heute nacht lange und weich schlafen, bevor ich mich Ihnen widme. Aber ich bin zur Zeit leer — könnten wir uns morgen nachmittag unterhalten?«

Sie lächelte liebenswürdig und nickte.

»Selbstverständlich. Wo wohnen Sie? Ich rufe Sie dort an. Ihren Namen und den des Schiffes kenne ich aus den Listen.«

»Im ›Pioneer‹. Das einzige Hotel hier mit Zimmern, die über eigene Küchen verfügen — ich muß eine besondere Diät einhalten.«

»Ich rufe an — nicht zu früh«, versprach sie.

»Wie, sagten Sie, war der Name Ihrer Firma? Und der Ihre, falls ich früher fertig bin?«

»Tourifreet, nach Ihrer Aussprache«, erwiderte sie sofort. »Es handelt sich um die Reederei Durkh — die Nummer steht im Buch.«Wieder lächelte sie. »Wir unterhalten uns morgen«, sagte sie und ging hinaus, während er ihr nachstarrte.


* * *

»Sind Sie sicher, daß er es ist?«brummte Marquoz. »Die Jungs sind offenbar nicht der Meinung.«

»Ich bin so sicher, wie man es sein kann«, gab Mavra zurück. »Unser kleiner Mimentrick hat gewirkt. Er weiß ganz genau, wem ich gleichsehe — seinem Gedächtnis fehlt nichts. Es war gerade so, als hätte ihn eine Betäubungsbombe getroffen. Man sah es in seinen Augen, was in seinem Gehirn vorging.«

»Ich halte Sie nach wie vor für verrückt«, sagte einer von den beiden Männern, die dabeigewesen waren. »Er ist zu groß, zu dick — es gibt praktisch nichts, was der Beschreibung von Nathan Brazil entspricht.«

Sie lächelte schwach.

»Er hat dicke Maßstiefel getragen, ganz ähnlich denen, wie ich sie trage, wenn ich statt Hufen Füße habe. Mit dem langen Mantel kann er sich weiter tarnen. Er könnte auf Stelzen gegangen sein. Er hatte den Gang eines alten Mannes, der ohnehin viel verhüllt, und er hatte lange Übung. Der Mantel ist gepolstert, um ihn dicker erscheinen zu lassen. Selbst die schwarzen Handschuhe, die aus den übergroßen Ärmeln ragen, gehören offenkundig zu viel zu dünnen und kurzen Armen, als daß sie zu diesem Körper passen würden. Der Bart ist gut, aber ich habe schon viele gute falsche Barte gesehen. Und der Hut tut auch seine Wirkung. Nein, er ist es wirklich. Ich würde mein Leben darauf verwetten.«

»Finden Sie nicht, daß es ein wenig riskant war, ihn einfach gehen zu lassen?«fragte die Anführerin der Olympierinnen. »Wir wissen nicht, ob er jetzt nicht eine Falle wittert.«

»Daran zweifle ich ernsthaft, aber erkundigen wird er sich auf jeden Fall. Es gibt wirklich eine Tagung in Hsuir, und mehr kann er ohnehin nicht prüfen, weil das auf der anderen Seite der Welt liegt. Dann wird er den Namen der Firma eingeben, um zu sehen, ob eine Rufnummer eingetragen ist, was ja zutrifft. Dann könnte er noch heute abend oder morgen früh herüberschleichen, um festzustellen, ob das wirklich ein Lagerhaus ist. Er wird uns finden, samt dem alten Schild.«

»Und wenn Sie irgendwo einen Fehler gemacht haben?«setzte die Athene nach.

Mavra lachte leise, griff in ihre Jacke und zog ein kleines Funkgerät heraus. Sie schaltete es ein. Ein rotes Lämpchen glühte auf.

»Halka? Was macht unser Mann?«fragte sie.

»Vor einer Stunde war er im Hafen fertig, Mavra«, tönte es aus dem Gerät. »Er ging sofort mit einer großen Reisetasche zum ›Pioneer‹. Zimmer viernullvier A. Er ist seitdem nicht fortgegangen und hat keinen Besuch erhalten.«

Sie sah die Olympierin mit einem frostigen Lächeln an.

»Zufrieden? Wir lassen ihn nicht mehr aus den Augen. Borsa wird in Kürze sogar seine Telefonleitung angezapft haben. Er steckt in unserer Tasche.«

Die Athene blieb skeptisch.

»Wenn er wirklich Nathan Brazil ist, frage ich mich…«

»Na, ich bin zufrieden«, sagte Marquoz gähnend. »Ich schlage vor, daß wir alle ein paar Stunden schlafen. Morgen scheint uns ein anstrengender Tag bevorzustehen, und keiner weiß, wie er ausgehen wird.«

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