Nautilus — Das Innere

Mavra Tschangs Argwohn über Zigeuners Widerstreben, mit Nathan Brazil zusammenzutreffen, erwies sich als unbegründet. Der seltsame, dunkelhäutige Mann kehrte einen halben Tag nach ihrer Rückkunft von Meouit ebenfalls zurück, wollte aber zu dem, was er im Weltraum gemacht hatte, nur sagen, er hätte das Bedürfnis verspürt, einmal kurze Zeit allein zu sein. Auf irgendeine Weise wirkte er ganz anders; er redete immer noch wie ein erfahrener Hochstapler daher und war äußerlich unverändert, aber tief innen war da etwas, das jeder spürte, der ihn kannte, ohne bestimmen zu können, was es war. Bis dahin war etwas Kindliches an Zigeuner gewesen; man fürchtete ihn seiner Talente wegen nicht und konnte ihn seines koboldhaften Humors wegen gut leiden. Das schien nun alles verschwunden zu sein; nur das Gehaben und die Rolle blieben.

Sie versammelten sich alle im Kontrollraum und warteten. Sie wußten selbst nicht genau, worauf: Brazil, Zigeuner, Marquoz, Mavra Tschang in Zentaurinnengestalt, dazu interessanterweise Yua.

»Bereiten Sie sich auf den Fall vor«, warnte Obie. Mavra fragte sich immer wieder, weshalb der Computer sich die Mühe machte; es gab keinen Weg, sich auf den Sturz vorzubereiten. Es kam die Schwärze, das anhaltende Gefühl des Fallens, dann wurde wieder alles normal.

Obie hatte sie in den Kontrollraum gebeten, damit sie Fernsehschirme von der großen Schüssel betrachteten, dem riesigen Zinder-Strahler, der den Hauptteil der unteren Oberfläche des Planetoiden ausmachte.

Sie sahen eine Welt, die vorwiegend blaugrün und weiß war, aber mit Flecken von roter, gelber und anderer Farbe. Yua erkannte sie sofort und sagte stockend:»Das ist Olympus!«

Das Bild des Planeten verschob sich ein wenig, zuerst in der einen, dann in der anderen Richtung, als Obie die große Antenne drehte, bis der Planet sich genau in Bildschirmmitte befand. Er paßte die Umlaufgeschwindigkeit der Planetenrotation an, so daß er zu ihm in derselben Position blieb.

»Wir brauchen die Olympier«, erklärte Obies Stimme. »Sie können mit einem Mindestmaß an Veränderung zur Vernunft gebracht werden. Ich habe vor, das jetzt zu tun. Ich habe die große Antenne selten benützt, außer, um durch Feldumkehrung an verschiedene Orte zu gelangen, diesesmal drängt aber die Zeit, und ich muß sie einsetzen. Ich habe Olympus auch deshalb ausgewählt, weil ich das Schema der Bewohner kenne und es nicht weiter studieren muß. Schließlich habe ich die Rasse erschaffen. Ich —«Er verstummte mitten im Satz und schwieg fast eineinhalb Minuten lang. Was konnte vorgehen? fragten sich die anderen.

»Verzeihung«, meldete sich Obies Stimme wieder. »Ich habe gerade eine Vielzahl von Sendungen aus Olympus aufgefangen. Das einzige wirkliche Problem für mich ist offenbar ohne mich beseitigt worden. Nikki Zinder ist tot.«

»Die Heilige Mutter?«stieß Yua hervor. »Aber das kann nicht sein!«

»Doch, eigentlich schon«, erwiderte der Computer. »Gehirnzellen verschleißen, erleiden Defekte und sterben selbst unter den günstigsten Umständen — und das waren die besten, glauben Sie mir. Ein schwerer Gehirnschlag, offenbar. Keine Anzeichen für eine Einwirkung Dritter — die Techniker sagen, aus irgendeinem Grund sei ihr eine Dichtung geplatzt —, nur hat man am Boden der Kammer eine Zigarette gefunden. Erstaunlich!«

Zigeuner lehnte sich zurück, zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in sich hinein.

»Kein Anzeichen für gewaltsames Eindringen, niemand konnte hinein und hinaus«, fuhr der Computer fort. »Ich habe die medizinischen Daten analysiert. Verblüffend. Ich möchte schwören, daß sie zu Tode erschreckt worden ist!«

Mavra seufzte.

»Die arme Nikki. Sie tut mir so leid. Sie hat nie die Chance gehabt, ein richtiges Leben zu führen.«

»So ist es besser für sie«, sagte Nathan Brazil zu ihrer Überraschung. »Das Leben ist ohnedies eine Tragödie.«Er schien Nikkis Tod ernsthaft zu bedauern.

»Man hält Sie für Gott«, murmelte sie und sah ihn an. »Gibt es ein Leben nach dem Tod, wo sie Glück finden könnte?«

Zu ihrer Verwunderung antwortete er.

»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich weiß es nicht, weil ich diesem Leben nicht entkommen kann«, sagte er leise. »Die Mathematik läßt eine solche Möglichkeit zu, aber — wer weiß? Die Hinweise sind widersprüchlich. Übrigens spielt das keine Rolle — selbst das würde ausgelöscht werden, wenn dieser Sektor verschwindet.«

Das war zu bedrückend, und niemand wollte sich damit befassen.

»Auf den Schirmen werden sie nicht viel sehen«, erklärte Obie. »Ich programmiere die Olympier um. Nathan Brazil ist gefunden worden und hat das Sagen, und er stellt ihnen neue Aufgaben. Sie werden seine Befehle ausführen — sie werden mit Freuden alles tun, was wir von ihnen verlangen. Ihr anderen übernehmt die Rollen von Heiligen. Sie werden Euch verehren, wie sie es bei ihm getan haben.«

»Das birgt Möglichkeiten, wissen Sie«, murmelte Brazil. »Ein ganzer Planet voll Superfrauen, die alles tun werden, was ich von ihnen verlange. Zum Henker mit der Pornographie!«

Ganz plötzlich hörten sie ein gewaltiges Summen; der große Schacht außerhalb vibrierte, die Wände des Kontrollraums erzitterten. Nur das Bild des Planeten auf den Schirmen blieb unbewegt. Die ungeheure Macht von Gil Zinders Schöpfung kam zum Einsatz.

Dann ging ein starkes Beben durch Nautilus. Der Planet setzte sich in Bewegung. Die Vibration war so heftig, daß sie die Bewegung nur wahrnahmen, weil der Planet auf den Bildschirmen sich langsam zu drehen schien. Er erweckte den Anschein, von starkem Glanz eingehüllt zu sein. Die Vibration dauerte einige Minuten an, bis Obie Olympus völlig umrundet hatte, dann verging sie langsam.

»Es ist geschehen«, teilte Obie mit. »Wir haben jetzt bereitwillige Mitarbeiter — zu Millionen.«

»Das Ganze erscheint ein wenig unmoralisch«, bemerkte Brazil verdrießlich. »Ein Schlag, und augenblicks herrscht rassische Sklaverei.«Er wirkte ernsthaft verstört. »Wenn ich die ganze Macht dieses Dings begriffen hätte, wäre ich zu der Party bei Trelig gekommen.«

Mavra sah ihn erbost an.

»Ein schöner Augenblick, um das zu erkennen«, fauchte sie.

»Ist das wahr?«fragte Yua staunend. »Bin ich für mein Volk jetzt eine Göttin?«

»Es ist wahr«, versicherte Obie.

»Aber — wie wird man mich von den anderen unterscheiden?«

»Niemand auf dem Planeten hat einen Schweif oder irgendeine Erinnerung daran, daß jemals irgend jemand auf Olympus außer Ihnen einen Schweif hatte«, sagte Obie. »Der Schweif ist Ihr göttliches Attribut.«

Marquoz lachte leise. »Unsere kleine Emanze scheint nur allzugut in ein größeres Universum zu passen als in jenes, in das sie hineingeboren wurde«, murmelte er. Zigeuner kicherte.

»Bitte, kommen Sie jetzt alle ins alte Labor«, sagte Obie. »Ich muß verschiedene Dinge tun und sagen. Vorsicht, wenn Sie um die Ecke gehen; der Hauptschacht ist sehr heiß.«

Das war er, heiß wie ein Ofen. Diejenigen, die schwitzen konnten, waren nach wenigen Schritten schweißnaß.

Das alte Labor wirkte nach dem Dampfbad eiskalt, und sie standen alle da und keuchten eine Weile.

Mavra schaute sich hustend um und sah auf dem Laufgang eine Reihe von Besatzungsmitgliedern mit Gewehren. Sie wurde ängstlich; Obie hatte sich seit dem Beginn des Problems im Raum-Zeit-Kontinuum sehr merkwürdig benommen, und diese Entwicklung gefiel ihr gar nicht.

»Bitte, gehen Sie hinunter«, sagte Obie. Sie gehorchten, warfen Blicke auf die bewaffneten Wachen und fragten sich, was das bedeuten mochte. Kurz danach standen sie vor dem Podium. Sie konnten die kleine Parabolanlage sehen.

»Bitte, verzeihen Sie die Bewacher«, sagte Obie, »aber ich rechne mit einigem Widerstand gegen das, was geschehen muß, und da ich damit rechne, heute sterben zu müssen, möchte ich, daß niemand in der Lage ist, etwas zu verändern.«

»Obie!«schrie Mavra auf.

»Ich muß, Mavra«, sagte er beinahe flehend. »Ich will das nicht tun. Ich will nicht sterben, Mavra. Niemand will es. Aber… ich glaube, ich muß. Ich weiß es nicht. Vielleicht sterbe ich auch nicht. Wir werden sehen. Aber ich muß mich so verhalten, als wäre das der Fall.«

Nathan Brazil schien durch Obies Erklärung nicht beunruhigt zu sein.

»Wozu das ganze Theater, Obie? Ich werde es nicht tun, das weißt du — und du weißt auch, daß du mich nicht dazu zwingen kannst.«

»Sie sprechen Ihr Herz aus, Brazil«, antwortete der Computer, »worum ich Sie beneide. Ich habe, im poetischen Sinn, auch ein Herz, aber ich bin durch meine Realisierung als gigantische Maschine verflucht. Maschinen sind so gebaut, daß sie logisch denken, den ganzen Quatsch mit unvorstellbarer Geschwindigkeit überwinden und die nötigen Informationen beschaffen. Wir Maschinen können weder Fakten noch Logik ignorieren. Sie sind immer da, stets vor den Fingerspitzen, bildlich gesprochen. Ich kann gleichzeitig Quintillionen verschiedene Berechnungen ausführen. Ich habe kein Unbewußtes — nur ein unendlich großes Bewußtsein. Ich kann traurig, ich kann glücklich sein. Ich kann den Tod meiner armen Schwester betrauern, ich kann Angst um mich selbst empfinden, ich kann Liebe und Haß und Mitleid spüren. Aber ich kann meine Emotionen nicht dazu gebrauchen, wie ihr, vor der Wahrheit zu flüchten. Ihr kommt alle zurecht, weil ihr die Fähigkeit habt, in euren Gehirnen umzuschichten, die Dinge durch eure Gefühle neu auszulegen — ein wenig psychotisch zu sein, wenn Sie wollen. Ich kann das nicht. Ich bin nicht so konstruiert worden, sosehr ich Sie auch um diesen Zug beneiden mag. Ich bin stets völlig bei Verstand. Das ist mein Fluch. Das ist der Faktor, der mich anders — nicht allein schneller — macht als Sie alle.«

Sie sagten nichts; es war klar, daß niemand wußte, worauf Obie hinauswollte.

»Ich sage, daß Nathan Brazil wieder in den Schacht der Seelen gehen muß«, fuhr Obie fort. »Er muß den Schacht von der Energiequelle abkoppeln. Das wird die letzten, sagen wir… grob gesprochen, die letzten zehn Milliarden Jahre ungeschehen machen, und zwar schlagartig. Alles, was wir wissen und kennen, wird aufhören zu existieren. Dann muß Brazil den Schaden beheben und dem Schacht die Möglichkeit geben, sich selbst zu reparieren. Er muß das tun, weil, wenn er es sofort oder in nächster Zukunft tut, er mit völliger Gewißheit in der Lage sein wird, die Schacht-Welt zur Wiedererschaffung des Universums zu gebrauchen. Es wird natürlich am Ausgangspunkt neu beginnen, für die markovischen Rassen und für die Kräfte der Evolution, die als Antwort auf ihre vorausbestimmten Naturgesetze neue Formen hervorbringen. Wenn er wartet, wie er das jetzt tun möchte, läuft Brazil eine einundzwanzigprozentige Gefahr, daß der Schacht innerhalb der nächsten Jahrzehnte einen Kurzschluß erleidet. Das bedeutet eine neunundsiebzigprozentige Chance, daß das nicht der Fall sein wird, und daran klammert er sich. Ich bin der Meinung, daß eine Chance von fünf zu eins ein zu großes Risiko darstellt, als daß man sich darauf einlassen dürfte. Sehen Sie, wenn der Schacht einen Kurzschluß erleidet, wird er über jede Möglichkeit einer Reparatur hinaus beschädigt sein. Es kann keine Wiedererschaffung geben. Es kann nur Dunkelheit geben, und Leben wird nur noch auf der Schacht-Welt selbst existieren. Für immer.«

Marquoz, Yua, Zigeuner und Mavra sahen Brazil an.

»Ist das wahr?«fragte der kleine Drache.

»Ich bin bereit, das Risiko zu tragen«, erwiderte Brazil ruhig. »Es steht fünf zu eins, daß die meisten Rassen des Universums die Jahrmillionen bekommen werden, die sie verdienen.«

»Aber es besteht eine Chance von eins zu fünf, daß geschieht, was er sagt?«setzte Marquoz nach.

Brazil nickte. »So ungefähr. Ich glaube, er übertreibt, der Wirkung halber. Eher sind es fünf bis acht Prozent — im äußersten Fall einmal bei zwölf Möglichkeiten — jedenfalls innerhalb der nächsten ein bis drei Millionen Jahre.«

»Das sind schon bessere Aussichten«, sagte der Chugach zu Obie und den anderen. »Bei fünf bis acht Prozent würde ich das Risiko eingehen.«

»Er weigert sich, die Tatsachen anzuerkennen«, gab Obie zurück. »Einundzwanzig Prozent. Jetzt. In diesem Augenblick. In ein, zwei Jahrhunderten dreißig Prozent. In weiteren zwei- bis fünftausend Jahren fünfzig Prozent. Danach jeden Augenblick. In fünftausend Jahren kann eine Rasse sehr viel erreichen — aber nicht Größe. Die Zeit ist zu kurz, um auch nur eine kleinere evolutionäre Veränderung hervorzubringen; es ist Zeit genug, die Weisheit zu verlieren, aber nicht genug, sie zu erlangen. Mr. Brazil verlangt also von uns, daß wir den Rassen des Universums ein paar tausend Jahre geben — auf die Gefahr der völligen Auslöschung des gesamten Universums ohne jede Aussicht auf Wiederherstellung hin. Ich meine, daß das durch jetzige Untätigkeit zu erreichende Potential bei weitem übertroffen wird durch das größere Risiko, das wir eingehen, wenn wir es zulassen. Der Schacht muß repariert werden, und zwar sofort.«

»Ich verstehe mehr vom Schacht als er«, betonte Brazil. »Ich glaube, er ist im Irrtum.«

»Ich bin ein viel besserer und schnellerer Computer als Sie, Nathan Brazil«, gab Obie zurück.

Brazil lachte in sich hinein.

»Wenn du mehr davon verstehst als ich, dann schalt doch du ihn ab und reparier ihn.«

Obie war darauf vorbereitet.

»Sie wissen, daß ich das nicht kann. Ich weiß, was getan werden muß, aber ich bin Teil der Gleichungen. Sobald die Energie abgeschaltet wird, höre auch ich auf zu existieren. Der Schacht erkennt ein Surrogat nicht an, weil nur eine der älteren markovischen Gleichungen ihn öffnen und hineingelangen kann. Ich kann Ihnen sagen, was zu tun ist — aber nur Brazil kann es ausführen. Das weiß er auch.«

Sie sahen den sonderbaren kleinen Mann an. Seine Miene wirkte gequält.

»Ich könnte es ohnedies nicht tun«, sagte er abwehrend. »Mein Gott! Ist euch klar, wie viele Leute ich umbringen würde? Ich nehme diese Art von Verantwortung nicht auf mich! Auf keinen Fall!«

»Patt«, murmelte Zigeuner.

»Nicht ganz«, gab Obie zurück. »Wie gesagt, Brazil hat einen Vorteil: Menschlich in Denken und Seele, kann er sich weiterhin vor der Wahrheit verstecken. Ich kann es nicht. Deshalb muß er gezwungen werden, die Dinge so zu sehen wie ich. Er muß gezwungen werden, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich werde gleich den kleinen Parabolsender hinausdrehen, ihn einhüllen, und wir werden verschmelzen. Er wird sehen, was ich sehe. Er wird gezwungen sein zu sehen, was ich zu sehen gezwungen bin. Dann soll er sich weigern.«

»Aber — Obie!«protestierte Mavra. »Das kannst du nicht tun! Du bist schon schwer geschädigt worden, als du versucht hast, ihn zu analysieren!«

»Ich rechne damit, daß das für mich tödlich sein kann«, erklärte der Computer, während in seiner allzu menschlichen Stimme ein Anflug von Angst hörbar wurde. »Ich weiß es nicht genau. Ich weiß aber, daß es möglich ist, und ich weiß auch, daß der Schacht seinen Tod dabei verhindern wird. Aber er wird gezwungen sein, die Wahrheit zu erkennen.«

Brazil lachte nervös auf.

»Augenblick mal jetzt! Ich mach’ da auf keinen Fall mit. Wenn du glaubst —«

»Sie haben keine Wahl«, unterbrach ihn Obie. »Die Männer mit den Gewehren werden dafür sorgen. Sie tun entweder, was ich sage, oder wir schießen Sie zusammen und werfen Sie auf die Plattform.«

Brazil wirkte verstört. Schmerz verabscheute er wie nur irgendeiner.

»Okay! Okay! Ich mache es!«schrie er. »Das genügt doch wohl!«

»Es tut mir leid, Brazil, ehrlich leid«, antwortete Obie. »Ich würde mir wünschen, daß Sie die Wahrheit sagen, aber Sie und ich wissen, daß Sie nicht aufrichtig sind. Gewißheit kann ich nur mit dem Parabolspiegel haben. Glauben Sie, ich würde diesen Weg wählen, wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe? Wenn Sie ich wären, und ich Sie — würden Sie es glauben, selbst wenn es wahr wäre?«

Brazil seufzte und schien ein wenig in sich zusammenzufallen. Er wirkte völlig niedergeschlagen.

»Darauf kann ich nicht viel sagen.«

»Ich möchte mit jedem einzelnen von Ihnen der Reihe nach allein sprechen, bevor ich mir Brazil vornehme«, sagte der Computer ernsthaft. »Mavra, würden Sie bitte auf die Plattform treten?«

Mavra hielt ihre Tränen zurück und brachte es auf irgendeine Weise fertig, die Plattform zu erklimmen.


* * *

Umhüllt von dem violetten Leuchten, hatte sie kein Zeitgefühl, aber sie wußte, daß sie Obie seinen Plan ausreden mußte.

»Mavra, sprechen Sie es nicht aus«, erklärte er. »Erstens bin ich hundertprozentig Ihrer Meinung. Ich will es gar nicht tun, aber ich muß. Versuchen Sie zu verstehen.«

»Ich gebe mir Mühe, Obie — aber ich kann das einfach nicht akzeptieren.«

»Schauen Sie, Mavra. Es ist nicht so, wie Brazil behauptet. Ich habe nicht den Wunsch, ein Märtyrer zu sein. Nach Nikkis Tod bin ich der letzte Zinder. Mit ihrem Ableben habe ich nicht gerechnet, Mavra. Ich hatte gehofft, daß ich ihr helfen und den neuen Anfang ermöglichen könnte, den sie verdiente.«

»Wenn es dir ein Trost ist, Obie, ich glaube nicht, daß du irgend etwas hättest tun können, ohne ihr ganzes Gehirn zu löschen.«

»Ich weiß, ich weiß. Trotzdem — es ist sonderbar, nicht? Daß sie gerade heute gestorben ist, meine ich. Wir beide…«

»Es muß nicht sein, Obie! Hör schon. Wir sind Partner. Fifty-fifty. Du brauchst keine Mehrheit, um die Firma aufzulösen.«

»Sie ist aufgelöst zugunsten einer neuen. Das wissen Sie. Sie war in dem Augenblick aufgelöst, als man die Zinder-Vernichtungsgeräte einsetzte. Ich weiß — wir beide glaubten, das würde ewig so weitergehen. Neue Herausforderungen, neue Welten. Der größte Fehler war wohl der, in diesem Sektor nicht regelmäßig nachzusehen. Wenn wir das getan hätten, wären wir mit den Dreel fertiggeworden, und nichts von alledem hätte stattgefunden.«

»Du weißt nicht, wie oft ich darüber nachgedacht habe«, gab sie reumütig zu.

»Aber wir haben es nicht getan, Mavra. Es ist nun einmal so. Was am wehesten tut, ist, daß wir da draußen soviel Gutes getan haben. Gleichgültig, wie verkorkst sie waren, wir haben es fertiggebracht, sie umzudrehen und auf den richtigen Weg zu bringen. Es war erstaunlich, wie ähnlich wir den meisten von den anderen gewesen sind — aber wenn man bedenkt, daß sie alle denselben markovischen Wurzeln entsprungen sind, ist es wohl gar nicht so sonderbar. Immerhin, wir haben viele Leben gerettet, ein paar Planeten, vielleicht die eine oder andere Zivilisation.«

Sie nickte und lächelte.

»Darauf können wir stolz sein. Und vor allem hat es Spaß gemacht.«

»Das hat es. Aber wozu? Wenn Brazil im Schacht den Stöpsel herauszieht, sind sie alle fort, Mavra. Sie werden nie gewesen sein. Raum und Zeit des markovischen Universums werden verschwinden. Was für eine Verschwendung.«

»Du klingst wie Brazil, Obie. Warum ihnen dann nicht eine Chance geben? Wie er es will?«

»Sie haben keine Chance, Mavra — und ich habe auch keine. Entweder vernichten wir alles für immer, ohne jede Aussicht auf einen Neubeginn, oder wir fangen jetzt neu an. So oder so werde ich sterben. So ist es besser.«

»Aber mußt du denn sterben?«sagte sie drängend. »Warum jetzt? Wir brauchen dich.«

»Ihr solltet mich nie brauchen«, gab er zurück. »Das ist das Problem. Ihr seid von meinen großen und kleinen Parabolsendern viel zu abhängig gewesen. Ihr seid vom Götterspielen eingerostet, Mavra. Und ich brauche nicht zu sterben, nein. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich weiß nicht genau, was geschehen wird. Ich verliere vielleicht den Verstand, ich könnte mich auch nur verletzen. Vermutlich werde ich einen Kurzschluß erleiden. Es besteht keine Gefahr. Ich habe die Lebenserhaltungs- und Wartungssysteme bereits von einer Abhängigkeit mir gegenüber gelöst: Es ist wie in alten Zeiten. Nautilus wird überleben und funktionieren — eine Zeitlang. Wer weiß. Ich bin nicht Gott, obwohl es manchmal leichtgefallen ist, daß ich mich dafür hielt. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich weiß nur, daß ich, während ich tue, was ich muß, feststelle, wie erstaunlich wenig ich von meinem eigenen Dasein bereue. Ich bereue nichts von unserem Zusammenwirken, Mavra. Die anderen — für sie bin ich eine Maschine oder ein mächtiges, fremdartiges Wesen, das man fürchten muß. Nur Sie sehen mich anders, Mavra. Nur Sie sind meine Vertraute gewesen, meine enge, liebe Freundin.«

Er schwieg kurze Zeit. Sie hatte einen Kloß im Hals und konnte nichts sagen, und das sonderbarste Gefühl dabei war, daß Obie ebenso menschlich empfand.

Schließlich sagte er:»Ich will Ihnen sagen, was getan werden muß, und welche Rolle jeder einzelne dabei zu spielen hat. Es wird eine Gedächtnis-Ausgabe sein; Sie sind schon stark genug, allen Extraktionsmethoden, die ich kenne, zu widerstehen. In gewissem Sinn gebe ich Ihnen mehr als das, einen kleinen Teil von mir, den menschlichsten, der in den dunklen Winkeln Ihres Gehirns verweilen wird, aber wenn Sie mich brauchen, werde ich da sein. Wir gehören nach wie vor zusammen, Mavra.«

»Nach wie vor, Obie«, sagte sie gepreßt.

Sie befand sich plötzlich wieder in dem kleinen Raum, und die anderen starrten sie an. Sie stieg hinunter.

»Marquoz, bitte«, sagte Obie. Der kleine Drache seufzte, stieg auf die Plattform und schaute sich um. »Darf ich weiterrauchen?«fragte er. Der violette Strahl stach herab.


* * *

»Marquoz«, sagte Obie, »Sie sind nicht zufällig, sondern nach Plan hier. Allerdings nicht nach meinem. Ich weiß nicht, nach welchem. Vielleicht gibt es eine höhere Macht als uns. Trotzdem, nach meiner Einschätzung sind Sie für die Aufgabe weitaus am besten geeignet. Es gibt sehr viel zu tun, und Sie müssen einen Teil der Verantwortung übernehmen.«

»Du scheinst sehr überzeugt davon zu sein, daß Brazil es tun wird«, betonte der kleine Drache. »Du scheinst auch ganz sicher zu sein, daß wir es tun werden, gleichgültig, was du für uns vorgesehen hast. Angenommen, Brazil kommt zurück und sagt immer noch nein? Angenommen, er kommt gar nicht wieder?«

»Er wird wiederkommen«, versicherte Obie. »Sie müssen begreifen, daß nur sein Körper Teil der Wirklichkeit ist, die Sie und ich kennen und akzeptieren. Sein Geist, seine Seele, das an ihm, was seine Persönlichkeit und seine Erinnerungen ausmacht — es gehört überhaupt nicht zu unserem Universum. Es ist so fremdartig, daß ich es nicht einmal im Ansatz begreifen kann. Es ist, als bestünde er aus Anti-Materie. Man sieht sie — sie sieht ›wirklich‹ aus, verhält sich so, ist in jeder Beziehung normal. Aber wenn man sie berührt, explodiert man. Ich verstehe Anti-Materie; ich kann sogar Anti-Materie werden. Er ist Teil eines vergangenen Universums und eine fremde Erscheinung, die meinen Horizont übersteigt, weil ich keinen Bezugsrahmen besitze, nichts, womit ich ihn vergleichen könnte.«

»Ist es das, was geschehen wird?«fragte Marquoz sorgenvoll. »Du und er, ihr werdet euch vereinigen und explodieren?«

»Nein, nichts davon. Er ist an unser Universum angepaßt; er kann das unsrige akzeptieren. Man könnte aber sagen, daß wir nur ein Teil seiner Wirklichkeit sind. Er ist ein Eimer, wir sind Wasser. Man kann einen Eimer mit Wasser füllen, aber Wasser nicht mit einem Eimer. Er wird meine Daten aufnehmen und erkennen, daß ihm kein anderer Weg offenbleibt als der von mir vorgeschlagene. Glauben Sie mir! Aber ich werde auch seine Daten übernehmen, und zwar in einer Form und Menge, wie ich sie sicher nicht bewältigen kann. Ihm sollte das nicht schaden, außer daß er durchgeschüttelt wird. Mir wird es schädlich sein. Hören Sie gut zu! Ich werde Ihnen Ihre Rolle bei den künftigen Dingen erklären. Brazil wird das Sagen haben, aber ich kenne die Grundidee bereits, die benützt werden muß. Akzeptiert seine Führerschaft — aber betrachtet ihn nie als einen Gott. Er ist keiner — er ist ein sehr menschliches Wesen, etwas, das mir große Rätsel aufgibt. Stellt ihn euch als den einzigen bekannten Mechaniker für eine kaputte Maschine vor. Verhaltet euch entsprechend. Eure Aufgabe besteht darin, ihn zum Schacht zu bringen. Auf der Schacht-Welt selbst werdet ihr überleben. Übernehmen Sie die Instruktionen.«


* * *

Yua empfing ganz ähnliche Anweisungen, obwohl sie, als sie aus dem violetten Leuchten trat, eine andere Person zu sein schien, kenntnisreicher, welterfahrener, selbstsicherer. Obie hatte ihr gegeben, was sie nach seiner Meinung brauchte.

Zigeuner war der nächste. Er wollte nicht, aber die Bewaffneten ließen ihm wenig Wahlmöglichkeiten. Er seufzte und ließ sich vom Leuchten einhüllen.

»Hallo, Obie«, sagte er lässig.

»Hallo, Zigeuner«, antwortete Obie. »Ich gebe Ihnen die wenigsten Anweisungen und die Ungenaueste Rolle im bevorstehenden Drama, weil ich glaube, daß Sie der Einfallsreichste in der ganzen Gruppe sind.«Er zögerte. »Sie stimmen mit dem überein, was ich vorhabe und erzwinge?«

Die ganze spielerische Vorspiegelung war dahin.

»Ja, Obie. Du weißt Bescheid, nicht wahr? Wie?«

»Sie konnten es mir nicht ewig verbergen. Ja, ich weiß Bescheid — und ich glaube, in gewisser Beziehung verstehe ich auch. Ich habe Sie nicht nach Ihren Motiven oder Ihrem eigenen ›Wie‹ gefragt. Ich habe nur gefragt, ob Sie übereinstimmen.«

»Für mich ist das sehr schwer«, sagte Zigeuner zögernd. »Rein theoretisch, ja. Ich bin Brazil wohl ähnlicher als dir, Obie. Ich — ich könnte das einfach nicht tun. Ich könnte auch nicht darauf bestehen, daß ein anderer es tut.«

»Sie haben es schon einmal getan«, sagte der Computer.

Zigeuner nickte zerstreut.

»Das stimmt wohl. Uns selbst kennen wir wohl am wenigsten.«Er hob den Kopf, obwohl niemand zu sehen war. »Obie? Verzeihst du mir?«

»Ich verzeihe Ihnen«, erwiderte der Computer leise. »Es gibt wenig zu verzeihen. Aber Sie helfen den anderen, nicht wahr?«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach er. »Wer hätte gedacht, daß es einmal von mir abhängen muß, wie?«Das leise Lachen klang nicht belustigt.

»Leben Sie wohl — Zigeuner.«

»Obie — es muß noch einen anderen —«begann er und verstummte. »Adieu, Obie«, sagte er schließlich. Das Leuchten war verschwunden.

»Es ist Zeit, Nathan Brazil.«


* * *

Brazil schaute sich nach den anderen um, die ihn alle starr anblickten.

»Ihr seid alle verrückt!« murmelte er. »Verrückt!«Er drehte sich nach dem Podium um. »Obie — soviel bedeutet dir das?«

»Soviel, ja«, erwiderte der Computer.

Brazil zögerte einen Augenblick.

»Dann tue ich es. Jetzt gleich. Bring mich zur Schacht-Welt, schieß mich zu einem Eingang hinunter, und ich mache es.«

Der Computer zögerte — Brazil konnte es spüren — und seine Hoffnung wuchs. Sie wurde rasch zerstört, als Obie erwiderte:»Ich würde das gerne glauben, wirklich, aber wenn Sie dort wären, könnten Sie mich einfach aus dem Dasein fortwünschen und sonst nichts tun. Sie könnten uns alle in Kröten verwandeln. Alles, nur nicht das, was getan werden muß. Wir haben dieses Gespräch schon geführt, Nathan Brazil. Außerdem ist jetzt unmöglich, was Sie verlangen. Ich bin verletzt. Ich habe starke Schmerzen. Ich kann den notwendigen Fall für die Schacht-Welt nicht mehr mit Gewißheit bewältigen. Der schwere Weg, Brazil. Versuchen Sie, mich nicht zu töten.«

Nathan Brazil seufzte.

»Verdammt noch mal, ich werde das nicht tun, und Schluß!«

»Bei drei werden die Bewaffneten Sie niederschießen«, sagte Obie tonlos. »Die Gewehre sind auf Nadelbetäubung eingestellt. Es wird weh tun — sehr weh. Und wenn Sie sich nicht mehr helfen können und starke Schmerzen haben, werden sie hinuntersteigen und Sie auf das da hinaufwerfen. Jetzt ist der Zeitpunkt für uns beide, Nathan Brazil. Eins… zwei…«

Brazil blickte unsicher auf die Bewaffneten und sprang auf die Plattform.

»Was für ein Haufen von melodramatischem Scheiß«, murmelte er trotzig, aber er wirkte nervös.

Das violette Leuchten griff hinunter und hüllte den kleinen Mann ein, dann war er verschwunden.

»Obie! Nein!«schrie Mavra auf und stürzte zur Plattform, aber es war schon zu spät. Brazil war fort.

Sie warteten. Mavra lauschte auf Explosionen, Vibrationen oder andere Anzeichen schrecklicher Vorgänge in Obie, aber sie hörte nur das ruhige, allgegenwärtige Summen einer Maschinenwelt. Vielleicht würde Obie nichts passieren.

Obie, der einen Planeten in ein, zwei Stunden umgestalten konnte, verbrachte vier mit Brazil in seinem Inneren, ohne sichtbares Zeichen für ein Ende. Die Nerven der Zuschauer wurden strapaziert; Yua ging unablässig hin und her, Marquoz und Zigeuner spielten Romme, ohne auf die Karten zu achten, und Mavra wurde schließlich so gereizt, daß sie anfing, die Wachen zu beschimpfen, obwohl sie wußte, daß sie unter geistigem Zwang von Obie standen. Sie nahmen ihren Ausbruch geduldig hin, und als sie verstummt war, gingen zwei von ihnen an die Oberfläche, um für die anderen Essen und Trinken zu holen.

Zeit verging. Yua schlug vor, man möge sich ausruhen, aber die anderen lehnten ab, sogar Zigeuner.

»Ich weiß nicht, wie Ihr denkt«, sagte Marquoz zu der Runde, »aber ich bleibe hier, bis die Hölle gefriert. »Ich muß wissen, wie das ausgeht.«Er warf einen Blick auf Mavra. »Wissen Sie, wenn Obie wirklich etwas zustößt, bleiben Sie von jetzt an eine Rhone-Frau.«

Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.

»Es spielt keine Rolle«, sagte sie schließlich. »Wenn Obie uns nicht zur Schacht-Welt bringen kann, müssen wir ohnehin durch ein Markovier-Tor hinein. Das heißt, wir müssen durch den Schacht und werden auf jeden Fall in andere Wesen verwandelt. Und diesmal werden wir für den Rest unseres Lebens bleiben, was er uns zudiktiert.«

Der Gedanke hatte etwas Ernüchterndes an sich.

Zigeuner lachte leise.

»Ja, Marquoz, und du wirst in einen Menschen verwandelt.«

»Gott behüte!«sagte der kleine Drache naserümpfend. »Die Chancen stehen eins zu siebenhundertachtzig, glaube ich. Verlaß dich nicht drauf. Vergiß nicht — du könntest ein Chugach werden.«

»Ach du liebe Güte!«sagte Zigeuner mit gespieltem Entsetzen. »Immerhin wären dann die Zigaretten leicht anzuzünden. Oder gibt es auf dieser Schacht-Welt keine?«

Yua wandte sich Mavra zu, die mit ihrem Pferdeleib alle anderen überragte.

»Sie sind schon dortgewesen«, sagte sie. »Wie ist es da?«

Mavra lächelte trüb.

»Eigentlich wie überall. Stellt euch einen Planeten vor, der aus vielen kleinen Planeten besteht — genau fünfzehnhundertsechzig Stück; am Äquator der Schacht-Welt ist jeder ungefähr sechshundertfünfzehn Kilometer breit — nach den Polen hin verschiebt sich das ein wenig. Jeder hat die Form eines Sechsecks — die Markovier hatten eine Macke, was die Sechs betrifft. Jeder mit seinen eigenen Pflanzen, Insekten, was man will, und alle mit verschiedenen dominierenden Rassen. Alle, die auf Kohlenstoff aufgebaut sind, befinden sich südlich des Äquators — insgesamt siebenhundertachtzig. Die nördlich des Äquators beruhen nicht auf Kohlenstoff. Dort ist alles möglich.«

»Und man kann zwischen ihnen wechseln?«

Mavra nickte.

»Das ist wie eine unsichtbare, ungreifbare Wand. Auf der einen Seite kann es eiskalt, auf der anderen glühend heiß sein. Aber Flüsse, Bergketten und alles mögliche läuft ohne Rücksicht auf Grenzen hindurch. Hört sich an wie eine Welt aus lauter Kästen, aber das ist nicht der Fall — die Küsten sind unregelmäßig; Erosion, Ablagerungen und vulkanische Kräfte wirken dort wie anderswo. Jedes Sechseck ist ein künstliches Gebiet, für die von den Markoviern bestimmte Lebensform ökologisch ideal. Mutmaßlich war jedes ein kleines Labor. Markovische Techniker dachten sich die Welten aus, richteten sie ein und verfolgten die Entwicklung, um zu sehen, ob sie lebensfähig waren. Wetter, Klima, Atmosphäre, alles für eine bestimmte Kategorie von planetarischen Bedingungen optimal eingerichtet. Es gibt auch Behinderungen — in manchen Sechseck-Welten funktionieren keine Maschinen, wenn sie nicht von Muskelkraft betrieben werden, in anderen nur begrenzte Maschinerie wie Dampfmaschinen — und in manchen funktioniert alles, so wie hier. Diese Rangfolge der Technologien sollte wohl bestimmte Hilfsmittel — oder ihren Mangel — ausgleichen, die neue Rassen auf den zu besiedelnden Planeten vorfinden würden. In manchen Fällen auch Magie — die Fähigkeit, einige Kräfte durch den Schacht zu steuern. Künstliche Magie, gewiß, aber nicht weniger wirklich, weil nur die eine Rasse sie anwenden kann. Es könnte auch andere Erschwernisse gegeben haben.«

»Man möchte glauben, daß sie kämpfen wie die Wilden — oder sich blind vermehren«, meinte Marquoz.

»Der Schacht kontrolliert die Bevölkerung und hält sie für jedes Sechseck bei ungefähr einer Million«, erklärte Mavra. »Wenn etwas auftritt — Krieg, Seuche, Naturkatastrophe —, das eine Gruppe dezimiert, dann vermehren sie sich wie die Kaninchen, bis der Verlust ausgeglichen ist. Was Kriege betrifft — nun, es hat kleinere Auseinandersetzungen gegeben. Die Menschen dort entwickelten eine hochtechnologische Zivilisation, der schließlich die Rohstoffe ausgingen, so daß sie die nicht-technologischen Ambreza nebenan angriffen. Die Ambreza fanden ein Gas einer fremden Rasse aus der nördlichen Halbkugel — allerdings sind alle Nordländer fremdartig, selbst nach den Maßstäben der Schacht-Welt — und jagten die Menschen damit ins Steinzeitalter zurück, worauf sie mit ihnen die Sechsecke tauschten. Die Menschen sind primitiv und in Stämmen zusammengeschlossen — das waren sie jedenfalls bei meinem letzten Aufenthalt — und werden von den Ambreza in diesem Zustand erhalten, die die Rohstoffe ihres früheren Landes und die Technologie der menschlichen Vergangenheit genießen. Ein wichtiges Exportgut ist Tabak, Zigeuner. Er kommt nicht überall vor, ist aber bekannt und wird hoch geschätzt. Das kann aber ein teurer Genuß werden.«

»Es muß doch aber auch größere Kriege geben«, warf Marquoz ein. »Das hätte ich für natürlich gehalten.«

»Vielleicht für natürlich«, sagte Mavra, »aber ich weiß nur von zwei solchen Kriegen. Es gab einen berühmten Eroberer, der Schwierigkeiten hatte, weil seine Hoch-Tech-Waffen in einer Mehrheit von Sechsecken nicht funktionierten — eine nicht wirksame Laserpistole ist eine schlechte Waffe gegen einen geübten Bogenschützen — und manche Sechsecke waren so ungemütlich, daß seine Nachschublinien zu lang wurden und nicht aufrechterhalten werden konnten. Das war die große Lehre — man kann die Schacht-Welt nicht erobern. Als Obie und ich das letztemal dort waren, brach ein Krieg aus, der darum ging, die Fährrakete zu erlangen, die einige von uns hinuntergebracht hatte. Man wollte Obie erreichen und unter Kontrolle bringen. Auf der Schacht-Welt funktioniert Raumfahrt einfach nicht, wenn sie von Grund auf entwickelt wird, aber das war ein fertiges Raumfahrzeug. Der Krieg war blutig und brutal, regelte aber nichts, weil die Raumfahrtantriebe von einer Eremitenrasse zerstört wurden, die der Meinung anhing, niemand sollte sie haben.«

Marquoz nickte.

»Ich habe die Kom-Unterlagen gelesen.«

»Sie sagten, Sie wären dort notgelandet«, meinte Yua. »Das heißt, daß Sie selbst die Verwandlung im Schacht der Seelen nie durchgemacht haben.«

»Richtig. Eine ganz böse Rasse mit dem Namen Olborn besaß Steine, die jedes andere Wesen — oder auch sie selbst — in Lasttiere von der Art kleiner Esel verwandeln konnten. Ich bekam die Behandlung halb zu spüren und verbrachte lange Jahre mit dem Gesicht nach unten, auf vier Beinen mit Hufen, ohne Hände, ohne auch nur den Blick heben zu können.«Ihre Augen funkelten zornig. »Man legte mich auf Eis, für den Fall, daß man einen Piloten brauchte. Sie konnten es sich nicht leisten, mich durch den Schacht gehen zu lassen, weil sie keinen Einfluß darauf hatten, als was oder wo ich herauskommen würde.«

»Wie?«fragte Marquoz.

»Ein Halunke namens Serge Ortega«, sagte sie gereizt. »Ein Riesenwesen mit Walroßkopf, sechs Armen und langem Schlangenkörper. Ehemals ein Mensch, wie es heißt, und früher Frachterkapitän. Er fand irgendeinen Weg, praktisch unsterblich zu sein, solange er in Zone bleibt, dem normalen Zugang zur Schacht-Welt. Vermutlich gibt es ihn immer noch.«Sie lachte trocken. »Wenn es einen Mann gibt, den ich immer noch wirklich hasse, dann ist es vermutlich Ortega. Ich habe mir geschworen, ihn eines Tages umzubringen, wie ich die Männer getötet habe, die meinen Ehemann ermordeten. Ortega hatte kein Recht mir das anzutun!«

Nach einer langen Pause sagte Zigeuner:»Ich hätte gedacht, Sie wären längst zur Schacht-Welt geflogen, um ihn aus dem Weg zu räumen.«

»Obie ließ es nicht zu«, antwortete sie. »Obie hatte keine Macht über die Schacht-Welt und wollte mich nicht hinbringen, damit ich einfach eine alte Rechnung beglich. Ich habe das Gefühl, daß er Ortega aus irgendeinem Grund immer gut leiden konnte. Ich weiß nicht. Ortega und ich waren jahrelang eng verbunden, ohne daß ich ihm einmal begegnet wäre. Sonderbar.«

»Und dort gehen wir alle hin«, stieß Yua hervor. »Es klingt unfaßbar. Aufregend. Ich kann es kaum erwarten.«

»Genießen Sie es, solange Sie können«, sagte Mavra scharf. »Die Schacht-Welt ist alles, nur nicht romantisch. Sie ist gefährlich und tödlich. Ich habe sie nie vermißt.«

»Nun, trotzdem, ich —«begann Yua, aber in diesem Augenblick gab es ein scharfes, knisterndes Geräusch, als hätte in ihrer Nähe ein Blitz eingeschlagen. Sie zuckten alle zusammen und fuhren herum.

Nathan Brazil stand bleich und zitternd auf dem Podium. Er starrte ins Leere. Sie regten sich sekundenlang nicht und starrten ihn angstvoll an.

Er wankte ein wenig, immer noch ins Leere blickend. Schließlich sagte er:»Ich brauche was zu trinken. Nein, halt. Ich muß mich total betrinken.«

Dann brach er bewußtlos zusammen.

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