Nautilus — Das Innere

Nathan Brazil betrachtete fasziniert und neugierig das kleine Labor, den ursprünglichen Kontrollraum.

Mavra, noch immer eine Rhone, war eher von Angst beherrscht. Es war diesmal sonderbar, auf irgendeine Weise anders gewesen, zur Nautilus transportiert zu werden — und Obie hatte sie nicht zurückverwandelt. Das war schlecht.

»Obie?«rief sie zögernd. »Obie! Alles in Ordnung mit dir?«

»Ich bin hier, Mavra«, sagte die Computerstimme an ihrem gewohnten Ort mitten in der Luft. »Ich — ich bin verletzt. Anders kann ich das nicht beschreiben.«

»Was ist passiert?«fragte sie besorgt. »War es…?«Sie warf einen Blick auf Brazil, der lässig vom Piedestal stieg und herumging.

»Nur ein wenig«, erwiderte Obie. »Ich — ich hatte ihn als einheitliche Struktur und hätte ihn mühelos transportieren können, aber ich versuchte eine volle Zerlegung und Aufzeichnung. Das ging nicht, Mavra. Es — nun, das rief Kurzschlüsse in meinen Schaltungen hervor. Ich wurde nicht fertig damit. Normalerweise wäre ich fähig abzuschalten, aber es ist der verdammte Riß, Mavra! Ich kann mich nicht so schnell bewegen oder denken wie vorher. Je weiter der Riß wird, desto mehr verliere ich von mir.«

»Wenn du nicht so hochnäsig tun würdest, hätte ich dich davor warnen können«, sagte Brazil mit geringem Mitgefühl.

»Jedesmal, wenn du jemanden zerlegst, um ihn auf deinen kleinen elektronischen Objektträgern zu speichern, bringst du ihn im Grunde um und belebst ihn nach Plan wieder. Der Schacht läßt nicht zu, daß du mich tötest, und mein Wesenskern gehört, wie ich schon gesagt habe, nicht dem markovischen Universum an. Du hast keinen Schlüssel dafür, den Unterschied in der Mathematik zu bewältigen.«

»Obie, wie stark bist du beschädigt?«fragte Mavra angstvoll. »Kannst du noch arbeiten?«

»Mühsam«, sagte er. »Ich glaube, ich kann den Schaden eindämmen, indem ich diese Teile einfach nicht benutze — aber das heißt, daß ich in dem, was ich tue, sehr eingeschränkt bin. Ich werde jetzt, solange wir dem Riß so nah sind, sehr vorsichtig sein müssen.«

»Warum fliegen wir dann nicht davon? Warum marterst du dich so?«

Es blieb einen Augenblick still, dann sagte Obie nur:»Fragen Sie ihn, Mavra.«

Sie drehte sich um und sah Brazil mit hochgezogenen Brauen an.

»Nun?«

Brazil, der bei seinem Rundgang auf dem Balkon angelangt war, blieb stehen und schaute zu ihr hinunter.

»Er hat einen Märtyrerkomplex«, sagte er. »Schließlich rechnet er damit, daß er mich dazu überreden wird, sonst müssen wir ohnehin alle sterben, er eingeschlossen.«

»Ich werde Sie überzeugen«, versprach Obie.

Brazil lächelte und legte den Kopf schief.

»Das bezweifle ich.«Er schaute sich um. »Wie kommt man nach oben? Mich interessiert das hier.«

Eine Tür hinter ihm glitt zur Seite und zeigte die Brücke auf der anderen Seite des Hauptschachtes. Er drehte sich um, nickte zufrieden und schlenderte hindurch. Die Tür ging hinter ihm zu.

»Er ist ganz anders, als ich dachte«, meinte Mavra.

»Sehen Sie ihn nicht so streng«, sagte der Computer. »Innerlich quält er sich zu Tode. Lassen Sie sich nicht täuschen. Das treibt ihn zum Wahnsinn. Möchten Sie vor der Wahl stehen, die Leute, die Sie ihr eigen nennen, vernichtet zu sehen, oder alle Rassen im Universum zu töten, nur um eine Maschine zu reparieren? Ich beneide ihn nicht — ich möchte selbst nicht vor der Entscheidung stehen.«

Sie seufzte.

»Also gut, ich will versuchen, freundlich zu sein — aber er macht es einem nicht leicht. Anfangs, auf Meouit, mochte ich ihn. Er war wirklich brillant, ein Profi. Aber jetzt — er ist so kalt, so gefühllos, so unerträglich leichtfertig. Es ist ganz so, als wollte er Distanz zwischen sich und uns.«

»Das will er«, sagte Obie. »Er ist sehr menschlich, wissen Sie. Man kann ihm körperlich und seelisch weh tun. Können Sie sich vorstellen, seit dem Beginn der Zeit am Leben zu sein, die meiste Zeit als Mensch, alles, was man liebt, vor einem dahinwelken und sterben zu sehen, während man selbst weitermacht? Er muß hart sein, Mavra. Das ist die einzige Möglichkeit, den Schmerz zu bewältigen. Ihre Vorfahrin, deren eine Erscheinungsform Sie jetzt zeigen, war jemand, der ihm sehr viel bedeutet hat. Jemand, den er geliebt hat, glaube ich. Und als am Ende seine wahre Natur offenbar wurde — wie ich es Ihnen gezeigt habe —, war selbst sie so verängstigt und abgestoßen, daß sie auf ihn feuerte. Haben Sie Mitleid mit ihm, Mavra. Er ist in der Hölle, und es gibt keinen Ausweg für ihn.«

Sie lächelte schwach. Sie war ihr ganzes Leben lang selbst oft schwer verletzt worden und hatte Wunden davongetragen, die niemals heilten. Sie fragte sich, ob sie für andere ebenso wirken mochte, wie Brazil auf sie wirkte. Es war kein Gedanke, bei dem man verweilte; er kam der Wahrheit zu nah.

»Weil wir gerade von meiner Vorfahrin sprechen«, sagte sie, um schnell das Thema zu wechseln, »soll ich weiter so aussehen wie sie?«

Obie schwieg kurze Zeit, als überlege er, dann sagte er:»Ja, eine Weile noch. Ich glaube, Ihr Aussehen ist für ihn eine Art Anker, eine emotionelle Krücke. Wollen Sie mir darin vertrauen?«

»Also gut, ich mache noch eine Weile mit«, sagte sie zustimmend. »Aber du solltest an der Oberfläche lieber meine Wohnung umbauen und mir ein Badezimmer konstruieren lassen.«

Obie lachte.

»Gut, das mache ich. Ich gebe Anweisungen und Einzelheiten jetzt durch. Es wird nicht für lange sein«, versprach er.

Sie lachte mit und wurde wieder ernst.

»Obie? Was ist, wenn wir ihn nicht überzeugen können? Was dann? Transportierst du ihn hin und zwingst ihn dazu? Oder kannst du das nicht tun?«

»Ich könnte es tun«, gab der Computer zu. »Ich könnte bei ihm vieles von dem tun, was ich bei gewöhnlichen Leuten kann. Der Haken dabei ist nur, daß er sich außerhalb der markovischen Gleichungen befindet, innerhalb derer wir alle stehen, sobald er in den Kontrollkomplex des Schachtes der Seelen tritt. Er wird, wie damals, zu seiner markovischen Erscheinung zurückkehren — und von jedem Zwang frei sein. Ich kann ihn hinbefördern, aber im Schachtinneren kann ich ihn zu nichts zwingen. Nein, er wird es einsehen. Er hat, glaube ich, ein Pflichtgefühl, wenn es mir gelingt, ihn vom Ernst des Problems zu überzeugen.«

Sie ging auf die Treppe zu, blieb stehen und drehte sich um.

»Obie?«

»Ja, Mavra?«

»Angenommen, er tut es? Was geschieht dann mit uns?«

Es blieb lange Zeit still, bevor der Computer antwortete.

»Unsere eigenen Leute werden auf der Schacht-Welt sein, wenn das geschieht — Sie eingeschlossen. Es wird hart hergehen, und ich möchte keine Fehler erleben. Da im Gegensatz zum Rest unseres Universums die Schacht-Welt nicht an den Computer im Schacht der Seelen angeschlossen ist, sondern an ihr eigenes Minisystem, das jetzt keinen Schaden aufweist, werden Sie und jeder andere, der durch den Schacht gegangen ist, überleben.«

Plötzlich fiel ihr Brazils Bemerkung über die Märtyrer ein.

»Und du, Obie? Du kannst nicht auf die Schacht-Welt gehen.«

»Ich bin nach einem historischen Schema, das in der markovischen Raum-Zeit entwickelt wurde, in eben diesem Universum gebaut worden«, sagte Obie bedächtig. »Das heißt, ich existiere, weil alles andere existiert. Wenn es das nicht tut — nun, wenn er das Ding abschaltet, wird es nicht so sein, daß unser Universum zu existieren aufhört. Unser Universum und jedermann darin, jeder, der je gelebt hat, jede Absicht, jedes große und kleine Ereignis, jede große Idee und größere Schurkerei — sie werden in allen Dimensionen ausgelöscht. Sie werden nicht nur aufhören zu sein, es wird sie nie gegeben haben. Nur die Schacht-Welt und die sterbenden Sonnen und toten Planeten der uralten Markovier werden bleiben. Sie werden die einzige Wirklichkeit sein.«

»Dann wirst du sterben.«

»Ich werde nicht einmal gewesen sein. Ich werde nicht einmal existieren, außer in den Gehirnen jener, die mich kannten und die auf der Schacht-Welt sind.«

Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und sie wischte sie weg, verlegen, weil sie ihre Gefühle zeigte, aber doch nicht in der Lage, sich ganz zu beherrschen.

»Oh, Obie…«stieß sie hervor.

Er sagte nichts, war aber auf eine sehr menschliche Weise berührt. Konnten auch Computer weinen?

Endlich gewann sie die Fassung wieder und stieg die Treppe hinauf. Oben drehte sie sich noch einmal um.

»Obie? Was ist, wenn er es tut? Alles abschaltet, meine ich, und den Schaden behebt. Wozu? Es wird niemand mehr da sein, der das zu schätzen vermag.«

»Sie mißverstehen die Schwere seiner Verantwortung«, gab der Computer zurück. »Die Schacht-Welt existiert als Laboratorium, ja, aber auch als Betriebsanlage. In ihrem Gedächtnis liegt die Macht, die Schacht-Welt zu benützen, um das Universum wieder in Gang zu setzen — nein, ein neues zu schaffen. Brazil wird aufgefordert, nicht nur alles zu zerstören, was wir kennen, sondern auch alles wieder von vorn beginnen zu lassen.«

Das hatte etwas beinahe überwältigend Furchterregendes an sich. Mavra erreichte die Tür, trat hinaus, ging über die Brücke, den Korridor entlang, und betrat den Lift zur Oberfläche, einen der wenigen Orte, die Obie auf Nautilus nicht überwachte.

Sie weinte fast auf dem ganzen Weg nach oben.

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