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In der Other Way Lounge ist es sehr dunkel. Die Frauen, die dort arbeiten, haben aufgehört, Edgar Allan Pogue erst mit neugierigen, dann mit herablassenden und schließlich mit gleichgültigen Blicken anzusehen, und ignorieren ihn inzwischen. Er spielt mit dem Stiel einer Cocktailkirsche herum und bindet ihn gemächlich zu einem Knoten.

In der Other Way Lounge trinkt er immer Bleeding Sunsets, eine Spezialität des Hauses, die aus einer Mischung aus Wodka und »anderem Zeug« besteht, wie er es nennt. »Anderes Zeug« ist orangerot und schwebt wie Nebelfetzen zum Boden des Glases. Ein Bleeding Sunset sieht aus wie ein Sonnenuntergang, bis sich die verschiedenen Flüssigkeiten, Siruparten und das »andere Zeug« miteinander mischen und der Drink einfach nur noch orangefarben ist. Wenn das Eis schmilzt, sehen die undefinierbaren Reste in seinem Glas aus wie das Orangensaftgetränk aus seiner Kinderzeit. Es wurde in Plastikorangen verkauft, und man trank es mit einem grünen Strohhalm, der den Stiel darstellen sollte. Das Orangensaftgetränk war wässrig und schmeckte langweilig, obwohl die Plastikorange eine erfrischende Köstlichkeit verhieß. Bei jedem Besuch in Südflorida hat er seine Mutter angebettelt, ihm eine dieser Plastikorangen zu kaufen, und jedes Mal war er wieder enttäuscht.

Mit Menschen ist es wie mit diesen Plastikorangen und ihrem Inhalt. Zwischen äußerem Schein und Geschmack besteht ein himmelweiter Unterschied. Er hebt sein Glas und lässt den orangefarbenen Nebel am Boden kreisen. Dabei überlegt er, ob er noch einen Bleeding Sunset bestellen soll, rechnet nach, wie viel Geld er noch hat, und denkt auch an seinen Alkoholpegel. Er ist kein Trinker. Das war er noch nie. Er war noch nie im Leben betrunken. Die Vorstellung, betrunken zu sein, macht ihm Angst, und er kann keinen Bleeding Sunset oder ein anderes alkoholisches Getränk zu sich nehmen, ohne jedes Schlückchen mitzuzählen und sich das Hirn über die Folgen zu zermartern. Außerdem achtet er auf seine Figur, und Alkohol ist ein Dickmacher. Seine Mutter war dick und wurde immer dicker, was eine Schande war, denn früher war sie einmal hübsch gewesen. Das liegt in der Familie, pflegte sie zu sagen. Wenn du dich weiter so voll stopfst, wirst du schon noch sehen, was ich meine. Am Bauch fängt es meistens an.

»Ich hätte gern noch einen«, sagt Edgar Allan Pogue in den Raum hinein.

Die Other Way Lounge besteht aus einem sehr kleinen Raum, in dem Holztische mit schwarzen Decken stehen. Auf den Tischen befinden sich zwar Kerzen, doch all die Male, die er schon hier war, haben sie noch nie gebrannt. In der Ecke gibt es einen Billardtisch, doch er hat noch nie jemanden daran spielen sehen, und er hat die Vermutung, dass sich die Kundschaft nicht für Billard interessiert und dass der zerkratzte Tisch mit der roten Filzbespannung ein Überbleibsel aus einer früheren Epoche ist. Wahrscheinlich war die Other Way Lounge einmal eine ganz andere Art von Lokal. Nichts bleibt, wie es ist.

»Ich glaube, ich hätte gern noch einen«, wiederholt er.

Die Frauen, die hier arbeiten, sind Hostessen, keine Kellnerinnen, und möchten auch so behandelt werden. Die Herren, die in der Other Way Lounge vorbeischauen, rufen die Damen nicht mit einem Fingerschnippen herbei, weil sie Hostessen sind und Respekt verlangen. Pogue hat den Eindruck, dass sie ihm beinahe einen Gefallen tun, indem sie ihn überhaupt hereinlassen und ihm erlauben, sein Geld für ihre klebrigen blutroten Bleeding Sunsets auszugeben. Sein Blick schweift durch die Dunkelheit und bleibt an der Rothaarigen hängen. Sie trägt einen dünnen, kurzen schwarzen Pulli, unter den eigentlich eine Bluse gehören würde. Der Pulli bedeckt kaum, was er bedecken sollte, und Edgar Allan hat noch nie gesehen, dass sie sich aus einem praktischen Grund vorgebeugt hätte, wie zum Beispiel um eine Tischdecke abzuwischen oder ein Getränk abzustellen. Wenn sie sich vorbeugt, dann nur, damit ausgewählte Männer etwas zu sehen kriegen, solche, die gutes Trinkgeld geben und die richtigen Sprüche draufhaben. Der Pulli hat vorne einen Einsatz, ein schwarzes quadratisches Stück Stoff, kleiner als ein Blatt Schreibmaschinenpapier, der von zwei schwarzen Trägern gehalten wird. Der Einsatz ist lose. Wenn sie sich vorbeugt, um etwas zu sagen oder leere Gläser zu entfernen, bewegt sich etwas unter dem Einsatz und könnte sogar herausrutschen. Aber es ist dunkel, sehr dunkel, und außerdem hat sie sich noch nie über seinen Tisch gebeugt und wird es vermutlich auch nicht tun. Hinzu kommt, dass er von seinem Platz aus nicht gut sehen kann.

Er steht von seinem Tisch neben der Tür auf, weil er keine Lust hat, durch den ganzen Raum zu brüllen, dass er gerne noch einen Bleeding Sunset hätte. Er ist auch nicht sicher, ob er überhaupt noch einen will. Ständig muss er an die leuchtende Plastikorange mit dem grünen Strohhalm denken, und je deutlicher er sie vor sich sieht und sich an seine Enttäuschung erinnert, desto ungerechter fühlt er sich behandelt. Er steht neben dem Tisch und holt einen Zwanziger aus der Tasche. Geld hat in der Other Way Lounge dieselbe Wirkung wie ein Steak auf einen Hund, denkt er. Die Rothaarige stakst auf ihren Stilettoabsätzen auf ihn zu. Unter dem Einsatz ihres Pullis wippt es, und unter dem engen Minirock pumpen die Beine. Aus der Nähe ist sie alt. Siebenundfünfzig, achtundfünfzig oder sogar sechzig.

»Gehst du schon, Süßer?« Sie nimmt den Zwanziger vom Tisch, ohne Edgar Allan anzusehen.

Auf der rechten Wange hat sie ein Muttermal, vermutlich mit dem Augenbrauenstift aufgemalt. Er hätte es viel besser gemacht. »Ich hätte gern noch einen«, sagt er.

»Möchten wir das nicht alle, Schätzchen?« Ihr Lachen erinnert ihn an eine Katze, die Schmerzen hat. »Einen Moment, ich bringe ihn dir.«

»Es ist zu spät«, erwidert er.

»Bessie, mein Kind, wo bleibt mein Whisky?«, fragt ein ruhiger Mann am Nebentisch.

Pogue hat ihn vorhin in einem großen neuen Cadillac vorfahren sehen. Er ist sehr alt, mindestens achtzig, einundachtzig oder zweiundachtzig, und trägt einen hellblauen Seersucker-Anzug und eine hellblaue Krawatte. Bessie hüpft wippend auf ihn zu, und Pogue ist plötzlich nicht mehr vorhanden, obwohl er sich noch im Raum befindet. Also geht er. Da er ohnehin nicht existiert, kann er sich genauso gut verdrücken. Durch die schwere dunkle Tür tritt er auf den mit Kies bestreuten Parkplatz hinaus in die Dunkelheit, wo entlang des Gehwegs schwarze Olivenbäume und Palmen stehen. Er verharrt im dichten Schatten der Bäume und blickt zur Shell-Tankstelle auf der anderen Seite der Twenty-Sixth Avenue North hinüber, wo die riesige Muschel leuchtend gelb in die Nacht strahlt. Er spürt die warme Brise und findet es angenehm, einfach ein paar Minuten lang dazustehen und hinzuschauen.

Die erleuchtete Muschel erinnert ihn wieder an die Plastikorangen. Er weiß nicht, warum. Es könnte daran liegen, dass seine Mutter ihm das Getränk immer an Tankstellen gekauft hat. Es wäre nachvollziehbar, wenn sie ihm hin und wieder ein Orangensaftgetränk für zehn Cent das Stück besorgt hätte, jeden Sommer, als sie von Virginia nach Vero Beach in Florida gefahren sind, um ihre Mutter zu besuchen, die förmlich im Geld erstickte. Er und seine Mutter übernachteten immer in einem Motel namens Driftwood Inn. Er erinnert sich nur noch, dass es wirklich aussah, als wäre es aus Treibholz gebaut, und dass er nachts auf derselben Luftmatratze schlief, auf der er sich tagsüber im Meer treiben ließ.

Da die Luftmatratze nicht sehr groß war, hingen seine Arme und Beine über den Rand, als ob er in den Wellen paddelte. Er schlief im Wohnzimmer, während seine Mutter sich hinter die verschlossene Tür des Schlafzimmers zurückzog. Die einzige Klimaanlage ratterte im Fenster ihres verriegelten und verrammelten Schlafzimmers. Er weiß noch, wie warm ihm war und wie er schwitzte. Seine sonnenverbrannte Haut klebte am Gummi der Luftmatratze, sodass es sich anfühlte, als würde ein Pflaster abgerissen, wenn er sich bewegte. Die ganze Nacht, eine ganze Woche lang. Das war der Urlaub, der einzige, den sie jedes Jahr machten, und zwar im Sommer, immer im August.

Pogue beobachtet, wie sich Scheinwerfer nähern und Heckleuchten entfernen. Helle weiße und rote Augen, die in der Nacht vorbeisausen. Dann blickt er nach links und wartet darauf, dass die Ampel umspringt. Als es so weit ist, wird der Verkehr langsamer. Pogue trottet über die freie Fahrbahn, die nach Osten führt, und schlängelt sich zwischen den Autos auf der Fahrbahn nach Westen durch. An der Shell-Tankstelle schaut er zu der hellgelben Muschel hinauf, die hoch über ihm in der Dunkelheit schwebt. Er beobachtet einen alten Mann in ausgebeulten Shorts, der an einer Zapfsäule Benzin tankt, und einen anderen alten Mann in einem zerknitterten Anzug an einer anderen Zapfsäule. Pogue hält sich im Schatten und pirscht zur Glastür. Ein Glöckchen erklingt, als er hineingeht und schnurstracks auf die Getränkeautomaten im hinteren Teil des Raumes zusteuert. Die Frau hinter der Theke kassiert gerade eine Tüte Chips, ein Sixpack Bier und eine Tankfüllung Benzin und würdigt ihn keines Blickes.

Neben dem Kaffeeautomaten befindet sich der Colaautomat. Er nimmt fünf der größten Plastikbecher mit Deckel und geht damit zur Kasse. Die Becher sind mit bunten Comicfiguren bedruckt, die Deckel sind weiß mit einer kleinen Tülle zum Trinken. Er legt Becher und Deckel auf die Theke.

»Haben Sie das Orangensaftgetränk in den Plastikorangen mit grünen Strohhalmen?«, fragt er die Frau hinter der Theke.

»Was?« Stirnrunzelnd greift sie nach einem Becher. »Die sind ja leer. Möchten Sie denn nichts zu trinken kaufen?«

»Nein«, erwidert er. »Ich brauche nur die Becher und die Deckel.«

»Wir verkaufen keine Becher.«

»Mehr brauche ich aber nicht«, entgegnet er.

Sie späht über ihre Brille, um sein Gesicht zu betrachten, und er überlegt, was sie wohl sieht, wenn sie ihn so anschaut. »Wir verkaufen aber keine leeren Becher.«

»Ich hätte auch lieber das Orangensaftgetränk, wenn Sie das dahaben«, gibt er zurück.

»Was für ein Orangensaftgetränk?« Sie wird ungeduldig und gereizt. »Sehen Sie den großen Kühlschrank da hinten? Wir haben nur, was da drin steht.«

»Das Getränk ist in Plastikflaschen abgefüllt, die wie Orangen aussehen. Und es ist ein grüner Strohhalm dabei.«

Ihre finstere Miene wird von Erstaunen abgelöst, und ihre grell geschminkten Lippen teilen sich zu einem breiten Lächeln, das ihn an einen Halloweenkürbis erinnert. »Ach, du heiliger Strohsack, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Dieses komische Orangensaftgetränk. Schätzchen, das gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Du meine Güte, ich hatte es ganz vergessen.«

»Dann nehme ich nur die Becher und die Deckel«, beharrt er.

»Mein Gott, ich geb’s auf. Gut, dass meine Schicht gleich zu Ende ist, das kann ich Ihnen sagen.«

»Eine lange Nacht«, meint er.

»Und sie wird immer länger.« Sie lacht auf. »Diese dämlichen Orangen mit den Strohhalmen.« Sie blickt zur Tür, wo gerade der alte Mann mit den ausgebeulten Shorts hereinkommt, um sein Benzin zu bezahlen.

Pogue achtet nicht auf ihn. Stattdessen starrt er sie an. Sie hat gefärbtes Haar, so platinblond wie Angelschnur, und gepuderte Haut, die aussieht wie weicher, knittriger Stoff. Sicher fühlt sich ihre Haut an wie die Flügel eines Schmetterlings. Wenn er sie berühren würde, würde sich der Puder abreiben wie von Schmetterlingsflügeln. Auf ihrem Namensschild steht EDITH.

»Ich sag Ihnen was.« Edith spricht ihn an. »Ich gebe Ihnen die leeren Becher für fünfzig Cent das Stück, und die Deckel kriegen Sie gratis dazu. Und jetzt muss ich mich um meine anderen Kunden kümmern.« Ihre Finger tippen etwas in die Kasse ein, und die Schublade öffnet sich.

Pogue reicht Edith einen Fünf-Dollar-Schein, und seine Finger berühren ihre, als er das Wechselgeld entgegennimmt. Ihre Finger sind kühl, beweglich und weich, und er weiß, dass die Haut daran locker ist wie bei allen Frauen ihres Alters. Draußen in der schwülen Nacht wartet er auf eine Lücke im Verkehr und überquert dann die Straße wie vor ein paar Minuten. Unter denselben schwarzen Olivenbäumen und Palmen bleibt er stehen und beobachtet die Tür der Other Way Lounge. Als niemand hinein- oder hinausgeht, eilt er zu seinem Auto und steigt ein.

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