Der Anruf am Montagmorgen kam völlig unerwartet.
»Dana Evans?«
»Ja.«
»Hier ist Dr. Joel Hirschberg. Ich bin vom Kinderhilfswerk.«
Dana hörte ihm zunächst verständnislos zu. »Ja?«
»Elliot Cromwell erwähnte mir gegenüber, dass Sie Schwierigkeiten hätten, eine Armprothese für Ihren Sohn zu bekommen.«
Dana musste einen Moment lang nachdenken. »Ja, das habe ich ihm erzählt.«
»Mr. Cromwell hat mir die Vorgeschichte geschildert. Diese Stiftung wurde gegründet, um Kindern zu helfen, deren Heimat im Krieg verwüstet wurde. Nach dem, was Mr. Cromwell sagte, zählt Ihr Sohn sicherlich zu dieser Zielgruppe. Möchten Sie nicht mal mit ihm bei mir vorbeikommen?«
»Na ja, ich - ja, natürlich.« Sie vereinbarten einen Termin.
Als Kemal aus der Schule nach Hause kam, sagte Dana aufgeregt: »Wir zwei besuchen einen Arzt und sehen zu, dass wir einen neuen Arm für dich bekommen können. Was hältst du davon?«
Kemal dachte darüber nach. »Ich weiß nicht. Ein echter Arm wird’s nicht.«
»Aber fast so gut wie ein echter Arm, jedenfalls so weit es geht. Okay, mein Bester?«
»Cool.«
Dr. Joel Hirschberg war Ende vierzig, ein attraktiver, ernst wirkender Mann, der Ruhe und Kompetenz ausstrahlte.
»Doktor«, sagte Dana, nachdem sie und Kemal ihn begrüßt hatten, »ich möchte Ihnen von vornherein erklären, dass wir finanziell eine Regelung finden müssten, da Kemal noch wächst und man mir bedeutet hat, dass er alle paar -«
»Wie ich Ihnen bereits am Telefon mitgeteilt habe, Miss Evans«, unterbrach sie Dr. Hirschfeld, »wurde das Kinderhilfswerk eigens dazu gegründet, um Kindern aus kriegszerstörten Ländern zu helfen. Wir kommen für die Kosten auf.«
Dana war zutiefst erleichtert. »Das ist ja wunderbar.« Sie sprach ein stummes Gebet. Gott segne Elliot Cromwell.
Dr. Hirschberg wandte sich wieder an Kemal. »Nun, dann lass dich doch mal angucken, junger Mann.«
Eine halbe Stunde später wandte sich Dr. Hirschberg an Dana. »Ich glaube, das können wir weitgehendst beheben.« Er zog eine Schautafel an der Wand herunter. »Wir haben zweierlei Arten von Prothesen zur Verfügung, einen myoe-lektrischen Arm, das ist die allermodernste Version, und einen per Drahtseil bewegten. Wie Sie hier sehen können, ist der myoelektrische Arm aus Plastik hergestellt und an der Hand mit einem hautartigen Material beschichtet.« Er lächelte Kemal an. »Er sieht fast so aus wie ein echter.«
»Kann man ihn bewegen?«, fragte Kemal.
»Kemal«, sagte Dr. Hirschberg, »willst du manchmal deine Hand bewegen? Ich meine die Hand, die nicht mehr da ist?«
»Ja«, erwiderte Kemal.
Dr. Hirschberg beugte sich vor. »Nun denn, jedes Mal, wenn du diese nicht mehr vorhandene Hand bewegen willst, spannen sich die Muskeln an, die früher eben dazu dienten, und erzeugen automatisch einen myoelektrischen Impuls. Mit anderen Worten: Du wirst deine Hand durch bloße Willenskraft öffnen und schließen können.«
Kemals Gesicht leuchtete auf. »Ehrlich? Wie - wie kann man so einen Arm an- und wieder ausziehen?«
»Das geht ganz leicht. Du legst ihn einfach an. Er saugt sich dann fest. Er ist mit einer Art dünnem Nylonstrumpf überzogen. Schwimmen kannst du damit nicht, aber ansonsten kannst du so gut wie alles damit machen. Es ist wie bei einem Paar Schuhe. Du nimmst ihn abends ab und legst ihn morgens wieder an.«
»Wie viel wiegt er?«, fragte Dana.
»Das kommt ganz darauf an. Etwa hundertfünfzig Gramm bis ein Pfund.«
Dana wandte sich an Kemal. »Was meinst du, Sportsfreund? Wollen wir’s versuchen?«
Kemal versuchte seine Aufregung zu verbergen. »Sieht er auch echt aus?«
Dr. Hirschberg lächelte. »Er wird aussehen wie ein echter.«
»Klingt geil.«
»Notgedrungen bist du Linkshänder geworden, daher musst du erst wieder umlernen. Das wird eine gewisse Zeit dauern, Kemal. Wir können dir die Prothese sofort anpassen, aber dann musst du eine Zeit lang zum Therapeuten gehen, um dich daran zu gewöhnen und zu lernen, wie man damit umgeht und die myoelektrischen Impulse steuert.«
Kemal atmete tief durch. »Cool.«
Dana drückte Kemal an sich. »Es wird bestimmt ganz wunderbar«, sagte sie. Sie kämpfte gegen die Tränen an.
Dr. Hirschberg betrachtete sie einen Moment lang, dann lächelte er. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Als Dana ins Studio zurückkehrte, suchte sie Elliot Crom-well auf.
»Elliot, wir kommen gerade von Dr. Hirschberg.«
»Gut. Ich hoffe, er kann Kemal helfen.«
»Sieht ganz so aus. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen dafür bin.«
»Dana, da gibt’s nichts zu danken. Ich freue mich, dass ich Ihnen helfen konnte. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wie es weitergeht.«
»Wird gemacht.« Gott segne Sie.
»Blumen!« Olivia kam mit einem großen Blumenstrauß ins Büro.
»Die sind ja prachtvoll!«, rief Dana.
Sie öffnete den beiliegenden Briefumschlag und las die Karte. Liebe Miss Evans, unser Freund bellt nur, aber er beißt nicht. Hoffentlich gefallen Ihnen die Blumen. Jack Stone.
Dana musterte einen Moment lang die Karte. Interessant, dachte sie. Jeff hat gesagt, er kann nicht nur bellen, sondern auch beißen. Wer hat nun Recht? Dana hatte das Gefühl, dass Jack Stone seine Arbeit nicht ausstehen konnte. Und seinen Vorgesetzten auch nicht. Ich werd’s mir merken.
Dana rief Jack Stone bei der FRA an.
»Mr. Stone? Ich wollte mich nur für die herrlichen -«
»Sind Sie in Ihrem Büro?«
»Ja. Ich -«
»Ich rufe Sie zurück.« Freizeichen.
Drei Minuten später rief Jack Stone an.
»Miss Evans, es wäre für uns beide besser, wenn unser gemeinsamer Freund nicht erfährt, dass wir miteinander geredet haben. Ich habe versucht, auf ihn einzuwirken, damit er seine Haltung ändert, aber er ist ein sturer Kopf. Ich gebe Ihnen meine private Handy-Nummer, falls Sie mich mal brauchen sollten - wirklich brauchen, meine ich damit. Darüber können Sie mich jederzeit erreichen.«
»Vielen Dank.« Dana schrieb sich die Nummer auf.
»Miss Evans -« »Ja?«
»Nichts weiter. Seien Sie vorsichtig.«
Als Jack Stone an diesem Morgen zum Dienst angetreten war, hatte ihn General Booster bereits erwartet.
»Jack, ich habe das Gefühl, dass diese Evans Stunk machen könnte. Ich möchte, dass Sie eine Akte über sie anlegen. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Ich kümmere mich gleich darum.« Nur dass es da nichts Laufendes geben wird. Danach hatte er Dana Blumen geschickt.
Dana und Jeff waren in der Kantine für die leitenden Angestellten des Senders und unterhielten sich über Kemals Prothese.
»Ich bin so aufgeregt, mein Schatz«, sagte Dana. »Dadurch wird alles ganz anders werden. Er ist nur deshalb so auf Streit aus, weil er sich unterlegen vorkommt. Das wird sich jetzt ändern.«
»Er ist bestimmt total aufgeregt«, sagte Jeff. »Ich jedenfalls wäre es.«
»Und das Wunderbare dabei ist, dass das Kinderhilfswerk für alle Kosten aufkommt. Wenn wir -«
Jeffs Handy klingelte. »Entschuldige, Liebling.« Er drückte auf einen Knopf und meldete sich. »Hallo? ... Oh ...« Er warf Dana einen kurzen Blick zu. »Nein ... Ist schon in Ordnung . Schieß los .«
Dana saß da und versuchte nicht zuzuhören.
»Ja . Verstehe . Genau . Vermutlich ist es nichts Ernstes, aber vielleicht solltest du einen Arzt aufsuchen. Wo bist du im Augenblick? In Brasilien? Dort gibt’s ein paar gute Ärzte. Natürlich ... Ich verstehe ... Nein ...« Das Gespräch wollte kein Ende nehmen, bis Jeff endlich sagte: »Pass auf dich auf. Mach’s gut.« Er unterbrach die Verbindung.
»Rachel?«, fragte Dana.
»Ja. Sie hat irgendwelche Beschwerden. Hat die Aufnahmen in Rio abgebrochen. Das hat sie noch nie gemacht.«
»Wieso ruft sie dich an, Jeff?«
»Sie hat sonst niemanden, Liebling. Sie ist völlig allein.«
»Tschüss, Jeff.«
Widerwillig legte Rachel auf, riss sich nur ungern los. Sie blickte aus dem Fenster auf den Zuckerhut in der Ferne und den Strand von Ipanema tief unter ihr. Dann ging sie ins Schlafzimmer und legte sich erschöpft und benommen hin. Unablässig kreisten ihre Gedanken um den heutigen Tag. Es hatte so gut angefangen an diesem Morgen am Strand, als sie für eine Werbekampagne von American Express Modell gestanden hatte.
»Die letzte war klasse, Rachel«, hatte der Regisseur gegen Mittag gesagt. »Jetzt noch eine letzte Einstellung.«
»Nein«, hatte sie erwidert, obwohl sie ursprünglich hatte Ja sagen wollen. »Tut mir Leid. Ich kann nicht.«
Überrascht hatte er sie angeschaut. »Was?«
»Ich bin so müde. Sie müssen mich entschuldigen.« Sie hatte sich umgedreht und war kurzerhand ins Hotel geflüchtet, durch das Foyer gestürmt und hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Ihr war übel gewesen und sie hatte am ganzen Leib gezittert. Was ist mit mir los? Ihre Stirn hatte sich heiß angefühlt.
Sie hatte zum Telefon gegriffen und Jeff angerufen. Beim bloßen Klang seiner Stimme war es ihr besser gegangen. Ein Segen. Er ist immer für mich da. Als das Gespräch vorüber war, lag Rachel im Bett und dachte nach. Eine Zeit lang hatten wir richtig Spaß miteinander. Er war immer bester Dinge. Wir haben es genossen, wenn wir zusammen etwas unternehmen konnten, gemeinsam etwas erlebt haben. Wie konnte ich ihn nur gehen lassen? Sie musste wieder daran denken, wie ihre Ehe in die Brüche gegangen war.
Angefangen hatte es mit einem Telefonanruf.
»Rachel Stevens?«
»Ja.«
»Roderick Marshall möchte Sie sprechen.« Einer der bedeutendsten Regisseure von Hollywood.
Im nächsten Moment war er auch schon am Apparat. »Miss Stevens?«
»Ja?«
»Roderick Marshall. Wissen Sie, wer ich bin?«
Sie hatte etliche Filme von ihm gesehen. »Selbstverständlich, Mr. Marshall.«
»Ich habe mir Fotos von Ihnen angeschaut. Wir könnten Sie hier bei der Fox gut gebrauchen. Hätten Sie Lust, nach Hollywood zu kommen und ein paar Probeaufnahmen zu machen?«
Rachel zögerte einen Moment lang. »Ich weiß nicht recht. Ich meine, ich weiß nicht, ob ich eine gute Schauspielerin wäre. Ich habe noch nie -«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Wir kommen selbstverständlich für sämtliche Kosten auf. Wann können Sie frühestens hier sein?«
Rachel ging in Gedanken ihre Termine durch. »In drei Wochen.«
»Gut. Das Studio wird alles Weitere in die Wege leiten.«
Erst als Rachel auflegte, wurde ihr klar, dass sie sich nicht mit Jeff abgesprochen hatte. Es macht ihm bestimmt nichts aus, hatte sie damals gedacht. Wir sind doch sowieso nur selten zusammen.
»Hollywood«, hatte Jeff erwidert.
»Das wird der reinste Jux, Jeff.«
Er hatte genickt. »Na schön. Häng dich rein. Wahrscheinlich machst du es großartig.« »Kannst du nicht mitkommen?«
»Liebes, wir spielen am Montag in Cleveland, danach müssen wir in Washington ran und hinterher in Chicago. Wir haben noch allerhand Spiele vor uns. Und ich glaube, die Mannschaft würde es schon merken, wenn einer ihrer stärksten Pitcher fehlt.«
»Schade.« Sie versuchte so ruhig und beiläufig wie möglich zu klingen. »Irgendwie kommen wir anscheinend nie zusammen, was, Jeff?«
»Jedenfalls nicht oft genug.«
Rachel wollte noch etwas sagen, doch sie verkniff es sich. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.
Am Flughafen von Los Angeles wurde Rachel von einem Chauffeur in Diensten des Studios mit einer langen Limousine abgeholt.
»Ich heiße Henry Ford.« Er kicherte. »Bin aber weder verwandt noch verschwägert. Man nennt mich Hank.«
Die Limousine fädelte sich in den Verkehr ein. Unterwegs ließ er sich fortwährend über dies und jenes aus.
»Zum ersten Mal in Hollywood, Miss Stevens?«
»Nein. Ich war schon oft hier. Zum letzten Mal vor zwei Jahren.«
»Tja, seither hat sich allerhand verändert. Alles ist noch größer und gewaltiger geworden. Wenn Sie Glamour mögen, werden Sie begeistert sein.«
Falls ich Glamour mag.
»Das Studio hat Sie im Chateau Marmont untergebracht. Dort steigt die ganze Prominenz ab.«
Rachel gab sich beeindruckt. »Wirklich?«
»O ja. John Belushi ist dort gestorben, müssen Sie wissen, nachdem er eine Überdosis genommen hat.«
»Herrje.«
»Gable hat dort gewohnt. Paul Newman. Marilyn Monroe.« Er zählte einen Namen nach dem andern auf, bis Rachel irgendwann nicht mehr zuhörte.
Das Chateau Marmont lag unmittelbar nördlich des Sunset Strip. Es sah aus wie eine Schlossattrappe in einem Filmstudio.
»Ich hol Sie um zwei Uhr ab und bring Sie zum Studio«, sagte Henry Ford. »Dort lernen Sie dann Roderick Marshall kennen.«
»Ich erwarte Sie.«
Zwei Stunden später saß Rachel in Roderick Marshalls Büro. Er war Mitte vierzig, klein und untersetzt, sprühte aber förmlich vor Energie.
»Sie werden noch froh sein, dass Sie hergekommen sind«, sagte er. »Ich werde Sie zu einem großen Star machen. Morgen fangen wir mit den Probeaufnahmen an. Eine meiner Assistentinnen wird Sie zur Garderobe bringen, wo Sie sich irgendwas Nettes aussuchen können. Meiner Meinung nach sollten Sie uns eine Szene aus Ende vom Lied vorspielen, einem unserer großen Kinoerfolge. Wenn Sie morgen früh um sieben in der Maske und zum Hairstyling antreten könnten? Ich nehme an, das ist für Sie nichts Neues, was?«
»Nein«, sagte Rachel mit tonloser Stimme.
»Sind Sie allein hier, Rachel?«
»Ja.«
»Warum treffen wir uns dann nicht einfach heute Abend und gehen gemeinsam irgendwo essen?«
Rachel überlegte einen Moment lang. »Von mir aus.«
»Ich hole Sie um acht Uhr ab.«
Aus dem gemeinsamen Abendessen wurde eine turbulente Nacht.
»Wenn man weiß, wo was los ist - und wenn man dort reinkommt«, erklärte Roderick Marshall Rachel, »dann hat L.A. ein paar der schärfsten Clubs auf der ganzen Welt zu bieten.«
Der Zug durch die Gemeinde fing im Standard an, einer angesagten Bar samt Restaurant und Hotel am Sunset Boulevard. Als sie an der Rezeption vorbeigingen, blieb Rachel stehen und starrte auf die Mattglasscheibe, hinter der sich ein Nacktmodell in voller Lebensgröße räkelte.
»Ist das nicht toll?«
»Unglaublich«, sagte Rachel.
Sie besuchten einen Club nach dem anderen, alle laut und überlaufen, bis Rachel irgendwann erschöpft war.
Roderick Marshall setzte sie vor dem Hotel ab. »Schlafen Sie gut. Morgen wird sich Ihr ganzes Leben verändern.«
Um sieben Uhr morgens war Rachel in der Maske. Bob Van Dusen, der Maskenbildner, musterte sie mit anerkennendem Blick. »Und dafür bekomme ich auch noch Geld?«, sagte er.
Sie lachte.
»Sie brauchen nicht viel Make-up. Dafür hat Mutter Natur bereits gesorgt.«
»Besten Dank.«
Als Rachel fertig war, half ihr eine Kostümschneiderin beim Anlegen des Kleides, das sie am Nachmittag zuvor anprobiert hatten. Ein Regieassistent brachte sie in das riesige Aufnahmestudio.
Roderick Marshall und das Team erwarteten sie bereits. Der Regisseur musterte Rachel einen Moment lang. »Bestens«, sagte er dann. »Wir machen die Probeaufnahme in zwei Teilen, Rachel. Zunächst setzen Sie sich auf diesen Stuhl, und ich stelle Ihnen aus dem Off ein paar Fragen. Seien Sie ganz natürlich.«
»Gut. Und der zweite Teil?«
»Die kurze Probeszene, die ich bereits erwähnt habe.«
Rachel setzte sich hin, und der Kameramann stellte Schärfe und Belichtung ein. Roderick Marshall stand so, dass er nicht im Bild war. »Sind Sie bereit?«
»Ja.«
»Gut. Ganz locker. Sie machen das bestimmt wunderbar. Kamera ab. Action. Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
»Ich habe gehört, dass Sie Model sind.«
Rachel lächelte: »Ja.«
»Wie sind Sie dazu gekommen?«
»Ich war fünfzehn. Der Besitzer einer Model-Agentur sah mich mit meiner Mutter in einem Restaurant, kam her und hat sie angesprochen, und ein paar Tage später war ich Model.«
Das Interview dauerte eine gute Viertelstunde, die Rachel mit der ihr eigenen Intelligenz und Selbstsicherheit mühelos hinter sich brachte.
»Schnitt! Wunderbar!« Roderick Marshall reichte ihr den Text zu einer kurzen Probeszene. »Wir machen erst mal eine Pause. Lesen Sie das. Wenn Sie so weit sind, sagen Sie mir Bescheid, und wir drehen dann. Das machen Sie mit links, Rachel.«
Rachel las den Text. Es ging um eine Frau, die ihren Mann um die Einwilligung zur Scheidung bat. Rachel las ihn noch einmal.
»Ich bin bereit.«
Rachel wurde Kevin Webster vorgestellt, der ihren Widerpart spielen sollte - ein gut aussehender junger Mann, wie es sie in Hollywood zuhauf gab.
»In Ordnung«, sagte Roderick Marshall. »Dann drehen wir. Kamera ab. Action.«
Rachel schaute Kevin Webster an. »Ich habe heute Morgen mit einem Scheidungsanwalt gesprochen, Cliff.«
»Ich habe es schon gehört. Hättest du nicht erst mit mir reden können?«
»Ich habe mit dir darüber geredet. Ich rede schon seit einem Jahr mit dir darüber. Unsere Ehe besteht doch nur noch auf dem Papier. Du hast bloß nicht zugehört, Jeff.«
»Schnitt«, sagte Roderick. »Rachel, er heißt Cliff.«
»Tut mir Leid«, erwiderte Rachel betreten.
»Machen wir’s nochmal. Take two.«
In dieser Szene geht es im Grunde genommen um Jeff und mich, dachte Rachel. Unsere Ehe besteht doch nur noch auf dem Papier. Wie sollte es auch anders sein? Jeder führt sein eigenes Lehen. Wir sehen uns kaum. Wir lernen beide attraktive Menschen kennen, aber wir dürfen uns nicht mit ihnen einlassen, weil es einen Vertrag gibt, der nichts mehr zu bedeuten hat.
»Rachel!«
»Tut mir Leid.«
Sie fingen noch mal von vorn an.
Als Rachel mit der Probeaufnahme fertig war, hatte sie zwei Entschlüsse gefasst. Erstens, dass sie in Hollywood nichts verloren hatte.
Und außerdem wollte sie sich scheiden lassen ...
Ich habe einen Fehler gemacht, dachte sie jetzt, als sie in Rio im Bett lag, sich elend und erschöpft fühlte. Ich hätte mich niemals von Jeff scheiden lassen sollen.
Als Kemal am Dienstag aus der Schule kam, brachte Dana ihn zu dem Therapeuten, der mit ihm den Umgang mit der Armprothese übte. Der künstliche Arm wirkte wie echt und funktionierte gut, aber Kemal hatte Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen, und zwar sowohl körperlich als auch psychisch.
»Er kommt sich vor, als hätte man ihm einen Fremdkörper angeschnallt«, hatte der Therapeut Dana erklärt. »Unsere Aufgabe ist es, ihn soweit zu bringen, dass er ihn als Teil seines Körpers akzeptiert. Er muss sich daran gewöhnen, dass er wieder mit beiden Händen zugreifen kann. Diese Eingewöhnungszeit dauert für gewöhnlich zwei bis drei Monate. Ich muss Sie allerdings vorwarnen - es kann eine sehr schwierige Zeit werden.«
»Wir kommen schon damit zurecht«, versicherte ihm Da-na.
Es war nicht so einfach. Am nächsten Morgen kam Kemal ohne seine Prothese aus dem Arbeitszimmer. »Ich bin soweit.«
Dana blickte ihn erstaunt an. »Wo ist dein Arm, Kemal?«
Trotzig hob Kemal die linke Hand. »Hier ist er.«
»Du weißt genau, was ich meine. Wo ist deine Prothese?«
»Die ist ätzend. Ich trag sie nicht mehr.«
»Du wirst dich daran gewöhnen. Ich versprech’s dir. Du musst es nur versuchen. Ich helfe dir da -«
»Niemand kann mir helfen. Ich bin einfukati, Krüppel ...«
Dana suchte Detective Marcus Abrams noch mal auf. Als sie eintrat, saß Abrams an seinem Schreibtisch und war mit dem Ausfüllen von allerlei Formularen beschäftigt. Mit finsterer Miene blickte er auf.
»Wissen Sie, was ich an diesem verdammten Job nicht ausstehen kann?« Er deutete auf einen Stapel Akten. »Das da. Ich wünschte, ich wäre draußen auf der Straße und könnte auf ein paar Kriminelle schießen. Ach, vergessen Sie’s. Sie sind Journalistin, nicht wahr? Zitieren Sie mich nicht.«
»Zu spät.«
»Und womit kann ich Ihnen dienen, Miss Evans?«
»Ich wollte Sie noch mal nach dem Fall Sinisi fragen. Hat man eine Autopsie vorgenommen?« »Pro forma.« Er holte ein paar Papiere aus seiner Schreibtischschublade.
»Stand im Autopsiebericht irgendwas Verdächtiges?«
Sie sah, wie Detective Abrams das Formular überflog. »Kein Alkohol ... keine Drogen ... Nein.« Er blickte auf. »Sieht so aus, als ob die gute Frau Depressionen hatte und einfach beschlossen hat, dem Ganzen ein Ende zu machen. Ist das alles?«
»Das ist alles«, sagte Dana.
Danach schaute sie bei Detective Phoenix Wilson vorbei.
»Guten Morgen, Detective Wilson.«
»Und was führt Sie in mein bescheidenes Büro?«
»Ich wollte wissen, ob es irgendwelche Neuigkeiten in der Mordsache Gary Winthrop gibt.«
Detective Wilson seufzte und kratzte sich an der Nase.
»Nicht das Geringste. Eigentlich hätte mittlerweile eins der Bilder irgendwo auftauchen müssen. Darauf haben wir uns verlassen.«
Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, hätte Dana am liebsten gesagt. Doch sie hielt den Mund. »Keinerlei Hinweise?«
»Nicht ein einziger. Die Mistkerle haben sich einfach mir nichts, dir nichts abgeseilt. Wir haben hier nicht allzu oft mit Kunstdiebstählen zu tun, aber normalerweise laufen die immer nach dem gleichen Schema ab. Das ist ja das Erstaunliche daran.«
»Erstaunlich?«
»Ja. In diesem Fall sieht das anders aus.«
»Anders . inwiefern?«
»Kunstdiebe bringen keine unbewaffneten Menschen um, und die zwei hatten keinerlei Grund, Gary Winthrop kaltblütig niederzuschießen.« Er hielt inne. »Haben Sie ein besonderes Interesse an diesem Fall?« »Nein«, log Dana. »Ganz und gar nicht. Reine Neugier. Ich wollte nur -«
»Gut«, sagte Detective Wilson. »Melden Sie sich wieder.«
Als die Konferenz in General Boosters Büro in der hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten Zentrale der FRA zu Ende ging, wandte sich der General an Jack Stone. »Was treibt eigentlich diese Evans?«
»Sie läuft durch die Gegend und stellt allerlei Fragen, aber meiner Meinung nach ist sie harmlos. Sie kommt keinen Schritt weiter.«
»Mir passt das nicht, dass die da draußen rumschnüffelt. Leiten Sie Code drei in die Wege.«
»Wann soll ich damit anfangen?«
»Vorgestern.«
Dana war gerade mit den Vorbereitungen für die nächste Sendung beschäftigt, als Matt Baker in ihr Büro kam und sich in einen Sessel sinken ließ.
»Ich habe gerade Ihretwegen einen Anruf erhalten.«
»Meine Fans können nicht genug von mir kriegen, was?« sagte Dana leichthin.
»Der hier hatte genug von Ihnen.«
»Ach ja?«
»Der Anruf kam von der FRA. Die bitten Sie darum, Ihre Recherchen über Taylor Winthrop einzustellen. Nicht offiziell natürlich. Nur ein gut gemeinter Rat, wie die das bezeichnen. Anscheinend wollen sie, dass Sie sich um Ihren eigenen Kram kümmern.«
»Aha, so sieht das also aus«, sagte Dana. Sie ging mit Matt auf Blickkontakt. »Da fragt man sich doch wieso, nicht wahr? Ich denke nicht daran, die Sache sausen zu lassen, nur weil eine Regierungsbehörde das möchte. Es hat in Aspen angefangen, wo Taylor Winthrop und seine Frau bei einem Brand umkamen. Dahin fahre ich zuerst. Und wenn ich dort auf irgendwas stoße, könnte das der große Aufhänger zum Auftakt von Alibi werden.«
»Wie viel Zeit brauchen Sie?«
»Nicht mehr als ein, zwei Tage.«
»Dann nichts wie ran.«