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Cally verließ die Damentoilette, ging an Gra — dem zweiten Mann vom Reinigungstrupp — vorbei hinaus und wünschte ihm einen angenehmen Tag. Die mit dunkelblauem Kunststoff bezogenen Sitze und der dunkelblau und beige gemusterte Teppich der Abflughalle zeigten den Einfluss einer Dekorationsmodeströmung von vor sieben Jahren. Makepeace hatte den Laptop neben ihrem Sitz stehen lassen. Callys Blick suchte die Lounge ein paar Sekunden lang ab. Da war er, neben dem tollpatschigen Kahlkopf, dem Himmel sei Dank. Er sah sie an, und sie zupfte kurz an ihrem rechten Ohr, ehe sie den Blick wieder abwandte und die Hand sinken ließ. Dann ging sie weiter und strich sich mit der linken Hand über das Haar, so als ob sie nicht gewöhnt wäre, es hochgesteckt zu tragen. Beiderseits von ihrem Platz waren die Sessel leer, aber der Saal füllte sich allmählich mit Reisenden. Sie setzte sich und klappte ihren Laptop auf. Da sie noch ein paar Minuten Zeit hatte, war das jetzt eine gute Gelegenheit, sich damit vertraut zu machen. Der Glatzkopf stand auf und ging weg.

Beim Booten des Computers konnte sie erkennen, dass er ein altes Betriebssystem hatte. Gut. Zunächst galt es festzustellen, ob er vom Würfelleser aus bootet. Sie fuhr ihn herunter und gleich darauf mit einem Testwürfel wieder hoch. Sehr gut. Er lehnte ihn nicht ab. Zeit, den Knackerwürfel einzuschieben. Als sie gerade wieder beim Booten war, kam ein Typ und stellte sich vor den Sessel neben ihr und räusperte sich nervös. Nicht jetzt, du Loser. Im Augenblick ist mir überhaupt nicht nach Anbaggern. Aha! Er fährt bis zu dem Knackerwürfel hoch.

»Ist — ist dieser Platz besetzt?«, fragte er »Ja, es sei denn, Sie können sich die Augenbrauen lecken«, herrschte sie ihn an und benutzte die Hilfsmittel des Würfels dazu, das Passwort und die Zugangsberechtigung des Laptops neu einzustellen.

Zu ihrem großen Ärger ließ der Typ sich trotzdem auf dem Sessel nieder, und sie hatte sich gerade halb zu ihm herumgedreht, um ihn anzufauchen, als er ihr ins Wort fiel.

»Wie denken Sie denn, dass ich mir den Scheitel ziehe?«, sagte er.

Die Kinnlade fiel ihr herunter, und sie machte schnell den Mund wieder zu und erwiderte seine Ehrenbezeigung ein wenig benommen. Er war schmächtig gebaut und hatte glattes schwarzes Haar. Eine Strähne davon sah so aus, als würde sie ihm ständig in die Stirn fallen. Er hatte freundlich blickende, braune Augen und war viel zu jung. Aber was sie besonders überraschte, war, dass dies der junge Mann war, dessen Bild man ihr bei der Einsatzbesprechung gezeigt hatte, der Adjutant von General Beed. Sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

»Tut mir Leid, dass ich so patzig war. Bin wohl ein wenig nervös. Können wir noch einmal von vorne anfangen? Ich bin Sinda Makepeace.« Sie streckte ihm die Hand hin.

»Joshua Pryce. Ihr erster Flug in den Weltraum, Ma’am?« Seine Hand fühlte sich warm und trocken an.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er immer noch ihre Hand hielt und dass sie ihn anstarrte. Sie riss sie ihm weg und wurde rot. Rot werden? Ich? Was zum Teufel läuft hier eigentlich? Ich bin seit Jahren nicht mehr rot geworden.

»Äh … ja, richtig. Man hat mich zur Basis Titan versetzt. Wahrscheinlich bin ich ein wenig nervös vor einem solchen Flug. Sie wissen schon, ringsum Weltraum und keine Luft zu atmen.« Sie schauderte. »Das setzt mir ganz schön zu.«

»Ihr Name kommt mir bekannt vor.« Er runzelte die Stirn, klappte seinen PDA auf und rief eine Liste auf. »Sagten Sie Sinda Makepeace, Captain?«

»Ja, allerdings.« Sie lächelte und legte den Kopf etwas zur Seite.

»Ich dachte mir schon, dass ich den Namen einmal gesehen habe. Wir haben auf Titan denselben Chef. Würde mich gar nicht überraschen, wenn wir am Ende im selben Büro arbeiten würden, Ma’am.« Seine Augen lösten sich von ihr. Eine Sekunde lang hatte es fast so gewirkt, als würde er in ihre Seele starren.

»Oh, dann arbeiten Sie also auch für General Beed?«, fragte sie mit einem strahlenden Lächeln.

»Ja, Ma’am.« Er sah sie mit ernster Miene an. »Würde — würden Sie weniger nervös sein, wenn ich es so einrichten könnte, dass ich auf dem Flug zum Raumschiff neben Ihnen sitze, Ma’am?«

»Ihre Gesellschaft wäre mir sehr angenehm, Lieutenant Pryce.« Sie streckte sich, drückte die Schultern zurück. Die gefallen dir wohl, wie? Verdammt, Mädchen, benimm dich!


Sonntagmorgen, 26. Mai


Die Weltraumfahrt, so wie die Föderation sie betrieb, sah so aus, dass man den Großteil der Reisezeit zwischen den Sternen im normalen Raum verbrachte, »Sublicht« hieß das für den Laien, auf dem Weg zu den Ley-Linien oder Pfaden zwischen den Sternen, wo der Zugang zu den Hyperraumregionen viel bequemer war. Im Prinzip war es zwar möglich, sich von überall Zugang zum Hyperraum zu verschaffen, aber das erforderte wesentlich mehr Energie, die Maximalgeschwindigkeit war geringer und der Austrittspunkt war mehr oder weniger Zufallssache. Das ließ zwar prinzipiell systeminterne Sprünge zu, aber eine verkehrsreiche Umgebung, wie sie bei der Titan-Basis gegeben war, verbot dieses. Demzufolge dauerte es zwar nur etwa sechs Monate, um von der Erde zu einem der bewohnten Planeten in einem relativ nahe gelegenen System zu kommen, die Innersystemreise zur Titan-Basis mit einem Kurierschiff der Föderation hingegen nahm reichliche acht Tage in Anspruch. Ihr Glück war, dass sich Erde und Saturn im Augenblick auf derselben Seite der Sonne befanden. Bei maximaler Distanz dauerte der Flug wegen des erforderlichen Umwegs um die Sonne fast einen Monat.

Die Galaktische Föderation war bestrebt, eine genügend große Zahl von Schiffen zwischen Erde und Titan im Einsatz zu haben, sodass es mindestens einen Flug pro Woche gab. Dies geschah nicht etwa aus besonderer Zuneigung zur Erde oder den Menschen. Im Gegenteil, die Menschen als die einzigen Fleisch fressenden Sophonten in der Föderation wurden im Allgemeinen bestenfalls als nützliche Barbaren betrachtet, nützlich insofern, als sie fähig waren, die Posleen von diversem Immobilienbesitz im Weltraum zu verjagen, den sie erobert hatten und den die Galakter zurückwollten. Die recht dichte Schiffsfrequenz diente also weniger der Bequemlichkeit sondern sollte sicherstellen, dass Fleet und Fleet Strike nach Bedarf wichtiges Personal auch zwischen größeren Truppenverlegungen hin und her transportieren konnten.

Handgepäck war an Bord des Shuttle nicht erwünscht. Die Flotte zog es vor, wenn alle beweglichen Gegenstände fest verzurrt im Laderaum verstaut waren. Als Cally mit Sindas Handtasche und ihrem Laptop an Borg ging, trug ihr das einen recht finsteren Blick des Piloten ein, der an der Tür stand, einem Fleet Captain in schwarzer Uniform. Ob sich dieser finstere Blick auf ihre Uniform bezog oder darauf, dass sie nicht nur einen, sondern sogar zwei Gegenstände bei sich hatte, wusste sie nicht. Sie reagierte darauf mit einem sonnigen Lächeln und flüsterte dem Lieutenant, als sie vorbei waren, über die Schulter zu:

»Der Captain sieht so aus, als ob er heute Morgen eine zweite Tasse Kaffee vertragen könnte.«

»Yes, Ma’am.« Pryce stolperte, ob nun über eine Unebenheit im Boden oder die eigenen Füße, war ihr nicht klar, aber als er an sie anstieß und sich auf ihrer Schulter abstützte, roch sie ein wenig Rasierwasser und sauberen Männerduft. Ihre Nasenflügel weiteten sich, als er sich überschwänglich entschuldigte. Sie erteilte sich selbst den Befehl, ihre Reaktion auf ihn zu ignorieren.

Das ist ein Baby. Erinnerst du dich an den Letzten? Das fehlte ja gerade noch, dass du dich auf diesem Trip als Runderneuerte verrätst. Makepeace ist nicht verjüngt. Ich bin dreiundzwanzig. Trotzdem, Hände weg von dem Baby — und auch wenn er noch so gut riecht.

Im Inneren sah der Shuttle im Großen und Ganzen wie ein kleines Passagierflugzeug aus, mit dem Unterschied, dass die Sitzgurte funktioneller waren — Fünf-Punkt-Gurte anstelle der mehr für das Auge vorhandenen Beckengurte. Außerdem waren im Deckenbereich Netze gespannt, um die wenigen losen Gegenstände bei Bedarf dort zu verstauen. Das war besser als die üblichen Klappfächer. Die Sitze wirkten ähnlich, waren allerdings nur dafür gebaut, den Körper ein oder zwei Stunden zu unterstützen nicht etwa für längere Flugzeiten. Sie ließen sich nicht zurückkippen, zur großen Erleichterung langbeiniger Passagiere. Allerdings besaßen sie Fußstützen in bequemer Höhe, um Indowy-Personal ein Mindestmaß an Komfort zu verschaffen, wenn der Shuttle für sie eingesetzt wurde. Wo in einer Passagiermaschine die erste Klasse gewesen wäre, gab es in dem Shuttle ein paar Sitze, die für Darhel-Anatomie konfiguriert waren. Ebenso wie die Sitze war auch die Beleuchtung ein wenig anders als im menschlichen Bereich.

»Wird es auf diesem Flug Darhel geben?«, fragte sie den Lieutenant.

»Nein. Warum fragen Sie?« Er sah zu ihr hinüber.

»Oh, einfach aus Neugierde, schließlich ist das für mich das erste Mal off-planet. Ich habe hinten drei Indowy gesehen und dachte, wenn dies ein gemischter Flug ist …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Oh. Na ja, es gibt wesentlich weniger Darhel als Indowy, Ma’am. Ich habe nie welche gesehen, die mit Menschen gereist sind. Die Darhel, meine ich. Wissen Sie, ich habe überhaupt nur ein einziges Mal einen zu sehen bekommen. Und bei all den Gewändern sieht man eigentlich kaum etwas«, fügte er dann ergänzend hinzu.


Sonntagmittag, 26. Mai


Wenn sie erwartet, dass der Trip nach draußen eine lange Folge von Kartenspielen und Filmen ist, wird sie bald merken, dass sie sich da getäuscht hat. General James Stewart grinste seinem Spiegelbild im Wandspiegel seiner Kabine zu und schob sich die ihm nicht vertrauten Lieutenantstreifen an seinem Kragen zurecht. Makepeace war eindeutig ein erfreulicher Anblick. Wahrscheinlich hatte sie gelegentlich Rückenschmerzen, aber die dienten einer guten Sache. Viel zu jung — bei der Zusammenarbeit mit ihr würde das einzige Problem sein, dass er die Hände von ihr lassen musste. Aber als allzu schwierig sollte sich das nicht erweisen, denn schließlich würde sie sich nicht für einen tollpatschigen Lieutenant wie Pryce interessieren.

Scheiße. Makepeace ist ein erfreulicher Anblick. Und Beed ist ein widerlicher Dreckskerl. Absichtlich hätte Pete das sicherlich nie getan. Wenn Vanderberg tatsächlich etwas damit zu tun gehabt hat, bring ich ihn um. Nee. Pete würde so etwas einfach nicht tun. Wenn er das gewusst hätte, hätte er sie viel eher wegversetzt. Verdammt.

Das Schiff hatte vierundzwanzig Stunden Übertragungszeit und mehrere verfügbare Frequenzen — mehr als genug Zeit, um jeden Tag gewaltige Mengen komprimierter und verschlüsselter Daten inklusive Fehlerüberprüfung zu übertragen. Na schön, die Übertragungsverzögerung betrug etwas mehr als eine Stunde, aber das hatte ja eigentlich nur bei Gesprächen oder ihrem Textäquivalent etwas zu sagen. In der Praxis bedeutete das, dass der Würfel mit seinem täglichen Arbeitspensum, als sie an Bord gekommen waren, bereits vor seinem Gepäck in seinem Quartier eingetroffen war.

Als Tagesuniform an Bord war Seide Vorschrift, und Seide knitterte nicht sehr, also brauchte er sich eigentlich nicht umzukleiden. Aber er wollte Makepeace genug Zeit zum Umziehen lassen. Beim Eintreffen in der Abflughalle hatte er gesehen, dass sie sich umziehen musste, aber ein Lieutenant hätte nie gewagt, sie nach der Ursache zu fragen oder auch nur etwas zu bemerken, und deshalb hatte er den Mund gehalten.

Er ließ sich, wie er fand, angemessen Zeit, die Vormittagsakten zu sortieren. Beed würde ihm ganz offensichtlich einiges abverlangen. Seine Unterlagen enthielten als »Hintergrundmaterial« sämtliche Kriminalfälle der letzten zehn Jahre auf Titan, und dazu eine Unmenge statistischer Daten über Militär- wie Zivilpersonal, das zurzeit auf Titan wohnte, sowie einen mit Anmerkungen versehenen Plan des Stützpunkts einschließlich der sorgfältig aufgezeichneten Beobachtungen des CID-Personals, das sie ersetzen würden — die guten Viertel der Stadt, die schlechten Viertel der Stadt, Zuhälter, Dealer, wo sich die Nutten gewöhnlich aufhielten, wo welches Glücksspiel angeboten wurde, welche Geschäfte mit welcher Tong in Verbindung standen. Die Anmerkungen lasen sich wie ein Lexikon des Lasters. Das war so nützlich, dass er bezweifelte, ob es Beeds Idee gewesen war.

Er summte mithilfe der Schiffssprechanlage ihr Quartier an.

»Was kann ich für Sie tun, Lieutenant Pryce?«, meldete sie sich, nur Stimme, Video war abgeschaltet.

»Captain M-Makepeace? Ich dachte, Sie würden vielleicht Zeit haben, sich mit mir zu treffen? Ich habe mir den täglichen Würfel mit der Arbeit für den General angesehen und wollte mit Ihnen darüber reden, wann wir anfangen können. Ich weiß, dass Sie sich noch nicht angemeldet haben, aber der General will offensichtlich vermeiden, dass wir uns langweilen«, fügte er ein wenig verlegen hinzu.

»Na, ist ja großartig. Ich hatte schon Angst, ich müsste mir die Zeit mit alten Filmen und Monopoly vertreiben. Gibt es irgendwo auf diesem Schiff einen Schreibtisch, oder werden wir hier arbeiten müssen?«, fragte sie.

Dass sie die zusätzliche Arbeit so bereitwillig annahm, verschaffte ihr einen Pluspunkt bei ihm. Er überlegte, ob sie versuchen sollten, in der Messe zu arbeiten, aber das würde bedeuten, dass sie dann erst nach der zweiten Frühstücksschicht anfangen konnten und kurz darauf bereits wieder für die beiden Mittagsschichten unterbrechen mussten. Dann malte er sich aus, wie es sein würde, mit Captain Sinda Makepeace in ihrer Kabine zu arbeiten, einem Würfel von weniger als zwei Meter Seitenlänge und mit ihrer Liege als einziger Sitzfläche, und das eine ganze Woche lang. Manchmal war es wirklich nicht leicht, die richtige Entscheidung zu treffen.

»Ich denke, wir werden uns mit der Messe begnügen müssen, und zwar zwischen den Mahlzeiten, Ma’am«, sagte er.

»Soll mir recht sein. Sind Sie jetzt dorthin unterwegs?«

»Ja, Ma’am.«

»Gut. Dann sehen wir uns in ein paar Minuten dort.« Sie drückte den Knopf, der das Gespräch beendete.


Gegenüber früheren Konstruktionen hatte man die modernen Kurierschiffe der Föderation dahingehend verbessert, dass die meisten Bereiche des Schiffes jetzt selbst wahrnehmen konnten, welche Spezies gerade durchkam und die Beleuchtung entsprechend anpassten. Die Wände reflektierten jede Version der Beleuchtung in einer für die Insassen akzeptablen Art und Weise. Für Menschen lief das auf ein schlammiges Braun hinaus, das keine bedrückenden Nebenwirkungen hatte. Trotzdem wirkten die grauen Seidenuniformen in Anbetracht der düsteren Wände ausgewaschen, sodass das amtliche Hellgrün der nur den Menschen zugeteilten Messe geradezu als Erleichterung wirkte. Mit Ausnahme der Erde selbst waren selbstverständlich alle Essbereiche für Menschen nach allgemeinem ästhetischem Dekret der anderen galaktischen Rassen ausschließlich Menschen vorbehalten.

Sie war vor ihm eingetroffen, nun, ihre Kabine lag näher. Stewart sah, dass sie bereits eine halbe Tasse Kaffee intus hatte. Er nahm Haltung an und salutierte, machte dann aber die ganze Wirkung wieder zunichte, indem er mit dem Schenkel an einen Tisch stieß, zusammenzuckte und sich dann wieder aufrichtete.

Makepeace zögerte ungläubig, als sie gerade angefangen hatte, seine Ehrenbezeigung zu erwidern. Er grinste verlegen.

»Ich schätze, ich muss erst noch raumfest werden, Ma’am.«

»Geht schon in Ordnung, Lieutenant. Wie wär’s, wenn Sie sich eine Tasse Kaffee holen würden, dann können wir uns ja gemeinsam den Würfel vornehmen, den der General uns geschickt hat«, sagte sie und lächelte.

»Für Sie auch eine frische Tasse, Ma’am?«, fragte er.

Ihre Augen weiteten sich erschreckt, zweifellos malte sie sich aus, eine Ladung Kaffee auf den Schoß geschüttet zu bekommen.

»Äh, nein! Ich meine, ich habe genug, Lieutenant, vielen Dank.«

Das haben Sie allerdings, Captain, ganz sicherlich sogar. Vielleicht sogar ein wenig zu viel an den Schenkeln, aber alles andere ist wirklich genug. Stewart ging an ihr vorbei zur Kaffeemaschine und unterdrückte dabei ein Grinsen.

Nachdem er seinen Kaffee abgestellt und Platz genommen hatte, zog er seinen PDA heraus und sah sie einen Augenblick lang an, ehe sein Blick sich von ihren Augen löste und sich auf einen Punkt irgendwo über ihrer linken Schulter konzentrierte.

»Darf ich offen sprechen, Ma’am?«

»Was haben Sie auf dem Herzen, Lieutenant?« Sie beugte sich vor, legte die Hände übereinander und sah ihn an, ein Bild ungeteilter Aufmerksamkeit.

»Ma’am, wie viel hat man Ihnen über diesen Job gesagt?«

»Sehr wenig, Lieutenant. Falls Sie etwas aus der Gerüchteküche anzubieten haben, wäre das sehr hilfreich.«

»Sie kommen doch aus der Personalverwaltung, stimmt das, Ma’am?« Als sie nickte, fuhr er fort: »Na ja, worin besteht denn dort die Arbeit?«

»Also ich weiß jetzt nicht recht, warum Sie das wissen wollen, aber in erster Linie hatte ich dafür zu sorgen, dass die richtigen Leute auf die richtigen Posten kamen. Das bedeutet, dass ich die Stellenanforderungen überprüft habe, um mich zu vergewissern, dass sie korrekt waren und nicht etwa ein bisschen verbogen, damit jemand seinen Kumpel unterbringen konnte. Na ja, nicht sehr natürlich«, korrigierte sie sich. »Meistens habe ich die Positionen abgefragt und Optimierungsprogramme laufen lassen und dann hinter den Computern her geprüft, um sicherzugehen, dass deren Empfehlungen auch vernünftig waren. Der menschliche Faktor, Sie wissen schon.«

»Nun ja, Madam, diese Position ist möglicherweise ein wenig … anders … als das, was Sie erwartet haben.«

»Also, konkrete Erwartungen hatte ich eigentlich gar nicht. In welcher Hinsicht anders, Lieutenant Pryce?«

Bei fast jedem erfahrenen Offizier von Fleet Strike hätte das, was er da gesagt hatte, Alarmsignale ausgelöst. Falls ein solches Signal auch in Makepeaces Bewusstsein aufgeflackert war, ließen ihre ernst und ein wenig verwirrt blickenden blauen Augen zumindest nichts davon erkennen. Sie beugte sich nur ein wenig weiter vor, und das verstärkte den Eindruck aufmerksamen Zuhörens eher noch ein wenig.

»Ma’am, erinnern Sie sich vielleicht daran, dass Sie auf dem College ein von einem Computer gelehrtes Wahlfach belegt hatten, das sich Geschichte der juristischen Verwaltung nannte?«

»Okay, was ist damit?«

Ihre blauen Augen wirkten immer noch aufmerksam, aber sonst ohne jeden Ausdruck. Stewart hatte das Gefühl, einem Zombie gegenüberzusitzen.

»Ma’am, General Beed liebt Papier.«

»Na schön. Das kommt nicht sehr häufig vor, aber manchmal sammeln die Leute höchst ungewöhnliche Dinge. Hat er die Sammlung in seinem Büro oder so etwas? Ich werde ihr natürlich die gebotene Bewunderung zollen. Vielen Dank für …«

»Nein, tut mir Leid, wenn ich Sie unterbrechen muss, Ma’am, aber das habe ich nicht gemeint. Er sammelt nicht Papier, er besteht darauf, mit Papier zu arbeiten.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe.« Sie legte den Kopf etwas zur Seite und wartete darauf, dass er deutlicher wurde.

»Ma’am, der General benutzt kein AID, er benutzt keine Computer. Die einzigen elektronischen Geräte in seinem Büro, bei denen ich sicher bin, dass er sie benutzt, sind die Beleuchtung und die Lebenserhaltung. Oh, und die Kaffeemaschine«, fügte er hinzu.

»Papier?«, flüsterte sie, und endlich dämmerte so etwas wie das Licht der Erkenntnis in ihren Augen. »Also, ich muss schon sagen, das … das ist etwas Besonderes.« Sie hielt inne, offensichtlich tief in Gedanken. Stewart begann zu argwöhnen, dass sie sich leicht in Gedanken verlieren konnte.

»Wie schafft er denn damit seine Arbeit?«, fragte sie.

»Ma’am, Fleet Strike hat Sie zum Captain befördert und Sie hierher geschickt, weil Ihre Ausbildung der einer Anwaltssekretärin am nächsten kommt. In diesem Fall sind Sie sozusagen die am besten geeignete Person für die offene Stelle. Ich fürchte, das bedeutet, dass diese Position ein wenig anders ist als das, woran Sie gewöhnt sind, Ma’am«, schloss er.

Er vermied sorgfältig zu erwähnen, dass ihre Beförderung vielleicht gewisse Ähnlichkeit mit einem Trostpreis eines Kollegen im Personalbereich hatte, der damit sein schlechtes Gewissen über den miesen Job beruhigte, den er ihr hatte anhängen müssen. Eigentlich sollten Beförderungen nicht so vorgenommen werden, aber die Erbsenzähler hielten gewöhnlich zusammen.

Sie strich sich mit der linken Hand über das Haar, was eigentlich völlig überflüssig war.

»Lieutenant Pryce, ein guter Offizier von Fleet Strike geht dorthin, wo man ihn hinschickt, und tut, was man von ihr verlangt.« Sie zuckte die Achseln. »Ich vermute, ich werde mich ein wenig mit Papier befassen müssen.«

»Ja, Ma’am.«

»Danke für den Hinweis, Pryce.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und Stewart war plötzlich froh, dass er auf der anderen Tischseite saß. »Jetzt zu der Arbeit, die Sie erwähnt haben. Sollten wir nicht besser damit anfangen?«

Okay, sie hat Mordstitten, und ihr Gesicht und ihre Haare sind auch nicht übel. Schön wäre sicherlich kein zu starker Begriff dafür. Aber um Himmels willen, Mann, du bist nicht mehr siebzehn! Nicht in ihrer Kabine zu arbeiten, ist eindeutig eine gute Idee, ein ständiger Abstand von zwei Metern wäre wohl etwa richtig. Unglücklicherweise rief das in ihm die Vorstellung der Art von Tätigkeit wach, die er gerne in ihrer Kabine verrichten würde, darunter auch ein erstaunlich lebendiges Bild ihrer nackten Brüste in seinen Händen — er verdrängte den Gedanken und gab ihr die Kopie, die er von dem ursprünglichen Würfel hergestellt hatte. Ein kleiner elektrischer Funke sprang zwischen ihren Händen über, und er atmete scharf ein. Die Tussi war vermutlich strohdumm, aber offensichtlich gab es da doch eine gewisse chemische Reaktion, wie sie bei jedem gesunden, normalen jungen Mann auf eine wie sie gebaute Frau zu erwarten war. Nicht, dass er jung gewesen wäre. Aber sein Körper war vermutlich der Ansicht. Das würde eine lange Woche werden.


Cally war nach dem Abendessen in ihre Kabine entkommen. Da es sich um ein Schiffsquartier handelte, glich diese einem Besenschrank, in den man das nötige Mobiliar und die erforderliche Elektronik hineingezwängt hatte, alles, mit Ausnahme einer Toilette. Die befand sich ein Stück weiter unten am Flur und war nicht gerade so konstruiert, dass sie die Privatsphäre ihres Benutzers sonderlich gut schützte. Die Konstruktionsdaten für diese Schiffe waren festgelegt worden, als es bei Fleet Strike nur eine verschwindend geringe Zahl weiblicher Menschen gegeben hatte, und im Übrigen hatte die Flotte ohnehin eine recht lockere Einstellung zu Fragen des Schamgefühls entwickelt. Das hatte dazu geführt, dass ihre Duschschicht am Morgen unversehens stärker bevölkert gewesen war, als das unbedingt nötig gewesen wäre. Ein paar von den Soldaten, die in ihrer Schicht geduscht hatten, waren mit Sicherheit für eine andere eingeteilt gewesen. Aber da keiner sie anfasste, und auch alle mit ihren Blicken einigermaßen diskret waren — und Makepeace auch hinreichend dämlich war, um damit klarzukommen -, tat sie so, als würde sie nichts bemerken. Was sie bemerkte, war, dass der Lieutenant nicht zu ihren verdeckten Bewunderern gehörte. Er war für dieselbe Schicht eingeteilt, hielt sich aber bei den Duschen weiter hinten an der Wand auf. Und wenn er sie anstarrte, tat er das wenigstens so, dass er dabei nicht erwischt wurde.

Sie und Pryce hatten mit den anderen Offizieren und ein paar recht niedergeschlagen wirkenden Mannschaftsdienstgraden, die vermutlich die andere Schicht vorgezogen hätten, die erste Frühstücksschicht.

Blieb das Problem, was sie tun sollten, während die zweite Schicht die Messe benutzte. Da der Raum äußerst knapp war, verbrachten sie die Zeit gewöhnlich damit, sich draußen im Flur an die Wand zu lehnen. Cally genehmigte sich dann meist eine zweite Tasse Kaffee oder spielte gegen Pryce Space Invaders. Sie hatten festgestellt, dass sie beide großen Spaß an sehr frühen Computerspielen dieser Art hatten. Er hatte angeboten, ihr seine Spielesammlung zu zeigen, sobald sie auf Titan gelandet waren. Sie hielt dies nicht unbedingt für einen Vorwand und war sich nicht recht sicher, was sie eigentlich davon halten sollte.

Heute hatte Pryce genuschelt, er brauche etwas aus seiner Kabine. Sie hatte nicht sehr darauf geachtet und war eigentlich froh, dass ihr das Zeit ließ, ein wenig darüber nachzudenken, was sie eigentlich hinsichtlich seiner Person empfand. Er war nicht gerade der größte Tollpatsch, dem sie je begegnet war, aber viel fehlte daran nicht. Vielleicht hat Grandpa Recht. Mein Job fängt an, an mir Wirkung zu zeigen. Okay, das waren jetzt zwei Wochen, und ich habe ganz normale gesunde Hormone, aber mindestens die Hälfte der Kerls in der Dusche sahen genauso gut aus, und keiner von ihnen stolperte ständig über die eigenen Füße. Okay, diese Haarsträhne, die ihm ständig in die Stirn fällt, ist irgendwie sexy, aber … es muss wirklich der Job sein. Wenn ich das nächste Mal einen vernünftigen Vorwand habe, mit jemandem ins Bett zu steigen, werde ich wegen dieser Hormone etwas unternehmen müssen.

Ihre Kaffeetasse war leer, also ging sie in die Messe zurück, um sich nachzuschenken. Sie konnte ein paar geflüsterte Bemerkungen hören und auch Blicke spüren, aber die Abzeichen an ihrem Kragen verhinderten Eindeutigeres. Als sie mit dem frischen Kaffee wieder hinauskam, war Pryce zurück.

»Ich frage mich, was heute auf dem Würfel ist. Haben Sie schon nachgesehen?«, erkundigte sie sich.

»Nein, Ma’am.« Er lehnte sich an die Wand, ein kleines Stück außerhalb normaler Gesprächsdistanz, als ob er Angst hätte, ihr zu nahe zu kommen.

»Okay. Vielleicht erzählen Sie mir dann ein wenig über unser Büro auf Titan. Waren Sie schon mal dort?« Ihr Rücken schmerzte bereits ein wenig, und sie stand ein Stück von der Wand entfernt, um nach hinten zu greifen und den kleinen Krampf wegmassieren zu können.

»Was? Oh.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich war schon auf Basis Titan, Ma’am, aber nicht beim CID. Ich habe mich bei dem General gemeldet, ehe er die Erde verlassen hat. Okay, Ma’am, Sie wissen, dass der General gerade erst das Kommando über die Dritte MP-Brigade auf Titan übernommen hat. Der größte Teil der Brigade, praktisch alle mit Ausnahme von zwei Kompanien, dem Brigadehauptquartier und der CID-Sektion, ist bei diversen Infanterieeinheiten im vorgeschobenen Einsatz. Was das Tagesgeschäft angeht, wird die Brigade praktisch vom XO, Colonel Tartaglia, geleitet. Der General ist der Ansicht, dass er sich vorzugsweise um CID kümmern sollte, und deshalb werde ich, mit Ausnahme der altehrwürdigen Aufgabe, Canapés zu verteilen, höchstwahrscheinlich dort den Großteil meiner Zeit verbringen. Das ist auch der Grund, weshalb der General so großen Wert darauf gelegt hat, dass Sie mit allen Hintergrundinformationen der CID vertraut sind. Wenn er Sie auffordert, ihm etwas zu suchen, dann … nun ja, Geduld und Erklärungen gehören nicht zu seinen starken Seiten, Ma’am.«

»Ich fange schon an, mich richtig auf diesen Job zu freuen«, bemerkte sie trocken.


Stewart hatte immer Jobs ohne feste Zeiteinteilung gehabt. Als die meisten Teenager seines Alters in Junkfood-Lokalen darauf gewartet hatten, dass ihre Schicht zu Ende ging, hatte Stewart unter seinem ursprünglichen Namen, Manuel Guerrera, eine erfolgreiche Street Gang geführt. Damals wie jetzt war es nicht möglich gewesen, Organisationsprobleme und Zuständigkeiten innerhalb festgelegter Bürozeiten zu erledigen. Und deshalb lag er jetzt hier auf seiner Pritsche, während Captain Makepeace entweder in ihrer Kabine war oder weiß Gott was tat, eine Liste von Namen und detaillierten Sicherheitsprofilen studierte und herauszufinden versuchte, wer von den Fleet-Strike-CID zugeteilten Leuten auf Titan mit größter Wahrscheinlichkeit von der namenlosen feindlichen Organisation eingeschleust worden war, die ihr Kontakt ihnen genannt hatte.

Heute Morgen waren endlich die kompletten Profile reingekommen, aber so wie er die Arbeit mit Makepeace geplant hatte, hatte er sie sich untertags nicht ansehen können. Sie würden morgen Nachmittag auf Titan Orbit eintreffen, und er wollte, dass die Liste vor ihrer Landung fertig war. Während er auf der Erde war, waren fünf weitere von ihren Leuten auf Titan eingetroffen, und er wollte wissen, womit er es zu tun hatte, ehe er ihnen das erste Mal begegnete.

Das war eine äußerst schwierige Aufgabe, weil sie über die Zielsetzungen und Motive des Feindes praktisch überhaupt nichts wussten, wenn man einmal davon absah, dass dazu Spionage gegen Militär- und Regierungsorganisationen der Föderation zählte, was an und für sich schon ausreichte, um auf unfreundliche, wahrscheinlich sogar feindselige Absichten zu deuten. Nach derzeitiger Kenntnis, oder besser gesagt nach derzeitigen Theorien, hatten sich extreme Kreise unter den Humanisten endlich hinreichend organisiert, ein Gedanke, der einem Angst machen konnte, wenn man bedachte, wie viel wilde Posleen sich noch auf der Erde und anderen Planeten befanden, und in welchem Maß die Verteidigung der Erde gegen sie immer noch vom Kauf von GalTech-Technik und Gerätschaften abhing.

Für die Flotte und auch für Fleet Strike lag die oberste Priorität in ständiger Wachsamkeit gegen eine mögliche Reorganisation der Posleen, und dazu gehörte auch das Bestreben, von den Posleen eingenommene Gebiete zurückzuerobern. Jeder einzelne wilde Posleen stellte eine potenzielle Gefahr dar, weil jeder mit dem fundamentalen Wissen seiner Spezies zur Welt kam. Bei den meisten wilden Posleen handelte sich es zwar um die dummen und kaum vernunftbegabten Normalen, aber alle Posleen waren Hermaphroditen, die sich im Notfall auch selbst befruchten konnten. Ein einziger intelligenter Gottkönig verfügte über das Potenzial, die ganze wütende Horde neu ins Leben zu rufen.

Demzufolge bestand der erste Teil seiner Aufgabe darin, sämtliche Humanistenverbindungen der einzelnen Personen aufzulisten und — das war der zweite Teil der Aufgabe — alles zu registrieren, was in diesen Unterlagen oder denen ihrer Freunde und Verwandten aufschien und auf jegliche Unzufriedenheit mit der Föderation deutete.

Das wurde eine lange Liste und demzufolge eine lange Nacht. Anders beispielsweise hatte einen Bruder und einen zweiten Cousin, die Humanisten waren, wobei der Bruder der Aktivere war, aber sie und ihr Bruder waren angeblich zerstritten und hatten schon seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt. Konnte stimmen. Konnte aber auch Tarnung sein. Bakers Familie lebte in der Indianapolis Urb und war scheinbar völlig unpolitisch. Carlucci hatte außerhalb von Fleet Strike weder Familie noch Freunde. Sergeant Franks hatte eine Frau, die Humanistin war. Ihr Profil war in dem Bericht enthalten und man wusste von ihr, dass sie der Ansicht war, die Aliens steckten mit den Freimaurern, den Illuminati und dem Satan unter einer Decke — die typische humanistische Spinnerin. Jedenfalls machte ihn das eindeutig zu einem Sicherheitsrisiko. Und mit dem Rest verhielt es sich ähnlich. Selbst Makepeace hatte einen Nachbarn auf der daneben gelegenen Farm mit einer Tochter, die Humanistin war. Von fünfzehn Leuten im Büro hatten zwölf die eine oder andere dokumentierte humanistische Verbindung. Die anderen drei, nun ja, sicher sein konnte man nie, oder?


Nirgendwo im bewohnten Universum war der Smog so dicht wie auf der Titan-Basis. Aus der Schwärze des Weltraums kommend sah der leuchtend blaue Rand der Stickstoffatmosphäre fast erdähnlich aus, aber die orangebraune Schicht aus Kohlenwasserstoff-Smog war so dick, dass man überhaupt nicht hindurchsehen konnte, und hätte Los Angeles oder Mexiko City der Vorkriegszeit oder das heutige Chicago wie eine schimmernde Bastion atmosphärischer Reinheit erscheinen lassen.

Der Shuttle verzichtete auf künstliche Schwerkraft, und deshalb fühlte sich die erste Etappe ihres Eintritts in die Atmosphäre von Titan an, als würden sie einen steilen Hügel hinaufreiten, wobei »unten« in Richtung ihrer Sitzlehnen war. Pryce hatte ihr den Fensterplatz überlassen, und Cally starrte zum Fenster hinaus, bemüht, nicht völlig wie ein Tourist zu wirken. In einundfünfzig Jahren eines Lebens, das in vieler Hinsicht jede Art von kosmopolitischem Schliff hinterwäldlerisch erscheinen ließ, war dies ihre erste Reise off-planet. Zum Glück galt dies auch für Sinda, sodass sie ihre natürliche Neugierde und die damit einhergehende Erregung nicht zu sehr zu unterdrücken brauchte.

Der Lieutenant griff über ihre Schulter und deutete auf eine flockige, weiße Masse. »Da, schauen Sie, eine Wolke. Davon bekommen wir nicht zu viele zu sehen.«

»Das ist Methan, nicht wahr?« Sie starrte zum Fenster hinaus.

»Ja, Ma’am.«

Als sie in den dichten braunen Dunst eindrangen, bogen sie auf die Nachtseite des Mondes. Draußen wurde es schwarz. Unglücklicherweise befanden sie sich im falschen Winkel, sodass sie von ihrem Fenster aus den Saturn nicht sehen konnten. Sie überwanden den »Hügel« des freien Falls, und es ging nach »unten«, sodass sie leicht nach vorne gegen die Sitzgurte gedrückt wurden, als der Shuttle abzubremsen begann.

»Werden wir vom Stützpunkt aus Saturn sehen können?« Sie reckte den Nacken, um sehen zu können, ob durch das abgedunkelte Fenster etwas Interessantes zu erkennen war.

»Nur gelegentlich als verschwommenen hellen Punkt in der Dunkelheit, Ma’am.« Er lächelte bedauernd. »Abgesehen davon ist es im Großen und Ganzen so, als würde man in einem Vogelkäfig unter Wasser leben, einem Käfig übrigens, über den man eine Decke gelegt hat. Na ja, immerhin hat der Käfig elektrisches Licht«, fügte er grinsend hinzu.

Die Landung war eine Folge gedämpfter Stöße, und dann hatte sie bei einem Siebtel ihres gewohnten Gewichts das Gefühl, sich auf dem Grund eines Swimmingpools zu befinden.

»Und jetzt kommt der Augenblick, wo wir für unsere warmen Seidenuniformen dankbar sein werden«, sagte er.

»Wie kalt ist es denn?«

»Draußen? Etwa minus einhundertvierzig Celsius. Im Rohr zur Kuppel ein paar Grad unter Null.« Er schnallte sich los und stand auf.

»Brrr.« Sie schauderte. »Und die können das nicht wärmer machen?«

»Tun sie nicht.« Er zuckte die Achseln. »Eine Frage der Sicherheit. Der ganze Stützpunkt ist auf verschiedenen Eisschollen gebaut. Eine der größten Herausforderungen für unsere Ingenieure, abgesehen vom Überdruck, besteht darin, Hitzelecks zu minimieren, die den Boden unter uns destabilisieren könnten.«

»Könnten die das denn nicht isolieren? Oder schweben?« Beim Aufstehen musste sie nach hinten greifen und sich an der Stelle unten an der Wirbelsäule kratzen, die ständig wehtat.

»Oh, die isolieren schon, Ma’am. Das können Sie mir glauben. Diese Plattform und der Stützpunkt selbst stehen etwa fünfzehn Meter über dem Boden, damit darunter die Luft zirkulieren kann. Auf kurze Zeit kann man auf dem Boden bauen, und bei Forschungsfahrzeugen ist das auch gar kein Problem, weil die sich bewegen. Aber man kann nicht ein paar Jahrhunderte lang einen großen heißen Fleck aufs Eis stellen. Eine Weile hat man an Schwimmkonstruktion gedacht, die Idee dann aber wieder verworfen. Es hat etwas mit Gravitationseffekten und der Stabilität zu tun.«

»Das ist alles Eis? Ich meine, ohne Felsen darunter?« Sie sah ihn an, als wäre ihr das völlig unvorstellbar.

»Ein wenig. Aber nicht genug«, sagte er.

»Und können die Krabben nicht etwas mit der Schwerkraft machen?«

»Klar können sie das, und sie haben es auch getan, für die Basis selbst. Ich glaube, bei der endgültigen Konstruktionsentscheidung haben Kostenerwägungen eine große Rolle gespielt.« Er ließ ihr mit einer Handbewegung den Vortritt in den Mittelgang.

Die Kälte traf sie voll ins Gesicht und an der Nase, und sie konnte ihren Atem sehen, als sie mit den anderen Passagieren durch die Röhre in die Hauptkuppel der Basis Titan gingen. Es roch ein wenig wie an einer Tankstelle.

»Was ist das für ein Geruch?« Sie rümpfte die Nase und machte eine unbestimmte Handbewegung.

»Undichtigkeit. Bei so viel Überdruck ist das nicht zu vermeiden. Die hätten das lecksicher machen können, aber es hätte eine Menge mehr gekostet. So ungefähr habe ich das gehört.« Er griff nach ihrem Ellbogen, als sie eine rote Linie auf dem Boden überschritten und plötzlich wieder die volle Schwerkraft einsetzte.

Sie hatte damit gerechnet und keineswegs erwartet hinzufallen, aber plötzlich stolperte sie gegen ihn, und ihr Ellbogen prickelte an der Stelle, wo er sie berührt hatte, als ob sie gerade einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Plötzlich war sie kurzatmig und wurde tatsächlich rot, als er sie stützte und am Fallen hinderte. Was in drei Teufels Namen? So attraktiv ist er doch nicht. Okay, er riecht recht gut. Korrektur. Sehr gut. Na und? Mein Gott, was stimmt nicht mit mir? Das muss die Aufregung meiner ersten Weltraumreise sein. Wer hätte das gedacht?

Als sie die Röhre verließen und durch die Schleusentür den Shuttle-Hafen und anschließend durch die doppelten Glastüren die eigentliche Ankunftshalle betraten, wurde es deutlich wärmer, aber sie konnte immer noch ihren Atem sehen. Die Luft fühlte sich schwer, kalt und drückend an.

Eine Anzahl auf alt gemachter Analoguhren an der Wand zeigten die Lokalzeit und die Zeit in verschiedenen Zeitzonen auf der Erde an. Sie stellte verblüfft fest, dass Lokalzeit und Lokal »tag« mit Chicago synchron waren, so wie das bei der Schiffszeit auf dem Kurierboot der Fall gewesen war. Wow, sie brauchte nicht einmal ihre Uhr umzustellen.

Die Wände säumten kleine immergrüne Bäume in Pflanzkübeln. Dem Lieutenant musste ihr verblüffter Gesichtsausdruck aufgefallen sein, als er sich umwandte und sie durch eine Doppeltür in einen Raum führte, bei dem es sich offensichtlich um die Bar des Shuttle-Hafens handelte.

»Es sieht nicht nur hübsch aus. Das gehört auch mit dazu, aber in erster Linie helfen die Pflanzen mit, Kohlenwasserstoff aus der Luft auszufiltern. Dass sie dabei in geringem Maße Sauerstoff abgeben, kommt noch hinzu«, sagte er.

In der Bar war es warm genug, dass sie die Handschuhe ausziehen konnten, und sie sah sich um, wo sie ihren Laptopbehälter für einen Augenblick abstellen konnte. Er zog einen der hohen Barhocker mit Lehne für sie heraus, faltete seine dünnen, aber warmen Handschuhe zusammen und stopfte sie in die Tasche im Futter seines Baretts.

Es war etwa drei Uhr nachmittags Greenwich-Zeit, und die Bar war mit Ausnahme des asiatischen Barkeepers, der seine Gläser polierte und sich ein Video ansah, leer. Als der Lieutenant ihren Mantel weghängte und sie auf den Hocker kletterte, hängte er das Glas, das er gerade ausgespült hatte, in das Gestell und kam zu ihnen herüber.

»Was darf ich Ihnen bringen?« Er nickte ihnen kurz zu, griff nach einem Tuch und wischte abwesend über einen kleinen Wasserfleck auf seiner Bar.

»Zwei Irish Coffee, Sam, aber nicht zu viel Irish.« Er drehte sich zu ihr um. »Würde es Sie überraschen, Ma’am, dass heiße Drinks hier recht beliebt sind?«, fragte er.

»Oh, schrecklich.« Sie lachte. »Warum? Ist es im Stützpunkt auch so kalt?«

»Dafür habe ich zwei Theorien gehört. Die erste ist die konventionelle — um die Wärmestrahlung zu minimieren. Der zweiten gemäß hat jemand im Konstruktionsteam festgestellt, dass die Durchschnittstemperatur auf der Erde fünfzehn Grad Celsius beträgt, und danach entschieden, dass das die optimale Einstellung sei.« Er schob eine Augenbraue hoch, sah sie an und wartete.

»Die zweite Theorie hört sich gut an.« Sie lachte, nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und stellte das Glas dann ab.

»Wissen Sie, als ich meinen Offizierskurs gemacht habe, hat man mir glaube ich nicht empfohlen, mich mit einer Alkoholfahne bei meinem neuen Vorgesetzten zu melden«, sagte sie.

»Ma’am, Beed ist echt ein alter Knacker, aber er stammt noch aus der Zeit, bevor man den Begriff ›politically correct‹ erfunden hat. Er hält ihn für Spinnerei. Solange wir bei ihm nicht betrunken und dienstunfähig aufkreuzen, und das wird nicht der Fall sein, wird es ihm nichts ausmachen.«

»Na ja, immerhin ein Gutes an diesem neuen Einsatz.« Sie legte beide Hände um ihr Glas und nahm einen genießerisch langen Zug. Sam machte verdammt guten Kaffee.

Nachdem sie ihr Gepäck in der Gepäckausgabe abgeholt hatten, hatten sie einen der Transitwagen bestiegen, die einzeln oder in Ketten auf horizontalen und vertikalen Schienen durch den Stützpunkt verkehrten. Stewart trug neben seiner Tasche auch die des Captains und suchte einen abfahrtbereiten Wagen mit freien Plätzen aus. Der Wagen gehörte zu einer Reihe, die offenbar eine Gruppe bildete, aber nicht körperlich verbunden war. Eine Leuchtfläche über dem vordersten Wagen gab den Zielort an: Fleet Strike Quadrant. Dem Verkehrsaufkommen nach zu schließen war der Shuttle von der Erde nicht der einzige gewesen, der gerade eingetroffen war. Ihre grauen Barette waren von hellblauen Infanterie Baretten umgeben, und Cally/Sinda blickte neugierig in die Runde. Pryce vermutete, dass sie bis jetzt noch nicht viele Soldaten im echten Einsatz zu sehen bekommen hatte, da sie ja in ihrer noch kurzen Laufbahn im Personalbereich eingesperrt gewesen war.

»Die Basis ist in vier einigermaßen gleich große Sektionen aufgeteilt, Ma’am«, erklärte er. »Beiderseits von uns sind die Quadranten von Fleet und Transit, auf der anderen Seite befinden sich Ingenieurbau und Fleet Strike.«

»Wäre es nicht sinnvoller, wenn der Shuttle-Hafen bei der Bauabteilung positioniert wäre, ich meine, wegen des angelieferten Materials?«, fragte sie.

»Dort ist auch einer. Dies hier ist der Passagierhafen.«

»Also«, sagte sie und machte eine Bewegung mit ihrem PDA, »gibt es einen Plan dieses Standorts, den ich downloaden kann oder so etwas?«

»Ja, Augenblick, ich beame ihn Ihnen, Ma’am.« Er tippte ein paar Buttons an und richtete seinen PDA auf den ihren, damit sie downloaden konnte. »Das Quartier für unverheiratete Offiziere ist markiert. Ihr Quartier ist rot, meines blau eingezeichnet und das Büro grün.«

»Meine Unterkunft ist auf Ihrer Karte markiert?«, witzelte sie. »Was bedeutet das rot — Stopp?«

»Zumindest Gefahr, Ma’am.«

»Und unsere Arbeitsstelle ist sicher? Sie sind eine interessante Person, Lieutenant«, sagte sie. »Wie es aussieht, liegt das Offiziersquartier auf unserem Weg. Wahrscheinlich ist es am besten, dort unsere Taschen abzuladen, ehe wir uns melden.«

»Ja, Ma’am.«

»Keine Sorge, Lieutenant. Ich werde meine Tasche selbst reintragen. Sie brauchen die Gefahrenzone nicht zu betreten.«

»Danke, Ma’am.« Er drehte sich um und sah zum Fenster des Transitwagens hinaus, damit sie nicht sehen konnte, wie seine Augen sich verengten. Biest. Das wär’s jetzt. Warte nur, Sinda Makepeace.

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