8

Das Mobiliar in Father O’Reillys Büro war seit dem Nachmittag auf diskrete Weise verändert worden, ebenso die Beleuchtung. Ein kleiner Lagerraum, der sich im selben Flur befand, enthielt Mobiliar, das für jede der Spezies geeignet war, mit der ein Bane-Sidhe-Stützpunktkommandant mutmaßlich im Laufe seiner Amtspflichten zu tun haben würde. Vor O’Reillys Schreibtisch standen jetzt ein bequemer Sessel für Menschen, einer für Indowy und ein für beide Spezies geeigneter niedriger Beistelltisch. Er hatte sein AID auf den Beistelltisch gestellt, um damit der Versuchung zu entgehen, daran herumzuspielen, wenn etwas besonders Unangenehmes zu besprechen war.

Im Gegensatz zu Feldagenten benutzte das Personal einer Bane-Sidhe-Basis AIDs. Saubere. Genauer gesagt solche, die an Ort und Stelle hergestellt waren. O’Reillys AID verfügte über Informationen nicht nur über die für Menschen und jede Alien-Spezies geeigneten Lichtfrequenzkombinationen, sondern in gleicher Weise auch über die für jede beliebige Kombination am wenigsten unbequemen.

Als der Indowy Aelool eintraf, standen bereits ein frisch gebrauter Topf starken Kaffees und ein Eiskübel mit einer Flasche destillierten Wassers bereit, das mit ästhetisch passenden Spurenmineralien angereichert war.

Als er dem Aelool sein übliches Glas Eiswasser mit einer Olive überreichte, musste er unwillkürlich und trotz der langen Zeit ihrer Bekanntschaft an einen kleinen, grünen Teddybären denken.

Gesichtsausdruck und Körpersprache von Menschen und Indowy hatten praktisch nichts gemein, aber von allen Rassen, die mit anderen Spezies zu tun hatten, machten gerade diese beiden es sich häufig zur Gewohnheit, nonverbale Hinweise der anderen Rassen zu studieren, um sie interpretieren und kopieren zu können.

Demzufolge wusste der Priester ganz genau, was sein Freund meinte, als er den Muskel über dem rechten Auge emporschob und den Kopf leicht zur Seite neigte, als der Mensch einen reichlichen Schuss Whiskey der Marke Bushmill’s in seinen Kaffee tat.

»Wir haben ein Problem«, sagte Father O’Reilly.

»Das hatte ich angenommen. Normalerweise fügen Sie eine derartige Substanz Ihrem Getränk erst sehr viel später am Abend zu.«

»Thomas, bitte den Colonel zeigen«, wies der Priester sein AID an. Ein dreißig Zentimeter hohes Hologramm des verblichenen Colonel Charles Petane baute sich über dem Beistelltisch auf.

»Bis gestern war dieser Mann einer unserer weniger wichtigen Agenten. Um Ihr Gedächtnis aufzufrischen: Er wurde rekrutiert, nachdem er entscheidenden Anteil am Verlust von Team Conyers hatte. Man ging damals davon aus, seine Position als Verbindungsoffizier der US Army zu Fleet Strike könnte mit der Zeit dazu führen, dass er sich zu einer wichtigen Informationsquelle entwickeln und sein potenzieller Wert den Abschreckungswert überwiegen könnte, der damit zu erreichen gewesen wäre, ihn als Vergeltung für den Tod der Teammitglieder zu töten«, begann O’Reilly und hielt dann inne, um sich zu vergewissern, dass er damit Aelools Gedächtnis hinreichend aufgefrischt hatte.

»Wenn ich mich richtig erinnere, war dies Gegenstand einiger Diskussion.«

»Die unter anderem zu der Entscheidung führte, einige unserer Agenten vor der Kenntnis dieser Entscheidung zu beschützen, richtig. Ein schrecklicher Euphemismus, nicht wahr? Konkreter gesprochen, wir haben gelogen.« Er nahm einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

»Die meisten meiner Landsleute auf unserer Seite der Organisation haben diese Notwendigkeit nicht begriffen«, sagte Aelool, »aber, ja, ich erinnere mich, dass Ihre Leute es für notwendig hielten, und ich glaube, ich kann das auch nachvollziehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass man hinsichtlich der Nützlichkeit der von dem Agenten gelieferten Informationen nachgefasst hätte, aber im Augenblick interessiert mich eher, weshalb Sie in Bezug auf ihn die Vergangenheitsform gewählt haben.« Aelools Augen schienen sich ganz auf die Olive auf dem Boden seines Glases zu konzentrieren, das er jetzt leicht kippte, um zuzusehen, wie sie nach unten rollte.

»Seit gestern Abend ist der Agent verschieden. Wir vermuten, Cally O’Neal hat erfahren, dass er am Leben war, und hat ihn getötet. Wir sind immer noch dabei, Informationen zu sammeln.«

»Das ist keine Kleinigkeit.« Die Haltung des Aliens ließ O’Reilly Besorgnis erkennen. Er war zum Experten in der Kommunikation mit Indowy im Allgemeinen und diesem Indowy im Speziellen geworden. Er stellte jetzt sein Glas bedächtig auf den Tisch und sah dem Menschen in die Augen.

»Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie einen halben Schuss aus jener Flasche in mein Glas gießen würden.« Aelool saß völlig reglos und ohne jeden Ausdruck da und wartete, bis sein Gastgeber seinen Wunsch erfüllt hatte. »Mir ist bewusst, dass Sie in der Psychologie nicht Ihrer eigenen Spezies angehöriger Sophonten sehr erfahren sind, Father O’Reilly, aber ich frage mich, ob Sie wirklich begreifen können, wie nachteilig meine Leute auf diesen Zwischenfall vermutlich reagieren werden.« Er rieb sich mit einer Hand langsam über das Gesicht. »Wie haben Sie bis jetzt reagiert?«

»Ich habe Michael O’Neal senior unverzüglich hierher in Marsch gesetzt und soeben Sie von dem Vorfall informiert. Miss O’Neal ist aus freien Stücken heute am späten Vormittag hier eingetroffen, sodass ich bis jetzt noch keine Notwendigkeit sah, irgendwelche Maßnahmen zu treffen, um ihre Anwesenheit sicherzustellen. Bis jetzt hat noch niemand versucht, unsere Besorgnis mit ihr zu diskutieren.« Er griff nach der Flasche und schenkte dem Indowy nach. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er Aelool bis jetzt vielleicht zweimal Alkohol konsumieren gesehen. Die Auswirkung von Alkohol auf Indowy war ein wenig intensiver als auf Menschen, selbst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Körpermasse. Sie tranken selten.

»Gut. Ich würde vorschlagen, dass Sie das auch unterlassen. Sie werden sich von ihr Informationen besorgen müssen, das verstehe ich. Das wird den Schaden nicht sehr mindern, aber zumindest wird es hilfreich sein, wenn O’Neal senior in dieser Angelegenheit sämtliche Gespräche mit ihr führt. Obwohl ihr Menschen keine Clans wie wir habt, wird für meine Leute der Eindruck entstehen, dass sie sich vor ihrem Clan-Oberhaupt für ihre Handlung hat verantworten müssen. Das wird nicht sehr viel bewirken, aber immerhin ein wenig. Wie Ihnen sicherlich klar ist, ist ein solches Zusammentreffen, wenn es zu Fehlverhalten gekommen ist, bei den Indowy an und für sich bereits eine sehr ernsthafte Konsequenz.«

»Wird es ausreichen?«

»Keineswegs. Dass Sie auch nur die Frage stellen, illustriert das Problem in gewissem Maße. Aber, immerhin wird es ein Anfang sein und vielleicht die Voraussetzung dafür schaffen, den verbleibenden Schaden im Laufe der Zeit zu heilen, immer vorausgesetzt, dass mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen wird. Ich werde, um es mit Ihren Worten auszudrücken, schnell reden müssen.«


Cally saß in dem Besprechungszimmer, das Papa O’Neal reserviert hatte, als er dieses Gespräch noch vor dem Mittagessen mit ihr arrangiert hatte. Tatsächlich hatte es länger gedauert, als sie angenommen hatte, bis jemand Verbindung mit ihr aufgenommen hatte, und in der Abrechnung, die jetzt auf beiden Seiten angezeigt war, war dies ein interessanter Eröffnungszug.

Sie spielte Solitär auf dem Bildschirm, als der PDA sich meldete. »Jetzt ist’s so weit, und die Kacke ist wirklich am Dampfen.«

»Vielleicht«, sagte sie.

»Du teilst also meine Meinung. Dann ist es noch viel schlimmer, als ich angenommen hatte. Keiner von uns beiden wird hier lebend rauskommen, oder?«

»Halt die Klappe, Buckley.«

»Geht in Ordnung.«

Ein rothaariger Mann mit uralten Augen und einer Beule in der Wange kam zur Tür herein und setzte sich auf die Tischkante. Er roch nach Kautabak Marke Red Man und spuckte den Priem jetzt in den leeren Plastikkaffeebecher, den er in der Hand hielt; anschließend stellte er ihn auf den Tisch, nahe genug, um ihn jederzeit erreichen zu können, aber weit genug weg, um ihn nicht versehentlich umzustoßen.

»Cally, hast du Colonel Petane getötet?« Er sprach jedes Wort langsam und sorgfältig aus, als würde er die Antwort bereits kennen.

»Ja, allerdings, Grandpa. Das habe ich.« Sie klappte den PDA zu, ließ ihn in ihre Handtasche fallen, holte eine Zigarette heraus und zündete sie an, ohne ihren Großvater dabei aus den Augen zu lassen. Dann stützte sie den rechten Ellbogen in die linke Hand, zog an der Zigarette und wartete darauf, dass er etwas sagte.

O’Neal senior blieb einen Augenblick lang stumm und stützte die Stirn auf die rechte Hand, ehe er mit ihr über sein Gesicht wischte und sich dann das Kinn rieb. Er griff nach dem Becher und spuckte noch einmal hinein, ehe er ihn wieder abstellte.

»Weißt du, man hofft ja immer, dass man es irgendwie schafft, die nächste oder auch übernächste Generation davon abzuhalten, dieselben Fehler zu machen, die man selbst gemacht hat. Das hat wohl mit dem Altwerden zu tun.« Er atmete tief und blieb dann eine ganze Weile stumm. »Würdest du mir erklären, was du dir dabei gedacht hast, als du zu dem Schluss kamst, dass das eine gute Idee wäre?«

»Sicher, gar kein Problem. Während meines Urlaubs erfuhr ich, dass jemand auf unserer Liste von Ermessenszielen irrtümlich als inaktiv gekennzeichnet war, weil der Datenspeicher ihn zu diesem Zeitpunkt fälschlicherweise als verstorben erfasst hatte. Natürlich konnte er korrekterweise nicht als inaktiv betrachtet werden, da er ja tatsächlich am Leben war. Deshalb habe ich, da er ja auf der Liste der Ermessensziele geführt wurde, gemäß üblicher Organisationsdoktrin die Zielperson eliminiert und mich anschließend auf dem Stützpunkt gemeldet, um meinen Einsatzbericht zu Protokoll zu geben und mich auf den nächsten Einsatz vorzubereiten.«

»Ich habe dich aber nicht als Advokaten großgezogen, junge Frau.«

»Jung ist ja wohl übertrieben.« Sie blies einen perfekten Rauchring, der träge zu einer Abzugdüse in der Decke emporschwebte.

»Aber so verhältst du dich.«

»Du hast mich auch nicht dazu erzogen, einfach auf meine Verantwortung gegenüber meinen Teamkollegen zu scheißen.« Sie griff nach ihrem Plastikbecher mit Kaffee, blickte mit gerunzelter Stirn auf den braunen Kaffeesatz und schnippte ihre Zigarettenasche hinein.

»Zum einen: Team Conyers war nicht dein Team. Zweitens: Glaubst du ehrlich, dass das Team die Eliminierung einer potenziell nützlichen Informationsquelle aus reinen Rachemotiven gebilligt hätte? Glaubst du das?«

»Zum einen: Du hast Recht. Sie waren nicht mein Team, sie waren ein Kollegenteam. Zweitens: Ich habe Petane nicht auf die Liste der Ermessensziele gesetzt, und was ich getan habe, habe ich auch nicht aus Rachemotiven getan. Soweit mir bekannt ist, hat man ihn auf diese Liste gesetzt, weil es einfach schlechte Politik ist, Leute, die Feldagenten verraten und damit ihren Tod herbeigeführt haben, weiter atmen zu lassen. Dass man ihn nicht von der Liste entfernt hat, ist für mich ein Hinweis auf Folgendes: Irgendwo war sich jemand völlig darüber im Klaren, dass man einen Fehler gemacht hatte. Drittens hat eine gründliche Befragung nicht immer ergeben, dass Petane bis zur Stunde keineswegs eine nützliche Informationsquelle war, sondern darüber hinaus auch, dass sein Potenzial für künftige Nützlichkeit als Informationsquelle unbedeutend war. Würdest du gerne meinen Bericht haben?«, erbot sie sich dann kühl.

»Cally, du hast ganz genau gewusst, dass dies oberhalb deiner Gehaltsstufe war. Ist es dir nie auch nur durch den Kopf gegangen, dass es vielleicht richtig sein könnte, den Stützpunkt aufzusuchen, das Thema zu diskutieren und eine formelle und offizielle Neubewertung des Status dieses wertlosen Kotzbrockens vorzuschlagen? Ist dir das auch nur durch den Kopf gegangen? Sag mir doch: Worin, glaubst du, besteht deine Rolle in dieser Organisation?«

»Ich sehe mich gern als das Chlor in der Leitung.«

»Wenn du meinst, dass dies der richtige Augenblick für flapsige Bemerkungen ist, haben wir ein wesentlich größeres Problem, als ich angenommen hatte.«

»Okay, genau das glaube ich nicht. Ich glaube, dass es eine sehr fragwürdige Entscheidung war, einen Verräter am Leben zu lassen, der durch seinen Verrat den Tod von Agenten herbeigeführt hat. Und das sage ich selbst für den Fall, dass er eine Informationsquelle von hoher Qualität gewesen wäre. Aber wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich ihn auch am Leben gelassen, und er hätte dann lediglich geglaubt, dass meine Befragung routinemäßig erfolgt ist — ein Test, den er bestanden hatte. Ich hätte ihn leben lassen, und dies trotz meiner festen Überzeugung, dass dies eine falsche Entscheidung war.«

»Was, du bist also jetzt aus eigener Machtvollkommenheit die Entscheidungsinstanz über den Wert eines Agenten? Wer hat gesagt, dass du der liebe Gott bist, Cally?«

»Mir ist im gleichen Augenblick bewusst geworden, dass er nichts wert ist, als mir bewusst wurde, dass er am Leben ist. Die Befragung hat das nur bestätigt. Trotzdem, wenn er als Informationsquelle auch nur den geringsten Wert besessen hätte, würde er jetzt noch atmen.«

»Yeah, die undichte Stelle haben wir gefunden. Zum Glück ist er nicht mein Problem«, sagte O’Neal.

»Würdest du gerne meinen Bericht hören?«

»Ob ich ihn möchte? Nein. Ob ich ihn brauchen werde, um diesen Schlamassel aus der Welt zu schaffen, falls das überhaupt je möglich ist? Ja. Lad ihn mir rüber.«

»Buckley, Befragungsdaten und Abschlussbericht an AID von Michael O’Neal senior übertragen.« Ausnahmsweise traf der Buckley diesmal die korrekte Entscheidung, sich eines Kommentars zu enthalten.

»Miss O’Neal, Sie haben sich als unter Hausarrest stehend zu betrachten, dies gilt, bis in dieser Angelegenheit eine Entscheidung getroffen ist«, erklärte er förmlich und fügte dann hinzu, »und, Cally — das gilt auch für irgendwelche elektronischen Freiheiten mit den Computern dieser Basis oder sonst wo. Mahlzeiten werden dir auf das Zimmer gebracht werden. Wenn die Bane Sidhe es für notwendig hält, dass du irgendeinen anderen Ort auf dieser Basis aufsuchst, wirst du die entsprechenden Anweisungen von mir erhalten. Du wirst ohne direkte Anweisung meinerseits mit sonst niemandem in Verbindung treten. Ist das klar?«

»Yes, Sir.« Callys Gesicht war völlig ausdruckslos, als sie sich so entlassen sah, nach ihrer Handtasche griff und den Raum verließ, um in ihre Suite zurückzukehren.


Als sie in ihre Räume zurückkam, hatten die Reinigungsleute ihr Gepäck bereits geliefert. Sie brauchte eine volle Viertelstunde, um sich zu vergewissern, was alles noch da war. Dabei war ihr nicht recht klar, ob sie sich nun wundern sollte oder nicht, dass mit Ausnahme der Plastiktüte mit ihren vom Einsatz verschmutzten Kleidern alles da war. Jemand war sogar so aufmerksam gewesen, ihren Musikwürfel aus dem Audiosystem des Wagens dazuzulegen. Daneben lagen ein zweiter Würfel und eine kleine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Sie schaltete die KI-Emulation des Buckley völlig ab, um den PDA als dummen Würfelleser zu benutzen, und schob den Würfel hinein.

»Nicht alle sind der Ansicht, dass Sie etwas Unrechtes getan haben. Die Kacke ist nun mal am Dampfen, aber Sie sollen wenigstens Ihre Sachen zurückbekommen. Diese Nachricht wird sich in zehn Sekunden selbst zerstören, aber Sie sollten den Würfel trotzdem löschen und wegspülen. Danke, dass Sie den Glauben bewahren, Miss O’Neal.« Sie las den Text von einem Hologramm auf einem altmodischen Videoschirm ab. Anschließend holte sie den Würfel heraus und ließ ihn in den Essig fallen, den ihr anonymer Bewunderer ihr mitgeliefert hatte. Dann schüttete sie den Essig in die Toilette und spülte. Wenn sie nicht ganz speziell darauf achteten, würde damit die Nachricht ein für alle Mal beseitigt sein.

Natürlich konnte das Ganze ein Test sein, aber genau betrachtet war sie nicht so jung, wie sie aussah, und viel zu alt, um so paranoid zu sein. Sie schaltete die KI-Emulation wieder ein.

»Also, Buckley, gibt es für Leute mit Stubenarrest eine Bane-Sidhe-Vorschrift, wonach das Downloaden von ein paar Büchern und Filmen aus der Stützpunktbibliothek als ›elektronische Freiheiten‹ angesehen werden könnte?«

»Man wird dich wahrscheinlich erschießen und mich löschen und anschließend irgendeinem Halbwüchsigen als Video-Gamebox übergeben.«

»Gibt es eine solche Vorschrift, Buckley?«, wiederholte sie kühl.

»Nein, aber du glaubst doch nicht etwa wirklich, dass das denen etwas ausmachen wird, oder? Soll ich die fünf Regeln auflisten, die die dazu benutzen könnten, wenn sie eine Rechtfertigung wollen, um dich zu erschießen?«

»Halt die Klappe, Buckley.«

»Wirklich, es würde mir gar keine Mühe machen.«

»Halt die Klappe, Buckley.«

»Geht in Ordnung.«

Unter den Gegenständen von ihrer Reise, die sich in ihrem Rucksack fanden, war auch der Würfel mit den Aufzeichnungen ihrer Recherchen über Sinda Makepeace. Dort war zu finden, dass sie in Wisconsin aufgewachsen war. Neben einer ziemlich großen Auswahl wirklich alter Filme verfügte die Stützpunktbibliothek über ein Schulbuch mit einer Geschichte des Staates Wisconsin auf dem Niveau Oberstufe Volksschule, und dort fand sie auch einen ziemlich dicken Band mit dem Titel Komplette und ungekürzte Geschichte des Käses sowie ein ganzes Bündel Fleet-Strike-Handbücher über Ausbildung und Spezialkenntnisse von Makepeace im Allgemeinen.

Falls sie ihre Entscheidung änderten und sie nicht auf ihren Einsatz schickten, würde das nichts ausmachen. Wenn sie es doch taten, könnte es echt unangenehm werden, nicht vorbereitet zu sein. Somit vor die Wahl gestellt, die Vorbereitungen in Angriff zu nehmen oder sich einen Schwarzweißfilm mit Fred Astaire und Ginger Rogers anzusehen, entschied sie sich für Ersteres und verbrachte damit einige Stunden, bis es an ihrer Tür klopfte und man ihr das Mittagessen brachte.

Sie musterte mit ungläubiger Miene das Maisbrot, das Maispüree sowie den Plastikbehälter mit Milch und den Apfel auf ihrem Tablett.

»Ich kann’s einfach nicht glauben. Ich denke, die sind wirklich sauer auf mich, Buckley.«

»Das kriegst du jetzt erst mit? Früher warst du intelligenter. Eingehende Nachricht von Michael O’Neal senior. Willst du die schlechten Nachrichten jetzt oder nach dem Essen?«

»Abspielen, Buckley.«

Ein dreißig Zentimeter hohes Hologramm ihres Großvaters von den Schultern aufwärts baute sich über dem PDA auf. Sie musste um den Tisch herumgehen, um sein Gesicht zu sehen. Der Buckley war nicht intelligent genug, um die Nachricht auf Gesprächsdistanz vor ihr darzustellen, wie das ein echtes AID getan hätte.

»Cally, du hast einen Termin um fünfzehn Uhr fünfzehn in der Medizinischen Abteilung. Bitte komme ein paar Minuten vorher.«

Na ja, das klang immerhin nicht danach, dass er selbst kommen und sie persönlich hinbringen oder eine Eskorte schicken würde. Immerhin etwas.


Doktor Albert Vitapetroni hatte ein gut trainiertes Pokergesicht und ein mitfühlendes Wesen. Für einen Psychiater war das berufsnotwendig. Als Chef der Psychiatrie der Klinik der Basis Chicago würde er möglicherweise sämtliche menschlichen Angehörigen der Großen Organisation betreuen müssen. Es wäre menschlich unmöglich, ganz zu schweigen in speziellen Fällen sogar unvernünftig, von ihm zu verlangen, seine sämtlichen Patienten auch zu mögen.

Der drahtige Mann mit dem schütteren Haar, der jetzt in seinem Büro auf und ab schritt und dabei mit einem seiner Schreibtischutensilien spielte, war nicht gerade einer seiner Lieblingskollegen. Als Patienten konnte man den Mann eigentlich nicht bezeichnen, denn als Computerspezialist geriet der Mann so gut wie nie ins Schussfeld und benötigte daher Vitapetronis Dienste nicht. Und dieser Dienste wegen war er natürlich auch nicht hier. Vielmehr ging er Vitapetroni im Augenblicklich ziemlich auf die Nerven, indem er über seine Fünfzehn-Uhr-fünfzehn-Patientin schwadronierte.

»Das ist das Problem mit Agenten in ihrem Tätigkeitsbereich. Wenn jemand jahrelang als Killer eingesetzt wird, muss er ja schließlich mit der Zeit zum Psychopathen werden.«

»Mr. Wallace, Sie haben gerade deutlich gemacht, weshalb wir Psychiater es nicht mögen, wenn Laien unseren Jargon benutzen. Miss O’Neal ist ganz sicherlich keine Psychopathin.«

»Soziopathin, Psychopathin, was soll’s? Und solange man sie nicht gesehen hat, kann man das schließlich nicht behaupten? Wenn Sie schon mit einer vorgefassten Meinung an ihre Patienten herangehen, dann finde ich, würden Sie allen einen Dienst erweisen, wenn Sie, na ja, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber wenn Sie …«

»Agent Wallace, ich habe Ihren Vater als Berufskollegen bewundert, aber ich sollte Sie vielleicht daran erinnern, dass man nicht schon dadurch zum Psychiater wird, dass man einen Psychiater zum Vater hat.« Er atmete tief durch und gab sich alle Mühe, seinen professionellen Gleichmut zurückzugewinnen. »Jay, wenn Sie reden müssen oder so, sollten Sie mit meiner Assistentin sprechen, sie gibt Ihnen dann einen Termin. Wenn Ihnen das lieber ist, brauchen wir es nicht einmal einen Termin zu nennen, aber jetzt muss ich mich wirklich um meinen Papierkram kümmern, ehe am Nachmittag wieder die Patienten kommen. Tut mir Leid, wenn ich Sie rausschmeißen muss, aber wenn Sie mich entschuldigen würden …«

»Ja, geht klar. Kein Problem. Ich werde dann eben später kommen.« Der Agent zog sich rückwärts durch die Tür zurück und schloss sie hinter sich.

Der Doktor blickte ihm nach und starrte eine Weile die geschlossene Tür an, oder besser gesagt, starrte durch sie hindurch. Ich habe keinerlei rationale Gründe, die ich benennen könnte, abgesehen von kleinen Lästigkeiten wie das, was gerade jetzt vorgefallen ist, aber ich mag ihn einfach nicht. Ich habe ihn nie bei irgendwelchen unsauberen Dingen erwischt — na ja, jedenfalls nicht öfter als irgendwelche anderen Agenten -, und in seiner Akte ist absolut nichts, auch die Testergebnisse sind in Ordnung, aber ich kann den kleinen Mistkerl einfach nicht leiden. Und dieser ganze Cally O’Neal Schlamassel ist zusätzlicher Stress, den ich in dieser Woche ganz bestimmt nicht gebraucht habe. Verdammt noch mal, ich hob denen schon vor Jahren gesagt, was passieren wird, wenn sie je dahinterkommt, dass dieser Dreckskerl noch am Leben ist. Ich hab denen gesagt, sie sollen das geheim halten und aufpassen, dass sie nie nach Chicago kommt, damit sie nicht einmal zufällig auf ihn stößt. Aber da hört natürlich keiner zu, und jetzt landet der ganze Schlamassel bei mir. Herrgott, ich bin wirklich urlaubsreif.


Um zehn nach drei klopfte es an Vitapetronis Tür, und er rief laut »Herein«. Das passte zu ihr, zu früh zu kommen. Er würde mehr Zeit brauchen, seine Eindrücke niederzuschreiben als sie zu gewinnen. Subjekt war ordentlich, aber leger gekleidet. Ausgebleichte, aber saubere Jeans und olivfarbenes T-Shirt, passend zur persona Cally. Den Kopf trug sie ein wenig schief. Wahrscheinlich unbehaglich mit einer Haarfarbe, die nicht zur augenblicklichen Rolle passt. Keine Kontaktlinsen, Augen Naturfarbe.

»Cally, wie geht es Ihnen? Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz.« Als er nach ihrer Hand griff, stellte er fest, dass sie keinen Nagellack trug und ihre Nägel stumpf waren, als ob sie erst vor kurzem den Nagellack entfernt hätte. Ebenfalls zur persona Cally passend. Gut.

»Tag, Doc.« Sie lächelte strahlend, aber als sie in einem seiner bequemen, wenn auch billigen Polstersessel saß, konnte er erkennen, dass sie die Arme dicht am Körper hielt, dass ihr Körper leicht abgeknickt war und sie ihm auch nicht gerade in die Augen sah. Ihre Hände waren nicht ineinander verschränkt, aber sie lagen beide in ihrem Schoß, und die Fingerspitzen berührten einander.

Er musterte sie mit hochgeschobenen Augenbrauen und wartete, während er in seinem Schreibtischsessel Platz nahm. Der Schreibtisch stand an der Wand, sodass er keine Barriere zwischen ihm und dem Patienten bildete. Er wartete, aber sie war lang genug im Geschäft, um das Spiel zu beherrschen, und schließlich brachten die denen bei, nicht rumzuplappern. Sie tat nichts, um das Schweigen zu beenden.

»Das war keine rhetorische Frage. Ich habe das so gemeint. Wie geht es Ihnen?«

»Mir ist’s schon besser gegangen. Die Arbeit war in letzter Zeit ziemlich anstrengend.« Ihr Tonfall klang immer noch unecht fröhlich.

»Aber Ihr augenblickliches Problem ist ja nicht auf Ihre Arbeit zurückzuführen, oder?« Er machte sich ein paar Notizen auf seinem zweiten PDA, dem einzigen, der im Augenblick im Raum war, was insofern ungewöhnlich war, als er über keinerlei KI verfügte. Er vertraute den Dingern nicht. In seinem Beruf hatte er zu viele wirklich verkorkste Programmierer kennen gelernt, um ihren Imitationen des menschlichen Bewusstseins vertrauliche Patientendaten anzuvertrauen. Das hatte nichts damit zu tun, dass er schon einmal versucht hatte, einen Buckley zu behandeln. Es hatte ein schlimmes Ende genommen.

»Oh, ich denke, das ist Ansichtssache, finden Sie nicht?« Ihre Stimme klang jetzt leicht gereizt.

»Na ja, man hat mir gesagt, Sie hätten einen Bane Sidhe Agenten getötet. Während Sie eigentlich im Urlaub sein sollten. Das ist, wie Sie ganz richtig erklärt haben, deren Ansicht. Ich würde gerne die Ihre hören«, sagte er.

»Okay. Auf der Liste der Ermessensziele befand sich ein Individuum, das irrtümlich als tot gelistet war. Mir ist der Fehler und der Standort der Zielperson aufgefallen. Ich hatte Zeit, mir war nach einem kleinen Ausflug, und ich habe die Zielperson eliminiert und meinen Bericht abgeliefert. Wenn die Organisation nicht möchte, dass ein bestimmtes Individuum getötet wird, dann sollte die Organisation dieses Individuum vielleicht, ich sage ausdrücklich vielleicht, nicht auf der Ermessenszielliste haben.« Sie lächelte dünn.

»Petane war auf der Ermessenszielliste? Okay. Also, sehen Sie, eigentlich ist es ja nicht meine Aufgabe, Ihren Abschlussbericht für die Organisation entgegenzunehmen. Das ist etwas für die Ops. Mein Job ist es, Ihren mentalen Zustand zu bewerten. Da Sie und alle anderen darin übereinstimmen, dass Sie ihn getötet haben, sollten wir vielleicht damit beginnen, was Sie in Bezug auf seine Person empfunden haben und wie Ihre Gefühle zu dem Zeitpunkt waren, als Sie beschlossen haben, ihn zu töten?«

»Welche Gefühle? Er war am Leben. Er sollte tot sein. Das habe ich erledigt.«

»Kommen Sie schon, Cally, machen Sie das nicht schlimmer als es unbedingt sein muss. Irgendwelche Selbstmordgedanken?«, fragte er.

»Ach was, nein.« Sie sah ihn missbilligend an.

»Verspüren Sie den aktiven Wunsch zu leben?« Er machte sich eine Notiz.

»Aber sicher«, sagte sie.

»Dann können Sie das zeigen, indem Sie mit mir sprechen. Bitte versuchen Sie sich daran zu erinnern, was Sie empfanden, als Sie beschlossen haben, Colonel Petane zu töten.« Er blickte auf. In dieser Phase musste er ihre Körpersprache besonders sorgfältig beobachten.

»Ihre Tour gefällt mir wirklich, Al.« Sie grinste sarkastisch.

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie anlüge? Ich denke doch wohl nicht. Erinnern Sie sich, wo Sie waren, als Sie den Beschluss gefasst haben, Petane zu töten?«, beharrte er geduldig.

»Charleston. Zu Hause«, sagte sie.

»Und was haben Sie empfunden, als Sie die Entscheidung getroffen haben?«

»Verstimmt, ja? Verstimmt fühlte ich mich, verärgert.« Ihre Finger tippten nervös auf dem Verschluss ihrer Handtasche, und schließlich, offenkundig nach einem kurzen inneren Kampf, holte sie sich eine Zigarette heraus und zündete sie an.

»Vielleicht ein wenig verraten?« Er schob ihr einen Aschenbecher hin.

»Würden Sie das nicht so empfinden?«, fragte sie.

»Vielleicht. Kamen Sie sich ein wenig verraten vor?«, wiederholte er.

»Ja, schon.« Sie seufzte. Ihre Finger ballten sich zu Fäusten, öffneten sich wieder.

»Und waren Sie vorzugsweise über Petane verstimmt oder über die Bane Sidhe oder über sonst jemanden?« Wenigstens redete sie.

»Über die Bane Sidhe war ich verstimmt, okay?« Sie beugte sich vor, stippte Asche in den Aschenbecher, hielt aber die Arme immer noch dicht am Oberkörper.

»Das kann ich verstehen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, selbst wenn die Gründe vielleicht nahe liegend sind, mir diese Gründe zu schildern?«, fragte er sanft.

»Die Bane Sidhe hat seit dem Neukontakt immer die Linie vertreten, Leute, die unsere Agenten töten, oder solche, die unsere Leute verraten, sofern das zu ihrem Tod führt, nicht am Leben zu lassen. Das ist eine sehr klare und kluge Linie. Sie aufzugeben wäre wirklich dumm. Und für uns Agenten gefährlich.« Das klang eiskalt, aber sie blieb geduldig.

»Selbst wenn die betreffende Person der Organisation immer noch wichtige Informationen liefern kann?«

»Hören Sie, damit kann ich umgehen. Womit ich nicht umgehen kann ist, dass Petane keine wertvollen Informationen geliefert hat und das auch nicht vorhatte und dass keiner von den Leuten in der Verwaltung und in der Einsatzplanung, die ursprünglich diesen Fehler gemacht hatten, den Mumm hatte, die Verantwortung zu übernehmen und das Problem zu lösen. Stattdessen haben sie einfach alle fünfe gerade sein lassen und den Typen ohne guten Grund weiterhin am Leben gelassen.« Ihre Hände zitterten jetzt, als sie wieder an ihrer Zigarette zog und schließlich die Beine übereinander schlug.

»Und woher wollen Sie wissen, dass seine Informationen wertlos waren oder dass er nicht vielleicht in Zukunft bessere Informationen liefern würde?«, bohrte er.

»Schauen Sie, ich habe ihn verhört, ja? Er war nicht einmal gegen sämtliche Verhördrogen immun, die Fleet Strike zur Verfügung hat. Daraus kann man doch schließen, dass die nie vorhatten, diesem Mann wirklich wichtige Informationen anzuvertrauen. Und zwar niemals«, sagte sie.

»Hätten Sie ihn am Leben gelassen, wenn Ihr Verhör ein anderes Ergebnis gehabt hätte? Und welche Folgen hätte dieses Verhör Ihrer Ansicht nach für seine Nützlichkeit und Kooperationsbereitschaft gehabt?« Interessant.

»Die Befragung war lediglich eine Bestätigung, ja? Ich wusste bereits, dass er als Informationsquelle wertlos war, das ist ja einer der wesentlichen Gründe, weshalb ich wirklich ernsthaft wütend war. Aber, ja, ich wäre sauer gewesen, aber ich hätte ihn leben lassen«, räumte sie mit einem Seufzer ein.

»Okay, das wäre dann ja wohl geklärt. Und wie haben Sie ihn verhört und getötet? Die Sache mit seiner Überwachung können wir hier übergehen. Fangen Sie einfach mit der Befragung an«, sagte er.

»Haben Sie Zeit?« Sie grinste wieder schief, wieder verbittert.

»Für Sie, Cally, habe ich den ganzen Nachmittag. Kommen Sie schon, erzählen Sie mir alles.« Er lehnte sich zurück und winkte ihr einladend zu.

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