12

Cally öffnete die Tür zu ihrem Apartment und trug ihre Einkäufe hinein. Dies war erst ihr zweiter Tag, aber das langweilige Grün der Wände und das graue Mobiliar gingen ihr schon jetzt auf die Nerven. Sie warf einen großen, roten Schal über den hässlichen grauen Nachttisch aus Plastik, der zum Zimmer gehörte, stellte die Glasvase, die sie gekauft hatte, auf den Tisch und tat gelbe Seidenrosen hinein. Dann befestigte sie zwei Poster mit Einhörnern und Pegasussen — oder hieß das Pegasi? — an den Wänden. Zugegeben, seltsamer Geschmack, aber sie hatte schon Bettdecken mit hässlicheren Motiven gehabt. Zumindest waren die Bilder farbenfreudig. Sie hatte sogar eines gefunden, das nicht in Pastelltönen gehalten war.

Was ist das für ein widerliches Piepsen? Sie warf einen Blick auf ihren PDA, aber der war ganz friedlich. Sie sah sich im Zimmer um und stellte schließlich fest, dass das Geräusch aus dem Nachttisch kam, über den sie ihren Schal geworfen hatte, und zwar aus der obersten Schublade. Oh. Das Telefon. Wieso rufen die nicht meinen PDA an? Der steht doch im Telefonverzeichnis … Oh. Der Papierfreak.

Sie holte das Telefon aus der Schublade und sah das rote Licht darauf, das im Takt mit dem Piepen an- und ausging. Einen Augenblick lang musste sie die Knöpfe des Apparats studieren, bis sie den fand, mit dem man eine Nachricht abspielen konnte. Aber da war keine, und sie musste eine Weile mit weiteren Knöpfen herumexperimentieren, bis sie schließlich die Kombination fand, mit der man das Telefon dazu veranlassen konnte, die Nummer des letzten Anrufers anzuzeigen. Sie las sie ihrem PDA vor und forderte ihn auf, die Nummer anzurufen. Dann wartete sie, bis jemand sich meldete.

»Hallo, hier bei Beed. Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte eine Frauenstimme.

»Äh … ja, ich denke schon. Ist der General zu Hause? Ich bin seine Sekretärin und ich glaube, er hat versucht, mich zu erreichen.«

»Oh, sind Sie Captain Makepeace? Augenblick, ich hole ihn.«

Cally setzte sich aufs Bett, wartete und teilte dabei den Bildschirm ihres PDA, um die untere Hälfte als Fernbedienung benutzen zu können. Auf dem Würfel von gestern Abend wartete noch eine Ladung Filme, die sie noch nicht gesehen hatte. Der Würfel war in der Handtasche der ursprünglichen Sinda Makepeace gewesen, als sie den Wechsel vorgenommen hatte, er gab also vermutlich ihren Geschmack an Filmen recht gut wieder. Sie ließ ihn anlaufen, um die Werbung am Anfang hinter sich zu bringen, und schaltete ihn dazu auf stumm. Bis der General sich schließlich meldete, musste sie noch ein paar Sekunden warten. Heutzutage nahmen die meisten Leute ihren PDA überallhin mit. Nun ja, wenn sie kein AID hatten. So wie sie Beed kannte, war er wahrscheinlich mehrere Räume von dem entfernt, aus dem er angerufen hatte. Cally malte sich das Bild eines großen, schwarzen Telefons mit Wählscheibe aus, das irgendwo auf einem Tisch stand, und musste an sich halten, um nicht laut aufzulachen, als schließlich seine Stimme ertönte.

»Hallo, Captain?« Es klang jedenfalls wie der General.

»Ja, Sir. Sie hatten versucht, mich zu erreichen?«

»Äh … ja. Ich wollte ein wenig Bürokram aufarbeiten und dabei habe ich festgestellt, dass ich die Li-Akte brauche. Ich erwarte jetzt nur gerade einen anderen Anruf und kann deshalb nicht weg. Ich weiß, es ist eine Zumutung, aber hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, im Büro vorbeizuschauen und mir die Akte zu bringen? Ich störe doch hoffentlich nicht gerade?«

»Nein, Sir, überhaupt nicht. Ich bringe Ihnen die Akte gern«, schwindelte sie.

»Gut, gut. Ich hatte schon Sorge, dass das vielleicht ein ungünstiger Zeitpunkt wäre, weil Sie vorher nicht da waren, als ich angerufen hatte. Ich dachte, Sie hätten vielleicht irgendetwas vor.« Seine Stimme klang fragend.

»Ja, ich bin gerade vom Abendessen nach Hause gekommen, Sir.«

»Ein bisschen spät, nicht wahr?« Offenbar wartete er auf so etwas wie eine Erklärung.

»Ja, Sir. Ich war noch ein wenig im Büro geblieben, um alles in Ordnung zu bringen, und dann musste ich noch Einkäufe erledigen.«

»Ah. Okay. Nun ja, wenn Sie kurz beim Büro vorbeischauen und mir dann diese Akte bringen würden, Captain. Vielen Dank.« Ein Klicken war zu hören, als er das Gespräch beendete.

Sie starrte das Telefon ein paar Augenblicke lang an. Ist das zu glauben? Und er nimmt natürlich ganz selbstverständlich an, dass ich weiß, wo er wohnt. Nicht, dass er nicht meinen PDA anrufen und mich sofort hätte erreichen können. Allmählich glaube ich, dass die echte Sinda Makepeace bei dem Tausch besser weggekommen ist. Und ich muss ja in meiner Rolle bleiben, verdammt.

Die Adresse des Generals zu finden machte selbstverständlich keine Mühe. Die Stützpunktauskunft hatte kein Problem damit, seiner Sekretärin zu sagen, wo er wohnte.

Hinzukommen dauerte auch nicht lange, schließlich war es Dienstagabend und mitten in einer Schicht. Der Transitverkehr war schwach, und die MPs, die an der Transitstation für das Brigadehauptquartier Dienst hatten, waren überrascht, dass jemand so spät ankam, ließen sie aber nach einem kurzen Blick auf ihren Ausweis durch.

Augenblicke später schob sie die Akte in einen Umschlag, passierte beim Hinausgehen erneut die MP-Wache und nahm einen Transitwagen, der sie drei Etagen tiefer brachte.

Der Korridor, an dem höhere Offiziere von Fleet Strike wohnten, war nicht in amtlichem Grün gehalten. Die Türen waren auch nicht schlachtschiffgrau. Hier waren die Wände cremefarben und die Türen wedgwoodblau mit einem Streifen Tapete oben an den Wänden, die den Eindruck vermitteln sollten, dass dort geschnitzte Leisten angebracht waren. Der anthrazitgraue Teppichboden war dick und so weich, dass sie fast einsank. Insgesamt erinnerte sie das an Filme, in denen man Vorkriegshotels sehen konnte, wo Geschäftsreisende abstiegen, die ein knappes Spesenkonto hatten, aber nicht das Gefühl haben wollten, in einer billigen Absteige zu wohnen.

Suite G eins-null-drei war etwa fünfzig Meter von den Türen der Transitlinie entfernt. Sie hatte das übliche elektronische Schloss und einen kleinen, leuchtenden Knopf in einer Messingplatte mit eingravierten Blättern.

»Captain Sinda Makepeace für General Beed, bitte«, verkündete sie der Tür deutlich. Nichts geschah. Sie wartete und meldete sich dann ein zweites Mal. Immer noch nichts. Er konnte doch nicht … die hatten doch ganz sicher keinen … ach was, zum Teufel, ich versuch es. Sie drückte den Knopf und hörte aus dem Inneren des Apartments sofort ein Klingeln. Die haben doch tatsächlich ein Loch durch das GalPlas gebohrt, um das verdammte Ding zu installieren.

Als die Tür sich zur Seite schob, schlug ihr ein unverkennbarer Hauch von Herrenkölnisch entgegen. Beed stand im Eingangsflur, machte aber keine Anstalten, den Umschlag von ihr entgegenzunehmen.

»Ah, gut. Sie haben die Akte. Falls es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie reinkommen würden. Vielleicht brauche ich Sie noch. Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?«

»Nein, Sir, natürlich nicht, Sir.« Sie trat ein, und die Tür schloss sich hinter ihr. Es hatte vielleicht wie eine Frage geklungen, aber sie erkannte einen Befehl, wenn sie einen hörte. Außerdem würde sie auf die Weise vielleicht das Problem mit ihren überschüssigen Hormonen lösen können und zugleich mit ihrem Auftrag ein Stück weiterkommen. Insgesamt gar nicht so schlecht.

»Eigentlich habe ich die Akte gar nicht gebraucht.« Er sah ihr in die Augen und wandte den Blick nicht von ihr, als er nach dem Umschlag griff und ihn auf ein kleines Tischchen neben der Tür warf.

»Das habe ich auch nicht angenommen, Sir.«

»Hören Sie auf mit dem Sir, Sinda. In der Öffentlichkeit, ja, aber … hätten Sie gern ein Glas Wein?«

»Nur, wenn es kein hiesiger ist, danke. Wenn die Luft so auf Kaffeebohnen wirkt, hätte ich wirklich Sorge, was sie mit armen wehrlosen Trauben anrichten kann.«

»Nein, er ist von der Erde. Ein schöner Chardonnay aus Kalifornien. Er wird Ihnen schmecken.« Er führte sie aus dem Foyer ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch standen ein Eiskübel mit einer gekühlten Flasche Wein und zwei Gläser. Beed entkorkte die Flasche, schenkte mit eleganten Bewegungen ein, reichte ihr ein Glas und prostete ihr zu. Er hatte Recht. Der Wein schmeckte vorzüglich.

»Verzeihen Sie die Frage, aber wo ist Mrs. Beed heute Abend? Und wenn ich nicht ›Sir‹ sagen soll, was dann?«

»Meine Freunde nennen mich Bernie. Und Mrs. Beed ist mit ein paar von den anderen Frauen im Kino. Anschließend trinken sie noch einen Schluck. Sie wird frühestens um null einhundert wieder hier sein.«

»Ich — ich habe das noch nie gemacht.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Weinglas und senkte die Augen.

Er stellte sein Glas weg, nahm das ihre und stellte es neben das andere; dann trat er einen Schritt vor, bis er sie fast berührte. Er griff ihr unters Kinn, beugte sich vor und küsste sie.

»Ich glaube, mir wird es großen Spaß machen, es dir zu erklären«, sagte er.

Sein Mund schmeckte nach Pfefferminz, und sein Schnurrbart kitzelte sie an den Lippen, als sie ihm beide Hände um den Nacken legte. Seine Hände spielten mit ihren Brüsten, und ihr Atem ging schneller. Sie drückte sich an ihn.

Dann tasteten seine Hände nach den Verschlüssen ihrer Seidenkombination, öffneten sie vorne, sodass man die weiße Spitze ihres BHs sehen konnte. Eine Hand glitt über ihren Rücken, drückte sie fester an sich, während die andere ihre Brust liebkoste. Sie presste sich gegen ihn, krallte die Finger in sein Haar, als sein Mund an ihrem Kinn entlang über ihren Nacken glitt, während sie sich immer fester an ihn drückte. Okay, das wird gar nicht so schlimm. Mhm … mhm … ja, hier.

»Nicht hier«, murmelte er dicht an ihrem Ohr. Sie ließ zu, dass er ihre Hand nahm und sie über den Flur in ein Schlafzimmer führte. Es roch ein wenig staubig, wie ein Gästezimmer, und alles sah zu ordentlich, zu perfekt aus. Und zu feminin. Das Schlafzimmer eines Ehepaars sollte niemals eine Tagesdecke mit rosa Blümchenmuster haben. Sie legte den Kopf etwas zur Seite, um ihn zu küssen, während er die Seidenkombination von ihrer Schulter schob, sodass ihre Hände jetzt frei waren, um ihn an den Hüften zu packen. Betont langsam schlängelte sie sich aus ihrer Uniform, ließ sie zu Boden gleiten, wo sie als kleines Häufchen liegen blieb, und begann dann am Verschluss seiner Uniform ein wenig herumzunesteln, bis er schließlich aufging, sodass sie jetzt beide Hände an seinen Rücken pressen konnte.

Sie ging mit, als er sie aufs Bett drückte, über ihr liegend, aber das Gewicht auf Hände und Zehenspitzen stützend. Während sie einander küssten, half sie ihm aus seiner Uniform, und er schob die Hand unter ihren Rücken, um ihren BH zu öffnen. Als der dann weg war, lehnte er sich einen Augenblick lang zurück, um sie anzusehen. Männer taten das immer. Sie lächelte und zog ihn wieder zu sich herunter. Seine Brust war glatt und haarlos, so glatt wie sein Kinn, und sie überlegte kurz, ob er sie mit Enthaarungsschaum behandelt hatte, entschied dann aber, dass es ihr eigentlich gleichgültig war. Sie wollte ihren Spaß haben, das hätte ihr auch der Arzt verschrieben, und so wie es aussah, würde sie auch ihren Spaß haben.


Nachher half sie ihm die Laken wechseln und das Bett frisch zu beziehen. Sie dachte, damit würde er sich verraten, aber als er die sauberen Laken herausholte, waren sie genau gleich wie die, die sie gerade abgezogen hatten.

»Werden die deiner Frau nicht auffallen?«

»Ganz sicher nicht. Die sind gleich wieder sauber und im Schrank. Ich bin nicht total gegen moderne Technik, Sinda.«

Er war jetzt offenbar ein wenig verlegen, reizbar, so als wisse er nicht recht, worüber er mit ihr reden sollte. Sie verabschiedete sich unter einem Vorwand und ging. In dieser Stimmung war das nicht der richtige Augenblick für intime Kopfkissengespräche. Vielleicht das nächste Mal. Zum größten Teil hatte sie ja das bekommen, wozu sie gekommen war. Immerhin etwas. Tee und Sympathie im Büro und dafür sorgen, dass er sich wohl fühlte. Und dann hatte sie ja auch noch den Würfel. War ja immerhin möglich, dass etwas Brauchbares darauf war. Das Problem bestand ihrer Meinung nach darin, dass der General möglicherweise mit irgendjemandem zusammenarbeitete, also galt es, alles genau zu überprüfen.

Und dann musste sie sich natürlich noch melden. In der guten alten Zeit, wo nur Menschen gegen Menschen standen, war ein persönliches Zusammentreffen das Gefährlichste, was es für einen aktiven Agenten gab. Aber die Erfahrung der Bane Sidhe hatte da zu anderen Erkenntnissen geführt. Die Erfahrung der Darhel mit elektronischem Zauberkram hatte sie schon vor Jahrtausenden zu der Erkenntnis gebracht, dass persönliche Treffs die größtmögliche Sicherheit boten. Möglicherweise würde die menschliche Fertigkeit in elektronischer Kriegführung eines Tages die der Darhel übertreffen, aber bis jetzt war das noch nicht der Fall. Demzufolge wurden kritische Informationen nur dann auf elektronischem Wege übermittelt, wenn es absolut keine andere Alternative gab.

Sie würde jetzt die Transitlinie benutzen, um damit zum Korridor zu gelangen und hatte keine Mühe, einen Wagen zu finden, der in ihre Richtung fuhr.

Auf der zweiten Etage von unten, auf der Seite, die von der Flotte benutzt wurde, gab es eine Sportbar, in der sich eine solide Mischung aller Kreise auf Titan mit Ausnahme von Kolonisten, Touristen und Nicht-Menschen versammelt hatte. Die Bar war bei ihrer Klientel sehr beliebt, weil die Getränke relativ billig, das Essen gut und nahrhaft und die Spiele im Tank so lebensecht wie möglich waren, wenn man bedachte, dass sie als Teil der normalen Erde/Titan-Bandbreite per Richtstrahl übertragen wurden. Sah man genauer hin, konnte man vermutlich bemerken, dass Leute dazu neigten, mehr zu trinken, wenn die Getränke billig waren, dass Betrunkene dazu neigten, riskanter zu spielen, und dass das Etablissement einen sehr bequemen Zugang zu einem speziell für das Haus tätigen Buchmacher ermöglichte, falls jemand vielleicht den Wunsch verspüren sollte, eine kleine Wette auf ein Spiel abzuschließen.

Die Tafel über dem Eingang zu Charlie’s war ein Kunstwerk. Anstelle von Leuchtfarbe, die wie Neon aussah, war es eine echte Neontafel. Nun ja, Neon oder eines von den anderen Edelgasen. Jedenfalls nicht Leuchtfarbe, sondern eine große, mehrfach gebogene Glasröhre. Wie viele Etablissements am Korridor, so verfügte auch die Bar über Doppeltüren, um sicherzustellen, dass sich nicht zu viel Stationsluft mit der Luft im Lokal mischte. Im Falle von Charlie’s stellte das vorzugsweise sicher, dass die schlechte Luft drinnen blieb, nicht so sehr, dass sie fern gehalten wurde. Dies war nämlich einer der wenigen Orte, wo man Tabak rauchen konnte, ohne entweder einen Filter mit sich herumzuschleppen, um hinter sich sauber zu machen, oder eine Zusatzsteuer für die Luftreinigung zu bezahlen. Der Eigentümer, dessen Name keinerlei Ähnlichkeit mit »Charlie« hatte, nahm richtigerweise an, dass der deutliche Bargeruch bei der Klasse von Gästen, die er anziehen wollte, nostalgische Assoziationen wachrief und andererseits prüde Touristen und Kolonisten fern hielt — die in seiner ganz speziellen Marktnische nur schlecht fürs Geschäft gewesen wären.

In den Unterlagen der Bane Sidhe war Cally gewarnt worden, was sie in dieser ganz speziellen Bar zu erwarten hatte, aber dennoch war es fast unmöglich, die Wirklichkeit richtig zu beschreiben, wie sie feststellte, als sie durch die Doppeltüren in den Dunst aus abgestandenem und frischem Tabak und billigem Bier trat — fast ohne jeglichen Beigeschmack der ganz speziellen Mischung aus Sumpfgas, die für Titan so typisch war. Seit dem Shuttle-Hafen in Chicago war dies der erste Ort, der tatsächlich so wie auf der Erde roch. Sie spürte ein scharfes Prickeln in den Augen, als sie tief Luft holte. Der Rauch scheint sie zu reizen.

Die Bar war nicht überfüllt, aber für einen Wochentag gut besucht. Sie arbeitete sich zwischen den Tischen und den Rauchwolken zur Bar vor. Unter anderem hatte sie gelesen, dass Charlie’s einmal versucht hatte, einen Holotank einzusetzen, aber das hätte eine Entscheidung zwischen Tabak und Holographie erfordert, und damit war diese Frage entschieden gewesen. Demzufolge waren die Tische alle so aufgestellt, dass man von ihnen aus gute Sicht auf große, hoch auflösende Flachbildschirme hatte. Aber ihre Aufmerksamkeit wurde nicht von dem Flachbildschirm über der Bar angezogen. Was sie wirklich froh machte, dass sie hierher gekommen war, war das Schild, das sie neben dem beeindruckenden Flaschensortiment an der Wand hinter dem Tresen sah. »Unser Kaffee ist zu hundert Prozent aus Jamaika importiert.«

»Kaffee, bitte. Mit einem Schuss Crème de Cacao.« Sie legte ein paar Geldscheine auf die Theke, gab dann reichlich Trinkgeld und drehte sich etwas zur Seite, um auf den Bildschirm sehen zu können. Baseball. Indianapolis gegen Topeka. Die Braves waren mit zwei Punkten im Rückstand. Sie sah sich nicht an der Bar um. Das wäre unprofessionell gewesen, außerdem hatte sie sich gleich beim Hereinkommen gründlich im Raum umgesehen. Er war noch nicht hier. Wenn er eintraf, würde er sich bei ihr bemerkbar machen.

Das Ergebnis war unverändert, aber McKenzie hatte gerade ein Foul übersehen, und sie war bereits bei ihrer zweiten Tasse Kaffee, als ein rothaariger Mann an die Bar trat und einen Kentucky Bourbon und eine zweite Tasse bestellte. Nachdem er den Bourbon gekippt hatte, stopfte er sich einen Brocken Kautabak aus einem kleinen Lederbeutel in den Mund, blickte zum Bildschirm auf und rieb sich kurz das Kinn, ehe er in den Becher spuckte. Dann sah er wieder zum Bildschirm und murmelte etwas, das aber niemand ohne Gehörsteigerung aus dem allgemeinen Geräuschpegel der Bar hätte herausfiltern können.

»Ich habe ihm doch gesagt, dass sein Pitcher nichts taugt«, sagte er.

Cally wartete, bis sie sah, dass sein Blick zu ihr herüber und an ihr vorbeiwanderte und jemanden links von ihr einen Augenblick lang scharf musterte, gerade so, als ob er gefunden hätte, wen er suchte. Sie leerte ihre Tasse und stieg vom Hocker. Der Kontakt war hergestellt, das komplette Team war eingetroffen. Als sie sich zwischen den Tischen den Weg nach draußen bahnte, trat ihr ein auffällig großer Raumfahrer mit ausgestrecktem Arm in den Weg und zog sie an sich. Sie quietschte.

»Hey, Baby, ich hab etwas, was dir sicher gefallen wird!«, feixte er.

Cally schlug ihm mit der flachen Hand so ins Gesicht, dass ihm der Kopf zur Seite flog und dabei einen grellroten Handabdruck auf seiner Wange hinterließ. Die andere Hand schob ihm einen Würfel in die Tasche, als sie sich von ihm frei machte und, das Urbild weiblicher Entrüstung, zur Tür stolzierte. Die überwiegend männliche Kundschaft grinste oder pfiff anerkennend, als der große und offenbar stark angetrunkene Raumfahrer sich verblüfft die Wange rieb.

»Was habe ich denn getan?!«, protestierte er, ohne dabei jemanden anzusehen.


Mittwoch, 5. Juni


Am Mittwochmorgen schmeckte der Kaffee im Büro sogar noch schlechter, schließlich hatte sie jetzt einen Vergleich aus jüngster Vergangenheit. Und General Beed war offenbar nicht der Typ, der sich mit hie und da ein wenig Bettgymnastik zufrieden gab. Wenn sie allein waren, grabschte er ständig an ihr herum — nicht, dass sie grundsätzlich gegen so etwas Einwände gehabt hätte, aber, Himmel noch mal, hatte der Mann denn gar keine Vorstellung von Privatsphäre? Offenbar nicht. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und fand sich lächelnd damit ab, dass er gelegentlich um seinen Schreibtisch herumkam. Der Typ war schlimmer als ein rolliger Kater, dachte sie.

Zu ihrem Glück war eine der Theorien des Generals hinsichtlich korrekter Führungsqualitäten, dass ein Vorgesetzter häufig und unvorbereitet bei den Männern auftauchen sollte, die er befehligte. In der Praxis wirkte sich das als eine Tendenz zum Mikro-Management seiner Untergebenen aus, denen er ständig lästig fiel, statt sie vernünftig arbeiten zu lassen. Cally freilich war darüber froh, weil das zur Folge hatte, dass er am Nachmittag meist ein paar Stunden unterwegs war und sie auf die Weise wenigstens eine Weile ihre Ruhe hatte.

An diesem Nachmittag hatte er einen Besuch im Gefängnis eingeplant und würde deshalb mindestens den halben Nachmittag nicht im Büro sein. Pryce hatte ihn nicht begleitet, er war mit Vorbereitungen für die Geburtstagsparty des Generals beschäftigt, eine der gesellschaftlichen Verpflichtungen, die auch im galaktischen Zeitalter zu den seltsamen, aber echten Realitäten der Militärbürokratie gehörte.

Und wenn ich an Pryce denke, dann hat das Rumbumsen mit Beed immerhin den Vorteil, dass ich damit meine aufgestauten Hormone unter Kontrolle bekomme und nicht in Versuchung gerate, den nächstbesten Mann hinter einen Busch zu zerren … oder, nun ja, meinetwegen hinter eine Topfpflanze. Also, dem Himmel sei Dank, dass einer mich ordentlich durchgefickt hat … oder, na ja, das war vielleicht an der Grenze von Blasphemie … äh … was auch immer. Nach diesem Einsatz werde ich ganz entschieden zu Father O’Reilly gehen und ihn bitten, mir die Beichte abzunehmen. Das … habe ich in letzter Zeit etwas vernachlässigt.

Sie war dabei, die Ausdrucke der vormittäglichen E-Mail abzulegen und sich dabei ein paar künstlerisch kreative Todesarten für Beed auszudenken, als sie ein lautes Krachen hörte und zusammenzuckte. Sie fuhr herum und sah den Lieutenant auf ihrer Schreibtischkante sitzen, während ihr Klammerapparat dicht daneben auf dem Boden lag. Er zuckte verlegen die Achseln.

»Du lieber Gott, Pryce! Sie sollten sich nicht so an mich heranschleichen!« Mit der Hand fuhr sie sich an die Brust. »Sie haben mir eine Todesangst eingejagt.« Wie zum Teufel hat er es nur geschafft, sich so heranzuschleichen? An mich? Niemand schleicht sich an mich heran. Das ist einfach … nicht richtig. Ich fühle mich in Ordnung, da ist nichts, was nicht stimmt … Herrgott, ist der leise! Na ja, bis er über etwas stolpert oder etwas umwirft.

»T-tut mir wirklich Leid, Ma’am. Ich hab bloß mal vorbeigesehen, wie Sie zurechtkommen.« Er grinste schelmisch. »Na ja, und auch, um mal eine kleine Pause beim Verteilen von Schnittchen und den dazugehörigen Vorbereitungen zu machen.«

Sein Blick und sein Grinsen führten dazu, dass sie plötzlich das Gefühl hatte, ihre sämtlichen Knochen wären einfach weggeschmolzen. Sie stand da und starrte ihn ein paar Sekunden lang entgeistert an, ehe sich schließlich ihr Verstand wieder einschaltete und sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte.

»Ich denke, ich habe mich ganz gut eingelebt.« Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Gibt es auf Titan viele Schnittchen-Situationen?«

»Na ja, schon einige.« Er zuckte die Achseln. »Irgendwas brauchen unsere Oberen doch, an dem sie Spaß haben können.«

»Das ist aber eine recht respektlose Einstellung, Pryce.«

»Ja, Ma’am. Unentschuldbar, Ma’am.« Aber seine Augen blitzten dabei, und sie lächelte.

»Ich würde Sie heute Abend zum Essen einladen, wenn wir nicht in derselben Einheit wären.« Seine Augen ließen die ihren nicht los.

»Ich würde die Einladung annehmen, wenn wir nicht in derselben Einheit wären«, sagte sie, erwiderte seinen Blick und sah dann weg, »und wenn ich nicht annehmen würde, dass ich heute Überstunden machen muss.«

Er griff ihr unter das Kinn, zog ihren Kopf sanft zu sich herum und sah ihr in die Augen. Sie hielt seinem Blick einen Augenblick lang stand, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass der Augenblick eine Stunde dauerte, vielleicht sogar ein Jahr.

»Okay.« Er nickte, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er verstand. Sie wusste nicht, wie das sein konnte oder woher er es wusste, aber sie wusste es dennoch.


An diesem Abend lud General Beed sie nicht zu einem Arbeitsessen ein. Er kehrte auch nicht am Nachmittag ins Büro zurück. Stattdessen rief er im Büro an — eine weitere Exzentrizität! Sie hatte ein echtes Telefon auf dem Schreibtisch stehen, wo sie doch einen perfekt funktionsfähigen PDA hatte, den sie stets bei sich trug, wenn sie nicht an ihrem Schreibtisch war! Er forderte sie am Telefon auf, einen Bissen zu Abend zu essen und dann die Urlaubsakte mitzunehmen; danach fragte er sie, ob es ihr recht wäre, wenn er zwischen zwei Besprechungen vorbeikäme, um die Änderungen zu redigieren und zu genehmigen, damit sie das Dokument dann für eine Sitzung am frühen Donnerstag fertig machen und ausdrucken könne. Sie hatte natürlich zugestimmt. Aber sicher, General, Liebster. Du bumst mich, und dann werde vielleicht ich dich bumsen.

Und da saß sie jetzt, bei Super Burgers, mit einem Double-Deluxe-Cheeseburger, Pommes, einem doppelten Erdbeershake und einem Umschlag und genoss die fluoreszierenden GalPlas-Dekoration in Orange und Salzsäuregrün, während sie sich das Essen in den Mund stopfte, ehe sie in ihre Wohnung zurückkehrte, um dort zu versuchen, mit ihrer eigentlichen Aufgabe voranzukommen. Oh, große Freude. Er sieht ja nicht schlecht aus und ist auch im Bett gar nicht so schlecht, wenn er nur ein wenig mehr Feingefühl hätte.

Die schrille Dekoration des Restaurants tat ihre beabsichtigte Wirkung, und sie aß schnell zu Ende, ging, und stopfte beim Hinausgehen die Abfälle durch den Schlitz. Im Transitwagen auf der Fahrt zu ihrem Quartier rief sie die Zimmersteuerung auf ihrem PDA auf und schaltete Beleuchtung, Temperatur und Hintergrundmusik so, dass sie die richtige Stimmung wiedergaben. Entspannt war gut.

Sie war noch nicht lange zu Hause, als er eintraf. Sie hatte in Erwägung gezogen, ihre Fleet-Seide gegen etwas Bequemeres zu vertauschen, das etwas verführerischer war, war dann aber zu dem Entschluss gelangt, dass das nicht zu ihr passte. Und das war auch gut so. Beed war ihr nicht ausgesprochen unsympathisch, und er war immerhin besser, als ganz allein zu sein. Und schließlich wollte sie ja herausfinden, was er wusste. Trotzdem fühlte sie sich wohler, wenn sie sich mit ihm in der gewöhnlichen Uniform ihrer Tarnidentität traf. Ein Negligé wäre da wirklich eine Spur zu persönlich gewesen. Was eigentlich seltsam war, denn normalerweise wäre sie inzwischen so tief in ihre Rolle eingetaucht, dass sie sie bewusst gar nicht mehr als Tarnung empfunden hätte.

Als er durch die Tür trat und sie hinter sich zugleiten ließ, strich sie sich, ganz Sinda, mit einer Hand über das Haar. Das erinnerte sie daran, wer sie war, als sie scheu, aber mit zunehmendem Eifer seinen Kuss erwiderte.

Ein paar Minuten später, als sie sich mit ihm durch einen weiteren Stellungswechsel wälzte, musste sie an sich halten, um nicht laut aufzulachen. Okay, heute ist also Akrobatiknacht. Warum müssen das Männer immer tun? So ist das immer beim ersten oder zweiten Mal, sie ziehen immer die gleichen verdammten fünf Stellungen durch, als wollten sie demonstrieren, wie weltgewandt, gerissen oder gebildet sie sind oder was auch immer. Die Augen leicht geweitet, natürlich habe ich das noch nie zuvor getan. Zurück in die Rolle, muss da mitmachen, ich … würde … das wirklich … nicht gern türken. Mhm … das ist gut … okay … das funktioniert … wir wollen nett und begeistert sein, damit er weiß, dass es funktioniert. »Oh. O Gott, das ist gut! Herrgott … bitte, bitte, bitte, nicht aufhören … ah … äh … ah …« Okay, jetzt … kapiert er’s. Yeah, gut. Okay, jetzt bist du dran, los geht’s, ja, natürlich hast du mir das beigebracht, du bist ein ganz großer Hengst. Klar hast du das. Komm schon, komm schon … so. Gut. So und jetzt ist die Frage: Bist du jetzt genügend entspannt?

»Oh, Bernie, danke. Das war gut.« Sie schmiegte sich an ihn, küsste ihn auf die Brust und strich ihm dann mit den Fingern darüber, während sie sich an seine Schulter kuschelte.

»So habe ich das noch nie erlebt. Ich habe da ein Gefühl von, ich weiß nicht … Autorität vielleicht. Ich weiß nicht, es klingt vielleicht ein bisschen albern und …« Sie ließ die Finger über seine Brust spazieren, »es war einfach herrlich.« Sie drückte ihn an sich, lächelte halb benommen und gab ihm wieder einen Kuss auf die Brust.

»Oh, ich glaube nicht, dass das — wie hast du gesagt? — alltäglich ist.« Er legte die Hand über ihre Brust und spielte mit ihren Nippeln. »Du bist eine sehr einfallsreiche Frau, Sinda. Ich finde das bezaubernd.«

»Du«, sie küsste ihn auf die Brust, wanderte langsam tiefer, »schmeichelst mir.« Sie begann seine Haut zu lecken, ihn zu küssen, genug um ihn abzulenken, aber nicht genug, um ihn atemlos zu machen.

»Man braucht nicht viel Intuition, um zu wissen, dass du ein General bist, General.« Ihre Zunge wanderte im Kreis um die Falte, wo sein Schenkel an der Hüfte ansetzte. Aber ein wenig Schmeichelei ist schon in Ordnung. »Ich mag das. Ist das, ich meine, ist das gut so, wenn ich das tue? Es macht dir doch nichts aus? Sag mir, du weißt schon, ob ich es richtig mache.«

»Genau richtig machst du es, Süße. Lass einfach deiner Fantasie freien Lauf. Nur … äh … nicht die Zähne, ja?«

»Mhm … kein Problem.«

»Hab ich … habe ich das … richtig gemacht?« Das klang unsicher, klang nach nervösem, kleinem Mädchen, als sie sich wieder an ihn kuschelte.

»Und ob«, hauchte er. »Du solltest immer auf deine Intuition vertrauen, ganz besonders im Bett. Weißt du, ich bin nicht bloß irgendein beliebiger General.« Sein Brustkasten weitete sich ein wenig. »Generäle gibt es zu Dutzenden. Ich habe diesen Posten bekommen, weil man mir ein sehr wichtiges Projekt anvertraut hat.« Er schmunzelte, strich ihr übers Haar. »Du bist doch keine Spionin?«, witzelte er. »Und im Übrigen … ich hab dir ja auch gar nichts gesagt. Bloß deine Intuition bestätigt.« Er küsste sie leicht auf die Stirn, ehe er die Beine über den Bettrand schwang.

»Musst du schon gehen?« Sie ließ den Finger an seiner Hüfte entlangwandern. Er griff nach ihrer Hand, hob sie an die Lippen und ließ sie dann wieder sanft heruntersinken.

»Ich fürchte schon. Clarice wird … unangenehm …, wenn ich über Nacht wegbleibe.«

Sie sah ihm scheinbar fasziniert zu, wie er sich anzog, wie er sie küsste, wie er ging. Als die Tür sich hinter ihm zuschob, schaltete sie den Filter neben ihrem Bett ein und zündete sich eine Zigarette an.

»Licht aus.« Sie saß mit dem Rücken an die GalPlas-Wand gelehnt, die als Kopfteil des Bettes diente, die Augen offen ins Leere blickend, während die Glut ihrer Zigarette Schatten auf die Wände warf.


Donnerstag, 6. Juni


Am Donnerstagvormittag kam Pryce in ihr Büro, als der General indisponiert war. Den Jungen sollte der Teufel holen. Man sollte meinen, meine Hormone hätten sich jetzt nach zwei näheren Begegnungen mit dem General in ebenso vielen Tagen einigermaßen beruhigt. Niemand sollte so gut riechen dürfen. Das sollte … ich weiß nicht … verboten sein oder so was.

»Was gibt’s, Pryce?«

»Ich habe bloß ganz kurz Zeit.« Er wandte sich von ihr ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. So wie Beed auf Äußerlichkeiten versessen war, eigentlich keine gute Idee.

»Sie … investieren doch nicht zu viel, emotionell, ich meine ich, in Überstunden … ich hoffe … verdammt noch mal, Makepeace, Sie sind einfach zu jung, und ich möchte nicht, dass Sie etwas verletzt!«

»Ich bin jung. Pryce? Hey?«

Er wandte sich um, stolperte dabei und wurde rot.

»Okay, freilich, aus meinem Mund klingt das d-d-dämlich, aber … Sie sind einfach nett, Captain, und ich hoffe nur, dass Sie … aufpassen«, sagte er.

»Pryce, keine Sorge. Und ich bin auch nicht auf irgendwelche Gefälligkeiten aus. Hören Sie, abends länger arbeiten ist manchmal gar nicht so schlimm und wo doch … Sie wissen schon, also, Ehen zwischen Verjüngten und nicht Verjüngten gibt es beim Militär eine ganze Menge, nicht wahr? Herrgott, sehen Sie sich nur diesen Berg Arbeit an. Aber es ist schon in Ordnung. Der General ist heute glücklich, und alles das hier«, sie machte eine Handbewegung, die das viele Papier und die Aktenschränke einschloss, »geht viel leichter, wenn er glücklich ist, nicht wahr, Lieutenant?«

»Ja, Ma’am, Captain.« Er griff nach der Akte, die der Grund seines Kommens gewesen war, und blieb an der Tür noch einmal stehen. »Sie haben da wahrscheinlich schon die richtige Einstellung, Ma’am.«

»Pryce?«

»Ist schon okay, Makepeace. Wirklich.« Er hatte jetzt regelrechte Dackelaugen, und das musste ihr genügen.


Es war sechs Uhr abends geworden, sie war gerade dabei, Unterlagen für eine Präsentation zusammenzustellen, und malte sich dabei in Gedanken aus, wie es wohl sein würde, dabei zusehen zu können, wenn Bernhard Beed von riesigen Fleisch fressenden Ameisen zernagt wurde. Riesigen Fleisch fressenden, giftigen Ameisen. Und der General auf dem Eis und an vier Pfählen festgebunden. Nein, nicht Eis, das stumpfte den Schmerz zu sehr ab. Heißer Sand? Nägel. Nägel, ja, das war gut. Dieser widerwärtige, gefühllose, egoistische Mistkerl. Er hatte sie doch tatsächlich den größten Teil des Nachmittags mit überflüssigen Arbeiten rumsitzen lassen und sie dann um zwanzig vor fünf in sein Büro gerufen und ihr die Arbeit für diese alberne Präsentation aufgehalst, die aus geheimnisvollen Gründen besonders sorgfältig vorbereitet werden musste und die er morgen früh um sieben Uhr noch einmal durchgehen wollte. Bloß weil er zur Geburtstagsparty seiner Frau musste und deshalb heute Abend keine Zeit für ein kleines Techtelmechtel hatte, sorgte dieser Mistkerl jetzt dafür, dass sie anderweitig beschäftigt war.

Säure. Konzentrierte Salzsäure auf kleiner Flamme, von den Zehen aufwärts. Dieser Hurensohn. Ihr war gar nicht bewusst geworden, dass sie das laut ausgesprochen hatte, bis sie die vertraute Stimme hinter sich hörte.

»Also, so schlimm kann es doch auch nicht sein«, sagte er.

»Sollten Sie nicht eigentlich Schnittchen verteilen?« Sie drehte sich nicht um. Im Augenblick war ihr überhaupt nicht danach, aufgeheitert zu werden.

»Ja, schon, aber der General hat mich mit diesen drei Seiten hergeschickt. Die sollen zwischen dem Tortendiagramm und der anderen Grafik eingelegt werden, und ich soll ihm zurückmelden, dass alles in Ordnung geht.«

»Dieser widerwärtige Drecksack will mich wohl kontrollieren, wie? Nicht genug, dass ich mit dem Kerl ins Bett gehe, der Hundesohn muss mich auch noch in meiner Freizeit kontrollieren. Ooohhh!«

»Also, Makepeace, ich finde, Sie sollten Ihre Gefühle wirklich nicht so in sich aufstauen«, sagte er.

Sie drehte sich um und erstarrte mitten in der Bewegung, als sie ihm gerade den Stapel Papier ins Gesicht werfen wollte, aber da war etwas an seinem völlig ausdruckslosen Gesicht mit der hochgeschobenen rechten Augenbraue, das sie plötzlich laut herausprusten ließ.

»Okay, okay. Ich habe vielleicht ein bisschen übertrieben.« Sie schüttelte den Kopf, hielt sich die Seiten und atmete tief durch. »Nein, das stimmt wohl auch nicht, aber das hat mir auch nicht geholfen.«

»Hey, Sie dürfen durchaus Dampf ablassen. Solange Sie allein sind. Aber vorher sollten Sie sich vergewissern, dass Sie wirklich allein sind, Ma’am.«

»Wollten Sie etwa nicht sicher sein?«

»Nicht heute Abend. Ich muss jetzt zurück und Schnittchen verteilen. Mir hat bloß nicht gepasst, dass er das so gesehen hat.«

»Ist schon okay, Pryce«, meinte sie und sah ihn mit großen Kulleraugen an, als er zur Tür hinausging. »Ich glaube nicht, dass Sie ungefährlich sind.«


Für Beed war das Angenehme an diesem Abend, dass sie beschäftigt und nicht in Sichtweite seiner Frau war. Für sie war angenehm, dass sie, sobald sie mit dem Kopieren und Zusammentragen fertig war, seit Pryce gegangen war, die einzige Person im Büro war und daher einen perfekten Grund dafür hatte, hier zu sein. Das erlaubte ihr, völlig ungestört den gesamten CID Bereich zu durchsuchen, wobei sie auf drei Würfel mit diversen Daten stieß, die möglicherweise mit ihrem Auftrag zu tun hatten. In diesem Punkt fing Cally allmählich an, etwas nervös zu werden. Okay, sie hatte ja nicht gerade mit einem großen Neonschild gerechnet, auf dem ständig »Zugang zu den geheimen Akten« blinkte, aber abgesehen von dem Wenigen, das ihr der General im Bett anvertraut hatte, war sie bis jetzt nicht auf undichte Stellen gestoßen. Die drei Agenten, von denen sie vermutet hatten, dass sie in die Operation verwickelt waren, waren offenbar alle drei ausschließlich mit regulären CID-Ermittlungen beschäftigt.

Das einzig Interessante, was sie bis jetzt gefunden hatte, war ein Plan im Datenspeicher von Corporal Anders, der die Bereiche in diesem Stockwerk aufzeigte, die zum Hauptquartier der 3rd gehörten. Meist handelte es sich um Räumlichkeiten, zu denen sie Generalzugang hatte. Bei einigen war dies freilich nicht der Fall. Wenn man bedachte, dass das beste Versteck meist das offenkundigste war, musste sie natürlich alles durchsuchen. Mühsam, aber nicht zu vermeiden. Die Zusammenstellung der Präsentationsunterlagen lieferte ihr einen Vorwand, einen als Lagerraum gekennzeichneten Bereich ein Stück weiter unten am Flur aufzusuchen. Sie konnte immer behaupten, sie würde dort nach einer Schachtel mit geheimnisvollen Gegenständen suchen, die man als »Büroklammern« bezeichnete.

Als sie sich genügend staubig gemacht und eine Anzahl Schachteln mit Sicherungswürfeln, einer alten Kaffeemaschine, Uniformstapeln und Uniformteilen, drei nagelneuen PDAs, ein paar Gummiknüppeln, Papiervorräten und kurioserweise eine uralt aussehende Schachtel mit silbernen Partyhüten für Kinder durchsucht hatte, fing ihr Magen heftig zu knurren an. Die Sicherungswürfel, mit Ausnahme der jüngsten, sahen so aus, als befänden sie sich schon seit ziemlich langer Zeit an ihrem augenblicklichen Ort. Sie würde nur dann ihre Zeit damit vergeuden, sie auszulesen, wenn sie sonst gar nichts fand.

Mit der Zeit wurde es lästig, jede Mahlzeit im Lokal einzunehmen. Also kaufte sie sich zunächst in einem Café neben einer Transithaltestelle am Korridor eine Portion Hühnchensalat und eine Schale Gazpacho und fand nur wenig später einen Asienladen, wo sie einen ganzen Sack voll selbst erhitzender Fertigmahlzeiten kaufte. Hühnchen auf Zitronengras, Schweinefleisch Mu Shu, General Tsu’s süß-saure Suppe, Frühlingsrollen, Ente mit Pflaumensoße, Kaliforniarolle mit Sashimi … köstlich.

Diese Packungen waren großartig. Die Heizeinheit befand sich im unteren Teil der Packung, man musste bloß an einem Streifen ziehen, worauf sich die Chemikalien vermischten und die Hitze durch das jeweilige Gericht aufstieg. Nun gut, für einige Spezialitäten wie etwa Frühlingsrollen steckte das Essen auf leitenden Metallzahnstochern, die im Boden der Packung verankert waren. Köstlich. Und man brauchte die Wohnung nicht zu verlassen, um sie zu holen. So wie die Dinge standen, würde sie vermutlich nach wie vor die meisten Mahlzeiten in Lokalen einnehmen. Aber wenigstens hatte sie jetzt auch andere Möglichkeiten. Mikrowelle ging schneller, aber die selbst erhitzenden Sachen schmeckten besser. Schön, das war natürlich Geschmackssache. Und ob man lieber leere Packungen wegwarf oder einmal die Woche die Mikrowelle sauber machte, spielte da auch mit. Cally war wirklich nicht besonders scharf auf Hausarbeit.


Donnerstag, 6. Juni


Stewart forderte sein AID auf, das Hologramm abzuschalten, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Das Problem bei derartigen Ermittlungen war, dass man wirklich niemanden von der Liste streichen konnte, solange man nicht fündig geworden war. Manche waren einfach nur wahrscheinlicher als andere.

Bedächtig drehte er den Kugelschreiber zwischen den Fingern während er überlegte, eine Angewohnheit, die er sich in seiner ersten Stabsposition zugelegt hatte, lange bevor man das Papier als Medium der militärischen Bürokratie abgeschafft hatte. Er starrte ohne richtig hinzusehen auf das gerahmte Plakat, das er sich ausgedruckt hatte, um damit das fade Hellgrün der Bürowände etwas aufzulockern. Die Agenten hatten den Druck verständnisvoll gemustert, als er ihn aufgehängt hatte, und sich wahrscheinlich gedacht, dass er sich deshalb für Papier anstelle eines ein Fenster simulierenden Bildschirms entschieden hatte, um damit dem Chef in den Hintern zu kriechen.

Tatsächlich handelte es sich aber um den Nachdruck eines Plakats, das in seiner Kindheit eine Wand in der Wohnung seiner Tante Rosita geziert hatte. Mit Ausnahme von Beed waren alle anderen zu jung, um sich an Malibu Beach aus der Vorkriegszeit erinnern zu können. Und Beed stammte aus dem falschen Landesteil. Was er besonders an Sinda schätzte, war die Art und Weise, wie sie sein Plakat betrachtet hatte: ein wenig wehmütig. Er hatte dabei den Eindruck gewonnen, dass sie tatsächlich kapierte. Obwohl es so viele Dinge gab, über die er einfach nicht mit ihr reden konnte, brachte sie es doch irgendwie fertig, ihm das Gefühl zu vermitteln … verstanden zu werden.

Und das erklärte vielleicht, weshalb ihm diese dumme Blondine einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte und er jetzt hier saß und grübelte statt zu arbeiten.

»Diana, schalte meinen Monitor wieder ein und gib mir eine Tastatur und einen Peilpunkt.« Im gleichen Augenblick erschien auf seinem Schreibtisch eine Tastatur. Der rote Kreis war rechts von der Tastatur projiziert, und die beiden Knöpfe darunter erfüllten die Funktion einer altmodischen Maus. Da er vor dem Krieg gelernt hatte, Maschine zu schreiben, konnte er auf die Weise viel schneller arbeiten. Glücklicherweise beherrschten moderne PDAs fast alles, mit Ausnahme echter KI, er brauchte sich also keine Sorgen zu machen, dass Beed dahinter kam, dass hier ein echtes AID im Einsatz war und wie viel von seiner täglichen Tätigkeit aufzeichnet wurde. Ein Adjutant stand schließlich ganz logischerweise oft neben seinem General.

Als Teil ihres Einsatzes hatten sie häufige Versetzungen in sein Büro eingeplant, häufiger, als es normalerweise der Fall gewesen war. Die Tarnung dafür bestand darin, dass sich ein neuer Vorgesetzter naturgemäß möglichst viele seiner Leute selbst aussuchen wollte. Sie hatten es geschafft, elf von den siebzehn unmittelbaren Untergebenen im Hauptquartier und bei CID zu ersetzen. Von den jetzt dreizehn Mitarbeitern mit nachgewiesener Verbindung zu den Humanisten hatten neun sowohl diese Verbindung und waren neu.

Makepeace stand natürlich auf der Liste, aber das galt für die Hälfte des Personals, wenn er sich selbst und Beed abzog. Franks stand logischerweise ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Stewart hatte in über sechzig Lebensjahren gelernt, dass der offensichtlich Verdächtige im Gegensatz zu Filmen oder Holos sehr häufig auch tatsächlich der Schuldige war. Trotzdem hatte die feindliche Organisation bereits eines bewiesen: Man konnte nicht darauf bauen, dass sie einem den Gefallen tat, offenkundige Dummheiten zu begehen.

Das lief darauf hinaus, dass er fünfzehn Leute auf Verhaltensmuster, elf genau und neun sehr genau beobachten musste.

Franks hatte mehrere Kommunikationsverbindungen mit der Erde von seinem Quartier aus aufzuweisen, eine davon mit einem bekannten Aktivisten der Humanistenbewegung, der zugleich der Schwager seiner Frau war, eine andere mit einem Freund der Familie, der sich zwar nicht mit humanistischen Sympathiebezeigungen hervorgetan hatte, bei dem sich aber bei genauerer Untersuchung herausgestellt hatte, dass er eine ganze Anzahl Freunde und Bekannte in einschlägigen Kreisen hatte. Die Anrufe waren mit einem relativ leistungsfähigen öffentlichen Zerhackersystem verschlüsselt worden, das irgendein anonymer Schlaumeier herausgegeben hatte. Die Behörden waren verärgert gewesen, und Stewart sollte das vielleicht auch sein, konnte aber nicht verhehlen, dass er eigentlich recht froh darüber war. Er schrieb das seiner wilden Jugend auf der anderen Seite des Gesetzes zu. Einer Jugend, die, wenn man es genau überlegte, doch rechten Spaß gemacht hatte.

Anders hatte in der ersten Woche jede Nacht einen Boyfriend zu Hause angerufen, aber später waren die Anrufe dann weniger geworden. Offenbar war die Distanz doch zu groß, und die Liebe begann zu erkalten.

Makepeace hatte auf zwei lange Briefe ihrer Mutter per E-Mail geantwortet, sich aber in ihrem Schreiben auf Belanglosigkeiten wie die Beschreibung von Arbeitskollegen, Restaurants und Läden am Korridor beschränkt.

Sanchez hatte eine Bestellung für Zigarren, Bourbon und Tabasco-Soße an eine Versandfirma geschickt. Ansonsten verhielt er sich insofern recht typisch, als Fleet Strike mit der Zeit so etwas wie eine Familie für ihn wurde, je mehr sein Alter und die allgemeinen Vorurteile gegen Runderneuerte ihn von früheren Bekanntschaften absonderten.

Keally hielt Kontakt zu seiner Frau und seiner Tochter, die ihn nicht zum Stützpunkt begleitet hatten, hatte aber offenbar keinerlei Kontakte zu seinem besten Freund von der High School, der in North Topeka an der First Methodist Sunday School unterrichtete und sich sehr dezidiert gegen die differenzierte Verjüngung eines Ehepartners ausgesprochen hatte.

Bei den anderen war es mehr oder weniger ähnlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Franks sein Mann war, war recht groß. Das einzige Problem war, dass bis jetzt alles auf Indizien beruhte. Irgendwelche konkreten Tätigkeiten hatte es nicht gegeben. Und das bedeutete, dass er sich täuschen konnte. Und das wiederum erforderte, ganz gleich wie man es auch sah, dass er sich weiter mit dem Privatleben von vierzehn unschuldigen Leuten befasste.

»Alles abschalten, Diana. Zeit für eine Ladung Tacos.« Tacos. Mhm. Manchmal hatte er das Gefühl und wusste zugleich, dass es mehr als das war, dass ein ganzes Leben vergangen war, seit er sich in seinem Bemühen, die Entbehrungen seiner Kindheit hinter sich zu lassen, völlig anglisiert hatte. Damals hatte er es für notwendig gehalten. Rückblickend wusste er jetzt, dass das nicht der Fall gewesen war. Oh, hie und da hatte es ihm die Vorurteile mancher Leute erspart, aber was ihn wirklich umgedreht hatte, waren der gute Einfluss und das Beispiel von Gunny Pappas und Mike O’Neal gewesen. Sie hatten ihm den Traum von Demokratie und Freiheit vermittelt, manchmal ohne auch nur ein Wort zu sagen. Gute Männer am Ende eines guten Zeitalters. Wie schade, dass der Traum gestorben war. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war. Vielleicht als der Präsident das Capitol per Dekret nach Chicago verlegt hatte. Der Vorwand, die Verfassung nicht zu ändern, war der nationale Notstand gewesen, und die Zahl von Bundesstaaten, die der Feind überrannt hatte. Vielleicht hatte es damit angefangen, als die Kandidaten für öffentliche Ämter und die Überreste der politischen Parteien angefangen hatten, anonyme Spenden in FedCreds anzunehmen und niemand etwas dagegen unternommen hatte. Vielleicht auch damit, dass sie die Bewohner der SubUrbs dazu gebracht hatten, durch Unterschrift auf gewisse Rechte zu verzichten und sich damit ihr Wohnrecht zu sichern. Vielleicht, als man die Büros der Toledo Blade angezündet hatte. Nein, der Schaden war schon vorher angerichtet worden. Das war nur der offensichtlichste Nagel im Sarg dieses Traums. Statt einer echten Ermittlung hatte man nur ein wenig daran herumgestochert, und dann waren die restlichen Zeitungen auf die Linie der Regierung umgeschwenkt. Nicht, dass er es ihnen eigentlich hätte verübeln können. Er hatte die Bilder des Redaktionsstabs gesehen, Bilder, die die Gerichtsmediziner geliefert hatten.

Er ging um seinen Schreibtisch herum und legte fast liebkosend die Hand auf das kalte Glas mit dem papierenen Strand darunter. Ein schöner Traum war das gewesen. Er seufzte. Auf ins La Colima.

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