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Springfield

Dienstag, 18. Juni, 19:30


Wo zum Teufel stecken die? Morrison unterließ es bewusst, zum zehnten Mal auf die Uhr zu sehen, und war sich inzwischen einigermaßen sicher, dass man sie hereingelegt hatte. Er war jetzt seit einer Stunde hier, zwei Bier, einen Whiskey und zwei Ausnüchterungspillen lang. Die erste Pille hatte er genommen, ehe er das Lokal betreten hatte, die zweite gerade eben. Sie würden den Alkohol in seinem Magen abbauen, ehe er in seinen Blutkreislauf gelangte. Nun ja, größtenteils jedenfalls. Zehn Prozent kamen durch, aber damit kam seine Leber klar.

Das Wexford Pub war eine kleine Kneipe, in der es Lammeintopf, Roggenbrot, fettige Fish and Chips und dazu Bier und billigen Fusel gab, billig oder eben so gut, wie man ihn sich leisten konnte. Dem Geruch nach begnügten sich die meisten Gäste hier mit dem billigsten Fraß, den sie kriegen konnten.

Er gab sich alle Mühe, die drei Männer und die beiden Frauen nicht anzusehen, die im Pub verteilt waren und zu ihm gehörten, und tat so, als interessiere er sich für das Fußballspiel, das auf dem antiken Fernseher an der Wand ablief. Ein langweiliger Sport — nichts von wegen guten Zweikämpfen. Von dem Kommentar des Reporters konnte er bei all dem Gedudel, hauptsächlich alte Aufzeichnungen von irgendwelchen Pseudo-Folk-Songs, die ihm mächtig auf den Geist gingen, kaum etwas hören. Wenn die wenigstens nicht die kitschigsten Versionen ausgesucht hätten, die den Krieg überlebt hatten. Er wusste wirklich nicht, was er tun würde, falls die auch nur noch ein einziges Mal »Toora Loom Loom« spielen würden.

Ein Dutzend Gründe konnte er sich ausmalen, alle davon recht unerfreulich, weshalb die Zielpersonen nicht erschienen waren. Unglücklicherweise sah ihr Geh-zur-Hölle-Plan für den Fall ihres Nichterscheinens vor, dass sie zwei Stunden über den verabredeten Zeitpunkt hinaus an Ort und Stelle blieben, weil sie keine andere Wahl hatten und vielleicht doch noch Glück haben würden.

Zum wiederholten Mal vermied er es, auf die Uhr oder nach seinen Leuten zu sehen.

Morrison hasste das Warten. Das erzeugte bei ihm immer einen Juckreiz im Nacken.


Wo zum Teufel bleiben die? Bobby schüttelte den Krampf aus seiner rechten Hand, ehe er sie wieder an den Abzug seiner Waffe legte, und hoffte innig, dass die anderen drei Schützen, die Johnny gebracht hatte, das auch taten. Es wurde immer wahrscheinlicher, dass etwas die Zielpersonen verscheucht hatte.

Trotzdem, solange die Typen von Fleet Strike warteten, mussten sie das auch. Seine Anweisungen waren in dem Punkt eindeutig. Er durfte unter keinen Umständen zulassen, dass Fleet Strike irgendeine der Zielpersonen lebendig bekam. Die Zielpersonen durften unter keinen Umständen lebend entkommen. Wenn die es schafften, einen von ihnen lebend in die Hand zu bekommen, wäre das ein Glückstreffer. Er hatte ein Sanitätsteam in Bereitschaft, hielt aber einen solchen Glückstreffer für unwahrscheinlich.

Verdammt, dieses Warten war wirklich ekelhaft. Besonders, da man ja nicht wissen konnte, wie lange diese Typen von Fleet Strike warten würden, ehe sie aufgaben und selbst nach Hause gingen.


»Wo zum Teufel bleiben die?« Kevin Collins, der Leiter von Team Jason, drückte im Aschenbecher des Taxis eine Zigarette aus und blickte mit leicht anklagendem Blick nach hinten auf seinen »Fahrgast«, als hielte er es für möglich, dass die andere Agentin irgendwie das überfällige Team aus ihrer Tasche ziehen könnte.

»Woher soll ich das wissen? Meine Schuld ist es jedenfalls nicht!« Ihre Stimme klang leicht verletzt.

»Ach, komm schon, Martin, das weiß ich doch. Ich bin nur immer noch der Meinung, dass du bei diesem Einsatz nichts verloren hast.«

»Na und, man hat dich eben überstimmt. Wenn es so weit ist, möchte ich an Ort und Stelle sein und Levon und die anderen rausholen.« Sie kramte ihre Puderdose hervor, klappte sie auf und zog sich, nach einem schnellen Blick auf den Spiegel, nervös die Lippen nach.

»Und wenn es nicht so weit kommt?« Seine Stimme war ohne jeden Ausdruck.

»Dann befolge ich die Befehle, ob es mir passt oder nicht. Levon würde es genauso machen. Wir wissen beide, worum es geht und welche Risiken damit verbunden sind.« Sie wischte sich mit der Fingerspitze einen Fussel weg.

»Ihr steht einander zu nahe.«

»Ja, weiß ich.« Sie klappte die Puderdose zu und steckte sie und den Lippenstift wieder in die Handtasche.

»Solltest du auch.« Er zündete sich eine neue Zigarette an und ging um die nächste Biegung auf dem gewundenen Weg rings um die Zielzone.


George Schmidt war im Einsatz meist routinemäßig als Teenager getarnt. Wenn er daher als Erwachsener auftreten musste, erforderte das ein paar sehr altmodische Veränderungen an seinem Aussehen.

So sehr ihm auch Schuhe verhasst waren, die einen größer erscheinen ließen, in diesem Fall waren sie einfach notwendig. Polster in den Backen machten sein Babygesicht erwachsener. Und braunes Haar ließ ihn aus irgendwelchen Gründen ein wenig älter erscheinen als sein natürliches Blond. Sorgfältige kosmetische Arbeit erweckte den Eindruck dunkler Bartstoppeln, die man selbst beim näheren Hinsehen nicht als unecht erkennen konnte.

Jetzt war sein Ausweis, auf dem ›Mitte zwanzig‹, stand, durchaus glaubwürdig.

Er war recht gut im Zeitplan und hatte Barrys zusätzliche Stunde in einer Spielearkade mit Holo- und VR-Spielen totgeschlagen. Das war einer der Vorteile eines ewigen Teenagers: man wusste nicht nur, was bei den Kids gerade in Mode war, sondern man kannte sich auch wirklich damit aus. Falls die Tarnung es erforderte, konnte er sich auch dämlich anstellen, aber das Gegenteil vorzutäuschen, war verdammt schwierig.

Also, jetzt war es jedenfalls Zeit. Er sah sich in dem faden, unaufgeräumten Apartment um, das ganz so aussah, als könnte es einem Teenager gehören, der schon auf eigenen Beinen stand — bis hin zu dem Geruch nach billigem Fichtennadel-Luftauffrischer und schmutzigen Socken. Jedenfalls alles andere als komfortabel. Er knipste das Licht aus und ging hinaus.

Zwanzig Minuten später verwünschte er immer noch den umgekippten Sattelschlepper und das Gewimmel von Ambulanzen und Polizeifahrzeugen. Nichts zu machen — er würde schon wieder zu spät kommen.


Basis Titan

Dienstag, 18. Juni, 19:15


Cally knabberte an Pryces Ohrläppchen und zerrte an seinen Armen, um ihn auf den Boden herunterzuziehen.

»Danke, dass du mit Simms gesprochen hast.« Sie deutete auf die Tür, hinter der der MP immer noch Wache stand. »Tut gut zu wissen, dass wir den ganzen Abend für uns haben und uns keiner erwischen oder unterbrechen kann.«

»Warum ziehst du mich dann auf den Boden herunter?«

»Ich dachte, es würde mal Spaß machen, oben zu sein«, hauchte sie an seinem Nacken.

»Das soll wohl heißen, dass du den Ton angeben willst?« Er hob sie auf und drückte sie gegen die Wand, presste sich an sie und küsste ihr Haar. »Wie wär’s mit hier?«

»Mhm.« Ihre Beine klammerten sich um seine Taille, spielten mit dem Seidenzeug, das immer noch im Weg war. »Okay.«

Sie kletterte lange genug herunter, um ihre Seide herunterrutschen und ein kleines Häufchen auf dem Boden bilden zu lassen.

Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung laut aufgeschrien, als er plötzlich von ihr abließ und seine Uniform packte, um zur Toilette zu rennen.

»Ich warte auf dich«, rief sie, als er hinauseilte.

Das einzige Mobiliar im Raum bestand aus einem Schreibtisch und einem Sessel, und in der Schublade lag ein Laptop. Wieder einmal Beeds paranoide Abneigung gegenüber AIDs, dachte sie. Nicht, dass sie es ihm verübelt hätte.

Es dauerte bloß eine Sekunde, ihren PDA einzustöpseln.

»Knacken, Buckley.«

»Wusstest du, dass die Wahrscheinlichkeit achtundneunzig Komma zwei Prozent beträgt, dass man uns erwischt und wir hier sterben werden?«

»Halt die Klappe, Buckley, und knack das verdammte Ding. Die Routinen sind auf dem Würfel.«

»Geht in Ordnung.«

Außerdem war natürlich genug von den alten Daten auf dem Würfel, um den Buckley kooperativ zu machen. Na ja, so kooperativ eben, wie er überhaupt sein konnte. Den Buckley aufzuwecken war riskant, aber Cally konnte einfach eine Spur schneller mit einem arbeiten, weil sie genau wusste, wann sie ihm gut zureden und wann sie ihn unter Druck setzen musste, wenn wieder einmal seine Paranoia einsetzte.

In diesem Teil einer Operation lief die Zeit immer schrecklich langsam. Obwohl sie das wusste, war sie nervös, während der Buckley arbeitete. Es bestand immer die Möglichkeit, dass die Schutzvorkehrungen moderner als die Routinen waren, die Sicherheitslöcher ausfindig machten.

Aber Tommy und Jay waren zwei der Besten in ihrem Fach. Sie war ziemlich schnell drinnen. Dann war ihre menschliche Intelligenz gefordert, um die Dateien zu durchsuchen und die zu finden, die sie brauchte.

O mein Gott. Jay, dieser Schweinehund! Und er hat Hector verbrannt. Du große Scheiße.

»Die Daten senden, Buckley, jetzt gleich.«

»In diesem Raum ist mit Sicherheit Sendeschutz. Man wird uns erwischen.«

»Senden, verdammt! Jetzt gleich!«

»Geht in Ordnung. Ist gesendet. Wie schnell kannst du rennen?«, fragte der PDA.

»Gut.« Sie drückte den Würfel heraus, holte die Essigflasche, ließ das belastende Material hineinfallen, wo es sich unter fröhlichem Zischen auflöste.

»Buckley, völlige, komplette Abschaltung ausführen. Sofort.«

»Na klar, ich bin ja ersetzbar! Was zum Teufel, auf die Weise tut es wenigstens nicht so weh. Ade«, schloss der PDA bedrückt. Der Bildschirm wurde dunkel.

Cally nahm das kaum aus dem Augenwinkel wahr, weil sie voll damit beschäftigt war, wieder in ihre Kombination zu schlüpfen.

Die Tür schob sich auf, ehe sie die vordere Schließe halb geschlossen hatte. Es war Pryce, und sie hatte irgendwie nicht das Gefühl, dass seine Blässe etwas mit dem Präparat zu tun hatte, das sie ihm verabreicht hatte. Sie starrte in die Mündung seiner Neun-Millimeter, die er mit fester Hand auf sie gerichtet hatte.

»Du warst das?! O mein Gott … du bist verhaftet«, sagte er.

»Pryce …« Sie streckte die Hand aus.

»Eigentlich heiße ich Stewart. Major General James Stewart.«

Ihre Schultern sackten nach vorne. »Eine Falle.«

Plötzlich schoss ein Blutstrom aus seinem Bauch, als die Tür sich erneut aufschob und er zu Boden glitt, beide Hände auf die Wunde gepresst, die er verständnislos anstarrte.

»Geschieht Ihnen gerade recht, Sie unverschämter Angeber. Sie hat mir gehört!« General Beed stieg über Stewart hinweg zur Seite und trat die Waffe weg, die der andere hatte fallen lassen. Er blickte zu Cally auf. »Und du, damit das klar ist — du magst zwar eine Hure sein, aber du bist meine H …«

Weiter kam er nicht, denn ein grauer Schemen, zu dem Cally geworden war, wirbelte herum und kam mit Pryces Waffe wieder hoch, feuerte auf Beed, zweimal in die Brust und einmal in den Kopf, feuerte, bis die Waffe nur mehr ein leeres Klicken von sich gab.

»Ich denke, er ist tot«, stieß Stewart hervor, »und ich werde es auch nicht mehr lange machen. Beeil dich jetzt. Du magst ja gut sein, aber du hast dir sicherlich auch einen Fluchtweg überlegt.« Seine Stimme klang angespannt, aber sanft.

»Nein.« Sie rutschte auf dem Boden zu ihm hinüber und sah sich seine Wunde kurz an, ehe sie das Oberteil ihrer Seidenkombination aufriss, den zähen GalTech-Stoff wie Papier zerfetzte. Fix bildete sie eine Notkompresse daraus, schob seine Hände über die Wunde und drückte sie darauf, ehe er noch mehr Blut verlor.

»Wenn man das verdammte Hiberzine braucht, ist nie welches da, wie?« Sie lächelte ihn an, was er freilich nur wie durch einen Nebel wahrnahm, und presste die andere Hand über die Eintrittswunde in seinem Rücken.

»Du wirst mir nicht unter den Händen sterben.« Das klang fest und entschlossen, als wäre das einfach nicht erlaubt.

»Ich glaube, ich liebe dich, wer auch immer du bist.« Er hustete, und dabei trat ihm blutiger Schaum auf die Lippen.

Als die MPs nur Sekunden später durch die Tür hereingerannt kamen, war sie tatsächlich dankbar.

»Er braucht Hiberzine. Sofort!«, befahl sie.

Einer der MPs zog bereits eine Spritze aus dem Etui an seinem Koppel.

»Captain Makepeace, oder wie Sie auch heißen mögen, Sie sind verhaftet.« Der XO der Brigade, Colonel Tartaglia, hatte selbst die Führung der Gruppe übernommen. Dass sie hier waren, ging eindeutig auf einen Anruf von Pry — nein, General Stewart — zurück und war nicht etwa eine Folge der abgefeuerten Schüsse.

»Ich weiß.« Sie brauchte jetzt nicht mehr seinen Blutverlust zu verhindern, weil ein weiterer MP ihren Platz eingenommen hatte, und so strich Cally mit einer blutbeschmierten Hand über sein Kinn, ehe seine Augen sich schlossen und zwei MPs sie in die Höhe zogen.

»Sie schaffen General Stewart ins Lazarett.« Der Colonel wies auf drei MPs. »Die Übrigen nehmen sie mit. Und Vorsicht!« Er zeigte auf Beeds Leiche. »Sie ist höllisch gefährlich.«


Basis Titan

Dienstag, 18. Juni, 19:45


Im Shuttle meldeten sich Jays PDA und sein AID im gleichen Augenblick. Da die Nachricht dringend war, was bei ihrem Spiel wohl nicht zutraf, schaltete das Spiel automatisch auf Pause und öffnete die eingehende Datei.

Jay reagierte als Erster, von der Nachricht keineswegs überrascht. Zu seinem Pech vergisst der menschliche Körper im brutalen Überlebenskampf erworbene Reaktionen so lange nicht, wie er selbst fit ist. Tommy Sunday war sehr fit.

Jays verzweifelter Sprung — ein perfektes Flying Tackle in der Sprache des Sports — warf Sunday zwar aus seinem Sitz, aber der Schlag, der seine Luftröhre zerschmettert hätte, traf sein Ziel nicht, sondern glitt harmlos an seinem schützend gehobenen Arm ab.

In dem engen Cockpit des Shuttles war Tommys Größe kein Pluspunkt. Trotzdem war Jays Kampftechnik, die er als Ringer im Team seiner Schule gelernt hatte, der durch ständiges Training zu einer wahren Kunst entwickelten Kampftechnik des erfahrenen Veteranen nicht gewachsen. Menschen kämpften zwar nicht wie Posleen, aber Tommy wusste aufs Jota genau, wozu sein Körper fähig war; darüber hinaus hatte er ein paar schmutzige Tricks drauf, von denen der andere noch nie gehört hatte.

Später konnte Tommy die präzise Reihenfolge der Etappen jenes verzweifelten Kampfes nie exakt schildern. Zumindest erzählte er es jedes Mal anders. Eines stand allerdings für ihn fest: Als Papa O’Neal schließlich zur Tür hereinkam und ihn neben Jays Leiche sitzend vorfand, bemüht, Luft zu holen und mit höllischen Schmerzen im Unterleib, wo ihn ein Kniestoß Jays getroffen hatte, fehlte Jay ein Auge, zwei seiner Finger sowie sein Genick waren gebrochen. Und im Übrigen war er eindeutig mausetot.

»Hast du’s bereits zur Erde geschickt?«, fragte der Ältere, als wäre das Bild, das sich ihm bot, die selbstverständlichste Sache der Welt, und stieg über die Leiche, um an das Kommunikationsgerät zu kommen.

»Nein, bis jetzt noch nicht.« Tommy schüttelte den Kopf, wuchtete sich hoch und ließ sich vorsichtig auf einem Sessel nieder.

O’Neal räusperte sich lautstark und tippte ein paar Augenblicke auf den Tasten herum, verschlüsselte die Daten und schickte sie durch ein kompliziertes System von Funkrelais, die sie als dreimal wiederholten Rauschimpuls, eingebettet in ein routinemäßig abgefangenes Stimmsignal, zur Erde schickten.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Tommy und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Leiche.

»Wir legen ihn ins Frachtabteil. Dort ist es hübsch kalt. Da wird er sich schon halten.« Er wühlte in seiner Hemdtasche herum, bis er seinen Tabaksbeutel gefunden hatte. »Man sollte nie eine gut erhaltene Leiche vergeuden, wenn man das vermeiden kann. Schließlich kann man nie wissen, wann man vielleicht eine braucht.«

»Was ist mit Cally?«

»Du hast offensichtlich den Schluss der Nachricht nicht gesehen. Lass für alle Fälle die Motoren warm laufen, aber …« O’Neals Gesicht war völlig ausdruckslos, als er sich den Priem in den Mund steckte und den Beutel in die Tasche zurückschob.

Tommy hob sein AID wieder auf und ließ es die Datei anzeigen, sodass er sie diesmal bis zum Ende und bis hinunter zu dem Code am Schluss lesen konnte, der nach Beurteilung ihres PDA bedeutete, dass die Festnahme des Agenten unmittelbar bevorstand, Rettung oder Flucht unwahrscheinlich war, weitere Sendungen vermutlich kompromittiert.

»Hey, ihr Buckley ist schließlich immer pessimistisch drauf, oder?«, meinte er.


Springfield

Dienstag, 18. Juni, 19:55


Aus der jahrtausendelangen Erfahrung der Bane Sidhe mit den Darhel, die immer wieder jede Art elektromechanischer Datenübertragung abgehört hatten, galten persönliche Treffs als die sichersten, wenn es darum ging, Informationen weiterzugeben, weshalb dies auch Teil der allgemeinen Dienstvorschrift war. Zu Anfang der Zusammenarbeit hatte es nur einiger katastrophaler Verluste in den Rängen der Cybers bedurft, um sie davon zu überzeugen, dass die Klugheit dies erforderte. Eine Konsequenz dieser Vorschrift war, dass Teams wie Hector und Isaac neben ihren üblichen Kommandoeinsätzen auch mit nachrichtendienstlichen Aufträgen betraut wurden, welche die Übernahme körperlicher Berichte von Agenten vor Ort vorsahen.

In Anbetracht der knappen Ressourcen pflegte man dazu das Team wo immer möglich aufzuteilen und jeden Agenten mit einem einzelnen Segment der Route zu betrauen. Um die einzelnen Vorgänge aber wirksam koordinieren zu können, waren auch dabei periodische, persönliche Treffs erforderlich. Bedauerlicherweise hatten nachrichtendienstliche Erkenntnisse die Tendenz, schnell ihren Wert zu verlieren. Derartige Treffs erlaubten es jedem Teammitglied, die Erkenntnisse des gesamten Teams entgegenzunehmen und sie sozusagen stromaufwärts an einen Kurier weiterzuleiten, ehe das jeweilige Mitglied sich wieder seiner Teilaufgabe zuwandte.

Levon mochte das Wexford. Nicht so sehr dieses Pub im Speziellen als vielmehr billige, kleine Kneipen mit gemischtem Publikum, wo einen, solange man nicht laut wurde oder auf den Tischen tanzte, keiner ein zweites Mal ansah. Sie benutzten niemals einen bestimmten Ort öfter als dreimal in zehn Jahren für einen persönlichen Treff, wenn sie das irgendwie vermeiden konnten. Für das Wexford war dies das zweite Mal, dass es dieser zweifelhaften Ehre zuteil wurde.

Er ließ beim Betreten des Lokals automatisch den Blick über die Bar schweifen und katalogisierte im Geiste das Gesehene, während er sich einen leeren Tisch an der Wand aussuchte und sich dort auf einem Stuhl niederließ, der einen ungehinderten Blick auf die Tür ermöglichte. Ein Mann und eine Frau an der Bar, sieht so aus, als würde er versuchen, sie anzubaggern, offensichtlich auch mit Erfolg. Zwei jüngere Gentlemen in einer Nische, beide sehr sportlich wirkend und offensichtlich stark aneinander interessiert. Ein Mann an einem Tisch am Fenster, trinkt alleine, starrt auf die Straße hinaus. Ein Mann und eine Frau in der Nische hinten, ein wenig verstohlen über dem Tisch Händchen haltend. Weg zum Hinterausgang an der Küche vorbei frei.

Eine betont fröhliche Bedienung kam an seinen Tisch, und er bestellte einen Krug Apfelwein und einen Cheeseburger. Okay, auch Junkfood, aber wenigstens ohne Mais und Sojabohnen.

Barry traf vor dem Apfelwein ein und konnte sich deshalb sein Essen bestellen und sich ein kaltes Bier einschenken, wobei er die Speisekarte als Tarnung benutzte, um einen Würfel auf den Tisch zu legen, wo ihn die verschiedenen Gegenstände, die dort herumlagen, vor neugierigen Augen schützten. Levon zündete sich eine Zigarette an und griff sich den Würfel, während er den Aschenbecher zurechtschob. Eigentlich schmeckten ihm die Dinger gar nicht, aber sie waren eine wirklich gute Tarnung, um seine Hände zu bewegen.

Sam kam dicht hinter Barry, ein kleines, sanft gerundetes Mädchen mit mausbraunem Haar, das sich um ihre Ohren ringelte. Er spürte, wie ihr Würfel in seine Jackentasche fiel, als sie sich über ihn beugte, um ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange zu geben, ehe sie wieder um den Tisch herumging und sich neben ihn setzte.

Wie nicht anders zu erwarten, verspätete sich George. Nach seinem Schwiegersohn konnte man die Uhr stellen. Wenn er zur Tür hereinkam, war es mit tödlicher Sicherheit zwanzig Minuten nach dem Zeitpunkt, an dem er eigentlich da sein sollte. Er schwor jedes Mal heilige Eide, dass er das nicht absichtlich tat, und hatte für seine Verspätung stets einigermaßen plausible Erklärungen zur Hand. Einzig und allein dann, wenn für den Erfolg des Einsatzes exakte Koordination wirklich unerlässlich war — dann war er pünktlich. Seine Frau machte sich gern darüber lustig. Levon dachte, er ging so in seiner Rolle auf, dass er sich manchmal tatsächlich wie der Teenager verhielt, den er darstellte.

Den ersten Hinweis, dass etwas nicht stimmte, bekam er, als alle, mit Ausnahme der Bedienung und des Barkeepers, gleichzeitig in Bewegung gerieten. Er hatte kaum Zeit, die Würfel in seinen Apfelwein fallen zu lassen, ehe einer von ihnen über ihm war und ihm, während er kurz abgelenkt war, etwas in den Schenkel rammte. Er versuchte seine Pistole unter dem Hemd einzusetzen, aber der Mann schlug sie ihm aus der Hand. Barry und Sam hatten ihren ersten Mann auf dem Boden, bis Levon sich genügend gefangen hatte, um dem seinen das Genick zu brechen. Er bezweifelte, dass ihm das so schnell gelungen wäre, wenn der Mann nicht gezögert hätte, offenbar weil er erwartet hatte, das Zeug, das er ihm injiziert hatte, würde sofort wirken. Das Peitschen von Schüssen verriet ihm, dass mindestens einer seiner Leute zum Schießen gekommen war, aber die zehn Sekunden des Toten arbeiteten gegen sie.

Während er mit der Frau aus der Nische ganz hinten kämpfte, hatte er einen Augenblick Zeit, darüber nachzudenken, dass es sich bei dem Inhalt der Spritze um etwas handeln musste, was seine Nanniten Gott sei Dank sofort neutralisieren konnten. Diese Frau war nicht schlecht, aber sie hatte nicht die Kräfte modifizierter weiblicher Bane-Sidhe-Agenten. Nach Jahren des Trainings mit Agentinnen und Agenten in der Halle und mit Männern im Feld vergaß man nur zu leicht, wie schwach es bei unmodifizierten Frauen doch um ihre Oberkörperstärke bestellt war.

Die beiden schwulen Typen, die sich ihr gegen ihn anschlossen, machten einen echten Kampf daraus, und als er die uniformierten Fleet-Strike-Soldaten durch die vorderen und hinteren Türen hereinströmen sah und hörte, während das Barpersonal sich klugerweise hinter die Bar verkrümelt hatte, wusste er, dass dies ein Kampf war, den sie nicht gewinnen konnten. Es waren einfach zu viele. Die Faust, die auf seinen Kopf zuschoss, sah Levon Martin nur für den Bruchteil einer Sekunde lang. Oh, Scheiße …


Nachher war Bobby wirklich stolz auf seine Agenten. Sie hatten geduldig gewartet, bis alle drei Zielpersonen — die vierte war nicht aufgekreuzt — das Gebäude verlassen hatten, ehe sie geschossen hatten. Die ersten beiden fielen fast gleichzeitig. Der Dritte hatte ein paar Sekunden zu lange gebraucht und benötigte demzufolge drei Schüsse.

Zum Glück waren seine Reserveleute gut genug, ihre eigenen Waffen einzusetzen, sodass die Fleet-Strike-Typen sich lang genug darüber im Unklaren waren, wo das Feuer herkam, was ihnen genügend Zeit zum Rückzug verschaffte.

Das einzig Schlechte war, dass die vierte Zielperson fehlte, sodass der Einsatz kein vollständiger Erfolg war. Aber da konnte man nichts machen.


Cheryl Martin hätte am liebsten ihren PDA auf den Boden des Taxis geworfen und ihn zertreten. Nur Sekunden, nachdem die Schüsse angefangen hatten, hatte das verdämmte Ding gepiepst.

»Ja?«, brauste sie auf.

»Pinwheel, Pinwheel. Wiederhole, Pinwheel!« Der PDA hatte den leicht sterilen Klang, den sie mit Synthesizerstimmen assoziierte.

»Kevin, gibt es hier etwas, das ich töten kann?«, fragte sie.

»Cheryl, es tut mir so — warte!« Er riss das Taxi herum und auf den Bürgersteig, versperrte damit einem kleinen, braunhaarigen Mann den Weg. »Schnapp ihn dir. Aber vorsichtig.«

Die hintere Tür auf der Fahrerseite des Taxis flog auf, und der Mann stoppte mitten in einer fließenden, schnellen Bewegung, schwankte ein wenig, als er das kurzzeitig verloren gegangene Gleichgewicht zurückgewann, weil er das nicht hatte zu Ende bringen können, was er vorgehabt hatte.

»Cheryl?«, krächzte er.

»Keine Zeit, steig ein. Unterwegs Codes tauschen.« Sie riss ihn auf den Rücksitz des Taxis, das nicht einmal wartete, bis die Tür ganz geschlossen war, ehe es zurückstieß, seine Wende zu Ende brachte und in die Nacht hineinschoss.

»Pumpernickel. Alles schief gelaufen. Wir nehmen an, dass du der Einzige bist, der rausgekommen ist. Gut, dich zu sehen, Junge, aber warum zum Teufel warst du nicht dort drinnen?« Sie fummelte an ihrer Handtasche herum und brachte ein Päckchen Papiertaschentücher zum Vorschein, die sie gleich brauchen würde, das wusste sie.

»Was ist mit dem Rest meines Teams?«

»Nicht gut. Komm schon, George, gib ihr Antwort.« Kevin suchte im Rückspiegel seine Augen.

»Ich … habe mich verspätet.« Die Schultern sackten ihm nach vorn.

»Und warum kommst du zu Fuß?«, drängte der andere Mann.

»Ich … ich … ach, Scheiße, ich bin in zwei Unfälle hintereinander geraten, und dort herrschte solches Durcheinander, dass ich dachte, ich würde zu Fuß schneller hierher kommen. Es war nur eine Meile von hier, und wenn ich hier gewesen wäre …« Er verstummte.

»Hätte es nichts geholfen«, murmelte Cheryl.

»Das weißt du nicht.« Seine Stimme klang verbittert.

»Doch, das wissen wir schon. Leider.« Das Taxi fuhr weiter.


Basis Titan

Dienstag, 18. Juni, 20:00


Das melodische Klingeln seines AID weckte den Tir aus tiefem Schlaf. Es brauchte die üblichen drei gemessenen Atemzüge, um gegen den Drang anzukämpfen, etwas zu töten. Das AID hörte und interpretierte die Veränderung in seinem Atemrhythmus aus langer Erfahrung und wartete geduldig, bis sein Herr und Meister sich unter Kontrolle hatte. »Abgefangene lokale Sendungen deuten auf Lebend-Gefangennahme eines Feindagenten. Agent befindet sich im Gewahrsam von Fleet-Strike-Personal, augenblicklich zum Verhör unterwegs«, sagte es.

»Verbindung mit dem Verteidigungsminister der Menschen. Datiere eine Resolution eines Votums des Ministerrats auf den jetzigen Zeitpunkt, die mich als autorisierten Beobachter des Rates bestellt, basierend auf kommerziellen Auswirkungen der Spionage. Zitiere entsprechende Präzedenzfälle und beschaffe natürlich die Zustimmung der AIDs der anderen Minister. Resolution dann an menschlichen Minister weiterleiten.« Seine Ohren stellten sich plötzlich wachsam auf, und seine Barthaare zuckten vor kaum unterdrückter Erregung.

»Resolution übermittelt, bitte für den Menschen Li bereithalten.« Die kühle, melodische Stimme vereinte sich mit seiner Atemübung und verhalf ihm dazu, sich wieder völlig im Griff zu haben.

»Persönlichen Kontakt absagen. Weise ihn an, die entsprechenden Befehle weiterzuleiten. Sorge dafür, dass sein AID sofortige Maßnahmen veranlasst. Überwache die Weiterleitung der Befehle und verständige mich, wenn sie bei den Wachen im Gefängniszentrum eingetroffen sind.« In diesem Fall war es besser, den persönlichen Kontakt zu vermeiden. Je intelligenter und kompetenter die menschlichen Unterlinge waren, umso nervöser waren sie gewöhnlich, wenn sie sich der direkten und persönlichen Einschaltung eines Darhel ausgesetzt sahen. Normalerweise war dies ein Vorzug, aber im Augenblick war Effizienz für ihn wichtiger als Einschüchterung.

Mit einer knappen Handbewegung wies er seine Leibdiener an, sich um ihn zu kümmern. Er hasste es, spät nachts seine Räumlichkeiten verlassen zu müssen, aber das war jetzt nicht zu vermeiden. Als das AID erneut tönte, hatten sie ihm gerade das Schlafgewand halb über den Kopf gezogen.

»Verkehrsanalysedaten, Euer Tir.«

»Bericht.« Zumindest war er bereits wach.

»Unsere menschlichen Dienstleister berichten das bedauerliche Hinscheiden von drei feindlichen Agenten. Verkehrsanalyse meldet eine Sendung unmittelbar vor der Festnahme des lokalen Feindagenten durch Fleet-Strike-Personal. Sendeort war Abteilung, die ursprünglich die abgehörten Daten geliefert hat, in denen diese speziellen Feindagenten aufgedeckt wurden. Errechnete Sende- und Verarbeitungszeiten deuten darauf hin, dass dieses Leck die vermutliche Ursache dafür ist, dass der vierte identifizierte Feindagent sich planmäßig mit unserem menschlichen Dienstleister getroffen hat«, meldete das Gerät.

»Einen hier in der Hand für einen unerreichbar dort. Ein günstiger Tausch.« Er hielt den Indowy mit dem Wachgewand mittels einer kurzen Geste an und winkte einem anderen, ihm einen Teller mit Nahrung zu bringen. Nachdem der Leibdiener gegangen war, erlaubte er dem anderen, mit Ankleiden fortzufahren. Er würde essen müssen, ehe er sich zum Gefängniszentrum begab. Außerdem würde sein Reisehelfer Stimulantia mitbringen müssen. Vermutlich würde es eine lange Nacht werden.


Chicago

Dienstag, 18. Juni, 20:25


AIDs waren zugleich ein Segen und ein Fluch. Manchmal war Peter Vanderbergs Frau auf Jenny ein wenig eifersüchtig. Oh, anfänglich war sie das nicht gewesen, aber eine Frau konnte wirklich nicht ständig hören, wie eine weibliche Stimme ihren Mann an persönliche Verabredungen erinnerte, ihm sagte, dass es Zeit sei, seine Medikamente zu nehmen und ihn ganz beiläufig in den intimsten Augenblicken zu unterbrechen, ohne allmählich ärgerlich zu werden. Peter wusste natürlich, dass die Krönung des Ganzen war, dass Jane mit ansehen musste, wie seine emotionale Zuneigung zu Jenny wuchs. Und ihr zu erklären, dass dies ein normaler Bestandteil der Konstruktion eines AID war und dass es seine Effizienz steigerte, half natürlich überhaupt nicht.

Am Ende war der einzige Ausweg die Trennung gewesen. Er war nicht bereit gewesen seine Frau aufzugeben und hatte schließlich erkannt, dass er seine Ehe nur retten konnte, wenn er sicherstellte, dass seine Frau praktisch nie mit Jenny in Berührung kam. Seltsamerweise war sein AID am Ende darüber glücklich gewesen, obwohl es zunächst verstimmt und ein wenig patzig darauf reagiert hatte, dass es aus gewissen Teilen seines Lebens ausgeschlossen werden sollte. Aber ein AID konnte ja schließlich nicht auch eifersüchtig werden, oder?

Jedenfalls bedeutete der Kompromiss, dass sein AID nicht bei jeder eingehenden Nachricht gongte. Vielmehr vibrierte es leicht, sodass er sich kurz entschuldigen konnte. Abgesehen davon sah er etwa einmal die Stunde nach. Und wenn Jenny zu erkennen gab, dass die Nachricht wichtig war, reagierte er gewöhnlich auch sofort. Am heutigen Abend, an Janes Geburtstag, hatte er das nicht getan, sondern ein paar Minuten gewartet. Als Jenny ihn dann das zweite Mal ansummte, schloss er, dass es ziemlich wichtig sein musste, und entschuldigte sich taktvollerweise damit, dass er auf die Toilette müsse. Janes Augen verengten sich ein wenig, als er den Raum verließ. Er bezweifelte stark, dass er sie hatte täuschen können.

»Jenny, ich hoffe, die Mitteilung ist wirklich wichtig. Janes Geburtstag bedeutet mir sehr viel.« Okay, eigentlich ist mir wichtig, dass Jane nicht sauer auf mich ist, weil sie sich beleidigt fühlt. Läuft auf dasselbe hinaus. Ich hatte eigentlich vor, heute Abend mit ihr zu schlafen und nicht die Nacht in der Hundehütte zu verbringen.

»Tut mir Leid, Peter. Du hast zwei dringende Mitteilungen. Morrison muss bedauerlicherweise Scheitern berichten. Sie hatten sie, aber Scharfschützen auf dem Dach haben die Gefangenen getötet, ehe sie vollends gesichert werden konnten. Colonel Tartaglia meldet für General Stewart jedoch Erfolg. Sie haben eine feindliche Agentin lebend gefangen und sie zum Verhör in das Gefängniszentrum auf Basis Titan gebracht. Oh, dritte Nachricht. Verteidigungsminister Li teilt dir und deinen Untergebenen mit, dass eine Darhel-Delegation unter Führung des Ministers für Wirtschaft und Handel, dem Tir Dol Ron, dem Verhör als Beobachter beiwohnen wird. Du hast Anweisung sicherzustellen, dass deine Leute der Delegation des Tirs in jeder Weise behilflich sind«, sagte das Gerät.

»Das ist verrückt.« Äh … darüber muss ich alleine nachdenken. »Jenny, gib die Befehle an General Stewart und Colonel Tartaglia weiter. Äh, Jenny, enthält die Nachricht einen Hinweis darauf, weshalb sie von dem Colonel übermittelt wurde. Und was ist aus General Beed geworden?«

»General Beed ist von der Gefangenen, einer Captain Sinda Makepeace, seiner Sekretärin, getötet worden. Oder einer Unbekannten, die als Fleet Strike Captain auftritt, obwohl das natürlich nach den biometrischen Sicherheitsvorkehrungen von Fleet Strike unmöglich ist. General Stewart ist bei der Auseinandersetzung verletzt worden und augenblicklich nicht bei Bewusstsein. Er wird gerade ärztlich behandelt. Mit voller Wiederherstellung kann gerechnet werden.«

»Danke, Jenny. Noch einmal, bitte weitere Mitteilungen anhalten, sofern sie nicht wichtig sind.« Sonst darf ich möglicherweise heute Nacht nicht in meinem eigenen Bett schlafen.

»Aber sicher, Peter. Ich verstehe«, schmachtete sie.


Unter einem Kornfeld in Indiana

Dienstag, 18. Juni, 20:30


Der Indowy Aelool nahm einen kleinen Schluck von seinem Wasser und kehrte in einen gesellschaftlich akzeptablen Zustand stiller Selbstbetrachtung zurück. Normalerweise bemühte er sich, in Nathan O’Reillys Büro um etwas mehr gesellschaftliche Interaktion, eine Prozedur, die die Menschen Small Talk nannten. Auf seinen Freund schien das beruhigend zu wirken.

In Anbetracht der gegenwärtigen Situation und der andauernden Rückschläge in dem Cally-O’Neal-Debakel und der Anwesenheit des Indowy Roolnai war es politisch angebrachter, traditionellere Verhaltensformen an den Tag zu legen.

Roolnai hatte sein Wasser nicht angerührt, um seine meditative Stimmung nicht zu stören, was vielleicht auch einen leichten Tadel für Aelool darstellte. Vielleicht wollte er damit aber auch nur seine persönliche Nervosität zügeln. Schließlich war das, was sie hier beobachten wollten, doch eine recht angespannte Situation Für die Bane Sidhe würde dies keine gute Nacht werden.

Roolnais AID zirpte einen Schwall Indowy. Roolnai hob den Kopf und wandte sich O’Reilly zu.

»Es ist bestätigt worden, dass der Mensch Cally O’Neal lebend festgenommen worden ist. Es ist bestätigt worden, dass niemand vom Team Hector lebend festgenommen wurde, was aber weder auf unsere Einschaltung noch deren Kompetenz zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf den Wunsch der Darhel, diese Agenten nicht lebend in die Hand von Fleet Strike fallen zu lassen. Der Grund dafür ist vermutlich der, dass sich im Augenblick keine Darhel auf der Erde befinden, die das Verhör überwachen oder kontrollieren könnten. Auf Titan ist solches nicht der Fall. Der Tir Dol Ron wird dort den Vorsitz übernehmen. Außerdem haben wir es mit dem äußerst günstigen Umstand zu tun, dass die möglicherweise voreilige Aktion, einen Agenten vom Team Hector zu bergen, durch die O’Neal-Sendung hinreichend abgedeckt ist. Unsere Informationsquellen sind nicht kompromittiert worden.« Während Roolnai das sagte, hoffte Aelool, dass O’Reilly ihre Sprache nicht hinreichend beherrschte, um die leichte Herablassung in seinem Tonfall wahrzunehmen. Aber er war nicht sehr zuversichtlich in dieser Hoffnung. In O’Reillys Augen war ein leichtes Blitzen zu erkennen, wie es an Menschen häufig dann festzustellen war, wenn sie Subtilitäten wahrnahmen.

»Thomas, bitte Hologramm des Militärgefängnisses auf Basis Titan zeigen. Verteidigungseinrichtungen nach möglichen Schwächen analysieren«, wies er sein AID an.

»Visuelles oder strukturelles Bild?«, fragte es.

»Strukturell, bitte«, sagte er.

»Ich bitte um Entschuldigung, Stützpunktkommandant O’Reilly, aber darf ich mich nach dem Zweck dieser Maßnahme erkundigen?« Roolnais Stimme klang kühl.

»Natürlich um die Möglichkeiten einer Extraktion zu bewerten«, erwiderte O’Reilly abwesend, offensichtlich bereits ganz auf die Betrachtung des Bildes konzentriert.

»Man könnte sich zuerst fragen, ob eine Extraktion eine kluge Nutzung beschränkter Ressourcen ist.« Der ranghöhere Indowy sagte das mit dem Ausdruck hohen Respekts, wie Indowy das gewöhnlich taten, wenn sie eine unverrückbare Haltung einnahmen.

»Ich kann nicht erkennen, welchen Schaden es bereiten sollte, Möglichkeit, Kosten und Risiken einer Extraktion zu bewerten.« Wenn ich diesen Sprung nicht glätte, steht die ganze Basis dieser Allianz auf dem Spiel. Ob Roolnai bewusst ist, wie sehr er die Menschen nach deren Standards beleidigt? Ich kann nur hoffen, dass das von ihm nicht beabsichtigt ist.

»Ist falsche Hoffnung ein Schaden? Wo es doch bereits hochgradig unwahrscheinlich ist, die Agentin zu bergen, ohne dabei einen Schaden anzurichten, der es unmöglich macht, sie zu verlässlichem operativem Status wiederherzustellen?« Das war zu oberflächlich, das hätte Roolnai wissen müssen.

»Vielleicht nicht. Ich stelle fest, dass ich müde bin, meine Freunde. Das war ein langer Abend, und offenbar gibt es nicht mehr viel, was wir gemeinsam bewirken könnten.« O’Reilly war aufgestanden und hatte sich abgewandt. In der Körpersprache der Indowy war dies eine Geste höflicher Müdigkeit. Aelool befürchtete, dass das Verhalten eine tiefere Bedeutung ausdrücken könnte. Da er sowohl seinen Freund Nathan wie auch seinen Freund Roolnai kannte, ahnte er, dass eine Fortsetzung des Gesprächs im Augenblick die Spaltung nur noch vertiefen könnte. Er würde sie einzeln bearbeiten müssen.

Roolnai hatte bereits unverzüglich auf höfliche Weise reagiert und bewegte sich in Richtung auf die Tür. Aelool folgte ihm und verhielt kurz in der Tür.

»Freund Nathan, wäre es möglich, unser Schachspiel morgen Nachmittag fortzusetzen? Gibt es eine Zeit, die dir genehm wäre?« Das Angebot war auf dem Tisch. Die Pause beunruhigte ihn einen Augenblick lang.

»Gerne. Ich kenne meinen Terminkalender nicht, aber wenn Thomas mit deinem AID sprechen könnte?«

Aelool nickte. Gut. Der Bruch war nicht endgültig. Zumindest noch nicht.


Titan, Fleet Strike Gefängniszentrum

Dienstag, 18. Juni, 21:00


»Also, wer ist sie?« Robert Tartaglia war über die Exzentrizitäten seines verblichenen Vorgesetzten nicht gerade begeistert gewesen, aber den Tod hatte er ihm nicht gewünscht. Ganz besonders nicht, wo sein Tod ja doch in gewisser Weise die Beförderung beeinträchtigen würde, die er sich schon lange verdient hatte. Und dass sie offenbar Beed getötet hatte, um General Stewart zu verteidigen. Und den tollpatschigen Lieutenant hätte er ganz sicher nicht für einen Agenten der Abwehr gehalten. Ein richtiger James Bond war das. Man stelle sich vor: Die Spionin hatte doch tatsächlich aus Sorge um sein Leben gewartet und sich gefangen nehmen lassen. Glück bei den Frauen, so nannte man das wohl. Der tollpatschige Lieutenant, General Stewart, sein neuer Vorgesetzter. Völlig verrückt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Baker ihn fragend anstarrte.

»Entschuldigung, Baker, würden Sie das bitte wiederholen?«, sagte er.

»Ich habe gesagt, wir wissen nicht, wer sie ist. Sinda Makepeace ist sie nicht.« Agent Sam Baker sah nach einem vollen Arbeitstag ein wenig zerknittert aus. Zivilkleidung auch noch so guter Qualität trug sich einfach nicht so gut wie Fleet-Seide. Baker hätte es wahrscheinlich vorgezogen, Seide zu tragen, aber für die der CID zugeteilten Warrant Officers entsprach das nicht der Dienstvorschrift. Dort war es wichtig, den Rang aus allen Ermittlungen rauszuhalten. »Fingerabdrücke passen, DNA passt, Stimmabdruck passt nicht. Sie klingt wie sie und ist ganz offensichtlich auch gut vorbereitet worden. Aber sie ist ganz sicherlich nicht Captain Makepeace. Zum einen hat unsere Mata Hari ständig über unseren hiesigen Kaffee gemeckert, ihn aber trotzdem getrunken. Die echte Captain Makepeace hat den Kaffee gehasst — eine Teetrinkerin. Ich frage mich nur, wie die das übersehen konnten.«

»Tarnidentitäten übersehen immer etwas. Wann kriegen wir also die Suchergebnisse zu ihrem Stimmabdruck, damit wir wissen, wer sie ist? Habe ich für eine Tasse Kaffee Zeit?« Er sah den Jüngeren an und schob eine Augenbraue hoch.

»Tut mir Leid, Sir, ich habe mich möglicherweise ein wenig unklar ausgedrückt. Die Ergebnisse aus dem Datenspeicher sind alle zurück. Sie ist dort nicht registriert. Nirgends. Für das System gibt es sie nicht«, sagte er.

»Dann hat die Makepeace einen bösen Zwilling? Oder einen Klon?« Seine Stimme klang zweifelnd.

»Keinen Zwilling und auch keinen Klon, zumindest nach keiner uns bekannten Technik. Oh, wir haben mit einem ihrer Boyfriends von der High School gesprochen. Er hat gesagt, sie hätte vorne, links unten im Bikinibereich, ein ungefähr dreieckiges Muttermal. Mata Hari hat kein Muttermal.«

»Seien Sie da vorsichtig, Sam. Mata Hari hat offenbar phänomenale Anziehungskräfte.« Das war nur zum Teil ein Witz. Die Frau sah klasse aus und hatte bereits einen Mann dazu gebracht, ihretwegen zu töten.

»Ja, Sir. Aber die sind weiter oben, Sir.«

»Baker, Sie haben mehr Verhörerfahrung als so ziemlich jeder von uns. Das liegt an Ihrer Arbeit mit dem organisierten Verbrechertum und den hiesigen Tongs. Wir müssen da etwas in Gang bringen, ehe General Stewart wieder zum Dienst zurückkehrt. Betrachten Sie sich für die Dauer der Ermittlungen oder bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Generals dem Gefängniskomplex zugeteilt. Ich hole mir jetzt eine Tasse Kaffee.« Er erhob sich, wollte gehen, aber eine Hand, die sich unter einer voluminösen Robe ausstreckte, hielt ihn auf. Die Hand hatte gefährlich aussehende Klauen.

»Einen Augenblick Ihrer Zeit, wenn Sie gestatten, Colonel.« Die Stimme des Tir klang melodisch, fast hypnotisch. Wenn er nicht so ungemein lästig gewesen wäre, hätte es dem Colonel vielleicht Spaß gemacht, ihm zuzuhören. Aber Befehl war Befehl.

»Ja, Euer Tir. Was kann ich für Sie tun?« Tartaglia nickte, als Baker ihm einen Blick zuwarf und sich wortlos bei beiden entschuldigte, um seinem XO Kaffee zu besorgen. Ein guter Mann.

»Ich bin sicherlich der Meinung, dass der Mann von Fleet Strike an dem Verhör teilnehmen sollte, damit er dabei etwas lernt, aber Fleet hat sich im Geiste dessen, was Sie Zusammenarbeit zwischen den Waffengattungen nennen würden, großzügigerweise bereit erklärt, ein hochgradig erfahrenes Verhörteam bereitzustellen. Wenn man bedenkt, wie nahe das Personal von Fleet Strike der Gefangenen stand, würde ich das für eine kluge Maßnahme halten. Natürlich nur, wenn Sie einen freundschaftlichen Vorschlag in Erwägung ziehen wollen.« Er lächelte und legte dabei seine Zähne frei, und der Indowy-Diener, der neben ihm stand, erinnerte Tartaglia ein wenig an ein Kaninchen zu Hause, das sich im Scheinwerferstrahl eines Autos gefangen hat.

Bob Tartaglia war alles andere als dumm und in der von Konkurrenzdenken geprägten Atmosphäre von Fleet Strike nicht zum Colonel aufgestiegen, ohne dabei auch politisches Feingefühl zu entwickeln. Oh, er hatte genügend gute Führungsqualitäten, um ein gewisses Maß an Abscheu für bestimmte Aspekte der Politik zu empfinden, aber er wusste auch, wie der Hase lief. Der Tir wäre mit Sicherheit nicht hier, wenn die entsprechenden Befehle dafür nicht von ganz oben in der Befehlskette gekommen wären. Höfliche Empfehlungen des Tirs konnten, wenn man sie missachtete, schnell als ganz reguläre Befehle über die Befehlskette herunterkommen.

»Das scheint mir ein kluger Rat, Euer Tir. Würden Sie zufälligerweise wissen, wann uns dieses Leihpersonal von Fleet zur Verfügung steht?«

»Ich bin weit entfernt davon, mich irgendwie störend in die Kommandokette einzuschalten, die euch Menschen so wichtig ist. Aber so weit mir bekannt ist, befindet sich das Personal, das Fleet Ihnen so großzügigerweise zur Verfügung stellen möchte, gleich nebenan im SP-Gefängnisflügel und kann praktisch unverzüglich hier erscheinen, sobald Sie die entsprechende Weisung geben. Das war doch sehr entgegenkommend, finden Sie nicht?« Wenn Darhel katzenartig gewesen wären, hätte der Tir wohl jetzt geschnurrt.

»Wie aufmerksam von ihnen.« Eine der ersten Maßnahmen Tartaglias nach dem plötzlichen Hinscheiden seines ehemaligen Vorgesetzten hatte darin bestanden, einen Militärpolizisten in sein Quartier zu schicken, um sein AID zu holen. Er hatte sich in den letzten Wochen daran gewöhnen müssen, ohne Suzanne zu arbeiten, was seinen Kummer über den Tod des Generals nicht gerade gesteigert hatte. Jetzt ließ er von ihr den Befehl an die in der Lobby der Hauptschleuse wachhabenden MPs weiterleiten und atmete dann unhörbar auf, als der Darhel und sein Indowy-Diener zu einem ihm unbekannten Ziel davonglitten. Er versuchte, sich seine persönliche Befriedigung darüber nicht anmerken zu lassen, dass dieses Ziel eines war, wo er nicht zu sein brauchte.

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