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Wieder in ihrem Apartment eingetroffen, stellte sie die ein wenig angekratzte matt orangefarbene Muschel, die Annie voll Stolz für sie »gefunden« hatte, neben einen kleinen Topfkaktus auf ihren Nachttisch und ging dann das klebrige Salz und den Sand abduschen. Sobald sie sich darüber klar war, welche ihrer Identitäten in Ferien gehen musste, würde sie noch einmal duschen müssen, aber darüber würde sie sich den Kopf zerbrechen, sobald sie sauber war.

Als sie ihren roten Bikini auf die Badematte fallen ließ, konnte sie draußen den Donner hören, gleich darauf klatschten die ersten Regentropfen gegen das kleine Badezimmerfenster.

Ein paar Minuten später kam sie aus dem Bad, ein Handtuch um den Kopf gewickelt und in einen zu großen, flauschigen blauen Bademantel gehüllt, öffnete mit einem Daumendruck die unterste Schublade ihrer Ankleide, zog sie diesmal ganz heraus und griff nach hinten, nach einer zerkratzten, schwarzen Schuhschachtel. In der Schachtel lagen ihre fünf »Spezialidentitäten«, von denen selbst die Bane Sidhe nichts wussten — nicht nach ihrer Kenntnis. Grandpa hatte ihr das damals im Postie-Krieg eingebläut: Du brauchst immer einen Geh-zur-Hölle Plan. Mhm. Die beiden kommen nicht infrage, die muss ich aktualisieren. Aus der Nähe gehe ich nie für dreißig durch, das würde mehr Kosmetikarbeit erfordern, als ich schaffe. Okay. Dann die hier. Marilyn Grant aus Toledo Urb. Gut, dass ich sie schon am Abend vorher ausgewählt habe. Ich werde eine Dauerwelle brauchen und eine Tönung, die sich nicht gleich beim ersten Duschen wieder herausspült. Ups. Als Hobbys hat sie Akustikgitarre und Musik aus den Sechzigern. Kann ja heiter werden.

Ein paar Stunden später stand sie vor dem dreiteiligen Spiegel, rümpfte über den Chemikaliengeruch, der jetzt ihr Schlafzimmer erfüllte, leicht die Nase und sah sich das Ergebnis der vorgenommenen Veränderungen an. Warme braune Augen starrten sie an, die sie altmodischen Kontaktlinsen ohne Wirkung verdankte. Nicht ganz kastanienbraune Locken reichten ihr bis zu den Schultern. Sie hatte nicht viel abschneiden müssen, weil die Locken ja das Haar ein wenig kürzer gemacht hatten. Und richtig gebräunt war sie auch nicht, eher medium. Kurze Nägel an der linken Hand und etwas längere an der rechten, mit rosa Nagellack, der besonders Brünetten so schmeichelt. Die Zehennägel waren in einer anderen Rosaschattierung gehalten. Beide mit kleinen Fehlern an den Rändern, und sie würde auch ein wenig abspringen lassen und das dann im Laufe der nächsten paar Tage nicht sehr fachmännisch reparieren.

Sie zog die Bildausweise heraus und sah sich das Gesicht an, verglich es mit dem Spiegel. Ja, das habe ich mit Wangenpolstern gemacht. Ziemlich lästig eigentlich, aber wenigstens kann man heutzutage dauergewelltes Haar waschen. Ein dreifaches Hurra für die moderne Kosmetik. Aber stinken tut das Zeug immer noch. Ein kurzer Blick auf die Fensterscheiben, gegen die immer noch der Regen klatschte, und sie schüttelte den Kopf, öffnete die Tür zum Rest ihres Apartments und schnippte den Deckenventilator an. Das und der Ventilator im Bad, der nach draußen entlüftete, würden etwas helfen. Und im Übrigen hatte sie auch schon in schlimmerem Gestank geschlafen.

Cally sah zur Uhr hinüber. Noch nicht einmal neun. Zum Teufel, vielleicht gibt es eine Alternative. Sie rümpfte die Nase und sah in den Kleiderschrank. Touristenmäßig, touristenmäßig … blaues Hawaii-Hemd, weiße Caprihosen, weiße Sandalen, billiger Muschelschmuck, eben touristenmäßig. Perfekt.

Ein paar Straßen von der Market entfernt gab es ein wirklich gutes Seafood-Lokal — so gut, dass sie sich bewusst anstrengen musste, nicht zu oft hinzugehen, weil es dort zu viele Leute gab und sie darauf achten musste, nicht irgendwelche Verhaltensmuster erkennen zu lassen. Dass heute Abend irgendwelche Kadetten dort sein würden, war unwahrscheinlich — das war ganz entschieden eine schlechte Woche für Kadetten. Der perfekte Ort für Touristen.

Sie rief auf ihrem PDA die Lokalnachrichten für Toledo Urb aus den letzten zwei Wochen auf und schaltete auf Audio, während sie sich anzog. Sie würde — wie sie das immer tat — darauf achten, Ortsansässigen aus dem Weg zu gehen, aber für alle anderen war sie gesichert.

Im Bristol bestellte sie sich an der Bar einen tropischen Krabbensalat und eine extra große Mango Margarita; als sie gegessen hatte, saß sie dann immer wieder an ihrem Drink nippend da und hörte zu, wie der Barmusiker auf seiner Gitarre Jimmy Buffett massakrierte, hörte mit einem Ohr hin und belauschte mit dem anderen die übrigen Gäste.

»… und dann habe ich Tom gesagt, dass wir den Oktobertermin niemals schaffen, wenn er mir nicht zusätzliches Personal verschafft …«

»… manchmal denke ich mir, dass sie die Richtige ist, aber dann frage ich mich wieder …«

»… unglaublich, die Preise hier! In der Urb kostet wirklich nichts so viel … yeah, weiß ich schon, aber doch nicht so viel mehr, ich meine, schließlich ist das Meer hier ja gleich vor der Tür …«

»… endlich, endgültig, und ich weiß auch, dass ich mich jetzt eigentlich besser fühlen sollte und frei und alles das, aber manchmal komme ich mir wie ein richtiger Idiot vor, dass ich mich nie gefragt habe, weshalb sie eigentlich nie gemeckert hat, wenn ich wieder mit dem Boot hinaus musste …«

Bingo. Sie studierte unter halb geschlossenen Lidern den Typen, der mit dem Barkeeper redete. Um die vierzig, schütteres Haar — aber er trug es kurz und mit Würde -, nicht über die Glatze gekämmt und auch kein schlechtes Toupet. Man hätte das hinkriegen können, aber der Fischer konnte sich das entweder nicht leisten oder war ganz einfach nicht eitel. Nicht fett. Na ja, ein kleiner Bauchansatz, aber ohne Verjüngung war das ja kaum zu vermeiden. Sie sah Schultern und einen Bizeps, die auf ein Leben körperlicher Arbeit deuteten, sah die wettergegerbte Haut und entschied, dass sie schon Schlimmeres gesehen hatte. Ganz locker nahm sie ihr Glas und ging zu dem leeren Hocker neben ihm hinüber, bat den Barkeeper um ein Glas Wasser und ein Stück Key Lime Pie.

»Herrgott, das sieht aber süß aus«, sagte der Fischer nach einem Blick auf ihre Margarita und schüttelte sich, »und dazu essen Sie Kuchen?«

»Ja, ich bin eben eine Süße.« Sie grinste ihn an.

»Also, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber das sieht man Ihnen gar nicht an.« Er warf einen kurzen Blick auf ihre Taille, sah dann aber höflich gleich wieder weg.

Sie verzog das Gesicht, als der Typ mit der Gitarre — ihn als Musiker zu bezeichnen wäre wirklich übertrieben gewesen — schon wieder einen Akkord verpatzte, sah, wie der Fischer ebenfalls zusammenzuckte, und lachte.

»Da es also offenbar nicht die Musik ist, würde mich wirklich interessieren, was ein hübsches, junges Mädchen hierher führt und mit alten Knackern wie uns trinken lässt?« Er machte eine Handbewegung, die die ganze Bar einschloss. »Arbeitet Ihr Boyfriend etwa hier?«

»Hatten Sie je einen Abend, wo Sie einfach nicht allein sein wollten?«, fragte Cally mit einem sanften Lächeln.

»Was, heute Abend meinen Sie?« Er nahm einen langen Schluck aus seinem Bierglas und starrte ins Leere. »In letzter Zeit eigentlich immer.« Dann trank er aus und winkte dem Barkeeper nach einem frischen Bier. »Sie klingen auch nicht so, als ob Sie aus der Gegend kämen. Äh, entschuldigen Sie«, wischte er dann ihre Erklärung weg. »Ich bin bloß neugierig.«

»Nee, ist schon in Ordnung.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich heiße Marilyn, und Sie haben Recht. Ich bin nicht von hier. Ich bin auf Urlaub hier, aus Toledo.« Sie nippte an ihrer Margarita und sah weg. »Eigentlich wollte ich diese Reise mit meinem Verlobten machen, na ja, Ex-Verlobten, äh … aber es hat einfach nicht geklappt. Ich bin aber trotzdem gekommen, und jetzt frage ich mich, ob ich es nicht besser hätte bleiben lassen sollen.«

»Ja, ja, da will man richtig auf den Putz hauen, um zu zeigen, dass es nicht wehtut, aber dann merkt man plötzlich, dass man dafür überhaupt nicht in der Stimmung ist.« Er tastete in der Tasche nach einem Geldschein, um das Bier zu bezahlen, das der Barkeeper gerade brachte. »Ich schätze, von der Sorte gibt’s heute Abend ne ganze Menge.«

»Sie auch?« Cally nahm ein Stück von ihrem Kuchen und beobachtete ihn.

»Yeah, ich habe gerade eine Scheidung hinter mir.«


»Schlimm?«

»Das hätte sie werden können, wenn ich gewollt hätte. Ich hätte die Geschichte vor Gericht bringen können und dafür sorgen, dass sie nichts bekommt.« Er nahm wieder einen Schluck. »Sie hat Glück gehabt. Als ich in die Wohnung kam und, na ja, eben sah, was ich sah, hat mich das so angewidert, dass ich bloß so schnell wie möglich von ihr loskommen wollte.«

»Ja, das ist schlimm. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn da ein anderes Mädchen gewesen wäre. Ich war es bloß leid, dass wir ständig streiten. Er ist einer von den Leuten, die ständig und an allem etwas auszusetzen haben.«

»Dann sind Sie ja noch ganz gut weggekommen.«

»Na ja, Sie ja auch. Und ich bin hierher gekommen, um mich die ganze Woche zu amüsieren, und, na ja, wahrscheinlich ist das blöd, aber …« Sie redete nicht weiter und wandte sich wieder ihrem Kuchen zu. Offensichtlich hatte sie sich da jemanden herausgepickt, der an diesem Abend nichts anderes im Sinn hatte, als sich einfach voll laufen zu lassen. Keine gute Wahl. Eigentlich hätte ich’s wissen müssen.

Als der Barkeeper ihm dann später nichts mehr geben wollte, setzte sie ihn aus lauter sportlichem Ehrgeiz in ein Taxi nach Hause, ehe sie selbst zu ihrem Apartment zurückfuhr, um dort in den Dämpfen ihres Haarfärbemittels zu schlafen.


Chicago

Dienstag, 14. Mai


Die Empfangsdame sah verdammt gut aus. Nichts Besonderes in puncto Titten, aber ihr Gesicht haute einen um. Außerdem war es ja schließlich keine große Sache, sich die Titten richten zu lassen. Verdammt.

John Earl Bill Stuart, für Freunde wie Feinde einfach Johnny, stolzierte in dem Vorraum herum und tat so, als würde ihn der versnobte Kunstkram interessieren, der dort überall herumhing und stand. Falls irgendetwas davon echt war, musste das Zeug eine Stange gekostet haben. Aber das meiste davon waren vermutlich Reproduktionen, die bloß zur Angabe dienten. Und bei manchen Leuten funktionierte das auch, darauf würde er jede Wette eingehen. Der Ausblick hatte ihn mehr beeindruckt. Diese Terra Trade Holdings hatten das ganze Stockwerk, das unmittelbar unter dem obersten des alten Sears Tower. Die hatten ihm einen neuen Namen gegeben, aber es war trotzdem noch — oder wieder, je nachdem, wie man es betrachtete — das höchste Gebäude der Erde. Er wusste nicht, wer das oberste Stockwerk hatte, aber dort hatten inzwischen Touristen keinen Zugang mehr, und der Ausblick vom Stockwerk darunter war heutzutage für die meisten auch unerreichbar. Verdammte Aliens, aber so war das eben, und in Wirklichkeit unterschieden sich die gar nicht so sehr von den alten Konzernen, und die hatten wirklich ganz schön zugelangt, als die Aliens aufgetaucht waren, oder nicht? Bloß dass jetzt ganz oben andere Leute saßen.

Johnny hätte gern seine Kamera mitgebracht und für Mary Lynn ein paar Bilder geknipst, wo er nun schon einmal hier oben war, aber das wäre stillos gewesen, und er wusste, dass man bei solchen Meetings Stil zeigen musste. Bilder wären eine feine Sache gewesen, einfach um zu zeigen, dass er wirklich hier oben gewesen war, aber da war eben nichts zu machen.

»Der Tir kann Sie jetzt empfangen«, sagte das Mädchen so wie die Mädchen bei den Abendnachrichten. Kein Yankee-Akzent, wie man ihn hier in Chicago häufig hörte. Überhaupt kein Akzent. Eben klasse.

Das Eckbüro des Tir war geradezu kriminelle Verschwendung. Die beiden Fensterwände waren von schweren Vorhängen bedeckt; diese hüllten den Raum in düstere Schatten und versperrten jegliche Sicht nach draußen. Ein wenig erinnerte ihn das an den Typen, der das letzte Stück Hühnchen aus dem Korb nimmt, nicht etwa, weil er es haben will, sondern damit du es nicht bekommst. Aber das passte genau zu der Art und Weise, wie sein Arbeitgeber eben seine Geschäfte machte.

Bis dato hatte er noch nie einen Darhel zu Gesicht bekommen. Gewöhnlich hatte er über Worth berichtet, aber er hatte eine Kontaktnummer für den Notfall gehabt, und die hatte er angerufen, als sein unmittelbarer Vorgesetzter irgendwann zwischen Donnerstag und Montag letzter Woche vom Erdboden verschwunden war.

»Wir haben Ihre Nachricht empfangen.« Die Stimme war wunderschön. Hypnotisch. Fast wie Musik. Er hätte ihr den ganzen Tag lang zuhören können, aber Johnny war nicht das geworden, was er war, ohne zu lernen, wie man erkennt, wenn einer einen einseifen möchte. Er blinzelte in der schwachen Beleuchtung ein paarmal, während seine Augen sich den Lichtverhältnissen anpassten, und konnte jetzt die in einen Umhang gehüllte Gestalt hinter dem riesigen Schreibtisch ausmachen. Es sah so aus, als würde da etwas wie eine Schnauze, wie von einem Kojoten vielleicht oder von einem Fuchs, aus der Kapuze herausragen. Dann entdeckte er spitze, scharfe Zähne, die nicht so recht zu dem Teller voll Grünzeug passen wollten, der neben dem Schreibtisch stand. Verstreute kleine grüne Stückchen auf der Tischoberfläche vermittelten den Eindruck, dass der Alien nicht gerade die besten Tischmanieren hatte. »Ja, Euer Tir. Und Ihr Ruf hat mich erreicht. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind mit einigem Widerstreben zu dem Schluss gelangt, dass unser Juniorkollege, der Mensch Worth, ein Missgeschick erlitten hat. Damit ist eine gewisse Position frei geworden. Eine Position, die jemand mit Ihren Talenten möglicherweise ausfüllen könnte.«

»Sie meinen, Sie brauchen jemanden, der Ihre Hits koordiniert.«

»Wir brauchen jemanden, der uns Dienste bei der Bewältigung peinlicher Probleme leistet.« Die Stimme des Tir klang angespannt und jetzt eher ärgerlich als melodisch.

»Peinliche Probleme, etwa wie lästige Leute, die getötet und aus dem Weg geschafft werden müssen?«

»Das … das würde natürlich ganz bei Ihnen liegen«, quiekte der Alien. Scheiß Feigling.

»Richtig. Dazu würde ich eine Gehaltserhöhung brauchen. Das ist riskanter als das, was ich bisher getan habe.«

»Falls … falls Sie … nein, falls jemand in periodischen Abständen Kostenersatz für vernünftige Aufwendungen anfordern würde, Aufwendungen, die irgendwie bei irgendetwas angefallen sind, was in unserem Interesse liegt, würde man diesen Kostenersatz … anweisen.« Der Alien atmete tief und unregelmäßig, als würde es ihn schon belasten, diese Worte auch nur auszusprechen. Diese verdammten Elfenheineis waren alles Feiglinge. Deswegen mussten sie auch richtige Männer dazu anheuern, ihnen die Drecksarbeit zu erledigen. Johnny war keineswegs darüber erhaben, sich an den Aliens ein wenig zu rächen, indem er ihnen das auch hinrieb.

»Sie wollen also, wenn ich irgend so einen Mistkerl für Sie umgebracht habe, dass ich Ihnen dann sage, wie viel ich dem Typen bezahlt habe, und dann bezahlen Sie mich und legen meinen Anteil drauf. Sagen wir, fünfzehn Prozent.«

»Wir …«, der Alien verstummte mit einem quiekenden Laut, zitterte und war einen Augenblick lang stumm, ehe er es erneut versuchte. »Wir glauben, dass Sie nach … nach bestem Ermessen … handeln sollten und sind bereit, Ihnen für alle mit Dienstleistungen in Verbindung stehenden Spesen einen Aufschlag von sieben Prozent zu bezahlen.«

»Zehn.«

»Wie Sie sagen«, keuchte der Darhel und ließ sich einen Augenblick Zeit, bis er seinen Atem wieder unter Kontrolle hatte.

»Dann wäre das klar. Sie sagen mir, wer Ihnen im Wege ist, und ich schicke jemanden, der ihn platt macht. Danach kriege ich meine Prozente. So könnte das klappen.«

»Dieses … dieses Gespräch hat nie stattgefunden«, würgte der Alien heraus.

»Okay, Euer Tir. Johnny Stuart ist Ihr Mann.«

»Warten Sie.« Er brauchte noch ein paar Augenblicke, bis sein Atem wieder gleichmäßig ging. Nach ein paar endlosen Sekunden blickte er wieder auf und fixierte Johnny. Seine Stimme klang jetzt wie zuvor melodisch und beinahe wie eine Liebkosung.

»Das Problem mit den Menschen, Mr. Stuart, liegt darin, dass sie sich unglaublich schlecht darauf verstehen, gegenüber Höhergestellten die angemessenen Manieren an den Tag zu legen.« Er wandte sich an sein AID. »AID, Martin Simpson-Hologramm darstellen, volle Datei auf Mr. Stuarts AID downloaden.« Er blickte wieder auf und stellte bewusst erneut Augenkontakt her. »Mr. Simpson ist ein perfektes Beispiel für diesen Mangel an Manieren, und das ist nicht akzeptabel. In der Art und Weise, wie Sie das Problem erledigen, dürfen Sie zeigen, wie Sie unsere Übereinkunft verstanden haben. Sie dürfen jetzt gehen.«

»Ja, Sir, Euer Tir.« Er ging zur Tür hinaus und widerstand der Versuchung zu pfeifen. Verdammte Feiglinge, diese Aliens. Aber er lebte gut von ihnen. Wenn man viel Geld verdienen wollte, musste man für die Leute ganz oben arbeiten, und wenn es keine Leute waren, dann eben für das, was sonst dort war.

Sein AID, zugegebenermaßen ein verdammt brauchbares Ding, war als regulärer PDA getarnt und schien der Ansicht zu sein, dass es höchst komisch war, das Verhalten eines niedrigeren Geräts nachzuäffen. Johnny hatte kaum das Gebäude verlassen und war die Straße hinunter zur Parkstation gegangen, als es abwechselnd zu piepsen und zu vibrieren anfing.

»Was?«, fragte er das Ding gereizt. Maschinen sollten schließlich nicht versuchen, witzig zu sein.

»Der Tir weist Sie an, in Erfahrung zu bringen, was dem Menschen Worth widerfahren ist.«

»Geht klar, und jetzt halt die Klappe.« Nachdem er dem Parkwärter sein Ticket gegeben hatte, lehnte er sich an eine Stange und wartete, bis sie seinen Wagen brachten. Eine Beförderung und eine Gehaltserhöhung. Gar nicht so schlecht. Wirklich nicht schlecht. Bis jetzt hatte er Worth nicht sehr gemocht. Jetzt mochte er ihn ein ganzes Stück lieber.

»Oh, Leanne?«, fragte er das AID, »was heißt denn übrigens ›Manieren‹?«

»Manieren: Höflichkeit, die Einhaltung des korrekten Protokolls oder der richtigen Etikette«, sagte es.

»Okay. Und was hat Marvin Smith getan, dass der Tir so sauer auf ihn ist?«

»Martin Simpson. Angestellter von Terra Trade Holdings. Ich denke, das Vergehen bestand darin, dass er bei einer Mitarbeiterbesprechung einen Darhel-Witz erzählt hat.« Die Stimme des AID klang ungewöhnlich ausdruckslos.

»Herrgott im Himmel! Was für ein Witz war das denn?«

»Wie viele Darhel braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?« Die Stimme aus dem AID war die eines jungen Mannes, reiner Chicago-Dialekt. »Einundzwanzig. Einen, um die Birne zu wechseln, und zwanzig, die sich in der Ecke krümmen und schließlich sterben, weil sie so teuer war.«

»Okay.« Er schmunzelte. »Und was hat er sonst noch getan?«

»Nichts. Nun ja, er hat einmal einen Kugelschreiber aus dem Büro mit nach Hause genommen.«

»Und ich soll einen umbringen, weil er einen faulen Witz erzählt hat?« Plötzlich wurde er bleich. Armer Teufel. Aber immerhin, besser er als ich. Scheiße. Herr im Himmel, lass mich nie vergessen, dass ich mich nicht über einen Darhel lustig machen darf.

»Das wäre eine Interpretation, die im Einklang mit der Forderung des Tir steht.«

»Yeah. Okay. Er ist der Chef. Danke, Leanne.« Und ich hoffe, du berichtest deinem echten Chef bald über diese höfliche Antwort, du dreckiger Spitzel.


Charleston

Dienstag, 14. Mai


Cally verbrachte den Dienstagmorgen mit Besorgungen für die bevorstehende Reise. Der Großteil der Fischereiprodukte, die ins Landesinnere geliefert wurden, trat die Reise entweder in gefrorenem Zustand oder in Konservendosen aus der großen Fabrik von Greer’s an. Und dann gab es da noch eine kleine Flotte von Lieferwagen, die die Restaurants der gehobenen Einkommensklassen, die Wert auf wirklich frische Produkte legten, mit lebend frischen Delikatessen wie frischen Krabben, Jakobsmuscheln und Austern versorgte. Dieser Handel war nur aufgrund monopolistischer Preisgestaltung einigermaßen erträglich und stellte im formalen Sinn einen Verstoß gegen die Lebensmittelnotverordnungen dar. Dennoch überlebte dieser Handel, ja gedieh sogar, weil die Bundesinspektoren ebenso gern wie so mancher andere Feinschmecker gelegentlich frisches Seafood aßen. Ihr Anteil verteuerte die Ware auch nicht stärker, als die vor dem Krieg üblichen Gesundheitsinspektion zum Preis beigetragen hatte, und die Fahrzeuge, in denen die Waren befördert wurden, boten ideale Möglichkeiten, anonym zu reisen.

Sie hätte den Bus nehmen können, aber der mittlere Sitz in einem Lieferwagen für lebende Krabben war nicht nur diskreter, sondern würde auch billiger sein, ganz besonders für jemand, der jung, hübsch und freundlich war. Nicht dass Geld ein Problem gewesen wäre, es lieferte nur einen guten Vorwand dafür, einem von Fischgeruch durchtränkten Lieferwagen den Vorzug vor dem Bus zu geben.

Die leuchtend bunten neuen Strand-T-Shirts und ein paar grell bunte Souvenirs ergänzten das Bild einer jungen Studentin vom Festland, die im Urlaub zu viel Geld ausgegeben hatte.

Nach dem Mittagessen fand sie eine Telefonzelle und wählte dort die Nummer, die Shari ihr gegeben hatte.

Am anderen Ende wurde beim ersten Klingeln abgehoben. »Cally?«

»Hi, Grandpa.«

»Du bist ein wenig spät dran«, kritisierte er. »Nicht gleich ein Telefon gefunden?«

»Ich spät dran?«, stieß sie hervor. »Yeah, fünf Minuten, nicht drei Stunden und fünfundvierzig Minuten.«

»Äh … na ja.« Er räusperte sich und blieb dann ein paar Augenblicke stumm. »Wir hatten keine Ahnung, dass die verdammten Elfen ihren Menschen die Art von Störgeräten verpasst hatten. Ich weiß, dass er sich bei der Befragung dazu ziemlich bescheiden geäußert hat, aber der Algorithmus, den unser größter Freund per Improvisation entwickelt hat, um die falschen Bilder auszufiltern, war in Wirklichkeit geradezu genial — bis wir den hatten, hättest du irgendwo in der Stadt sein können. Du hättest uns gefunden, ehe wir dich gefunden haben. Falls es ein Trost ist: Du hast geradezu brillant improvisiert.«

»Damit verdiene ich mir eben meinen Lebensunterhalt. Worüber wolltest du denn mit mir sprechen? Und warum ausgerechnet am Telefon?«

»Na ja, die Leute benutzen die Dinger schließlich immer noch, weißt du«, meinte er. »Das ist nach wie vor die meist verbreitete Art, über größere Distanz zu reden.«

»Aber verdammt unsicher. Und jetzt hör auf, um den heißen Brei rumzureden, Grandpa, was gibt’s?« Dann fügte sie argwöhnisch hinzu: »Das hat doch nicht etwa damit zu tun, dass Wendy und Shari mir so zugesetzt haben und mich verkuppeln wollen, oder?«

»Na ja, genau genommen …« Er hielt inne und fing dann von vorne an. »Ich denke, es ist ja nichts daran auszusetzen, wenn ich noch ein paar Urenkel erleben möchte, bevor ich sterbe.«

»Sprich mit Michelle.«

»Du weißt verdammt gut, weshalb ich das nicht kann.« Er seufzte. »Ich weiß einfach nicht, worin das Problem liegt. Eine Weile habe ich gedacht, wenn ich einfach bloß warte … und du scheinst ja Kinder zu mögen. Honey, ich habe nicht mehr so schrecklich viel Zeit.«

»Nun, da kann ich nur sagen, es tut mir Leid.« Sie klang eher, als wäre sie indigniert und nicht so sehr, als ob es ihr Leid tun würde, »aber ich habe einfach nicht den richtigen Mann gefunden. Dafür habe ich einen Job, einen recht wichtigen sogar, den nicht jeder machen könnte. Und auf den verstehe ich mich verdammt gut.«

»Ein Job ist doch kein Ersatz für ein Leben!« Sie konnte hören, wie er tief durchatmete und dann seufzte. »Dieser Job frisst dich auf, und er ist auch nicht gut für dich. Dort draußen gibt es eine Menge guter Männer und auch viele Orte, wo man sie kennen lernen kann, nicht bloß Bars.«

»Jetzt Augenblick mal, ich mag vielleicht aussehen wie zwanzig, aber ich …«

»Cally, ich will mich nicht mit dir streiten«, fiel er ihr ins Wort. »Ich weiß, dass du eine erwachsene Frau bist. Denk einfach darüber nach, ja?«

»Okay, meinetwegen.« Sie holte tief Luft und ließ den Atem dann langsam entweichen. »Damit du’s nur weißt, ich nehme gerade eine Woche Urlaub. Ich habe die Unterlagen für unseren nächsten Einsatz, darf aber nichts darüber sagen. Nach meiner Reise werden wir jedoch mehr als genug Zeit haben, um das alles auf die Reihe zu kriegen. Du solltest alle zusammentrommeln, und wir treffen uns dann am dreiundzwanzigsten um zwanzig Uhr auf der Windfarm. Ich melde mich wieder, okay?«

»Urlaub? Wird auch langsam Zeit. Wohin geht’s denn?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich werde das von Tag zu Tag unterwegs tun«, meinte sie. »Wenn ich alles planen müsste, wäre es kein Urlaub. Geht das klar mit unserem Treffen?«

»Ja, ja, zwanzig Uhr, dreiundzwanzigster. Du wirst mir also wirklich nicht sagen, wo du hingehst, wie?« Er klang leicht verstimmt.

»Nee. Alles Liebe, Grandpa. Wiedersehen.«

Sie legte auf und grinste das Telefon ein paar Augenblicke lang an, ehe sie ihre Taschen vom Gehsteig aufhob und sie zum Wagen trug. Einen Augenblick lang wirkten ihre Züge angespannt. Okay, dann ist’s eben ein Arbeitsurlaub. Ich kann einfach nicht glauben, dass die diesen Mistkerl geschützt haben. Verdammt, doch, ja, ich kann es. Beschissene Pragmatiker. Okay, ich bin ja auch keine Idealistin mit verträumten Augen, aber gewisse Maßstäbe muss es doch geben.

Den Rest des Nachmittags und Abends verbrachte sie damit, die öffentlichen Unterlagen von Sinda Makepeace zu knacken — Führerschein, Kreditkarten, Einkaufskarten, die Grundbucheintragungen für ihren Apartmentblock, Spuren im Internet. Jay und Tommy würden das nächste Woche sehr viel gründlicher machen, aber da sie sie jetzt noch nicht informieren durfte, würde sie sich auf die Weise wenigstens einen kleinen Vorsprung verschaffen.

Nach zwei Stunden, in denen der Buckley Musteranalysen durchlaufen ließ, hatte sie ein vorläufiges Profil, um anfangen zu können, die Rolle aufzubauen.

»Meinst du, du könntest einen kompletten Backup für mich vornehmen, ehe wir auf diesen Einsatz gehen? Gibt schließlich keinen Grund, dass wir beide sterben, oder?«

»Halt die Klappe, Buckley.«

»Geht in Ordnung.«

Dann kamen die Vorbereitungen für ihren Urlaubseinsatz. Die Zielperson war keine große Nummer, also sollte das nicht schwer fallen, aber Cally war beim Vorbereiten eines Einsatzes gewohnheitsmäßig gründlich. Das war auch der entscheidende Grund dafür, dass sie noch am Leben war.

Da sie sich Petanes Gesichtszüge schon vor Jahren eingeprägt hatte, als sie noch jung und eifrig und davon überzeugt war, dass man sie für diesen Einsatz einteilen würde, reichte eine leichte Selbsthypnose, um die Einzelheiten wieder an die Oberfläche zurückzubefördern. Es war natürlich möglich, dass man ihn verändert hatte, aber in dem Fall hätte Robertson das ja wahrscheinlich gesagt. Immer vorausgesetzt, dass Robertson mir die Wahrheit sagt und nicht sein eigenes Spiel spielt.

Eine 3D-Gesichtsmodellierungsanwendung ermöglichte es ihr, ihr Gesicht in eine Form zu bringen, mit der das System etwas anfangen konnte. Und dann war es nur noch ein einfacher Hackvorgang, die Kameraaufzeichnungen für die Geldautomaten Chicagos zu downloaden und eine weitere kleine Anwendung, um die Bilder nach Übereinstimmungen durchsuchen zu lassen. Normalerweise hätte sie die Hackerei in den Banken Jay überlassen, aber sie war schließlich nicht seit über dreißig Jahren in diesem Geschäft, ohne dabei ein paar Tricks außerhalb ihrer eigenen Spezialitäten gelernt zu haben. Klar, beim ersten Durchgang bekam sie eine ganze Menge falscher Positivmeldungen, aber bereits beim ersten Dutzend konnte sie einen echten Treffer registrieren, ihn durch die Anwendung schicken, ihn modifizieren und erneut durchlaufen lassen. Damit konnte sie die Hälfte der Treffer eliminieren. Als sie die dann nach ein paar weiteren positiven durchsuchte und die Anwendung erneut verfeinerte, brachte sie das auf etwa zweihundert echte positive, aus denen sie manuell eine Hand voll falscher und zweifelhafter aussortierte. Die lud sie in ihre Datenbasis, ließ eine dritte Anwendung laufen und forderte den Buckley auf, von einem üblichen Terminplan Montag bis Freitag auszugehen, seine Arbeit auf eine vermutliche Zone von ein paar Häuserblocks und sein Zuhause auf eine von zwei möglichen Adressen zu lokalisieren. Bei einer davon handelte es sich vermutlich um die Adresse einer Freundin. Nach einem schnellen Blick auf eine Landkarte entschied sie sich für den Fleet Strike Tower als die vermutliche Arbeitsstelle. Na ja, dann hat Robertson in dem Punkt zumindest die Wahrheit gesagt. Für mich sieht das jedenfalls nicht so aus, als ob der Kotzbrocken tot wäre. Aber das lässt sich ändern. Ich hätte ja gute Lust, seine Konten zu knacken, um ein komplettes Profil zu bekommen, aber das Risiko, dabei Spuren zu hinterlassen, ist viel zu groß. Mir wäre es wirklich lieber, wenn meine Oberen sich an die Idee gewöhnen könnten, dass Petane tot ist, bevor ich mich zu dem Hit bekenne. Falls ich das je tue. Mhm. Wenn das nicht interessant ist! Die haben den nie von der Zieleliste genommen — und ihn nur automatisch als inaktiv markiert, als er als tot eingetragen wurde. Sie entschied sich für Risiko und hackte die Nummernschilderdatenbasis von Illinois, um Marke, Modelljahr und Zulassungsnummer seines Autos zu bekommen, und lud dann die Ergebnisse der Analyse und die sonstigen Daten auf einen Würfel, den sie so einstellte, dass er sich nicht nach dem ersten Lesen selbst löschte. Das war ein kalkuliertes Risiko, aber wenn es wirklich ernst wurde, würde ihre eigene Magensäure den Würfel ebenso wirksam zerstören wie das sonst eher übliche Glas Essig.

»Gratuliere! Wirklich einmal eine kreative neue Art sicherzustellen, dass wir beide umgebracht werden. Hast du je die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass das wirklich keine so gute Idee sein könnte?«

»Klappe halten, Buckley.«

»Geht in Ordnung.«


Unter einem Kornfeld in Indiana

Mittwoch, 15. Mai


Indowy-Wohnungen waren etwa ein Viertel so groß wie die normaler menschlicher Wesen. Das lag nicht einmal daran, dass sie Platzangst gehabt hätten. Es kam einfach daher, dass sie sich in Gruppen viel sicherer fühlten. Trotzdem hatte Aelool das Opfer gebracht, sich ein Zimmer für sich allein zu nehmen, weil er gelegentlich Menschen zu sich einladen musste. Selbst auf Chicago Basis zogen die meisten Indowy es vor, sich lieber nicht mit Fleischfressern einzulassen, wenn das Zusammentreffen nicht unbedingt notwendig war. Davon waren nur die wenigen Menschenkinder ausgenommen, die in Sohon als Lehrlinge tätig waren und deren Familien man unter den Bane Sidhe speziell auf ihre Anpassungsfähigkeit hin ausgewählt hatte. Diese Menschenkinder waren Vegetarier. Dass sie als Teil einer Spezies zur Welt gekommen waren, die bis jetzt ihre fleischfresserischen Wurzeln noch nicht ganz aufgegeben hatte, war ja nicht gerade ihre Schuld.

Seine Einzelwohnung schien auch für menschliche Besucher bequemer zu sein, die sich gewöhnlich zu zweit oder in kleinen Gruppen wohl fühlten, aber unglücklicherweise auf größere Ansammlungen negativ reagierten. Die wenigen Wissenschaftler, die die Geschichte der Menschen trotz einer natürlichen Abneigung für dieses von Gewalt durchsetzte Thema studiert hatten, waren, nachdem sie das Verhalten von Menschen in größeren Ansammlungen ihrer eigenen Spezies im Laufe ihrer Geschichte studiert hatten, zu etwa gleichen Teilen geteilter Meinung darüber, ob die Menschen nun pathologische Einzelgänger oder versteckte Xenophoben waren. Er neigte der ersten Hypothese zu und verhielt sich auch dementsprechend. Für ihn hatte das bisher gut funktioniert. Ehrlich, solange man dafür sorgte, dass sie nicht in ein zu dichtes Gedränge kamen, waren viele Menschen im Grunde genommen gar nicht so übel.

Im Augenblick bereitete er sich auf seinen häufigsten Besucher vor, Nathan O’Reilly, dem man die Sorge für die Hauptbasis der Bane-Sidhe-Operationen auf der Erde anvertraut hatte. Obwohl die Informationsgewinnung und auch andere Operationen am besten mit einem Zellensystem funktionierten, ließ sich doch eine gewisse Bürokratie nicht ganz vermeiden, sobald man ein gewisses Niveau der Komplexität überschritten hatte. O’Reillys ganz spezielle philosophische Disziplin erforderte es, dass er sich nicht verheiratete und auch keinen Nachwuchs hatte, und demzufolge verfügte er auch nicht über einen nennenswerten Clan, aber seine Position und seine hohe Bildung setzten ihn mit einer Art hochrangigem Ältesten gleich. Aelool empfand großen Respekt für den Monsignore. Sie teilten eine Leidenschaft für Logikspiele, und Father O’Reilly hatte ihn mit dem Schachspiel vertraut gemacht. Es ganz zu meistern würde zumindest ein Jahrhundert in Anspruch nehmen. Vielleicht würde er sich dann für den Gefallen revanchieren und seinen Freund Aethal lehren können.

Die angemessene Gastfreundschaft gegenüber menschlichen Besuchern erforderte die rituelle Zubereitung einer Bohnenbrühe, die bei dieser Spezies in hohem Ansehen stand. Er hatte diese Kunst vom besten Experten gelernt, den er hatte ausfindig machen können. Ein perfekt sauberer Topf und die entsprechende Apparatur, eine winzige Prise Salz, dann die im Handel erhältlichen getrockneten und vorgerösteten Bohnen durch ein grobes Mahlwerk treiben, dazu Quellwasser aus Flaschen, dann die einzelnen Komponenten an den jeweils richtigen Stellen in die Maschine eingeben, und die Suppe wurde jedes Mal perfekt zubereitet. Er konnte nicht verstehen, wie es eine Saison für Wasser geben konnte, aber wenn er es bestellte, wussten die immer, was er meinte, und deshalb legte er sich auch nicht mit ihnen an.

Aelool hatte gelernt, dass manche Schachspiele abstrakter als andere waren. Dasjenige, das er gewählt hatte, hatte Holzfiguren, die äußerst fein geschnitzt waren. Das Pferd gefiel ihm besonders. Er war einige Male Pferden begegnet. Sie waren nicht gerade vernunftbegabt, aber dennoch hätte er gern einmal eines in seiner Wohnungsgruppe gehabt, falls man sie klein genug züchten konnte.

Nachdem er alles für seinen Gast bereit gemacht hatte, saß er ein paar Minuten still da und arbeitete an der Konstruktion seines neuesten Projekts. Als das Licht leicht ins Gelbe umschlug und damit das Eintreffen des Gelehrten ankündigte, legte er das Projekt still beiseite und drückte den Knopf der Sprechanlage.

»Es ist offen«, sagte er.

»Aelool, wie geht es Ihnen heute Nachmittag?«

»Gut«, erwiderte er in dem rituellen Gruß. »Darf ich Ihnen Kaffee anbieten?«

»Ja, bitte. Schwarz.«

Der Indowy stellte eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser mit einer Olive auf das Tablett. Tatsächlich war der Kaffee nicht schwarz. Er war dunkelbraun. Und wenn man mit Fett und Nährstoffen angereicherten Säugetierschweiß hinzufügte, machte ihn das nicht weiß, sondern eher hellbraun. Aber er hatte sich daran gewöhnt, dass Menschen in solchen Dingen zu übertreiben pflegten.

Sie begannen ihr Schachspiel. Er hatte Weiß — was in seinem Fall tatsächlich weiß war -, also eröffnete er das Spiel. Zurzeit war er dabei, Variationen der Turmeröffnung zu lernen. Während sie spielten, brachte O’Reilly ihn auf den neuesten Stand hinsichtlich der Erdoperationen.

»Denen wird es nicht leicht fallen, Worth zu ersetzen. Die meisten Kampfveteranen, die sie haben, sind es gewöhnt, Posleen zu töten, nicht Mitmenschen. Zugegeben, sie verfügen immer noch über die Profis, die er rekrutiert und ausgebildet hat, aber die Darhel haben schon immer mehr dazu geneigt, sich ihre Erkenntnisse durch Hacken und durch gründliches Aktenstudium zu beschaffen und sich weniger auf wirklich vernunftbegabte Agenten oder Einsatzspezialisten zu stützen. Ihre Ausbildungssysteme sind schwach, und jeder Verlust tut ihnen weh.«

»Die undichte Stelle macht mir mehr Sorgen. Wir brauchen Tarnung. Der Plan ist sehr langfristig angelegt, und wenn er vorzeitig bekannt würde, könnte ihn das zum Scheitern bringen.«

»Team Isaac hat eine beeindruckende Erfolgsrate.«

»Dann kann man ihnen nur Glück wünschen.«

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