Donnerstag, 13. Juni
Eine Woche später — sie hatte inzwischen dreimal mit dem General geschlafen, aber keine weiteren brauchbaren Informationen erhalten, und die Umgebung seines Büros gründlich, aber ohne Erfolg durchsucht — konnte Cally sich nicht länger der Erkenntnis verschließen, dass es Zeit für Plan B war. Die Bereiche, zu denen sie keinen Zugang hatte, verfügten über wirksame Sicherheitsvorkehrungen, die auch ihrem von Tommy beschafften Spezialgerät widerstanden hatten, als sie einmal das Glück gehabt hatte, außer Sichtweite eines Militärpolizisten an dem Schloss hantieren zu können.
Allerdings hatte sie es geschafft, die Akte mit den Zugangsberechtigungen auf einen Würfel zu kopieren, und nachdem sie den an Tommy weitergeleitet hatte, hatte ihr der die interessante Information geliefert, dass zwar sie zu diesen Räumen keine Zugangsbefugnis hatte, wohl aber der Adjutant des Generals, Pryce. Und das führte dazu, dass sie beim Sortieren der morgendlichen E-Mail-Ausdrucke für Beed über die ihr gar nicht so unsympathische Alternative nachdachte, Plan B in die Tat umzusetzen. Ganz und gar nicht unsympathisch.
Sich an Pryce heranzumachen würde freilich durch Beeds widerwärtige, ständige Kontrollen erschwert werden, eine Angewohnheit, die sich in den letzten Tagen bei ihm eher noch verstärkt hatte. Trotzdem würde ihr dabei auch einiges zustatten kommen. Zuallererst die Tatsache, dass der General offenbar nichts dagegen einzuwenden hatte, wenn sein Adjutant mit ihr Kontakt hatte, wohingegen er bezüglich anderer Männer geradezu eifersüchtig darüber wachte, sie nicht mit ihnen allein zu lassen. Ob dies nun Pryces niedrigem Rang zuzuschreiben war oder der Tatsache, dass seine schreckliche Tollpatschigkeit und sein Stottern sich in Anwesenheit des Generals eher noch verstärkten, jedenfalls schien Beed ihm gegenüber so etwas wie einen blinden Fleck zu haben. Und sie war natürlich fest entschlossen, durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit diese Tendenz noch zu fördern.
»Guten Morgen, Sir« begrüßte sie ihn vergnügt, als sie in sein Büro tänzelte, den Stapel Ausdrucke in seinen Eingangskorb legte und dafür einen etwa vier Zentimeter dicken Papierstapel aus dem Ausgangskorb nahm.
»Kommen Sie einen Moment her, Sinda, ich muss Ihnen da etwas zeigen.« Er winkte sie auf seine Seite des Schreibtischs und nutzte den Korrekturabzug, den er in der Hand hielt, als fadenscheinigen Vorwand, sie nahe genug heranzuholen, um ihre linke Brust zu begrapschen. Sie gaukelte ihm mit einem affektierten Stöhnen Erregung vor.
»Ja, Sir, ich werde mich sofort darum kümmern, Sir.«
»Oh, und eines noch, Sinda«, seufzte er, »wir werden uns leider heute Abend nicht sehen können. Clarice hat eine Einladung zum Abendessen geplant und besteht darauf, dass ich teilnehme.«
»Oh.« Sie sah ihn betrübt an. »Na ja, ich habe einen Würfel mit Filmen, die ich mir ansehen wollte, und ein paar Fertigmahlzeiten, da werde ich mir einfach einen ruhigen Abend machen, Sir.« Für den befriedigten Blick, den ihr das eintrug, hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt. Sie nahm nicht an, dass er ihr das angemerkt hatte, wandte sich aber trotzdem ab und nahm den Stapel Papiere mit hinaus. So unpassend wäre das im Übrigen auch gar nicht gewesen, denn wahrscheinlich wäre die echte Sinda auch sauer gewesen.
Später kam Pryce mit einem Notizblock herein und ließ sich auf ihrer Schreibtischkante nieder. Dabei stieß er einen Heftapparat und einen Klammernspender herunter.
»Die hebe ich beim Hinausgehen auf. Hat der General Ihnen etwas von seiner Rede gesagt?«, fragte er.
»Rede?«, wiederholte sie.
»Ja, das Abendessen heute Abend ist ein wenig mehr, als er Ihnen gegenüber vielleicht erwähnt hat. Seine Frau versucht, auf dem Stützpunkt einen Toastmasters-Abend zu organisieren, und hat sich dazu mit der Frau von General Harrison zusammengetan. Ich habe jedenfalls den Entwurf hier. Es wäre nett, wenn Sie mir ein wenig helfen könnten. Vier Augen sehen schließlich mehr als zwei. Ich denke dabei hauptsächlich an Grammatik.«
»Aber gern.« Sie nahm den Block von ihm entgegen. »Das gibt wohl wieder einen heißen Abend für Sie, was?«
»Eigentlich nicht. Wir hatten das Nebenzimmer im Offiziersclub gebucht, aber nach dem Küchenbrand letzte Woche, na ja, die Rauchschäden sind ziemlich schlimm. Also musste ich in letzter Minute im Cherry Blossoms buchen, und dann fehlten uns zwei Plätze, worauf Colonel Lee und ich großzügigerweise das Opfer gebracht haben, auf dieses Vergnügen zu verzichten.« Er grinste verschmitzt. »Sie können sich ja vorstellen, dass ich total am Boden zerstört bin.«
»Das kann man erkennen, Pryce.« Ihre Mundwinkel zuckten leicht, und ihre Augen tanzten. »Also heute Abend keine Schnittchen. Was fangen Sie da bloß mit Ihrer Zeit an, Pryce?«
Seine Augen suchten die ihren — da war er plötzlich wieder, dieser wissende Blick — seine Augen waren wirklich dunkel -, und sie spürte ein Kribbeln im Magen. Sie rutschte auf ihrem Stuhl etwas zur Seite und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah, wie sein Blick kurz zu ihrer Brust wanderte und dann wieder zu ihren Augen zurück, fast als hätte er eigentlich gar nicht hinsehen wollen.
»Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie das wollen, Captain? Ich bin kein General. Und ganz entschieden nicht General Beed.«
»Äh … wollen?«, stieß sie hervor. War das ich? Na großartig, Cally, du klingst jetzt echt wie ein vollendeter Idiot.
»Ähem. Ich meine, ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Pryce, aber bei all dem Papierkrieg hier, ich meine, ich habe allein ein halbes Dutzend Versetzungen zu erledigen. Und wahrscheinlich werde ich allein den ganzen Nachmittag dazu brauchen, um die Soldsache von Simkovitsch hinzubekommen. Ich denke, ich werde heute Abend ziemlich lange zu tun haben.« Sie merkte selbst, dass sie angefangen hatte zu plappern, aber ihr Mund schien wie von selbst auf Hochtouren zu laufen, was durchaus zu Sinda passte, und deshalb tat sie es vermutlich. Sie zuckte bei dem leichten elektrischen Schlag zusammen, der sie durchlief, als seine Hand die ihre berührte.
»W-w-wissen Sie, mir ist plötzlich eingefallen, dass ich auch eine ganze Menge Papierkram zu erledigen habe.«
Als Beed schließlich mit seiner Rede in der Hand das Büro verließ, war Cally mit dem Großteil ihrer Arbeit fertig. Er hatte ihr natürlich in letzter Minute eine ganze Ladung weiterer Aufträge erteilt. Dachte er wenigstens. Das meiste davon hatte sie bereits vorhergeahnt. Üblicherweise wählte er für diese Extraaufträge Arbeiten aus, die ohnehin erledigt werden mussten, wenn auch später, und ließ sich dann Gründe einfallen, weshalb er die Ergebnisse unbedingt gleich morgen früh haben musste. Wenn sie tatsächlich gewartet hätte, bis er ihr den Auftrag erteilt hatte, nämlich um siebzehn Uhr dreißig, hätte sie noch gute drei Stunden zu tun gehabt. So war höchstens noch eine halbe Stunde Arbeit übrig, als er zur Tür hinausstolzierte und die entsprechenden Akten in einer Art künstlerischen Unordnung auf ihren Schreibtisch drapierte. Arschloch.
Um sechs fünfzehn ging sie zum Kopierer und zählte die noch in ihrem Büro befindlichen Mitarbeiter. Anders war so gut wie weg, Carlucci und Sanchez saßen noch an ihren Schreibtischen.
Als sie auf dem Rückweg an Pryces Büro vorbeikam und er kurz zu ihr aufblickte, fragte sie sich, ob er wirklich arbeitete oder ähnlich ihr nur so tat.
Um sechs fünfundvierzig musste sie an sich halten, um nicht Däumchen zu drehen. Sie ging erneut zum Kopierer und stellte befriedigt fest, dass die beiden Agenten endlich das Büro verlassen hatten. Wenigstens hoffte sie das.
»Buckley«, flüsterte sie, »lausche eine Minute und sage mir dann, ob du außer mir und Pryce noch jemanden im Bürobereich hörst.« Sie war ein paar Sekunden ganz leise, atmete auch kaum hörbar.
»Nein, Captain. Die haben sich zu gut versteckt, als dass ich sie hören könnte. Die müssen wirklich gut sein. Vielleicht werden wir schnell sterben.«
»Okay, du darfst jetzt die Klappe halten, Buckley. Und hör auf zu lauschen.« Okay, sie wusste natürlich, dass es bloß ein Computerprogramm war. Trotzdem wollte sie nicht, dass es sie belauschte, während sie mit Pryce zusammen war. Das wäre ihr unheimlich gewesen.
»Aber was ist, wenn ich höre, wie die sich an uns anschleichen?«
»Halt die Klappe und hör auf zu lauschen, Buckley.«
»Geht in Ordnung.«
»Wissen Sie, dass es inzwischen Zusatzprogramme mit Persönlichkeitsüberlagerung gibt, um die deprimierenden Gewohnheiten dieser Standard-Buckleys zu beseitigen?« Pryce war hinter sie getreten, und sie zuckte zusammen, ehe sie sich zu ihm umdrehte.
»Lassen Sie das gefälligst! Sie haben mir Todesangst eingejagt.« Sie hatte sich mit der Hand an die Brust gegriffen und erstarrte einen Augenblick lang. Seine Augen waren groß und dunkel, und plötzlich war ihr klar, was damit gemeint war, wenn es hieß, man könne jemanden in die Seele sehen. Konnte er in die ihre sehen? Und wenn er das konnte, würde er dann bleiben? Ihr wurde bewusst, dass ihr der Mund halb offen stand, und sie klappte ihn zu, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und spielte mit einer Haarsträhne.
Dann trat sie ganz bewusst einen Schritt vor und drückte sich mit dem ganzen Körper an ihn. Es war, als würde sie ein unter Strom stehendes Kabel berühren. Als er ihren Mund ungestüm an den seinen heranzog, konnte sie durch ihre Seidenuniform seine heißen Schenkel spüren. Sie waren hart und angespannt, und als sie mit der Wade außen an seinem Bein hochfuhr und sich noch fester an ihn drückte, war sie zum ersten Mal froh darüber, dass Sinda nicht gerade schlank war. Sie spürte seine Rückenmuskeln unter ihren Händen. Sein Mund schmeckte nach Zimt, als ob er gerade Gummi gekaut hätte, und die Knie versagten ihr den Dienst, als seine Zunge, seine Zähne und seine Lippen schließlich den Kommentar abschalteten, der immer noch in ihrem Gehirn ablief, und sie sich alle Mühe gab, sich noch enger an ihn zu schmiegen. Kleider. Im Weg, verdammt. Geduld? Wieso Geduld. Zum Teufel mit Geduld.
Nachher zuckte er zusammen, als er sich von ihr löste, damit sie von dem Schreibtisch herunterkonnte.
»Alles in Ordnung?« Dem Himmel sei Dank, dass da eine Schachtel mit Papiertüchern auf dem Tisch war, na ja, jetzt eben auf dem Boden. Sie schlüpfte wieder in ihren BH und zog sich die Seidenkombination zurecht. Dem Himmel sei Dank für Material, das nicht knitterte, unter keinen Umständen knitterte.
»Wo du mich da gebissen hast, tut es weh.« Er rieb sich an rotes Mal an der Schulter.
»Tut mir Leid.«
»Hey, nicht, dass ich es nicht bemerkt hätte. Ich meine, natürlich habe ich es bemerkt, aber es war nicht … es hat nicht … war schon in Ordnung. Herrgott, was rede ich da? Sinda, danke, du hast mich … richtig fertig gemacht. Wow.«
»Mhm. Du auch. Wow ist genau richtig. Einverstanden, wenn ich jetzt gar nicht versuche nachzudenken oder so? Herrgott, hat das gut getan.« Sie musste die Hand loslassen, an die sie sich geklammert hatte, damit auch er seine Uniform in Ordnung bringen konnte, aber er gab sie ihr gleich wieder zurück.
Dann musste sie ihn ein paar Minuten loslassen, als sie den Stapel Papier und anderen Bürokram, der auf dem Boden gelandet war, aufheben mussten, aber als er sich bückte, um einen Klammernentferner aufzuheben, nutzte sie die Gelegenheit, ihn in den Hintern zu kneifen. Das war … nett. Gewöhnlich war ihr nach dem Sex gar nicht so nach Kuscheln zumute. Irgendwie war das cool. Als sie dann beide wieder standen, schlang sie von hinten die Arme um ihn und rieb sich an ihm wie eine Katze. Herrgott, er riecht so gut. So … männlich … o Gott, ich muss weg von ihm. Sonst bin ich bloß enttäuscht. Das wird schon eine Weile dauern, bis er wieder kann.
»Wie ist’s, möchtest du etwas essen?« Sie löste sich von ihm, obwohl es sie Mühe kostete.
»Ich habe heute Nachmittag ein paar Fertiggerichte reingeschmuggelt, solche zum Aufheizen. Draußen darf man uns ja wirklich nicht sehen«, sagte er, Nachsicht heischend, und sah sie an, als wüsste er, wie aufgeputscht sie immer noch war. »Aber das hat auch seine Vorteile. Sobald wir ein wenig gegessen haben und wieder zu Kräften gekommen sind, sind wir immer noch allein.«
Seine Augen waren so tief, dass sie das Gefühl hatte, sie müsse gleich dort, wo sie gerade stand, zu einer Pfütze schmelzen.
»Komm, ich habe die Sachen in meinem Büro«, sagte er.
Sie zog ihren Stuhl heran, während er die Schachteln aus seinem Schreibtisch holte und an den Tabs zog.
»Weißt du, wir müssen die Schachteln dann wieder hinausschmuggeln. Beed ist argwöhnisch und eifersüchtig und tut so, als wäre ich sein Eigentum …« Sie verstummte, als er ihr den Finger auf die Lippen legte.
»Wir werden uns den Abend nicht von dem Ekel verpatzen lassen. Also, möchtest du süß-saure Shrimps oder Cashew-Hühnchen?«
»Mmm, ich liebe Seafood. Kann ich die Shrimps haben?« Sie leckte sich über die Lippen.
»Aber sicher.« Er reichte ihr eine der Packungen. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis sie sie öffnen konnte. »Das muss aber hart für dich gewesen sein, als Kind. Ich meine, ein Mädchen von einer Farm in Wisconsin, das gern Meeresfrüchte isst.«
»Eigentlich nicht. Wenn man etwas nicht kriegt, kriegt man es eben nicht. Wir hatten mehr als die meisten Leute. Immer noch besser, als in irgendeiner Urb ohne Sonne aufzuwachsen.« Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Oh, du meine Güte, du bist in einer SubUrb aufgewachsen, oder nicht, Pryce?«
»Yeah. Wir hatten nicht viel, aber ich hab’s überstanden.« Sein Mund spannte sich unwillkürlich.
»Ich? Nicht wir?«, fragte sie.
»Na ja, meine Mom war meistens nicht da. Sagen wir mal, ich bin mithilfe meiner Freunde durchgekommen.« Das klang nach schmerzlichen Erinnerungen.
»Oh, warst du lange in einer Krippe?« Klingt gar nicht nach einer angenehmen Kindheit.
»So was Ähnliches. Sagen wir einfach, dass wir meistens selbst auf uns aufpassen mussten«, meinte er.
»Das klingt so, als hättest du schon früh auf eigenen Beinen gestanden.« Da haben wir etwas gemeinsam.
»Ja, irgendwie schon. Ich habe früh gelernt, mir die richtigen Freunde auszusuchen und ihnen zu vertrauen. Und auch wie man mit Leuten umgeht, denen ich überhaupt nicht vertrauen konnte. Und du? Konntest du mit anderen Kindern spielen oder warst du viel allein oder was?« Er nahm ihre Hand.
»Da waren nicht viele andere Kinder. Ich bin hauptsächlich mit meinem Daddy aufgewachsen. Er war mein bester Freund.« Na ja, eben Grandpa. Nach der ersten Landung hätte er ebenso gut mein Dad sein können.
»Frische Luft. Sonne. Das klingt … gesund. Ich bin nicht sehr gesund aufgewachsen«, sagte er.
»Nicht so viel, wie du vielleicht denkst. Daddy war ein ehemaliger Soldat. Wie die meisten Leute, denke ich. Aber ich würde das nicht gesund nennen, eher … ich weiß auch nicht … praktisch?« Wie erklärt man das, ohne etwas zu sagen. Das ist die Frage.
»Darum beneide ich dich. Ich meine, dass du einen Erwachsenen hattest, an den du dich halten konntest. Ich musste mir das meiste selbst zurechtreimen oder es einfach ausprobieren.« Er klappte seine Schachtel auf, und der würzig süße Duft der Cashewnüsse zog durch den Raum.
»Ich beneide dich, dass du gleichaltrige Freunde gehabt hast. Die Farm war da etwas einsam. In mancher Hinsicht konnte ich gar nicht richtig Kind sein.« Jedenfalls nicht über mein achtes Lebensjahr hinaus.
»Da haben wir etwas gemeinsam. Wir waren Kinder, aber doch nicht richtig, weißt du?« Er sah wieder mit diesem ganz speziellen Blick in ihre Seele.
»Ja, ich weiß. Mann, das ist aber ein ernstes Gespräch.« Sie klappte den Deckel von ihren Shrimps auf und atmete den Dampf ein, der der Packung entwich. »Das riecht lecker.«
»Willst du Reis? Ich habe nur gedünsteten Reis mitgebracht. Ich mag gebratenen Reis in solchen Wärmepackungen nicht. Was da an den Eiern dran ist, schmeckt immer wie Gummi.« Er hielt ihr eine Schachtel hin.
»Das ist eine gute Wahl. Gedämpft schmeckt er viel besser. Danke. Das riecht auch gut.« Sie wies auf die Schachtel, die er gerade geöffnet hatte.
»Willst du einen Happen? Tauschen wir?« Er spießte ein Stück Hühnchen auf die Gabel und hielt es ihr hin, hielt die offene Hand darunter, für den Fall, dass Sauce heruntertropfte. Seine Hand fühlte sich warm an ihrem Kinn an, als sie kostete.
Während sie dann zusah, wie er ein Stück Shrimp von ihrer Gabel nahm, musste sie natürlich wieder auf seinen Mund sehen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ihn angestarrt hatte, bis er ihr schließlich die Gabel zurückreichte. Sie wusste bloß, dass der zweite Bissen wesentlich kühler als der erste war. Aber eigentlich war sie gar nicht so hungrig. Sie hatte höchstens die Hälfte von ihrer Portion gegessen, als sie die Schachtel wegschob. Irgendwann während des Essens hatte sie ihren Sessel näher an den seinen gerollt, aber sie konnte die Wärme spüren, die von seinem Schenkel ausstrahlte, ganz nahe, und doch nicht nahe genug.
Offenbar dachte er dasselbe, denn kaum dass er mit seinem Essen fertig war, ebenfalls nur der Hälfte, spürte sie, wie er sie plötzlich auf seinen Schoß zog, eine Hand um ihre Brust gelegt. Viel zu weit unten, wie sie fand. Sie drehte sich etwas zur Seite und spürte, wie seine Finger über ihre Brustwarzen strichen. Dabei verlagerten sich auch ihre Hüften, und das veranlasste ihn dazu, seine Sitzposition zu verändern, und sie spürte seine Erektion am Bein und hielt es plötzlich nicht mehr aus. Wie kann er nur auf den Beinen so tollpatschig sein und so … ach, zum Teufel, wen interessiert das eigentlich!
Dann konnte sie erst wieder bewusst denken, als er gekommen war und sie merkte, dass sie auf dem Boden über ihm zusammengesunken war und einen leichten Wadenkrampf verspürte. Sie wusste nicht, wie viele Orgasmen sie durchzuckt hatten, während ihr Gehirn auf Standby geschaltet hatte. Sie wusste nur, als sie sich von ihm löste, sich seitlich wegschob, dass ihre Muskeln zu Wasser geworden waren. Erschöpft ließ sie den Kopf auf seiner Schulter ruhen, und der völlig entspannte Zustand seiner Muskeln bildete einen scharfen Kontrast zu der Spannung, unter der sie noch vor Minuten gestanden hatten. Sie fuhr mit dem Zeigefinger durch die Haare auf seiner Brust, leckte sich den dünnen Schweiß von der Fingerspitze. Es schmeckte salzig und irgendwie undefinierbar, unbeschreiblich, nur dass sie wusste, dass sie danach süchtig sein würde. Aber … erst … viel später … nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatte. Oder vielleicht auch lange ausgeruht.
Erstaunlicherweise stellte sich heraus, dass Fleet-Seide doch knittern konnte.
Freitag, 14. Juni
Am Freitag fiel ihr aus nahe liegenden Gründen das Aufstehen immer am leichtesten. In ihrem Fall kam noch hinzu, dass Beed das ganze Wochenende über nicht von seiner Frau loskommen würde. So schritt sie besonders munter aus, als sie auf dem Weg zur Arbeit einen kleinen Umweg zu Claybourne’s Coffee machte, spürte allerdings noch an einigen recht ungewöhnlichen Stellen einen leichten Muskelkater.
Zu den interessanten Vorzügen des Lebens auf dem Stützpunkt zählte, dass man hier wirklich hervorragende Arbeit geleistet hatte, als es darum ging, die Beleuchtung dem menschlichen Tagesrhythmus anzupassen. Die ständig gleiche Beleuchtung war eines der Konstruktionsprobleme der frühen SubUrbs gewesen, dem man eine Menge der psychologischen Probleme zuschrieb, die während und nach dem Postie-Krieg aufgetreten waren. In den besseren Vierteln der meisten Urbs hatte man inzwischen nachträglich justierbare Leuchtfarbe angebracht und die auf optimale Tageszyklen programmiert. Auf Titan war das nur in geringem Maße notwendig geworden, da man von Anfang an gewusst hatte, dass ein künstlicher Tagesrhythmus gebraucht wurde. Das war zumindest die Erklärung gewesen. Aber was auch immer der Grund sein mochte, es war jedenfalls interessant, den Korridor bei Tageslicht zu erleben und zugleich zu wissen, dass diese Beleuchtung nicht etwa natürliches Sonnenlicht war, das nur irgendwelche Deckenfenster diffus gemacht hatten. Die Imitation war wirklich hervorragend gelungen, die Pflanzen jedenfalls gediehen dabei ganz vorzüglich. Auf diesem Stockwerk hatte man das GalPlas so strukturiert, dass man den Eindruck von altem Ziegelpflaster hatte, und das helle Rosa der Steine bildete einen angenehmen Kontrast mit den Terrakotta Pflanzkübeln. Bienen summten um die Blumen, die in diversen Hängekörben in Blüte standen, und die unechten Neonschilder der vorzugsweise nachts geöffneten Geschäfte waren dunkel. Alles hier sah bei Tag so völlig anders aus, dass in ihr dabei fast so etwas wie Heimweh angekommen, wäre, wenn da nicht der fremdartige Chemikaliengeruch und die trockene Luft gewesen wären, die sich so deutlich von der feuchten Salzluft von Charleston unterschied.
Sie ließ sich davon nichts anmerken, aber ihr Gefühl, sich in einer Tarnidentität zu bewegen, bekam doch einen leichten Schock, als sie an der Schaufensterpuppe in dem Kleiderladen nebenan ein rotes Halstuch entdeckte. Wie spät auch immer es heute Abend werden mochte, sie würde sich unbedingt die Zeit nehmen müssen, um sich mit Grandpa zu treffen. Dabei hatte sie ihm, abgesehen von all dem, was nicht geklappt hatte, kaum etwas mitzuteilen — außer halt der Bestätigung dafür, dass Beed an einem zusätzlichen Projekt arbeitete, was wahrscheinlich ihre »undichte Stelle« war. Vielleicht hat Grandpa etwas zum Thema Tongs zu bieten.
Nachdem sie einen Latte Macchiato zu sich genommen und sich eine Tüte Kirschen gekauft hatte, saß sie im Transitwagen nach oben ins Büro. Aus irgendeinem Grund schmeckten die Kirschen und Pflaumen auf Basis Titan wesentlich besser als das sonstige Obst und Gemüse, das die Hydroponik hier erzeugte — wahrscheinlich weil die Hydroponikfarm sich in der untersten Etage des Flottenquadranten befand. Nachdem sie zum ersten Mal mit auf dem Stützpunkt erzeugten Kaffee Bekanntschaft gemacht hatte, hatte sie den Bürokaffee nur mehr in Fällen ausgeprägten Koffeinentzugs zu sich genommen. Einmal hatte sie sich sogar bei Carlucci danach erkundigt. Aber offenbar war es so, wie Beed gesagt hatte — man gewöhnte sich daran. Alle, die länger hier waren, schienen den Unterschied überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Sie würde vermutlich auch anfangen müssen, das scheußliche Zeug zu trinken. Sinda Makepeace würde den Akklimatisierungsprozess hinter sich bringen, schließlich war es nicht gut für ihre Tarnung, wenn sie weiterhin darauf bestand, teuren importierten Erdkaffee zu trinken. Unprofessionell.
Im Büro schenkte sie sich aus der Kaffeemaschine im Kopierraum eine Tasse ein und musste ein leichtes Grinsen unterdrücken, als sie am Arbeitstisch vorbeikam, auf dem gewöhnlich die Kopien zusammengetragen wurden. Sie verzog das Gesicht, als sie die übel riechende Flüssigkeit im Becher sah, tat aber dennoch Zucker und Milchpulver hinein und machte sich dabei klar, dass sie schließlich um der guten Sache willen schon viel schlimmere Dinge getan hatte.
Pryce hatte seine Sache besser gemacht, als sie das angenommen hatte, und sich ganz normal verhalten, als er Guten Morgen gesagt hatte. Gestern Nacht vor dem Einschlafen hatte sie die Sorge geplagt, er könnte sich als schlechter Lügner erweisen. Aber er war okay. Vielleicht ergab sich sogar eine Gelegenheit, an diesem Wochenende mit ihm zusammenzukommen. Sie grübelte jetzt schon ein paar Tage an einem Plan, und die Chemie zwischen ihnen beiden war gut genug, dass er vielleicht sogar funktionieren könnte. Wenn sie ein wenig auf seinen Wunsch nach Abwechslung einging und in ihm den Eindruck erweckte, dass verschiedene Stellen im Büro besonders gut für Sex wären, konnte sie ihn vielleicht dazu bewegen, ihr Zugang zu Bereichen zu verschaffen, die ihr normalerweise versperrt waren oder sie konnte ihm einfach den Ausweis stibitzen.
Sie sah sich auf ihrem PDA den morgendlichen Posteingang an und versuchte dabei, den wirklich grauenhaften Kaffee Schluck für Schluck hinunterzuzwingen, beschloss aber schließlich, ihn doch wegzukippen, wenn niemand hersah. Zum Teufel, jetzt sah gerade niemand her, und wenn die Brühe richtig heiß war, schmeckte sie vielleicht nicht ganz so scheußlich. Gleich darauf musterte sie den leeren Becher zufrieden und versuchte bei dem etwas sauren Nachgeschmack nicht die Nase zu rümpfen.
Der Bericht über Belobigungen war vom ersten Bataillon auf Dar Ent reingekommen. Verdammt, ich wüsste gerne, wem Simkowitsch wohl in die Suppe gepinkelt hat? Akten verloren, dass ich nicht lache.
»Buckley, komplette Kopie der Simkowitsch-201-Akte an Personal schicken, Kopie davon an Zahlstelle mit kompletter Kopie seiner sämtlichen Zahlungsunterlagen. Kodieren, dass es von General Beed kommt. Gib an, der General hat den dringenden Wunsch, dass diese Angelegenheit heute spätestens um sechzehnhundert erledigt ist. Falls das nicht möglich sein sollte, sollen die bitte sofort antworten und detailliert die Gründe für die Verzögerung und die dafür verantwortlichen Personen nennen. Kopie von dem ganzen Schlamassel an das AID von General Franklin. Und dann schickst du dem AID Lisa noch ein privates Memo dazu und erklärst ihr, dass sie nach eigenem Ermessen entscheiden soll, ob sie es ihrem Boss zeigen möchte, falls der Name denen nicht endlich Feuer unter dem Hintern macht. Vier Monate Verzögerung, nicht zu glauben.«
Als sie ein paar Augenblicke später über den Flur ging, um sich die morgendlichen Ausdrucke von Beed zu holen, kam ihr Pryce entgegen, der gerade von irgendwo in sein Büro zurückkehrte. Sie blieb nicht stehen, ging aber so dicht an ihm vorbei, dass ihre Brust seinen Arm streifte. Als sie dann den Weg den Flur hinunter fortsetzte, um die dämlichen Papiere zu holen, war ihr Schritt beschwingt. Plötzlich hätte sie am liebsten vor sich hingepfiffen.
Stewart betrat sein Büro und hätte am liebsten gleichzeitig geflucht und gegrinst. Im Übrigen musste er einen Augenblick lang bewusst an etwas anderes denken, um seine Seidenkombination wieder präsentabel zu machen. Bedauerlicherweise sah es so aus, als ob Sinda sich nicht zu einer besonders guten Lügnerin entwickeln würde. Das war unvorsichtig. Aber eigentlich kein Wunder. Sie war eben doch ein Dummchen. Nicht dass sie das nicht auf ihre Art ausgeglichen hätte. Sie war nett, setzte sich für ihre Arbeit ein — und dann schüttelte er den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er jetzt schon eine ganze Weile denselben Punkt an der Wand angestarrt hatte. Tatsache war, dass sie ein Dummchen war. Aber ein sehr nettes. Und er sollte jetzt wirklich über die einzelnen Stufen nachdenken, die es brauchte, um einen Soldaten mit einem neuen GKA-Anzug auszustatten. Das lag lange genug zurück, dass man sich wirklich auf die einzelnen Schritte konzentrieren musste …
Schließlich war er so weit, dass er zu diesem Kotzbrocken, diesem widerlichen Vorwand für einen General, gehen konnte. Denk wie ein Lieutenant. Fröhlich, eifrig, tollpatschig, eben Lieutenant Pryce, als Beweis dafür, dass der Herrgott wirklich keinen Spaß versteht. Er stolperte beim Hinausgehen über die Schwelle, einfach zur Übung, und stellte fest, dass Sinda von ihrem Schreibtisch aus nicht nur seine Tür sehen konnte, sondern ihn tatsächlich beobachtete und dies mit leicht benommener Miene. Mann, wie man so einem total dämlichen Blondchen verfallen kann, ist mir einfach unverständlich. Offenbar steigt dir deine Rolle als Lieutenant in den Kopf. Okay, ich weiß auch, dass ich jetzt gerade nicht mit meinem Gehirn denke. Ups! »… nach Anpassung des Stiefels müssen die Nanniten dazu veranlasst werden, den Unterschichtbildungsprozess einzuleiten …«
Er betrat das Büro des Generals, stolperte dabei über die eigenen Füße und grinste innerlich, als er sah, wie Beeds Gesicht sich verärgert rötete. Als die Tür hinter ihm zuglitt, nahm er vor dem Schreibtisch Haltung an.
»Unsere Quelle hat wieder Kontakt aufgenommen. Er bietet zusätzliche Informationen zum Verkauf an«, sagte der General.
»Wen schicken die denn zu ihm?« Als ob ich das nicht wüsste.
»Er ist hier. Ich habe heute Abend keine Zeit, mich mit ihm zu treffen. Sie müssen das übernehmen. Hier ist die Adresse. Prägen Sie sie sich ein.« Er hielt ihm ein Blatt Papier hin und wartete, während Stewart das Papier ein paar Augenblicke lang anstarrte, nahm es dann zurück und stopfte es in eine Schreibtischschublade.
»Und dass Sie mir das ja nicht verpatzen, Lieutenant«, sagte Beed mit grimmiger Miene.
Yeah, einen Grund hättest du, Mist zu bauen, du Arschloch. Wenn Mr. Jones auf Titan ist, frage ich mich, wer sonst noch auf Titan ist. Dies ist der erste Hinweis, den wir bis jetzt haben, dass unsere Strategie vielleicht tatsächlich funktioniert. Herrgott, wie ich mich darauf freue, diesen Mistkerl abzulösen. Allein schon wegen Sinda.
»Yes, Sir. Wäre das alles, Sir?«
»Sehen Sie bloß zu, dass Sie mir etwas Ordentliches bringen, Pryce. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass wir bis jetzt noch völlig im Dunkeln tappen, und das sieht nicht gut aus. Eine gute Beurteilung bei einem solchen Einsatz könnte der Karriere eines jungen Offiziers sehr nützlich sein. Wegtreten.«
Mistkerl. »Yes, Sir.« Pryce salutierte, machte ziemlich wacklig kehrt und verließ den Raum, ehe seine Fassade in Gefahr geriet. Seine Tarnung zu halten, würde schwieriger sein, als er das erwartet hatte.
Freitag, 14. Juni, Abend
In der Sake-Bar verkehrte eine bestimmte Klasse jüngerer Flottenoffiziere. Das Etablissement war für Fleet-Strike-Personal, mit Ausnahme von MPs im Dienst, off limits, aber Stewarts Aufgabe an diesem Abend rechtfertigte die Zivilkleidung, die er trug, und sein militärischer Haarschnitt war auch bei Zivilisten durchaus verbreitet. Wenn er zwei oder drei Stunden später gekommen wäre, hätte das mit Sicherheit eine Schlägerei ausgelöst, aber es war noch früh genug, dass die Flotte sich hauptsächlich auf das Trinken konzentrierte und einige ihr Glück an den überall herumstehenden Spielekonsolen versuchten.
Im Allgemeinen schlug Stewart einen weiten Bogen um das lausige Bier, das dadurch noch schlechter war, dass es im Lokal aus örtlich hydroponisch gezüchtetem Hopfen gebraut wurde. Aber die Animationen waren große Klasse. Die großen … Augen … der projizierten Frauen machten zwar bei weitem nicht so viel Spaß wie natürliche weibliche Attribute — er musste wieder einmal dagegen ankämpfen, sich ein gewaltsames Ende für Beed auszumalen -, aber die Animation war wirklich gut gemacht.
Der fit wirkende Zivilist mit schütterem Haar, der vor einem Teller Miso-Suppe an der Bar saß, war nicht so hübsch anzusehen. Offen gestanden waren ihm Verräter im Allgemeinen zuwider, so zuwider, dass er diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken durfte. Aber der Umgang mit unappetitlichen Leuten gehörte eben mit zum Geschäft, wenn man im Geheimdienst tätig war, und deshalb konnte er sich diese Abneigung im Augenblick einfach nicht leisten. Für einen ehrlichen Gegner oder sogar Feind konnte Stewart wie jeder Soldat ein gewisses Maß an widerstrebendem Respekt aufbringen. Leute hingegen, die an ihrer eigenen Sache Verrat begingen, lösten in ihm einen so tief sitzenden Widerwillen aus, dass er wirklich Mühe hatte, ihn zu unterdrücken, als er jetzt auf die Bar zuging.
»Mr. Smith, wie nett, Sie wiederzusehen«, sagte der Mann.
»Mr. Jones. Sie sind aber weit gereist, nicht wahr?«, stellte Stewart fest.
»Das könnte man von Ihnen auch sagen«, antwortete der Verräter.
»Ja, wenn Sie wüssten, wo ich zu Hause bin, könnten Sie das wahrscheinlich.« Er zog sich einen Barhocker heran und lächelte, obwohl allein der Gedanke, jetzt mit diesem Wurm trinken zu müssen, fast ausgereicht hätte, dass sich ihm der Magen umdrehte.
»So, was haben Sie denn anzubieten, Mr. Jones? Begnügen Sie sich immer noch mit Kleinkram oder sind Sie bereit für lohnendere Dinge? Ich hoffe, Sie verübeln es mir nicht, wenn ich das sage, aber es ist doch ein erheblicher Wechsel in der Szenerie, nicht wahr?« Er würde ihm ein wenig den Stachel geben, um zu sehen, was dabei herauskam.
»Ich reise. Diesmal will ich nicht bloß Bargeld. Sie hatten gesagt, Sie würden für mehr auch mehr bezahlen. Nun, jetzt werden wir sehen, ob es Ihnen damit ernst war.« Auf der Oberlippe des Verräters standen kleine Schweißtröpfchen. Ob er nervös war?
»Reden Sie weiter.« Ihm nichts geben, woran er sich festhalten kann, er soll selbst rausrücken.
»Ich brauche ein Ablenkungsmanöver. Sie wollen einen Teil unserer Organisation. Ich sehe da eine wechselseitige Chance. Sie helfen mir, Beweismaterial zu platzieren, und ich liefere Ihnen die Person, auf die das Material deutet. Möglicherweise brauchen Sie dazu den Rest des Teams, für den Fall, dass Sie mit Ihren neuen Spielsachen ein wenig unsanft umgehen müssen. Aber an dem Punkt käme dann Geld ins Spiel.« Seine Stimme ließ ein gewisses Maß an Verzweiflung erkennen.
Du großer Gott, da haben wir einen echten Haupttreffer gezogen. Okay, aber jetzt die schwierige Frage: warum?
»Und worin genau würde dieses Platzieren von Beweismaterial bestehen?«, fragte er.
»Das Übliche und Offensichtliche. Ein paar Banktransaktionen und ein paar am richtigen Ort platzierte Luxusartikel. Wenn Sie ihn holen, wird es aussehen, als hätte er Ihnen schon die ganze Zeit Informationen geliefert und wäre dann aus der Kälte gekommen.« Das Grinsen des Verräters wirkte jetzt besonders widerlich.
»Sie wissen, dass es in diesem Spiel meistens darum geht, die Informationen zu bekommen, ohne den anderen wissen zu lassen, dass man sie hat.« Er konnte nicht umhin, ein wenig sarkastisch zu werden. Auch wenn er sich noch so große Mühe gab, ihm ging das einfach unter die Haut, mit jemandem zu verhandeln, der die eigenen Freunde verriet.
»Wenn man das kann. Aber ich will Ihnen was sagen: Die wissen, dass sie eine undichte Stelle haben. Sie verlieren also nichts, was nicht schon verloren wäre. Die brauchen nicht einmal zu wissen, dass Sie ihn haben. Sie können es ja so aussehen lassen, als ob er auf einem Kolonistenschiff nach draußen geflogen wäre.« Offenbar spürte der Glatzkopf schon, wie das Netz sich um ihn schloss.
Okay, die würden das »Ablenkungsmanöver« dieses Schwachkopfs nur schlucken, wenn sie wirklich dämlich wären, und um jemanden bei uns einzuschleusen, was ihnen ja gelungen ist, dürften sie das wirklich nicht sein. Nein, dumm sind die auch nicht. Andererseits, wenn er uns tatsächlich Insider liefert, ist das gleichgültig. Und ich habe meine Antwort. Seine Leute sind dabei, ihm auf die Pelle zu rücken, und er versucht, sich zu decken. Wenn das der Preis ist, komme ich damit klar. Was muss ich ihm pro Kopf bezahlen? Drei Millionen US Dollar pro Teammitglied?
»Ich denke, das wird sich machen lassen. Wir werden das Beweismaterial nach Wunsch platzieren und bezahlen Ihnen eine Million Dollar US für diesen Typen und für jedes Mitglied seines Teams, das wir erwischen«, sagte er.
»Seh ich aus, als wär ich blöd? Fünf Millionen US pro Nase, und zwar für jede Person, deren Identität ich Ihnen liefere. Wenn Sie sie erschießen wollen statt sie zu schnappen, oder wenn Sie die ganze Geschichte verpatzen, ist das Ihr Problem.« Der Verräter litt offenbar nicht an einem Mangel an Selbstbewusstsein.
Es bedurfte noch einigen Feilschens, aber schließlich einigten sie sich auf zweieinhalb, die Hälfte bei Lieferung der Namen, die zweite Hälfte, sobald bestätigt war, dass der Name zu einer konkreten Person gehörte, die glaubhaft als Agent der Organisation identifiziert war. Dazu kamen die üblichen wechselseitigen Sicherheitsvorkehrungen. Ein geringer Preis für das, was ich bekomme.
»So, Mr. Jones, bloß als Geste des guten Glaubens, werden Sie jetzt sicherlich begreifen, dass ich für die Leute, denen ich berichte, etwas brauche, ehe sie mir so viel Geld zur Verfügung stellen. Dieses Team, das Sie uns geben werden, hat das irgendeine interne Bezeichnung?«
»Hat es: Hector.«
Samstag, 15. Juni, 03:30
Michael O’Neal senior hatte sich nie an das Warten gewöhnen können. Oh, er hatte sehr früh im Leben gelernt, so zu tun, als wäre er geduldig, sonst hätte er nicht überlebt. Aber das hieß nicht, dass es ihm gefallen musste. Und das tat es auch nicht. Seine Enkeltochter war nicht gerade verspätet, da sie für ihr Treffen keine bestimmte Zeit festgesetzt hatten, und bei ihrer Tarnung konnte es im Einsatz natürlich alle möglichen Gründe geben, weshalb sie nicht früher wegkonnte oder vielleicht auch gar nicht.
Was das Warten nicht gerade leichter machte.
Er hatte Cally die Kunst des Überlebens beigebracht, des Überlebens im Gefecht und des Überlebens in feindlicher Umgebung, und hatte mit dieser Ausbildung in ihrem achten Lebensjahr begonnen. Als kleines Mädchen im Krieg gegen die Posleen war sie standfester als so mancher erwachsene Mann gewesen. Sie hatte den Attentäter getötet, der zu ihnen gekommen war, um sie beide umzubringen, falls es ihm nicht gelang, ihn, Michael O’Neal, zu rekrutieren und hatte anschließend neben Team Conyers gegen die Posties gekämpft, als sie durch das Gap heraufgekommen waren.
Er spuckte hingebungsvoll in die zweite Tasse, die ihm die Bedienung freundlicherweise gebracht hatte.
Nach dem Krieg hatte sie in einer privaten Kirchengemeinde bei dem Bane-Sidhe-Kader von Killernonnen eine erstklassige Ausbildung genossen. Ihre Fähigkeiten waren dort zu höchster Vollkommenheit entwickelt worden. Es war vermutlich keine Übertreibung, sie als die beste lebende Attentäterin auf der Erde oder außerhalb zu bezeichnen — allenfalls mit einer einzigen Ausnahme, nämlich ihm selbst. Obwohl er nicht über ihre … natürlichen Vorzüge verfügte.
Aber da dies so war — warum musste er sich dann jedes Mal, wenn sie im Feldeinsatz war, wie ein nervöser Vater fühlen, dessen Tochter ihr erstes Rendezvous hatte?
Er unterdrückte den Drang aufzustehen und auf und ab zu marschieren, unterdrückte ihn nicht nur, sondern erwürgte ihn und riss ihn in Stücke. Cally war schon lange über ihr erstes Rendezvous hinaus. Das war sogar ein gewisses Problem. Man konnte einem Mädchen beibringen, wie man verlässlich aus tausend Meter Distanz eine Zielscheibe mit zwanzig Zentimeter Durchmesser traf, man konnte ihr beibringen, wie man Fallen erkannte und ihnen aus dem Weg ging, man konnte ihr neun unterschiedliche Methoden beibringen, wie man in der Dunkelheit lautlos einen Menschen tötete, aber man konnte ihr nicht beibringen, wie man mit den Belastungen ihres Jobs zurechtkam. Das war eines der Dinge, die jeder Attentäter selbst lernen musste.
Cally war schon immer ein Naturtalent gewesen. Er erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als er dem Kind eine Pistole in die Hand gedrückt hatte. Natürlich war sie nicht einmal imstande gewesen, eine Scheunenwand zu treffen, aber nachdem sie ihr erstes Magazin auf dem Schießplatz leer geschossen hatte, hatte sie sich umgedreht und ihn angesehen. Sie war damals schlank gewesen, nein, nicht schlank, dürr, und ihr blondes Haar war stets wirr und zerzaust gewesen. Und an der Nase war da ein Schmutzfleck gewesen, wo sie sich gekratzt hatte. Die Ohrenschützer waren groß und leuchtend grün gewesen, und die Schutzbrille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, aber das Grinsen, mit dem sie ihn angesehen hatte, hatte ihr ganzes Gesicht zum Leuchten gebracht. Und im Laufe der Zeit war ihm klar geworden, dass sie außer ihrer Begeisterungsfähigkeit noch über zwei andere wichtige Fähigkeiten verfügte. Sie hatte ungewöhnlich scharfe Augen und eine ausnehmend ruhige Hand. Er hatte darauf geachtet, beides zu schützen — Letztere unter anderem vor Lastern wie Koffein. Es gab Wesenszüge, die besser zu heranwachsenden Kriegern passten.
Und dann war sie natürlich auch stur gewesen. Keine Ahnung, woher sie das hatte. Er schmunzelte. Und diesen Mistkerl hatte sie in die Kniekehle geschossen, als er versucht hatte …
Die Tür schob sich auf, und da war sie endlich, sein Baby, seine Enkeltochter — aber was in drei Teufels Namen hatte sie da an? Der einteilige schwarze Lederanzug hätte gut zu einer Tarnung als Nutte gepasst — falls es eine Kombination für ihre Maße gewesen wäre. So ließ sich der Reißverschluss hinten nur halb schließen, ohne dass sie aus dem Anzug platzte. Und nach seiner Ansicht bestand diese Gefahr immer noch. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte sie in eine Decke gehüllt.
»Hey, Süße, was darf ich dir zu trinken bestellen?«, fragte er, als sie in den Raum geschlendert kam, sich rittlings auf einen Barhocker setzte und die Arme über die Armlehne legte, während die Tür sich hinter ihr zuschob. Ihr federnder Schritt passte seiner Ansicht nach überhaupt nicht zu der Rolle, die sie spielte. Huren hatten einen anderen Gang.
»Bushmill Black, Wasser. Für billigen Whiskey ist das Leben zu kurz«, sagte sie. Mit dem linken Fuß tippte sie nervös auf den Boden, als könnte sie nicht richtig stillsitzen, obwohl es bereits spät war und sie doch eigentlich hätte müde sein sollen.
»Du gefällst mir«, sagte er. Das Leben zu kurz? Cally hatte schon lange nicht mehr gedacht, dass das Leben für irgendetwas zu kurz wäre. Da ist etwas im Busch.
»Fortschrittsbericht?« Er holte einen Dämpfer heraus und stellte ihn auf den Tisch, schnippte ihn an. »Ich habe den Raum bereits nach Wanzen abgesucht.«
»Ich habe gar nichts gefunden. Ich konnte lediglich bestätigen, dass vom Büro aus ein Geheimeinsatz läuft. Vermutlich der Geheimeinsatz, aber mehr habe ich nicht. Den General ins Bett zu bekommen war kein Problem. Wahrscheinlich wäre es eher ein Problem gewesen, es nicht zu tun. Er ist halt der Typ dazu. Ich habe alles durchsucht, wo ich mir Zugang verschaffen konnte, und arbeite jetzt an dem Adjutanten, der Zugang zu weiteren Räumen hat, an die ich bislang nicht rankomme«, sagte sie.
Bildete er sich das bloß ein, dass ihre Stimme am Ende rauchig geworden war? Ach was, Blödsinn. Was nun?
»So, dann sag mir mehr über diesen Adjutanten.« Er spuckte in den Becher und überlegte. »Du hast vor, dir Zugang zu den restlichen Räumen zu verschaffen, wie willst du das anstellen?«
»Oh, das ist einfach.« Sie rutschte auf ihrem Hocker herum und sah ihn verschmitzt an. »Wenn das die einzigen Orte im Büro sind, wo wir es noch nicht getan haben, denke ich, wird er … sich nicht abgeneigt erweisen, wenn ich ihm weitere Vorschläge mache.« Die Art und Weise, wie sie sich dabei mit der Zunge über die Lippen fuhr, ließ ihn an die Katze denken, die den Kanarienvogel gefressen hatte.
»Du solltest das Geschäft nicht mit dem Vergnügen mischen.« Oh, Scheiße.
»Du hast doch selbst gesagt, dass ich mir einen Boyfriend besorgen soll.« Sie zuckte die Achseln und musterte dann eindringlich die Nägel ihrer rechten Hand.
»Ich zögere etwas, das zu sagen, Enkeltochter, aber du solltest nicht so tief einsteigen.« Scheiße. Sie wird nicht auf mich hören. Zu spät.
»Oh, das werde ich nicht. Das überlasse ich Pryce. Wirklich, Grandpa, ich bin nicht mehr zwölf. Könntest du jetzt meinen Drink bestellen? Ich wollte doch wirklich etwas Gutes. Wo ich doch bereits hier bin.« Sie wechselte das Thema, drehte den Barhocker herum und machte es sich darauf etwas bequemer.
Er gab einen nichts sagenden Laut von sich, schaltete den Dämpfer ab und ging zu der Konsole an der Tür, um die Drinks einzutippen. Als er sich wieder setzte und sie ihren Stuhl heranzog und sich an ihn kuschelte, worauf er den Arm über ihre Schulter legte, damit die Bedienung, die ihnen die Drinks brachte, das auch ja zur Kenntnis nahm, musste er sich einen Augenblick lang ins Gedächtnis rufen, dass diese ausnehmend gut gebaute begehrenswerte junge Frau nicht etwa nur wie seine Enkeltochter aussah, sondern dies auch tatsächlich war. Wenn sie diesen jungen Mann, diesen Pryce, nicht ausgerechnet bei einem Einsatz kennen gelernt hätte, würde er ihn ja mit offenen Armen empfangen. Na schön, meinetwegen, vielleicht war er ja ganz in Ordnung. Trotzdem, sie waren für Extraktionseinsätze ausgebildet, und es war ja nicht so, dass Fleet Strike all die Lieutenants auch brauchte. Andererseits, nein, letzte Überlegung bitte streichen. Eigentlich konnte man darauf zählen, dass jeder Mann, der einen Schuss Pulver wert war, negativ darauf reagieren würde, wenn man ihn kidnappte. Nun ja, vielleicht. Der Köder war immerhin beachtlich.