Charleston
Mittwoch, 15. Mai
Es war wenige Minuten vor sechs, und die Ränder der über den Himmel verstreuten Wolken leuchteten in strahlendem Rosa, als Cally am Columbia-Tor des Walls aus dem städtischen Bus stieg. Sie hatte ihren Rucksack und einen Rollkoffer bei sich und trug ein altes Paar Shorts mit einem T-Shirt, dazu eine grell bunte Strandmütze und einen leuchtend gelben Folly Beach Visor. Ihr Gesichtsausdruck vermittelte an leichte Verzweiflung grenzende Hoffnung, als sie den Blick an den Fahrzeugen entlangwandern ließ, die sich für den morgendlichen Konvoi aufreihten. Sie ging auf einen ziemlich heruntergekommen wirkenden weißen Van zu, aber die finsteren Blicke der Frau hinter dem Steuer ließen sie nach einer anderen Fahrgelegenheit suchen. Ziemlich am Ende der Schlange entdeckte sie einen VW-Bus, der wahrscheinlich schon an die achtzig Jahre alt war. Die Malereien an den Seitenflächen waren unterschiedlich stark verblasst, aber offenkundig doch im Laufe der Jahre immer wieder mit Sorgfalt nachgebessert worden. Der Totenschädel mit den oben herauswachsenden Rosen war absolut perfekt, ebenso die liebevoll aufgemalte Schrift, die sie bereits kannte, ehe sie weit genug an den anderen Fahrzeugen vorbei war, um sie zur Gänze lesen zu können.
Ehe sie näher trat, kümmerte sie sich um ihren Buckley, schaltete Stimmzugang und Antwort ab, reduzierte die Emulationen bis herunter auf zwei und stopfte das Ding dann in ihre Handtasche zurück. Das würde ja gerade noch fehlen, dass das Ding im falschen Augenblick das Falsche sagte.
Der Fahrer des VW-Busses hatte langes, blondes Haar, einen buschigen Schnurrbart, doch einen gepflegten Bart. Er war gebaut wie ein kleiner Bär. Beim Näherkommen konnte sie einen schwachen Hauch von Eichenblättern und Patchouli wahrnehmen, das sich in den Salz- und Fischgeruch von den Tanks hinten mischte. Die Musik aus seinem Würfelspieler hallte aus dem offenen Fenster, und seine Finger klopften den Takt auf dem Fensterrahmen mit. »… gotta tip they’re gonna kick the door in again. I’d like to get some sleep before I travel …«
»Hey, du da mit dem T-Shirt. Surfst du?« Er nahm sie zur Kenntnis, als sie den Koffer heranzog.
»Na ja, ab und zu schon. Aber gewöhnlich gehe ich dazu nach LA. Für die Wellen hier habe ich nicht einmal mein eigenes Brett mitgebracht. Um so weit rauszugehen, hatte ich weder das Geld noch die Zeit.«
»Mhm«, machte er. »Dass es auch ständig ums Geld gehen muss, Mann. Aber man muss ja leben, was bleibt einem da schon übrig. Fährst du mit dem Bus raus?«
»Na ja, eigentlich hatte ich gehofft, dass mich jemand mitnimmt. Ich hab ein bisschen zu viel Geld ausgegeben, und um mir das Ticket leisten zu können, hätte ich wirklich mächtig am Essen sparen müssen.«
»Oh, Mann, ich weiß, wie das ist.« Er beugte sich zur Seite und machte die Beifahrertür auf. »Ich bin übrigens Reefer. Reefer Jones.«
»Marilyn Grant. Danke, Mann.« Sie zog den Koffer um den Wagen herum, verstaute ihn hinter dem Beifahrersitz, schob dann den Rucksack vor den Sitz und stieg ein, darauf bedacht, nicht wegen des salzigen Fischgeruchs die Nase zu rümpfen.
»Oh, wir müssen uns überlegen, wie wir das mit dir in den Papierkrieg reinbekommen.« Er grinste. »Tut mir Leid, aber mein Boss kann richtig eklig werden, wenn’s um Tramper geht. Hey, du kannst nicht etwa schießen, oder?«
Cally fummelte in ihrer Handtasche herum und reichte ihm eine durchaus authentische Schießplatzbestätigung aus Charleston, die erst ein paar Tage alt war und in der Marilyn Grant, Nicht-Einwohnerin, als Expertin ausgewiesen war.
»Bin da einfach hingegangen, ohne mir viel zu denken. Hab schon seit Jahren nicht mehr geschossen, aber meine Mom wollte, dass ich es lerne, du weißt schon«, sagte sie.
»Yeah, die meine auch. Ich schätze, der Krieg hat diese ganze Generation verrückt gemacht. Aber war schon in Ordnung, ich meine, wenn mir einer eine Postie-Scheibe zeigt und die von mir aufklappt, weiß ich, wie ich die abknalle.« Er lachte und kritzelte etwas auf sein Klemmbrett. »Okay, ich werde dich als freiberufliche Wache eintragen. Da hat der Boss dann nichts einzuwenden. Der hat sein ganzes Leben in den Urbs verbracht, ist dann wegen der Knete nach Charleston gekommen, Mann, der alte Knacker hat die Hosen gestrichen voll, wenn’s um Posties geht.« Er zuckte die Achseln und ließ den VW-Bus anrollen, als die Schlange sich langsam in Bewegung setzte. »Ich fahre diese Tour jetzt seit fünf Jahren, und in der ganzen Zeit ist uns noch nie ein Postie näher gerückt, den diese Typen«, damit wies er auf einen Maschinengewehrturm auf dem Dach eines Neunachsers, »nicht in Stücke gesägt hätten, ehe er uns auch nur nahe gekommen ist.«
»Passiert das oft?«, fragte sie, wobei ihre Augen groß und rund wurden.
»Nee.« Er bot ihr einen Streifen Kaugummi an und schob sich selbst einen in den Mund. »So etwa bei jeder zweiten Fahrt. Das ist immer recht ärgerlich, weil der ganze Konvoi anhalten muss, während die sich den Kopf holen, damit sie ihre Prämie kriegen.« Er tat so, als müsse er sich übergeben. »Na ja, normalerweise halten wir nicht richtig an. Die verlieren bloß ihren Platz in der Schlange, und wir werden ein wenig langsamer.« Er deutete erneut auf die Trucks. »Von diesen Typen hat jeder irgendwo dort droben einen Boma-Säbel untergebracht, also kostet es nicht viel Zeit.«
Während er redete, waren sie ans Tor gerollt, und jetzt reichte er der Wache ihre Schießkarte und die seine, zeigte dem Mann den Colt.45 neben seinem Sitz und den zweiten im Handschuhkasten. »Dem Boss wird es sogar recht sein, dass du dabei bist, denn mit einem zusätzlichen Schützen sinkt die Konvoigebühr.« Er zuckte die Achseln, nahm ihre Karten wieder in Empfang, reichte ihr die ihre hinüber und steckte die seine in die Brieftasche.
Es dauerte noch eine Viertelstunde, bis die Wachen die restlichen Fahrzeuge freigegeben hatten und die Gruppe mit der Fahrt in die echte Zivilisation beginnen konnte.
»Nächste Station Columbia.« Er drehte seine Stereoanlage ein wenig auf und warf ihr dabei einen fragenden Blick zu. »Wo willst du denn übrigens hin?«
»Cincinnati.«
»Oh. Dann kannst du ja sozusagen die ganze Tour mitmachen. Das ist cool.« Plötzlich runzelte er die Stirn. »Ich muss dann bloß so tun, als ob du in Knoxville ausgestiegen wärst, wenn die Konvoizone endet.«
»Kriegst du meinetwegen Ärger?«
Er überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Nee, eigentlich nicht. Der Boss ist gar kein so übler Typ. Wenn er es spitzkriegt, werde ich ihm einfach sagen, das sei Teil deiner Gebühr gewesen dafür, dass du von hier bis Knoxville als Wache mitfährst.«
»Was fährst du denn?«, fragte sie höflich und blickte über die Schulter in den hinteren Bereich des Fahrzeugs, wo mehrere voll gepackte Aquarien vor sich hin gluckerten, deren Luftaustauscher ein paar Zentimeter über die geschlossenen Deckel hinausragten.
»Blaukrabben. Lebend, weißt du? Da gibt’s so’n paar reiche Typen in Chicago, die das Zeug gern frisch haben.« Er zuckte die Achseln.
»Und warum gerade du und nicht einer von denen?« Sie deutete auf die Sattelschlepper vor und hinter ihnen.
»Ja, weißt du, das ist so ne Art Nischenmarkt. Die fahren gefrorenes Zeug, und einige von ihnen haben lebende Austern und Muscheln und solches Zeug auf Eis. Krabben sind da sehr empfindlich. Aber wenn man ein wenig von dem richtigen Zeug ins Wasser tut, geht das schon.« Er grinste. »Und man kann ’ne ganze Menge von den kleinen Biestern in die Tanks reinpacken.«
»Wie, die sind mit irgendwas so voll gepumpt, dass sie einander nicht in Stücke reißen? Hat das keine Auswirkungen? Ich meine, man isst sie doch schließlich.«
»Also, im Grunde genommen«, erklärte er fröhlich grinsend, »muss man sie bloß in einen sauberen Salzwassertank bringen, dann sind sie in sechs Stunden wieder auf dem Damm. Und Krabben-Valium hat wirklich keine so starke Wirkung auf Menschen, weißt du.«
Als damit alles Berufliche erledigt war, schien er mehr daran interessiert zu sein, sich seine Musik anzuhören als mit ihr zu plaudern. Cally kam das durchaus gelegen. Es war bestimmt schon zehn Jahre her, seit sie die Zeit oder das Bedürfnis gehabt hätte, die Überlandroute aus Charleston heraus zu nehmen, und ihre Augen wurden allmählich glasig, als draußen Kilometer um Kilometer Fichtenwälder vorbeizogen, gelegentlich mit verbrannten Stellen oder Abat-Wiesen dazwischen.
Erst als sie sich zwei Stunden später Columbia näherten, wichen die jetzt gemischten Wälder Getreidefeldern und Viehweiden, alle von Sensorstangen eingegrenzt.
»Ich schätze, der Aufwand für die Sensoren und den Strom, den man ja dafür braucht, holen die sich aus ihren Prämien«, meinte sie.
»Diese Prämienfarmer sind richtig komische Vögel. Wenigstens die Hälfte von ihrem Einkommen verdienen die sich mit Prämien, und die Hälfte davon geben sie dafür aus, gegen Abat und Grat zu kämpfen. Richtige Einzelgänger. Vor fünfzehn Jahren hat es da mal einen gegeben, der völlig durchgedreht hat und den sie dabei erwischt haben, wie er, ob du’s nun glaubst oder nicht, Posties gezüchtet hat. Das war vor meiner Zeit, aber er hatte neben seinem Land einen Postie-Gottkönig, mit dem er, so wie ich das mitgekriegt habe, einen Deal hatte, dass der ihm die Köpfe von Postie-Normalen gleich nach dem Nestlingsstadium geliefert hat und dafür mit der Hälfte am Profit beteiligt war. Die haben dem wirklich übel zugesetzt, als sie ihn erwischt haben.«
»Wie haben sie ihn denn erwischt?«, fragte sie höflich, weil Marilyn sich nicht an die Story erinnern würde.
»Er hat ständig doppelt so viele Prämien geliefert wie die anderen Typen in seiner Umgebung. Ich schätze, da ist einfach einer argwöhnisch geworden. Als der Postie-Gottkönig das nächste Mal geliefert hat, hatten die ihn beobachtet und so.« Er schob sich einen frischen Streifen Kaugummi in den Mund. »Das wirklich Irre war, als die dann rauskriegten, wo dieser Postie gelebt hatte. Mann, das war das reinste Elsternnest. Stanniol, polierte Pennys, verchromte Fahrradlenkstangen, Autoteile und solches Zeug, sogar etwas Gold. Dieser Postie muss total durchgeknallt gewesen sein, ich meine, was hatte der schon für eine Chance?!« Er zuckte die Achseln, und dann fuhren sie eine Weile schweigend dahin, bis der Konvoi allmählich langsamer wurde, als die vordersten Fahrzeuge das Tor der Columbia-Handelsstation erreichten.
Durch die Tore hineinzufahren ging wesentlich schneller, als die Abfahrt von Charleston gewesen war. Die Wachen von Columbia wollten die Tore offensichtlich so kurz wie möglich offen lassen, deshalb ließen sie den ganzen Konvoi hinein und schlossen dann das riesige Stahltor hinter ihnen, ehe sie mit dem Papierkrieg anfingen.
Während Reefer darauf wartete, sich einzutragen, wies er mit einer weit ausholenden Handbewegung über den riesigen Parkplatz auf ein niedriges Gebäude mit Benzinzapfsäulen davor. Einer der Tanker ganz vorne war neben das Gebäude gefahren und hakte jetzt seine Schläuche aus.
»Sobald ich hier durch bin, muss ich nachtanken. So läuft das hier mit dieser Konvoigeschichte. Die lassen dich nicht weg, wenn du nicht voll getankt hast. Falls du dir die Beine ein wenig vertreten oder was trinken willst oder sonst was — das hier ist die letzte Station vor Spartanburg in drei Stunden.«
In ihrer Touristenrolle war es ganz normal, dass sie Neugierde zeigte, also nutzte sie die Gelegenheit, sich alles gründlich anzusehen, während sie zum Stationsgebäude schlenderte, um sich dort in die Schlange an der Toilette einzureihen. In zehn Jahren hatte sich hier nicht viel verändert. Den Asphalt des großen Parkplatzes hatte man ein wenig ausgebessert, aber das lag auch schon eine Weile zurück. Die Mauern hatten sie nicht ausgeweitet — das hätte nur eine Vergrößerung der Verteidigungsmauern bedeutet, die sie im Notfall besetzen mussten. Oh, der Laden war ein wenig besser sortiert, und ein paar mehr Kinder wimmelten mit Frauen von den Farmen herum, die hier einkauften, aber im Großen und Ganzen war es einfach ein typischer General Store, wo es Futtermittel und Saatgut gab und ein Zentrum für die Prämienbearbeitung. Sie kaufte sich ein Glas Apfelsaft und ein paar Salzbrezeln und ging wieder auf den Parkplatz hinaus. Die einzige Mechanikerstation war heute mit einem Traktor beschäftigt. Zum Glück schien niemand im Konvoi entsprechenden Bedarf zu haben. Drüben bei der Verbrennungsanlage zahlte der Prämienagent für ein paar Postie-Köpfe. Sie rümpfte die Nase, als der Wind umschlug und ihr den unvergesslichen Gestank von toten Posleen herübertrug, in den sich Motoröl und Auspuffdämpfe mischten. Mit ihrem Imbiss ging sie zu dem VW-Bus zurück und entfernte sich damit von den widerlichen Trophäen. Sie betrachtete die verschiedenen Trucks und Busse und dazwischen hie und da auch einen Personenwagen und seufzte. Es würde vermutlich noch mindestens eine Viertelstunde dauern, bis sie sich wieder in Bewegung setzten, und sehr viel mehr gab es hier eigentlich nicht zu sehen. Deshalb zog sie ihren PDA heraus und nutzte den Rest der Pause, um sich durch die Tagesnachrichten zu klicken.
Die Straße nach Spartanburg wirkte recht ruhig, die Landschaft entlang der Autobahn wechselte von Feldern und Kühen in der Nähe von Columbia zu dichten Pinien- und Pappelwäldern, die ein paar Meter hinter der Roundup-Zone begannen. Diese Bezeichnung im Volksmund für die Ränder der Fernstraße war dem Tanklastwagen zuzuschreiben, der alle paar Monate hinter dem Konvoi mit einem Sprühansatz herfuhr, um den Straßenrand mit billigem Herbizid zu besprühen. Die Bundesbehörden hatten schon recht früh entschieden, dass dies einfacher, billiger und sicherer war als Mähtrupps einzusetzen, um ein kleines, aber hinreichendes freies Schussfeld zu erzeugen. Im Frühjahr wanderten Ausläufer des Buschwerks schnell wieder zurück, um das verlockende freie Gelände mit reichlich Sonneneinstrahlung zurückzugewinnen — so wie es aussah, würde bald eine neue Runde des Sprühtrucks erforderlich sein.
Die zarte Vegetation am Rand war für die Herden von Whitetails besonders attraktiv, die sich an das ungestörte Äsen morgens und abends gewöhnt hatten, wenn sie weder von Konvois noch von anderem Verkehr gestört wurden. Gelegentlich auftretende wilde Posleen sorgten dafür, dass die Herde klein blieb. Gesunde Rehe konnten gewöhnlich vereinzelte Posleen-Normale wittern und ihnen so entkommen. Unglücklicherweise für die Rehe reichte das aber nicht aus, wilde Normale von ständigen Versuchen dieser Art abzuhalten. Dies wurde dem Konvoi klar, als ein Jährlingsbock unmittelbar vor einem Kirchenvan aus Nashville aus dem Gebüsch schoss, diesen zu einer Vollbremsung veranlasste, was wiederum den Sattelschlepper dahinter auf den Van aufprallen ließ, weil er nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.
Callys erster Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, war das Knirschen von Metall hinter ihnen und das Schnattern eines Maschinengewehrs, es klang wie eines der MG-90, die auf den Sattelschleppern montiert waren. Sie griff sich die.45 aus dem Handschuhkasten, während Reefer eine Verwünschung ausstieß und das Steuer herumriss, als der Fahrer des Busses vor ihnen auf die Bremse trat und mitten auf seiner Fahrspur anhielt, sodass der Van etwas langsamer dicht neben dem Bus zum Stillstand kam. Auf die ganze Länge des Konvois hielten die etwa dreißig Fahrzeuge an, aus denen er bestand, und die Fahrer und Schützen suchten zuerst nach Posleen, sahen dann, als sie keine entdeckten, auf ihre Detektoren und schalteten ihre Funkgeräte auf Kanal neunzehn für die offizielle Konvoiinformation.
»Eingangstür, hier Truck siebzehn.« Die Frauenstimme sprach im gedehnten Tonfall der Texaner. »Wir haben einen toten Postie, ein defektes mittleres Passagierfahrzeug und ein paar kleinere Fahrzeugschäden hier hinten. Negativ zu Postie-Emissionen und hochwertigem Gerät. Negativ Kamm. Bloß ein weiteres wildes Normales. Wir brauchen einen Sani und müssen die irgendwo unterbringen, weil der Van nicht mehr funktioniert. Bitte kommen.« Der Empfang war ungewöhnlich klar, schlicht und einfach, weil der Funkverkehr kaum Konkurrenz hatte. Freilich, es gab ein wenig Knistern von Sonnenflecken und anderem unvermeidbarem Zeug, aber dies war jedenfalls eine überraschend billige Methode, einen Konvoi zusammenzuhalten. Außerdem entsprach es der Tradition.
»Verstanden, Siebzehn. Johnny, hast du deine Ohren an?«
»Verstanden, Eingangstür. Ich habe meine kleine schwarze Tasche und bin unterwegs, bitte kommen.«
»Verstanden. Siebzehn, alles, was nicht beschädigt ist, soll sich aufreihen, und Johnny soll wieder anrufen, sobald er die Verletzten versorgt hat. Bitte kommen.«
»Ver-stan … Larry, hör auf, an dem Ding rumzufingern. Das kannst du machen, sobald wir diese Kirchenleute … ups. Das Ding ist immer noch an. Tut mir Leid, Eingangstür, Ende.«
»Hey … äh … Marilyn?« Reefer war um seinen Bus herum auf die rechte Seite gegangen, wo sie mit dem Rücken zum Bus stand das Geschehen aufmerksam beobachtete. »Kannst ruhig wieder einsteigen und das Ding in den Handschuhkasten tun, Mann, ich meine, ist ja ziemlich blöd, wenn einer von diesen Posties auf die Straße gerannt kommt, aber ehrlich gesagt, seit ich hier fahre, ist nie mehr als eins von diesen Dingern auf die Straße gerannt gekommen.«
Cally ging zum Bus zurück, warf einen Blick auf den Sensor am Armaturenbrett und stieg wieder ein. Die Waffe verwahrte sie nicht im Handschuhkasten, aber Reefer zuckte bloß die Achseln und schob sich einen frischen Streifen Kaugummi rein. Selbst noch vor zwanzig Jahren hätte der Konvoi einen Kreis gebildet statt einfach stehen zu bleiben wie ein Rudel Kindergartenkinder. Diese Gleichgültigkeit beunruhigte sie, aber als sie die negativen Sensoranzeigen am Armaturenbrett und auf dem Bildschirm ihres PDA sah, der mit dem Straßennetz verlinkt war, ging ihr Adrenalinpegel langsam zurück, und die Zeit floss wieder im normalen Tempo dahin.
Obwohl es ihr natürlich länger vorkam, dauerte es tatsächlich nur etwa zehn Minuten, bis der Konvoi sich wieder in Bewegung setzte, um einen Van kürzer, aber ohne Verluste an Menschenleben. Auf der anderen Seite der Straße, an der Baumgrenze, äste ein Rehbock ungerührt im frischen Grün.
Die Trading and Bounty Station von Spartanburg unterschied sich kaum von der von Columbia. Die Stadt war nicht Teil von Fortress Forward gewesen, und deshalb war der Zustand der Gebäude ganz unterschiedlich: eine ganze Anzahl waren durch Selbstzerstörungssysteme gesprengt worden, manche andere von den Posleen geplündert. Aber der Leerstand während der Posleen-Besetzung und der zögernde Verlauf der Rückgewinnung durch die Menschen hatte den aus der Vorkriegszeit stammenden Teilen der Stadt zugesetzt. Genau genommen war die Station nicht Teil der ursprünglichen Vorkriegsstadt. Vielmehr hatte man eine der am wenigsten beschädigten Ansammlungen von Tankstellen und Raststationen repariert, zusätzlich eine Verbrennungsanlage und Stromgeneratoren zur Versorgung der Station installiert und dazu den nötigen Wasserturm sowie entsprechende Abwasseranlagen gebaut. Das Bundesbüro für Wiederaufbau hatte einen Wall um die neu entstandene Anlage und ein paar benachbarte Gebäude errichtet, einen Fertigbau für das Personal dazugestellt und es damit gut sein lassen.
Am deutlichsten unterschied Spartanburg sich von der letzten Station durch die lange Schlange an der Zahlfunkstation, als die Angehörigen der Gruppe von Nashville ihre Freunde und ihre Familien zu Hause anrufen wollten.
Die Bewohner der Station waren es offenkundig gewöhnt, dass die Konvois bei ihnen Mittagspause einlegten. Eines der Gebäude innerhalb der Schutzmauern war eine Imbissstation, die noch aus der Vorkriegszeit stammte. Im Laufe der Jahre hatte die Sonne das Plastikmaterial um das flache Dach des Gebäudes vergilben lassen. Die Stahlstange, die früher einmal eine Leuchtschrift getragen hatte, war verlängert worden und trug jetzt die Funkantenne der Station.
Auf dem Parkplatz des Restaurants standen uralte Picknicktische aus verschiedenen Materialien, die man offenbar überall zusammengekratzt hatte. Vielleicht ein Drittel davon stammte noch aus der Vorkriegszeit. Eine Hand voll Mädchen im Teenageralter in Shorts und T-Shirts bedienten. Callys Omelette war zäh und überteuert, aber die Bedienung gab sich große Mühe, schenkte ihr mehrfach Wasser nach und entschuldigte sich mit einem freundlichen Lächeln für die Qualität des Gebotenen.
»Wenn du den Geschmack von dem Zeug hier loswerden willst, solltest du dir in dem Laden dort drüben ein kleines Glas eingelegte Pfirsiche besorgen. Einer von unseren Nachbarn verkauft sie, und die sind wirklich gut. Ich meine, wenn man Pfirsiche mag.«
»Danke, werde ich tun.« Cally lächelte, wobei ihr die wehmütigen Blicke des Mädchens, die ihrem PDA galten, nicht entgingen.
»Du bist College-Studentin … nicht wahr? Das muss schön sein.« Das trug ihr einen bösen Blick eines anderen Mädchens ein, das ein wenig schneller als sie bediente.
»Ja, mir gefällt es. Wo willst du dich denn bewerben?«
»Das würde nichts nützen.« Das Mädchen wurde rot. »Die nehmen einen nicht, wenn man aus einem anderen Staat kommt, sofern man nicht Geld hat.«
»Ich kenne eine ganze Menge auswärtige Studenten. Und es gibt schließlich auch Stipendien.«
»Dazu muss man Prüfungen bestehen. Ich habe mich erkundigt.« Sie warf dem anderen Mädchen einen finsteren Blick zu, als dieses, mit einem Stapel gebrauchter Teller beladen, einen unfreundlichen Laut von sich gab. »Ich wette, von deinen auswärtigen Freundinnen kommt keine von einer Prämienfarm, oder?«
»Wenn du die Prüfungen nicht schaffst, musst du eben lesen und studieren, bis du es schaffst.«
Das Mädchen lachte. »Bibliothek.« Sie deutete auf den Wohnwagen des Bounty-Agenten. »Zwei Regale voller Lexika aus der Vorkriegszeit und ein zerfleddertes Exemplar von Ledergöttinnen von Phobos.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein.« Cally fiel die Kinnlade herunter.
»Nee.« Sie grinste verkniffen. »Na ja, es sei denn, du zählst die Pornomagazine mit, die Agent Thomas unter seinem Bett verstaut. Ich habe mich schon mal so gelangweilt. Ups, ich muss jetzt gehen, die Pfirsiche solltest du echt versuchen.« Sie zuckte zusammen, als sie das Gesicht der Frau in mittleren Jahren sah, die aus dem mit Isolierband geflickten Plastik-»Fenster« der Imbissbude heraussah, und fing an, leere Teller und Besteck einzusammeln.
Cally starrte ihr einen Augenblick lang nach, ehe sie in ihrem Rucksack nach einem abgegriffenen Exemplar von Pygmalion wühlte und das Buch einen Augenblick lang anstarrte.
Ich kann mir ja wieder eins besorgen. Sie stopfte das Trinkgeld des Mädchens hinter den Einbanddeckel, leerte ihr Wasserglas und ging dann zu der Tür, wo das Mädchen gerade herauskam, um sich die nächste Ladung abzuholen. Als sie den roten Handabdruck im Gesicht des Mädchens und ihre geröteten Augen sah, presste sie die Lippen zusammen und drückte ihr das Buch in die Hand. »Du darfst nie aufgeben«, redete sie ihr zu, griff ihr unters Kinn und drehte ihr den Kopf herum, damit sie ihr in die Augen sehen musste. »Niemals aufgeben. Niemals. Du schaffst das.«
Das Mädchen zuckte zusammen und musterte ihr Gegenüber scharf, als ob ihr plötzlich der Verdacht gekommen wäre, dass sie viel älter als zwanzig war, was auch immer sonst sie sein mochte. Sie lächelte grimmig, stopfte sich das Buch in die Tasche und machte sich wieder an die Arbeit.
Cally hörte sie murmeln »Danke, Ma’am«, als sie zu dem VW-Bus zurückschlenderte, wieder exakt wie eine Studentin auf Reisen, bemüht, ihre Selbstvorwürfe wegen Verletzung ihrer Tarnung nicht zu offensichtlich werden zu lassen.
Vor den Mauern verzog Cally das Gesicht, als sie das Kudzu-Gestrüpp am Straßenrand sah. »Das gibt Probleme mit Abat, nicht wahr?«
»Was? Ja, und wie. Das kommt an diesen Orten häufig vor. Wenn es kein gutes Anbauland ist oder dicht beim Haus von jemandem liegt, geht es niemand etwas an. Da reinzugehen und das Zeug wegzuschaffen, das macht ’ne Menge Arbeit, und dafür kriegt man keine Prämien und die eigene Saat wächst davon auch nicht. Bis dann irgendein armer Teufel von einem Grat gebissen wird. Ich kann dir bloß sagen, Mann, auf der ganzen Welt gibt’s nicht genug Geld, um mich zum Farmer zu machen.«
Als das Land und die Straße dann hügeliger wurden, türmten sich zuerst die kleinen, immer größer werdenden Bäume und das Gestrüpp wie grüne Mauern entlang der Straße auf, dann kamen riesige Granitdurchbrüche, als sie in die Blue Ridge Mountains hinaufklettern, die wie eine gewaltige Wand vor ihnen aufstiegen, welche der nachmittägliche Dunst nur geringfügig weicher machte. Jetzt, wo das sich ändernde Terrain es nicht mehr nötig machte, eine Roundup-Zone zu haben, tauchten hier und da kleine Grasinseln und irgendwelche Cally unbekannten blauen Blumen auf, die sich im Felsboden festkrallten und gelegentlich dazwischen ein paar leuchtend gelbe Kleckse von Bergazaleen. Reefer schaltete die Klimaanlage ab und kurbelte die Seitenscheiben herunter, um die frische, kühle Bergluft hereinzulassen. Cally gab sich Mühe, nicht die Nase zu rümpfen, weil damit auch der Auspuffgestank des restlichen Konvois hereinkam, und schlang sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz, damit ihr die dunklen Locken nicht ins Gesicht flogen.
An einem der Durchstiche konnte man noch Reste von einigermaßen exotischem Schutt erkennen, wo sie den Wall in die Luft gejagt hatten, die Straße dann nach Fertigstellung der Green River Gorge Zugbrücke beim Wiederaufbau der Route zum Hafen von Charleston neu zu eröffnen.
An der Zugbrücke gab es keine Verzögerung, weil der vorderste Truck bereits synchronisierte Codes vorausgefunkt hatte, um den Brückenwärter zu verständigen. Cally beruhigte es, den ungewöhnlich wachsamen Mann dabei zu beobachten, wie er ganz offensichtlich den Konvoi und seine sämtlichen Sensoren im Auge behielt, während der VW über die heruntergelassene Brücke polterte.
Nach der ersten Ausfahrt hinter der Brücke überholten sie gelegentlich lokalen Verkehr — hie und da einen uralten Pickup-Truck oder einen Off-Roader aus den Berggemeinden, die nach der großen Entlassungswelle überlebender Soldaten nach dem Krieg wieder zu einem Leben zurückgekehrt waren, wie sie es die letzten vierhundert Jahre geführt hatten. Ein wenig ärmer vielleicht, aber was machte das Leuten schon aus, die sich an dieses Hochland ebenso gewöhnt hatten und es liebten, wie ihre Vorfahren ihr früheres Zuhause geliebt hatten; schließlich hatten sie ihre Berge, ihre Nachbarn, und für sie fühlte sich die gerade erträgliche Armut, die sie umgab, eher wie ein vertrautes, ausgetretenes Paar alter Schuhe an, als sie wirklich zu belasten. Ihre Berge waren nichts für Weichlinge, Faulpelze oder habgieriges Volk, aber sie hatten sie vor einer Gefahr beschützt, die weichere und reichere Leute völlig hilflos gemacht hatte. Dieses Wissen hatte die Zuneigung der Ortsansässigen zu ihren Bergen zu einem immer währenden Band geschmiedet, das eigentlich weit über bloße Zuneigung hinausging und bis zu respektvoller Ergebenheit reichte. Und das war einer der Gründe dafür, dass die ländlichen Regionen in den Appalachen die wohl niedrigsten Abwanderungsquoten auf dem ganzen Planeten hatten. Die Bewohner dieser Bergregion wussten zwar, dass es in der modernen Galaxis viele Orte gab, wo Menschen leben konnten, aber dieser Ort hier gehörte nur ihnen, und sie waren fest entschlossen, ihn auch zu behalten.
Es war früher Abend, aber noch recht hell, als der Konvoi in den Baldwin-Pass einfuhr, wo die Southeast Asheville Urb lag. Sie bogen vom Blue Ridge Parkway auf die Victoria Road und fuhren durch die zerfallenen Überreste vierzig Jahre alter Befestigungsanlagen in das Tal — mit einem Sammelsurium von Sensorboxen und Sendern bestückte Anlagen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die ortsansässigen Bauern dort angebracht hatten und auch unterhielten, weil sie mehr daran interessiert waren, ihr Land und ihr Vieh zu schützen, als irgendwelche Abschussprämien zu sammeln. Asheville verfügte über Energie, ausreichenden Schutz und reichliche Kühlmöglichkeiten und war deshalb Rinderland; es verkaufte einen großen Teil seines minderwertigen Rindfleischs an die örtlichen Urbs und schickte die besseren Qualitäten nach Charleston, damit die Touristen dort ein gepflegtes Steak-Dinner bestellen konnten. Reefer, offensichtlich ein Städter, hatte die Fenster wieder geschlossen und die Klimatisierung eingeschaltet, als der erste Schwall Kuhmist hereingeweht war — ihr machte das nichts aus.
Das Allererste, was Cally auffiel, als sie in Sichtweite der Fahrzeugbereitstellungszone von Asheville Urb kamen, war die größere Zahl von Menschen, die den Wall besetzt hatten, und die geringe Aufmerksamkeit, die all die Menschen ihrer Aufgabe widmeten. Einige trugen Kopfhörer, die aber ihrem rhythmischen Kopfnicken nach zu schließen Musik und nicht etwa Informationen lieferten. An einer Ecke des Walls plauderte eine junge Frau in Wachuniform mit einem Zivilisten. Eine weibliche Uniformierte stand über dem Einfahrtstor und blickte nach draußen. Aber während ihre Augen die Hügel absuchten, sah es die meiste Zeit nach ihren Handbewegungen zu schließen aus, als hätte sie auf der Mauerkrone ein Solitärspiel liegen, mit dem sie befasst war.
»Ich denke, so dicht bei der Zivilisation gibt es nicht allzu viele Wilde«, meinte Cally als sie durchs Tor fuhren, schlüpfte wieder in ihre Sandalen und schloss den Roman, den sie gerade auf ihrem PDA las.
»Hä?«
»Also, diese Wachen, ich muss schon sagen, die sahen doch recht gelangweilt aus. Nicht dass ich große Vergleichsmöglichkeiten hätte, denn bei uns zuhause haben wir die nicht«, sagte sie.
»Oh, yeah«, nickte er. »Die sind hier ziemlich locker, weißt du? Ich war schon oft mit ihnen zusammen, wenn ich hier durchkam. Das Mädchen, mit dem ich geredet habe, hat gesagt, es wird ganz gut bezahlt, und das ist auch ein Bundesjob, also sind die Nebenleistungen in Ordnung.« Er schluckte und schob sich wieder einmal einen Streifen Kaugummi hinein. »Für mich wäre das nichts, Mann, ich meine, nicht dass es stressig wäre oder so, aber ich könnt’s einfach nicht ertragen, für den Bund zu arbeiten.«
»Ich auch nicht«, meinte sie grinsend. »Und was passiert jetzt?«
»Na ja, ich muss halt auf die Tussi von einem der Restaurants warten und hören, was sie kaufen möchte, und dann muss ich meinen Bus morgen für den Konvoi herrichten. Und dann, na ja, ich schätze Abendessen und irgendwo übernachten. Vielleicht finde ich eine Party, aber eine, wo’s nicht zu heiß hergeht, du weißt schon, wo ich doch morgen wieder fahren muss.« Einen Augenblick lang wirkte er ziemlich unschlüssig. »Oh, tut mir Leid.«
»Du musst hier oft durchkommen. Ich frag dich ja ungern, wo du ja schon so viel für mich getan hast, aber könntest du mir vielleicht einen Tipp geben, wo ich zu Abend essen kann und, na ja, auch übernachten, aber es darf nicht so teuer sein?«, fragte sie und sah dabei zu Boden und scharrte mit dem Fuß im Sand.
»Oh, kein Problem. Ich treffe mich mit einer Freundin, also bin ich bis morgen früh völlig weggetreten, sei mir nicht böse. Ah … die Cafeteria ist große Scheiße, also geh da gar nicht erst hin. Dort zahlst du mit Asheville-Urb-Kaloriencredits, und bei dem Wechselkurs ziehen die dir das Fell über die Ohren. Ich schätze, am besten bist du in der Mall dran, dort gibt’s ne Menge Verkaufsstände. Taco Hell war ganz in Ordnung, als ich das letzte Mal dort war, aber das liegt jetzt schon ein paar Monate zurück, und damals war ich ganz knapp bei Kasse. Was Zimmer betrifft, würde ich dir, wenn du ein Kerl wärst, sagen, nimm das Motel vor dem Wall und lass dein Zeug im Bus, aber an deiner Stelle würde ich mir da ehrlich gesagt lieber einen Urbie-Typen für ’nen One-Night-Stand aussuchen, denn besonders elegant ist die Bude nicht.« Er runzelte die Stirn, kratzte sich das Kinn unter seinem Bart und blickte verdrossen. »Scheiße. Bleib doch einfach da, bis Janet kommt. Vielleicht weiß sie was für dich, für die Nacht, meine ich, die Hotelpreise in der Urb sind einfach unglaublich, ehrlich, Mädchen.«
»Oh, nein, ist schon in Ordnung. Ich will mich nicht in dein Date drängen oder so was. Ich meine, ich habe mir schließlich die Busfahrt hierher gespart und hatte vor, über Nacht zu bleiben. Das geht schon klar.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm und lächelte beruhigend.
»Ach was, bleib einfach da. Dann lernst du Janet kennen, und wir können zusammen reingehen. Ich kann wenigstens dafür sorgen, dass die dich nicht zu schlimm bescheißen, wenn du dein Hotelzimmer mietest. Oh, ’tschuldigung.« Et ließ sie einfach stehen und ging zu einer etwas übergewichtigen Frau in mittleren Jahren hinüber, die ein Klemmbrett in der Hand hielt und einen kleinen Wagen mit einem Eimer hinter sich herzog, der halb voll Wasser war.
Während Reefer und die Restaurantbesitzerin feilschten, wandte Cally sich wieder Marilyns Liebesroman auf ihrem PDA zu und lehnte sich dabei an den Bus, aus dessen offenem Fenster Musik drang … dog has not been fed in years. It’s even worse than it appears but it’s all right. Cows giving kerosene, kid can’t read at seventeen …
Nach einer Weile zog die ältere Frau ihren Wagen weiter, wobei ein wenig Wasser aus dem Eimer spritzte. Reefer blieb zurück und machte sich eine Weile an seinen Tanks zu schaffen, während allmählich die Nachmittagssonne hinter den Bergen versank. Schließlich seufzte er, kam zu ihr herüber, kratzte sich mit einer Hand am Hinterkopf und blickte in den Sonnenuntergang. »Äh … hör mal, du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du hier ein paar Minuten auf Janet warten würdest, während ich mich für den Konvoi morgen eintrage. Ich meine, sie kennt meinen Bus, also, wenn du sie siehst … äh … sie ist ziemlich schmächtig, okay? Und sie hat gerades, schwarzes Haar, bis hierher, und dürfte so alt sein wie du. Hast du … äh … wie soll ich das sagen … äh … hast du je von den Gothic-Leuten gehört?«, fragte er.
»Äh … nein. Na ja, weißt du … sie trägt meistens Schwarz, okay? Und Silberschmuck. Wahrscheinlich wird sie ’ne ganze Menge Silberschmuck tragen. Und an einem Handgelenk hat sie eine echt coole Tätowierung, so etwas Keltisches. Links, denke ich. Du kannst sie gar nicht übersehen. Also … äh … wenn sie hier … äh … auftaucht, während ich weg bin, und das wird sie wahrscheinlich, würdest du ihr da sagen, dass ich gleich wieder da bin?« Er biss sich auf die Unterlippe, reckte den Hals und sah zum Eingang der Urb hinüber, als könnte er sie heraufbeschwören, wenn er nur oft genug hinsah.
»Geht klar, Reefer, ich sage ihr, du bist gleich wieder da«, sagte sie.
»Klasse. Danke, Mann.« Er ging auf die Reihe von Sattelschleppern zu, die die vordere Partie des Konvois von Charleston gebildet hatte.
Als Reefer mit seiner Konvoinummer für den nächsten Tag zurückkam, hatten sich die Wolken in strahlende Schmierer aus grellem Pink und Orange verwandelt. Als er außer Cally niemand bei seinem VW vorfand, sackte ihm der Unterkiefer herunter.
»Shit«, murmelte er halblaut, als er die Fahrertür öffnete und seinen Rucksack herauszog. »Ich schätze, ich habe dich umsonst hier warten lassen. Tut mir Leid, Marilyn. Äh, gehen wir, denke ich.«
Cally griff sich wortlos ihren Rucksack und folgte ihm auf das Tor der Urb zu. Der Parkplatz war mit Schlaglöchern übersät und hätte dringend eine neue Asphaltschicht gebraucht, aber die frisch aufgemalten Streifen auf dem ausgebleichten Asphalt ließen erkennen, dass das für die unmittelbare Zukunft nicht geplant war. Selbst aus der Ferne konnte sie sehen, dass die Mauern im Eingangsbereich der Urb mit Graffiti bedeckt waren, einige davon neu, andere mit den Jahren ebenso verblasst wie die ursprüngliche Farbe des Gebäudes.
Als sie auf das Tor zugingen, kam ein Paar in ausgeblichenen Jeans und kunstvoll zerrissenen schwarzen T-Shirts auf sie zu. Reefer schien sie zu erkennen, und sein Schritt stockte kurz, aber er ging dann gleich weiter. Als sie voreinander standen, registrierte Cally sein etwas angestrengtes Lächeln.
»Also, ich muss schon sagen, cool. Hi, Janet. Janet, das ist Marilyn. Marilyn, Janet.« Seine Stimme klang etwas gequält. Cally trat neben ihn und legte den Arm um seine Taille. Das Wenigste, was ich tun kann. Er hat mich mitgenommen und unterwegs nichts Hässliches getan. Außerdem ist Marilyn sensibel.
»Oh, freut mich, dich kennen zu lernen.« Janet legte den Kopf etwas in den Nacken, um zu dem hageren Jungen in ihrer Begleitung aufblicken zu können. »Thad, das ist der Typ, von dem ich dir erzählt habe, Reefer. Du bist ein guter Maler, Mann. Freut mich.«
»Yeah, klar.« Er griff nach der Hand, die Cally um seine Hüfte gelegt hatte, und strahlte sie dankbar an. Dann herrschte einen Augenblick lang verlegenes Schweigen, als sie einander gegenseitig musterten. Thads roter Backenbart kontrastierte schrill mit den neonblauen Spitzen in seinem schwarzen Haar. Auf der einen Schulter, wo er den Ärmel aus dem Hemd gerissen hatte, konnte man den eintätowierten Kopf eines Posleen-Gottkönigs mit gesträubtem Kamm und aufgerissenem Maul sehen. Auf der Stirn trug er eine metallisch goldene Tätowierung eines Blitzes. Seine Haut war völlig rein, typisch für eine Generation, die Akne mit derselben Skepsis betrachtete wie ihre Großeltern Erzählungen aufgenommen hatten, in denen es darum ging, am Morgen durch den Schnee zur Schule zu gehen.
Cally brach die inzwischen peinlich werdende Stille, indem sie Reefer in den Po zwickte und grinste, als der zusammenzuckte. »Hey, Babe, holen wir uns was zu futtern, oder wie?«
»Hey, Marilyn, ist ja wirklich nett von dir, aber das brauchst du nicht zu tun.« Das flüsterte Reefer ihr ins Ohr, als sie die Wohnkorridore zu Janets Apartment hinuntergingen, wobei er sich drei Schritte hinter seiner Ex-Freundin und deren neuem Typen hielt.
»Schsch«, sie legte ihm den Finger auf die Lippen, »ist schon in Ordnung.«
»Wir können nach oben gehen und uns im Hotel Zimmer nehmen, separate Zimmer natürlich, und auch wenn ich wie eine Schlafmütze aussehe, du hast mir wirklich den Abend gerettet …«
»Schsch.« Sie hielt ihn wieder an und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich mache da kein Angebot, ich brauche bloß ’ne Bleibe für die Nacht und du ein wenig moralische Unterstützung, also beruhig dich und halt die Klappe, ja?« Und von der handwerklichen Seite her ist es gut, wenn man nirgendwo einchecken muss.
»Hey, ihr beiden, besorgt euch ein Zimmer«, rief Janet über die Schulter gewandt nach hinten.
»Aber gern doch, deins.« Cally grinste zurück. »Na ja, schön, jedenfalls deinen Futon.«
Abgesehen von dem unvermeidbaren Futon war das Erste, was Cally an dem Apartment auffiel, dass irgendwer den Auslass für den Rauchmelder mit Isolierband verklebt hatte und dass die Filter über den Luftauslässen geflickt waren. Das Zweite war der tragbare Luftreiniger in der Ecke, der an einer Steckdose in der Wand hing. Der ohnehin schon kleine Raum wirkte infolge der düsteren holographischen Plakate diverser Musiker und Gruppen, mit denen der Großteil der Wände bepflastert war, noch kleiner. Einzige Ausnahme bildete der Quadratmeter Wandfläche, wo der dünne Vidscreen hing. Schwarze, rote und silberne »Fantasiefische«, in deren Schuppenmuster diverse Motive einprogrammiert waren, schwammen auf dem Bildschirmschonerprogramm hin und her. Cally entdeckte ein Ankh, ein Eiderzeichen (komplett mit einer neonblauen Flamme), ein Spinnennetz und einen Davidsstern im Kreis und und und.
Der Futon befand sich in Couchstellung an der dem Bildschirm gegenüberliegenden Wand. Zwei Türen führten in andere Räume. Bei dem einen handelte es sich eindeutig um das Bad, das konnte man aus dem nackten GalPlas-Boden schließen. Das andere musste das Schlafzimmer sein. In derselben Ecke wie der Luftreiniger stand unter einem Schreibtisch eine kleine improvisierte Kücheneinheit — Mikrowelle mit einer großen Schüssel und einem Wasserbehälter oben und einem kleinen Kühlschrank unten. Diverse Fertiggerichte füllten die Regale des Schreibtischs. Schmutzige Wäsche, leere Lebensmittelpackungen, leere Flaschen und Dosen und Würfelbehälter bedeckten den Fußboden.
»Mögt ihr gerne Filme?« Ihre Gastgeberin kam ohne die geringsten Anzeichen von Verlegenheit herein, wischte den Kram von einem der beiden Stahlrohrklappsessel auf den Boden, hob eine Hand voll Würfel auf und sortierte sie. Dann blickte sie zu Thad auf. »Was meinst du, Süßer, Die Höhle der weißen Würmer, Wiedergänger II oder Die Nacht des Gottkönigs: Die Rückkehr!«
»Keine Ahnung.« Er ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und fing an, Bier zu verteilen. »Höhle ist vielleicht ganz cool. Hey, Reefer, hat dein Name was zu sagen, Mann?«
Der warf Cally einen verlegenen Blick zu, musste aber dann zu dem Schluss gelangt sein, dass es schon in Ordnung sei, denn er schlüpfte aus den Trageriemen seines Rucksacks, legte seine Klamotten auf den Boden und zog ein ziemlich großes vakuumversiegeltes Päckchen in klarem Plastik heraus. Janets Laune schien das erheblich zu steigern, denn sie zog eine kleine Plastikwaage unter dem Futon heraus und warf das Päckchen darauf. »Ein ganzes Kilo? Für uns? Verdammt, Reefer, da hast du ja einen Treffer gelandet. Taugt der Shit was?«
»Und ob! Ihr könnt’s mir glauben. Als ob ich euch verarschen würde! Das ist der gewaltigste Jamaica Blue, den ihr je gesehen habt«, sagte er.
»Also, nicht dass ich je an dir zweifeln würde, Mann, aber das habe ich schon mal gehört.« Das Mädchen musterte die Packung argwöhnisch. »Also, schön, der übliche Preis vorab, wir probieren den Stoff, und wenn es wirklich guter Shit ist, und ich meine total guter Shit, dann sagen wir zehn Prozent drüber, in Dollar.«
»Waaas? Willst du sagen, du vertraust mir nicht? Verdammt, Janet, hab ich dir nicht jedes Mal den geilsten Stoff von der ganzen Route gebracht?« Er griff sich in einer Geste verletzter Unschuld an die Brust.
»Yeah, wenn man mal von dem Zeug absieht, das mit Oregano verschnitten war«, sagte sie.
»Okay, einmal, vor vier Jahren. Und der Scheißkerl, der das gemacht hat, also, na ja, ich meine, der ist weg. Ich meine, total weg, klar? Außerdem war das das letzte Mal, dass jemand meinen Shit befingerte, wenn ich nicht dabei war. Und habe ich das beim nächsten Trip nicht in Ordnung gebracht? Sag’s mir, hab ich’s in Ordnung gebracht oder nicht?«
»Na ja, Reef, das muss ich ja zugeben. Trotzdem, du hast dir das ganze Gemecker ja nicht anhören müssen, das ich über mich ergehen lassen musste. Okay, also zwölf Prozent drüber, in Dollar.«
»Fünfzehn in FedCreds«, konterte er.
»Reef, ich muss in der Lage sein, den Stoff zu einem Preis zu verkaufen, den meine Kunden sich leisten können. Du bist schließlich nicht der einzige Typ, der hier mit einem Konvoi durchkommt, weißt du. Zehn in FedCreds ist absolut das Maximum für mich — elf, wenn du noch ein weiteres Kilo davon hast. Und wenn der Stoff so gut ist, wie du behauptest«, schränkte sie dann ein.
Er lächelte schief, zog ein zweites Päckchen aus dem Rucksack und legte es zu dem ersten auf die Waage. Janet prüfte das Gewicht, nahm dann in jede Hand ein Päckchen und verglich sie sorgfältig, um sich zu vergewissern, dass sie gleich aussahen, ehe sie sie neben die Waage auf den Boden legte, nickte und ins Schlafzimmer zurückging. Cally hörte ein leises metallisches Klicken, dann kam die Frau mit einem großen Umschlag in das Zimmer zurück, zählte einen gemischten Stapel aus Dollar- und FedCred-Banknoten vor ihrem Lieferanten und anschließend einen weiteren Stapel FedCreds auf eine Milchkiste mit einem Sperrholzdeckel, die offenbar als eine Art Couchtisch fungierte.
»Hey, Janny, wenn du jetzt dann mit Kaufen fertig bist, könnten wir uns doch etwas von dem Stoff reinziehen, oder?«, erkundigte sich Thad mit weinerlicher Stimme. Dann nahm er den Würfel, den sie vorher neben den Stuhl hatte fallen lassen, und klickte ihn in das Abspielgerät unter dem Bildschirm. »Dieser Film ist echt cool, ich wette, du kämst nie darauf, dass der nach einem Buch gemacht ist, das irgend so ein alter Typ geschrieben hat«, gab er sachverständig zu verstehen. »So steht’s jedenfalls im Vorspann.«
Der jüngere Mann schob ein schmutziges T-Shirt beiseite, hob ein älteres Buch vom Boden und klappte es auf. Es war nicht zu übersehen, dass man einen Teil der Seiten herausgeschnitten hatte, damit das Buch als eine Art Kassette für Zigarettenpapier dienen konnte. Cally drehte den Kopf etwas zur Seite und konnte auf dem Buchrücken Oliver Twist lesen, als er es wieder hinlegte und seiner Freundin ein paar Papers in die Hand drückte.
Das Mädchen steckte den vollen Beutel in einen leeren, schnitt die Versiegelung mit einer Rasierklinge auf, holte einen Reißverschlussbeutel aus der Milchkiste und bemerkte dabei, wie Cally sie mit hochgeschobenen Augenbrauen beobachtete, als sie ein Paper auf die Waage legte und ein sorgfältig abgezirkeltes Quantum davon und die gleiche Menge aus dem gerade gekauften Beutel dazu tat.
»Bester North-Carolina-Tabak. Der Beste, den die anzubieten haben. Mein Alter ist Prämienfarmer«, meinte sie und tippte dabei auf den Beutel Marihuana, »aber das hier züchtet er nicht. Schade eigentlich, aber er will einfach nicht. Immerhin kann man Zigarettenpapier von ihm kriegen.«
Sie rollte mit geschickter Hand einen Joint, zündete ihn an, nahm einen tiefen Zug, behielt den Rauch einen Augenblick in der Lunge. Dann blies sie den Rauch wieder aus, legte kennerisch den Kopf zur Seite, kicherte kurz und reichte den Joint ihrem Freund weiter.
»Verdammt, Reefer, du hast Recht. Das ist wirklich klasse Shit«, sagte sie und nickte ihm zu. Er griff sich den Stapel FedCreds und stopfte sie in seinen Rucksack.
Als Cally an der Reihe war, bemerkte sie, wie die beiden Käufer sie beobachteten und Reefer sich große Mühe gab, sie nicht zu beobachten. Sie grinste, nahm einen langen Zug und behielt den Rauch in der Lunge, als sie den Joint weitergab. Die anderen drei lockerten sich sichtlich, als Cally den Rauch herausließ und dabei ein albern/dämliches Grinsen über ihr Gesicht zog. Ein wunderbarer Abend. Ein Zimmer voll Bekiffte und ich die einzig Normale. Na schön, mich gehen die drei ja schließlich nichts an. Der Film war inzwischen angelaufen, und Cally lehnte sich an den Futon. Wenigstens war es ein vernünftiger Film, den sie nicht schon in letzter Zeit gesehen hatte. Nachdem der zweite Joint die Runde gemacht hatte, schob Janet Waage und Papers beiseite.
»Mir reicht’s. Das Knabberzeug macht schließlich dick.« Sie musterte Cally abschätzig. »Du solltest wahrscheinlich auch aufhören, Marilyn. Nimm mir’s nicht übel, aber du hast ein wenig zu viel auf den Hüften.«
»Na ja, ich bin auf das Zeug nicht gerade übermäßig scharf.« Cally lächelte kühl und amüsierte sich über den unbegründeten Vorwurf.
»Also, ich schon, Mann.« Thad wühlte in den Regalen herum, zog einen Beutel heraus und setzte sich dann neben Reefer. »Käsegebäck?«
»Hey, klar, Mann. Danke.« Das Marihuana zeigte sichtlich Wirkung bei ihm, und er beugte sich vor, um sich einen frischen Joint zu rollen, wobei er auf den Tabak verzichtete.
»Also, ich habe nicht den Tick, dass ich den Stoff wiegen muss«, lachte er, als er den säuerlichen Gesichtsausdruck seiner Freundin bemerkte. »Ich liebe dich ja, Baby, aber du hast einen Tick.«
Sie warf ihm einen Cracker an den Kopf.
Cally saß auf dem aufgeklappten Futon und starrte, die Arme um die Knie geschlungen, in die Finsternis. Janet und Thad waren eingeschlafen, Thad völlig weggetreten und Janet beinahe nüchtern. Nachdem der dritte Joint die Runde gemacht hatte, hatten Reefer und Thad sich aufgeführt wie zwei Brüder, die sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten. Der Ältere schlief jetzt den Schlaf der Bekifften; sein Schnarchkonzert konkurrierte mit einem seiner Musikwürfel und mühte sich ab, den etwas lästigen, aber alles andere als berauschenden Rauch von Eichenlaub zu durchdringen. So in der Dunkelheit wusste sie gar nicht, was sie eigentlich fühlte, ob es nun Kälte war oder Benommenheit oder Müdigkeit. Sie lehnte sich an Reefers nicht sonderlich wohl riechenden Arm und seufzte mit einem Blick zur Decke. Fast den ganzen Tag lang hatte sie jetzt Reefers Lieblingsmusik genossen, und allmählich fing diese an, ihr ein wenig auf den Geist zu gehen … in again, I’d like to get some sleep before I travel, but …
Sie hörte das Klicken, als das Schloss der Wohnungstür aufgesperrt wurde, und ihr ausgebildeter Instinkt musste sie gewarnt haben, denn sie rollte bereits vom Futon auf den Boden vor der Tür, als diese sich aufschob und zwei kräftig gebaute Frauen in der Uniform der Sicherheitspolizei eintraten. Wie groß ist die Chance …
Eine der beiden Frauen stolperte über Callys ausgestrecktes Bein, als diese sich aufrichtete. Die Welt bewegte sich plötzlich in Zeitlupentempo, als Reefer sich aufsetzte und wie eine Eule in das Licht blinzelte, das die andere Frau angeknipst hatte, als sie ins Zimmer trat. Cally stolperte über die zu Boden gehende Frau, schaffte es, die zweite aufzufangen, ihr Gleichgewicht zu halten und sie ebenfalls zu Boden zu ziehen. Auf dem Weg nach unten stieß ihre Stirn »versehentlich« gegen die Schläfe der zweiten Uniformierten, und zwar ziemlich hart. Cally wippte zurück, fiel über die erste Wache; wie zufällig saß sie dann auf ihren Schultern und griff sich an den Kopf. Gleich darauf stieß sie einen verwirrten Schrei aus. »Autsch!« Sie starrte den ungläubig blickenden Reefer aus glasigen Augen an, als Janet aus dem Schlafzimmer geschossen kam. »Ich hab mir den Kopf angestoßen!«
»Sieh zu, dass du von mir runtersteigst, du blöde Kuh!«, schimpfte die erste Uniformierte. Cally verschob ihr Gewicht leicht auf ihren Schulterblättern, und die Frau zuckte und fluchte dann weiter. Sie war ganz offensichtlich auf ihren Schockerstab gefallen. Die zweite Frau lag reglos auf dem Boden, als Janet mit einem grauen Plastikpäckchen in der Hand ins Zimmer geschossen kam, der ersten Uniformierten die Hose von der Hüfte wegzog und ihr blitzschnell eine Spritze verpasste. Die Wache erschlaffte. Dealing Janet tastete bei der zweiten Frau nach dem Puls, ehe sie erleichtert aufatmete und ihr ebenfalls eine Spritze in die Hüfte jagte.
»Herrgott, hast du ein Glück gehabt. Um jemanden k.o. zu schlagen, musst du sie praktisch umbringen.« Sie sah sich auf dem leeren Korridor vor dem Apartment um und schüttelte dann den Kopf, ehe sie die Tür schloss.
»Autsch«, wiederholte Cally kläglich und hielt sich die Hand an den Kopf, als sie von der jetzt bewusstlosen Uniformierten herunterstieg und unsicher zum Bett taumelte.
»Was zum Teufel war da los?«, wollte Janet wissen und sah zuerst Reefer, dann Cally und schließlich die beiden bewusstlosen Frauen auf dem Boden an.
»Äh … ich habe ein Geräusch gehört, und das hat mich erschreckt, und ich habe versucht aufzustehen, aber, na ja, dann bin ich gestürzt. Autsch.«
»Gestürzt?«, wiederholte Janet wie ein Echo.
»Ja, Mann. Das war total verrückt.« Reefer rieb sich das Kinn. »Yeah, Janny, ich schwör’s dir, sie ist gestürzt. Es war, als wollte sie ihr Gleichgewicht halten, und schließlich ist da kein Platz, wo doch der Futon aufgeklappt ist und alles das, und die sind einfach zu Boden gegangen. Mann … ich kann bloß sagen, wow!«
»Hast du ein Tylenol? Ich denke, ich habe mir auch den Knöchel verstaucht.«
»Moment mal, lass mich deine Augen sehen.« Sie hielt mit einer Hand Callys Kinn und schob ihr den Kopf hoch ins Licht, sah ihr in beide Augen. »Also, nach einer Gehirnerschütterung sieht mir das nicht aus, schätze ich. Teufel noch mal, deine Augen sehen besser aus als meine, und das nach all dem Shit. Ich denke, ich werde gleich eifersüchtig.«
»Äh … was ist mit denen?« Reefer war aufgestanden, hatte sich seine Boxershorts ein Stück hochgezogen und wusste offenbar nicht, ob er die zwei Uniformierten anstarren oder seine Jeans suchen sollte.
»Äh … Tylenol ist im Medizinschränkchen im Bad, geh nur.« Janet winkte Cally hinaus, ehe sie wieder die beiden Bewusstlosen anstarrte. »Also, die waren offensichtlich allein, sonst wären wir jetzt alle bewusstlos und würden gleich eingeschlossen. Das sind Greer und Walton. Die sind echt gierig. Ich denke, die wollten uns entweder durchsuchen oder das Zeug einfach klauen. Äh … lass mich mal nachdenken.«
Als Cally ins Bad ging, sah sie aus dem Augenwinkel, wie die andere Frau zu dem Küchen-/Schreibtisch ging, sich etwas in den Mund schob und dann ein Glas Wasser einfüllte, um es runterzuspülen. Sie schloss die Tür, spülte zwei Tylenol die Toilette hinunter, zerzauste sich das Haar ein wenig, damit es so aussah, als hätte sie geschlafen, und ging ins Wohnzimmer zurück, wo Thad und Janet jetzt hellwach waren, wenn auch nicht mehr ganz so nüchtern wie vorher. Reefer half Thad dabei, den beiden Frauen die Uniformen auszuziehen, während Janet ein paar Decken auf dem Boden ausbreitete.
»Und du bist auch sicher, dass das klappen wird, Janny?«, jammerte er und zog einer der Frauen ein T-Shirt zuerst vom einen und dann vom anderen Arm.
»Was Besseres fällt mir nicht ein. Diese Schlampen werden sich an nichts mehr erinnern. Kipp sie in einen Korridor, schüft ihnen Bier drüber, werf ihre Kleider in die Verbrennungsanlage, dann, darauf wette ich, sind die von der Schmiere viel zu beschäftigt damit, alles zu vertuschen, um zu viele Fragen zu stellen. Wenn die genügend Hirn gehabt hätten, jemandem zu sagen, wo sie hingehen, hätten wir jetzt dieses Gespräch nicht.« Sie zuckte hilflos die Achseln und stellte zwei Dosen Bier neben die Decken auf den Boden. »Aber schüttet sie erst voll Bier, wenn sie dort sind, okay, Reef? Ich will nicht, dass meine Wohnung die ganze nächste Woche nach Alk stinkt.«
Cally lehnte sich benommen gegen den Futon, stieß sich dabei die Knie an und ließ sich schließlich, immer noch mit beiden Händen ihren Kopf haltend, herunter.
»Äh, kann ich jetzt wieder schlafen?«, murmelte sie.
»Äh … klar.« Janet musterte sie scharf, schien sie aber dann nicht mehr zu beachten, als Cally sich zusammenrollte und sich das zweite Kissen über die Augen zog.
Nevis and St. Kitts
Donnerstag, 16. Mai
Mit dem Ausbleiben der Touristen und des Geldes, das diese ins Land brachten, war es auf vielen Karibikinseln während und nach dem Posleen-Krieg zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang und demzufolge gelinde gesagt erheblichen Umweltschäden gekommen. Nevis and St. Kitts hatten Glück gehabt. Je nachdem wie man das sah, konnte man natürlich auch sagen, dass sie klug gewesen waren. Eine strikte Einwanderungspolitik, die vor und während des Krieges nur Einwanderer zugelassen hatte, die FedCreds oder erhebliche Dollarbeträge mitbrachten, hatte es der Regierung ermöglicht, genügend Hiberzine und Lebensmittel vom Festland einzulagern, um sowohl die ursprünglichen Bürger wie auch die auserwählten wenigen Neuen damit zu versorgen.
Unglücklicherweise hatte ein Hurrikan, der die Insel erfasst hatte, eine der Anlagen mit Patienten unter Hiberzine getroffen. Man ging davon aus, dass einen, der aufs Meer hinausgespült worden war, nicht einmal Hiberzine retten konnte — jedenfalls dann nicht, wenn die Haie sich einmal mit ihm befasst hatten. Auf diese Weise hatten die Behörden plötzlich über große Beträge in harter Währung auf örtlichen Banken verfügt, auf die keine Angehörigen Anspruch erhoben. So wie die Dinge lagen, hatten weder die Ortsansässigen noch die wiederbelebten Patienten der beiden anderen Hiberzine-Anlagen nachhaltige Einwände erhoben, als die Regierung dieses Kapital für Investitionen zur Wiederbelebung der touristischen Attraktionen der Inseln benutzt hatte. Zugegebenermaßen gab es in der Nachkriegswelt nicht viel Tourismus, aber um den wenigen, den es gab, bemühte Nevis and St. Kitts sich und bekam ihn auch.
Nicht dass der schlanke, jung aussehende Mann mit schütterem Haar, der jetzt unter einem Sonnenschirm lag und die Salzluft und einen Mai-Tai mit einem winzigen Papierschirm genoss, sich mit derartigen Gedanken beschäftigt hätte. Stattdessen galt sein Denken, wie es ja häufig und bei vielen Menschen der Fall war, dem Thema Geld. Genauer gesagt der Herausforderung, mehr davon an sich zu bringen und dabei seinen Arbeitgeber im Unklaren über die Herkunft der Gelder und die bloße Existenz seiner zusätzlichen Mittel zu lassen.
Der Ort, an dem er sich augenblicklich befand, hatte mit dieser Herausforderung viel zu tun. Er hatte eine Vorliebe für schnelle Autos, große Häuser sowie Designerkleidung und unterschied sich darin nicht von vielen seiner Zeitgenossen, aber in seinem Alltagsleben hätte er sich damit verraten. Stattdessen hatte er einen Kompromiss gefunden, der es ihm erlaubte, einen Teil seines nicht ganz legalen Einkommens zu nutzen, ohne dass seine Freude an anderen kleinen Luxusgütern getrübt wurde. Der Atmung, beispielsweise. Und so lebte er im Alltagsleben von seinem seiner Ansicht nach völlig unzureichenden Gehalt. Und ein- oder zweimal im Jahr, wenn er Urlaub hatte, verschwand er von der Bildfläche. Aus der Sicht seiner Arbeitskollegen war er ein Naturfreund, der seine Urlaube auf anstrengenden Wanderpfaden in der Natur verbrachte. In Wirklichkeit freilich hielt er sich dann an Orten wie diesem auf, wo er teure Kleidung tragen, in teuren Lokalen essen, in teuren Hotels absteigen, sich mit teuren Frauen vergnügen und, ganz allgemein gesprochen, in dem Stil leben konnte, den er vorzog. Am Ende seines Urlaubs wanderte seine Kleidung in irgendeine wohltätige Sammelstelle, was ihn zwar ziemlich ärgerte, was er aber als eines der kleinen Opfer so lange hinzunehmen bereit war, bis er es sich leisten konnte, in den Ruhestand zu treten. Sehr anonym, natürlich.
Plötzlich versperrten zwei eindeutig männliche Beine seinen bis zu diesem Zeitpunkt äußerst befriedigenden Ausblick auf eine schlanke Brünette in einem Monokini. Sie verfügte nicht über sehr reichliche weibliche Attribute, aber was sie hatte, war auf attraktive Weise verteilt. Er blickte leicht verstimmt aus zusammengekniffenen Augen zu seinem unwillkommenen Besucher auf.
»Mr … Jones. Schön, Sie hier zu finden«, sagte der andere Mann. Er war eher schmächtig gebaut und mit einer Badehose bekleidet, aber etwas an seinem Haarschnitt und seiner Haltung deutete auf militärischen oder polizeilichen Hintergrund. Mit seinem dunklen Haar und den dunklen Augen wirkte er beinahe wie ein Teenager, allenfalls Anfang zwanzig, aber die alten Augen ließen sofort den Runderneuerten erkennen.
»Mr. Smith. Wir waren doch erst heute Abend verabredet.« Die Stimme des Mannes mit der beginnenden Glatze wirkte leicht gereizt.
»Nun ja, sagen wir, ich habe mich nach Ihrer faszinierenden Gesellschaft gesehnt, Mr. Jones.«
»Nun, dann setzen Sie sich doch«, meinte Mr. Jones und deutete auf den Sand neben sich, wobei er den anderen mit einem etwas reptilhaften Lächeln musterte. Die Ungeduld konnte Geld bedeuten. Geld bedeutete schöne, langbeinige Frauen in wesentlich intimerer Umgebung. Er würde sich für Mr. Smith Zeit nehmen.
»Ihre andere Information hat sich als richtig erwiesen, wie Sie ja sicherlich bereits festgestellt haben, als Sie zuletzt Ihren Kontostand überprüften. Das steigert die Aussicht auf weitere Geschäfte. Wir wären beispielsweise bereit, großzügig für den Namen einer Organisation zu bezahlen.«
»Ich halte sehr viel von beruflicher Sicherheit, Mr. Smith. Zu viel zu schnell macht mich ersetzbar. Oder, noch schlimmer, verzichtbar. Wie wäre es mit dem Namen eines anderen Agenten — an einer Stelle, wo Sie bereits penetrieren konnten?«
»Dafür würden wir einhunderttausend FedCreds bezahlen.«
»Was?! Das ist ja nur die Hälfte von dem, was Sie für den letzten bezahlt haben.«
»Die wissen nichts, Mr. Jones. Was Ihnen ja zweifellos bekannt ist. Wir wollen ein wenig mehr. Wir wollen etwas in Ihrer Organisation, Mr. Jones. Oh, wir sind bereit, für die Namen weiterer Agenten in unserer Organisation zu bezahlen. Schließlich muss man ja sein Haus in Ordnung halten. Aber wir zahlen wesentlich mehr für, nun ja mehr. Mehr, Mr. Jones. Aber hunderttausend FedCreds sind eine Menge Geld. Wir hätten natürlich Verständnis dafür, wenn Sie lieber auf Nummer Sicher gehen und sich mit weniger einverstanden erklären würden.«
Der Mann mit der Glatze knirschte mit den Zähnen, während der militärisch aussehende Mann ihn lächelnd musterte. Es war kein sonderlich nettes Lächeln. Es wirkte irgendwie wissend und auf die Weise alles andere als freundlich.
»Ich werde ein wenig darüber nachdenken müssen, was ich Ihnen in dieser Hinsicht anbieten kann.«
»Das verstehe ich durchaus, Mr. Jones. Vergessen Sie nur bitte nicht, dass wir für mehr auch mehr bezahlen werden. Und für weniger weniger.« Der Mann stand auf und wischte sich den Sand von seiner Badehose. »Bis heute Abend, Mr. Jones.«
Asheville Urb
Donnerstag, 16. Mai
Cally fuhr in ihrem Bett in die Höhe und sah sich im Zimmer um, als eine unbekannte Stimme vergnügt dröhnte: »Mann! Raus aus den Federn. Die Brandung ist da, und das wird ein gewaltiger Tag!« Reefer stöhnte und versuchte, sich unter seinem Kopfkissen zu verstecken. Sie streckte sich über ihn hinweg, schaltete seinen verdammten PDA aus und sah dann zu, schnell wieder auf ihre Seite zu kommen.
»Hey, Reef, Konvoizeit.« Sie schüttelte ihn an der Schulter und zog ihm das Kissen weg.
Seine rot geränderten Augen öffneten sich, und er starrte sie desorientiert an, ehe er schließlich die Beine über den niedrigen Bettrand schwang und in seine Jeans schlüpfte.
»Der Morgen«, verkündete er weise, »ist eine Ungehörigkeit in sich.«
Sie legte den Kopf etwas zur Seite, musterte ihn prüfend und überlegte, wie klug es wohl war, in einem von diesem Mann gesteuerten Fahrzeug unterwegs zu sein.
»Provigil?«, bot sie vergnügt an.
»Scheiße, ja, wenn du welches hast«, sagte er.
Sie wühlte eine Weile in ihrem Rucksack und brachte dann eine Tablette zum Vorschein, die sie ihm in die Hand drückte. Seine Augen weiteten sich, als er auf der himmelblauen Pille das in der Mitte eingeprägte »C« sah.
»Du scheinst gute Quellen zu haben.« Er schluckte die Pille trocken und spülte dann mit abgestandenem Bier vom Vorabend nach. »Dieser Scheiß ist Militärstandard.«
»Haben wir Zeit für fünf Minuten Duschen?« Sie rieb sich die linke Gesichtsseite, die nach ungewaschenem Mann roch, was ihr verriet, dass er in der Nacht ihr Kissen gewesen war.
»Wenn du wirklich fünf Minuten meinst und es dir nichts ausmacht, dass ich mir nebenher das Gesicht einschäume und die Zähne putze, während du dort drinnen bist. Vielleicht sollte ich auch duschen. Ich glaube, ich miefe ziemlich. Tut mir Leid«, sagte er.
»Kein Problem.« Sie griff sich mit einer Hand ihren Rucksack und ging.
Später, als sie darauf warteten, dass der Konvoi sich formierte und in Bewegung setzte, trank sie Kaffee, mampfte einen Proteinriegel und blickte zu dem Berggipfel auf, der sich über der Urb erhob. Scott Mountain stand auf der Tafel. Wie der kleinere Berg im Osten hieß wusste sie nicht, aber zwischen den Bäumen waren noch die Überreste der alten Befestigungsanlagen zu sehen. Jetzt natürlich unbesetzt. Das Eis arbeitete sich sicherlich jeden Winter tiefer in die Fugen.
»Danke für letzte Nacht«, riss Reefer sie aus ihren Gedanken. »Äh … Janet sagt, du kannst jederzeit wieder bei ihr übernachten.«
»Ich habe fast die ganze Zeit geschlafen.« Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. »Will ich eigentlich wissen, was du mit den beiden gemacht hast?«
»Wahrscheinlich nicht.« Er grinste.
»Tödlich?«
»Oh, Teufel, nein! Man kann doch nicht rumlaufen und Bullen umbringen, und wenn sie noch so dämlich sind. Das wäre ungesund, Mann.«
»Okay.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, ich bin immer noch nicht wach. Bullen waren das? Meinst du, die können uns aufspüren oder fangen oder so etwas?« Sie sah sich mit ängstlicher Miene um, als würden gleich aus dem Parkplatz Polizisten emporsprießen.
»Keine Panik.« Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »In den zweiundvierzig Jahren meines Lebens hat man mich erst zweimal erwischt, weißt du? Und in den letzten zehn überhaupt nicht. Bullen sind auch nur Menschen.«
»Hat man dich, ich meine, du weißt schon, in den Knast gesteckt?« Ihre Augen wurden noch ein wenig größer und runder, als sie ihn über den Rand ihres Bechers ansah.
»Nee. Hab das Gewerbe von meiner Mom gelernt, und die war echt klasse. Weil sie die richtigen Leute gekannt hat, weißt du? Aber verdammt teuer war das.« Er blickte in die Ferne und stopfte sich wieder einmal einen Streifen Kaugummi in den Mund. »Meine Mom hat gesagt, dass die Bullen und die Politiker vor dem Krieg, was soll ich sagen, echt eklig waren, weißt du, ich meine, die haben den Leuten ständig dreingeredet, was sie nehmen dürfen, um high zu werden. Und jetzt, na ja, da gibt’s schon ein paar Bullen, die sich drum kümmern, aber die meisten lassen sich schmieren, und man muss einfach zusehen, dass man genügend weit nach oben kommt, und dann, ich meine, wenn man genügend Knete hinlegt, ist alles weg. Aber Bullen umbringen — also, in dem Punkt sind die immer noch richtig stur. Da gibt’s wohl nichts, was das ändert. Oder wenn es was gibt, dann weiß ich es nicht, weißt du?«
»Hör auf, von umbringen zu reden, Mann.« Sie fröstelte. »Du fängst an, mir Angst zu machen.«
»Oh, na ja, was weiß ich.« Er zuckte die Achseln, drückte seinen Lieblingswürfel in das Gerät und schaltete auf Mix. »Sieht so aus, als würd’s jetzt losgehen.«
Sie klappte ihren PDA auf und wandte sich wieder Marilyns Roman zu, gähnte gelegentlich, wenn der Luftdruck sich mit der Höhe änderte, als sie auf die I-40 rollten und später durch die Smokies fuhren.
… Never mind how I stumble and fall. You imagine me sipping champagne from your boot for a taste of your elegant pride …
Das Seltsame an den Smokies war, dass sie einen immer wieder überraschten, ganz gleich wie oft man durchkam.
Die Blue Ridge bereiteten einen in keiner Weise auf die mächtigen Mauern aus feuchtem, dunklem Felsgestein vor, von denen jeder damals als Befestigungsmauer hätte dienen können, was sich aber als unnötig erwiesen hatte, weil es so einfach und auch wenig aufwändig gewesen war, den I-40-Tunnel für die Sprengung vorzubereiten. Zum Glück für die Leute in Asheville hatte sich das nie als notwendig erwiesen.
Ganz offensichtlich hatte man hier in letzter Zeit weniger Zeit und Geld für den Straßenunterhalt aufwenden können, als das offenbar in einem anderen Zeitalter der Fall gewesen war. Die Überreste von Schutznetzen oder Zäunen oder was auch immer das sein mochte, hingen nach wie vor an den nackten Klippen über der Straße, aber sie kamen wesentlich langsamer voran, als es möglich gewesen wäre, weil man ja nie wusste, wann man plötzlich ein Ausweichmanöver um einen Felsbrocken mitten auf der Straße fahren musste, den bis jetzt noch niemand hatte beiseite schaffen können. Ein paar Stellen, wahrscheinlich einige der schlimmsten, den alten, verrosteten Tafeln nach zu schließen, die vor Felsrutschen warnten, hatte man irgendwann einmal mit GalPlas überzogen, aber nach der fleckigen Oberfläche solcher Stellen zu schließen, war das schon eine ganze Weile her.
Nach dem Tunnel und nach Überschreiten der Grenze nach Tennessee wurde der Straßenzustand erheblich besser, aber die University of Tennessee hatte auch dafür gesorgt, dass die Wirtschaft von Tennessee zu einem der Glanzpunkte der Nachkriegserde geworden war. Seit Bundesmittel für Fernstraßen absolut der Vergangenheit angehörten, wenn man von ganz seltenen Ausnahmen wie der Strecke von Charleston zur Green-River-Brücke absah, konnte man den Wohlstand oder die Not eines Bundesstaates deutlich von seinen Straßen ablesen.
Dann endlich: Knoxville. Sie blickte auf, als sie an den Tennessee River kamen, und sah, während sie über die Brücke rollten, auf die Wasserfläche hinunter. Auf der Straße von Asheville, besonders nach der Ausfahrt nach Gatlinburg, hatten sie eine Menge nicht konvoigebundenen Verkehr gesehen, der sich in die Mischung aus Personen- und Lastfahrzeugen auf der Straße mengte. Selbst jetzt, am späten Vormittag, trug der Konvoi dazu bei, den Verkehr in Richtung auf die Ausfahrt Asheville zu verlangsamen.
»Wir erreichen hier in Volunteer Park sozusagen das Ende des Konvois«, sagte er, als sie von der Fernstraße abbogen. »Du warst als Beifahrerin echt cool, weißt du das? Wenn du Lust hast, kannst du ruhig bis nach Cincinnati mitkommen, Mann. Du bist dann zwar nicht mehr Wache oder so was, aber jetzt gibt’s ja keine Konvoitypen mehr, die mich bei meinem Boss anschwärzen, weil ich einen Passagier habe, und drum ist’s eigentlich egal. Ich kann ja immer sagen, dass ich dich in Knoxville abgesetzt habe, weißt du?«
Der Parkplatz war frisch asphaltiert, vor kurzem auch neu gestrichen worden und groß genug, um etwa doppelt so viele Fahrzeuge wie den augenblicklichen Konvoi aufzunehmen. Im Park gab es ein paar Spielplätze, die jetzt mitten am Schultag leer waren, eine Hand voll Zedern und gepflegte Blumenrabatten umgaben ihn, ein bunter Spielplatz, wo ein paar Mütter einer Schar Kinder dabei zusahen, wie sie auf den Schaukeln und Klettergerüsten herumtollten. Zwei kleine Mädchen in Shorts und T-Shirts, eine mit dünnem, hellblondem Haar, die andere mit braunen Locken, waren damit beschäftigt, in einem Sandkasten, der wie eine riesige Schildkröte aussah, eine Sandburg zu bauen.
»Also, wenn du mal für kleine Mädchen musst oder so, dann solltest du dich vielleicht beeilen und dich dann anstellen, ehe der Bus entladen wird, weißt du?«
Als Reefer das sagte, zuckte sie zusammen, als hätte sie einen Augenblick lang vergessen, wo sie war, und sah ihn dann mit glasigen Augen an, während er fortfuhr: »Ich brauche bloß ein paar Minuten, um mich von der Konvoiliste abzumelden, mein Pfand zurückzubekommen, und dann haben wir Zeit. Man braucht den Konvoi ja wegen der Sicherheit, aber, verdammt noch mal, er ist auch mächtig langsam.«
Er scheuchte sie zur Tür hinaus, und während sie über den Parkplatz eilte, um den anderen zuvorzukommen, sah sie, wie er auf die Gruppe Fahrer zuging, die sich um den Konvoimeister sammelte.
Die Toiletten befanden sich in einem schlichten Gebäude aus Hohlblocksteinen, aber es gab eine ganze Reihe davon. Da sie dem Bus zuvorgekommen war, brauchte sie nicht zu warten. Man soll nie die Gelegenheit auslassen, zu essen, zu schlafen oder zu pinkeln, und das gilt doppelt, wenn man eine Frau ist — zumindest, was Letzteres angeht.
Sie kontrollierte ihr Abbild im Spiegel. Die Dauerwelle hielt, wie erwartet, recht gut. Die Kontaktlinsen waren in Ordnung, aber heute Abend würde sie sie rausnehmen und säubern. Der Nagellack war abgesprungen und musste ausgebessert werden — gründlich sogar.
Noch vor Reefer war sie wieder bei dem VW-Bus, setzte sich auf die hintere Stoßstange und holte ihren rosa Nagellack heraus. Sie zitterte dabei bewusst etwas, damit das Ergebnis nicht zu fachmännisch aussah. Als er ein oder zwei Minuten später zurückkam, waren die Nägel bereits wieder trocken.
Jetzt wieder im Funkbereich, lud sie sich zwei weitere Romane herunter, während er den Benzinstand überprüfte. »Ich habe in der Innenstadt was zu erledigen, weißt du? Wir können uns ja in Lexington was zu essen besorgen.«
»Mich hat es gewundert, dass du in Asheville etwas von deiner Ladung verkauft hast. Ich meine, würden die denn nicht in Chicago mehr bezahlen? Ich weiß, was ich in Cincy für lebende Blaukrabben bezahlen müsste, wenn es dort welche gäbe.«
»Oh, ja, das würden die schon. Dieser Typ, ich meine, ich mache den Umweg für ihn, weil er ein guter Freund ist, aber er zahlt Chicago-Preise wie alle anderen auch, weißt du? Und was den Rest der Tour angeht, dann rufe ich vorher schon an, wenn ich ungefähr weiß, wann ich durchkomme, und, weißt du, wenn die dann was wollen, dann erwarten sie mich schon an der Ausfahrt und übernehmen die Ware. Aber eigentlich bringe ich alles bis ans Ende der Tour. Wenn dort nicht die Typen mit dem dicken Geld sitzen würden, dann würde sich die Tour sowieso nicht lohnen.«
Als sie auf der 1-40 in die Innenstadt rollten, bildete die Skyline von Knoxville einen willkommenen Kontrast zu all den Bergen und dem Farmland, obwohl sie ein wenig durch leichten Smog verdeckt war.
»Was ist das für ein Riesenmikrofon?«
»Hä? Oh, du meinst den Turm mit dem Ball oben drauf? Yeah, Mann, ich schätze, das sieht tatsächlich wie so ein altmodisches Mikrofon aus. Das stammt noch aus der Zeit vor dem Krieg. Ein Überrest von irgendeiner Vorkriegs-›Welt‹, weißt du?« Er schwenkte auf die 158 ab und nahm Kurs auf den Fluss.
»Oh, das ist interessant. Wo ist denn das Restaurant von deinem Freund?«
»Direkt am Fluss. Klasse Bude mit einem Steg und allem Möglichen.«
»Stimmt was nicht mit meinen Augen oder ist alles wirklich plötzlich orange geworden?« Als sie in die West Cumberland bogen, waren plötzlich überall große orangefarbene Transparente und Ballons mit einem silbernen Atomsymbol darauf aufgetaucht. Sie fuhren unter einem riesigen Transparent quer über die Straße durch, auf dem »AntimatterFest ›47‹!« stand. Und ein weiteres Transparent begrüßte sie in Knoxville, »Geburtsstätte des Antimaterie Zeitalters!«
»Oh, Mann!«, stöhnte er. »Das habe ich völlig vergessen. Die drehen dafür ja total durch. Hoffentlich finden wir einen Parkplatz.« Er kratzte sich am Kopf und überlegte kurz. »Kannst du fahren?«
»Oh, ja, freilich … warum?«
»Na ja, diese Leute reißen mir sofort den Arsch auf, wenn ich auch nur daran denke, auf der Straße hier in zweiter Reihe zu parken.« Dabei deutete er auf die Fußgänger, von denen mindestens die Hälfte orange Hütchen mit darüber kreisenden silbernen Atomhologrammen trugen. »Scheiße, Mann, man sollte niemals eine Stadt, die elektronischen Kram produziert, mit einem dämlichen Fest verbinden. Antimateriefeuerwerk und alles das. Völlig plemplem«, maulte er und schüttelte sich angewidert.
Die Ampel vor ihnen schaltete auf Gelb, deshalb wurde er langsamer und bremste schließlich knapp hinter dem Wagen vor ihm ab.
»Rutsch rüber!« Er drosch den Schalthebel in Parkposition, löste seinen Sitzgurt und war schon draußen. »Fahr nicht weg, bevor ich hinten drin bin, Mann!«, schrie er.
Sie klappte den Mund zu und rutschte auf den Fahrersitz hinüber, packte die Tür, die er offen gelassen hatte, stellte sich den Sitz ein und überprüfte ihre Spiegel, während er die Hintertür des VW-Busses aufriss, sich zwischen seine Tanks zwängte und darauf die Tür hinter sich wieder schloss.
»Äh, ich muss da Zeug hinten rausholen. Bieg an der nächsten Ampel links ab und dann noch mal links auf die West Main. Fahr einfach ne Weile um den Block rum, klar? Bitte.«
Wie er dort hinten herumtaumelte, den Tanks auswich, ein Stück doppelten Boden aufschraubte, sich dabei die Zehe anstieß, zwei vakuumverpackte Pakete in inzwischen vertrauter getrockneter Vegetation aus der Vertiefung zog und dann ungeschickt versuchte, die Bodenplatte während der Fahrt wieder zu befestigen, war zum Lachen, und sie hatte einige Mühe, ernst zu bleiben, aber schließlich hatte er es geschafft, seufzte tief, schnappte sich seinen Rucksack, stopfte die beiden Päckchen und deckte sie mit Kleidungsstücken zu.
»Okay, diesmal nicht abbiegen, geradeaus, ein Stück weiter, dann in diese Seitenstraße, yeah, genau, perfekt. Okay, dort jetzt anhalten, siehst du die blaue Tafel? Okay, dort bitte anhalten.« Er griff nach seinem PDA und tastete aus dem Gedächtnis eine Nummer ein. »Hey, Pete, na, wer wohl, Mann? Jo, höchstpersönlich. An deiner Laderampe, Mann. Na, jetzt natürlich. Freilich, ich hätt schon angerufen, aber weißt du, ich war voll beschäftigt, all den Leuten auf den Straßen auszuweichen, verstehst du? So, da bist du …« Er legte auf, als ein kleinwüchsiger, rundlicher Mann in einer weißen Schürze herausgerannt kam, und riss die Tür auf.
»Himmel, Ree- Mr. Jones, Sie wissen, dass ich hier nur die Krabben entgegennehme, ich hatte nicht Zeit, Joey zu holen. Mein Ruf! Ich kann es mir nicht leisten, dass man mich erwischt. Das ist gar nicht gut, Mr. Jones.«
»Also, jetzt hör mal zu, wir wollen diesen Shit jetzt gleich wieder in Deckung bringen. Bei all den Leuten, die hier rumwimmeln, wäre es viel riskanter für dich gewesen, Joey rauszuschicken, und das weißt du auch genau.« Cally lächelte still in sich hinein, als sie bemerkte, wie sich die Sprache ihres Fahrers veränderte.
»Na schön. Dies eine Mal. Komm rein und schnapp dir einen Eimer. Ich habe heute ’ne Menge Extrakunden und kann ein paar mehr gebrauchen. Wer ist sie denn?«
»Die ist cool. Komm.« Er drängte den Mann zum Tor. Der Dicke sah so aus, als würde er jeden Augenblick explodieren. Nachdem sie verschwunden waren, sah sich Cally verstohlen die Waffe an, die Reefer zurückgelassen hatte, vergewisserte sich, dass das Magazin voll und die Waffe durchgeladen war, und verwischte dann sorgfältig ihre Abdrücke, ehe sie sie wieder beiseite legte. Nicht, dass ihre Fingerabdrücke irgendwo registriert gewesen wären, aber es lohnte sich halt nicht, irgendwelche Risiken einzugehen.
Er kam allein wieder heraus, mit einem großen Eimer Salzwasser, schaufelte eine Ladung regloser Krabben hinein und murmelte dabei halblaut vor sich hin, während er den Eimer aufnahm. »Ist schon okay, Marilyn. Alles cool. Mein … Freund, der ist, was soll ich dir sagen, ein wenig scheu, weißt du? In fünf Minuten sind wir wieder unterwegs. Echt.«
Ihre Körpersprache war locker und entspannt, aber ganz ruhig, bis er allein wieder herauskam, den etwas leichteren Rucksack auf der Schulter, die hintere Tür des Busses schloss und sie vor der Fahrertür stehend mit einer Handbewegung aufforderte, wieder auf ihre Seite zu rutschen. Sie ließ dabei den Rückspiegel nicht aus den Augen und entspannte sich ein wenig, als sie die 275 erreicht hatten und die Innenstadt verließen.
»Ich muss mich entschuldigen für dieses Theater gerade, und nochmals, vielen Dank, dass du mir echt den Hintern gerettet hast. Mit Fahren, weißt du?« Er sah prüfend zu ihr hinüber. »Also, ich muss schon sagen, du bist echt cool, wenn’s eng wird, Marilyn. Wenn du das Leben auf dem College je satt haben solltest und einen Job willst, solltest du zu mir kommen. Ein wenig Ausbildung, dann würdest du das prima schaffen.«
»Oh, vielen Dank, Reefer.« Sie sah zum Fenster hinaus und biss sich leicht auf die Unterlippe. »Ich hoffe, dass ich es mit Kunst oder mit meiner Musik schaffe, aber du weißt ja, wie das Leben ist. Ich fühle mich wirklich geschmeichelt. Ich schätze, das tut mir wirklich gut, ich meine, dass ich da einen potenziellen Job bei dir habe, für den Fall, dass die Dinge, du weißt schon, sich nicht so entwickeln, wie ich mir das wünsche.«
Er gab einen Grunzlaut von sich und schob sich den nächsten Streifen Kaugummi hinein. Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen, als sie durch die tiefen Einschnitte der Smokies fuhren, manche mit lockerem Geröll, das mit GalPlas fixiert war, einer Reihe Drainagelöchern unten und einige aus schwarzer Kohle, die in großen Hügeln aus dem GalPlas herauswuchs und nur wenige Zoll unter der Oberfläche in eine dünne, braune Schicht Mutterboden überging.
»Wenn man das sieht, versteht man, wie Tagebau funktioniert«, meinte sie und deutete auf die von der Fernstraße aufgeschnittenen Kohleberge.
»Ja, freilich, klar. Aber absolut Scheiße für die Umwelt.«
»Das waren die Posties auch.«
»Das sind die immer noch, Mann. Denk allein an den langfristigen Schaden durch Schädlinge, vor allem diese Grat und diese Abat. Wirklich Scheiße. Verdammte Aliens.«
»Oh, bist du Humanist? Hätte ich gar nicht gedacht, Reef.« Sie musterte ihn interessiert.
»Na ja, ich meine, die Krabben sind ja ziemlich ruhige Typen, wenn man mal die ganze Schaukelei hinter sich hat. Überspannt, aber man hat das Gefühl, dass sie wirklich auf diesen Aufklärungsscheiß aus sind. Und die kleinen grünen Typen, die sind einfach bloß scheu. Die Frogs, andererseits, gehen mir ziemlich auf den Geist. Schließlich weiß man nie, ob sie einen beobachten. Und die Darhel, na ja … das sind Kapitalisten, weißt du? Und, na ja, über die Posties wissen wir ja alle Bescheid. Ich denke bloß, dass die Erde echt besser dran war, ehe die hier aufgetaucht sind. Ich meine, ich bin froh, dass wir nicht alle aufgefressen worden sind, aber irgendwie wäre mir lieber, wenn die jetzt wieder verduften würden. Ich bin kein echter Humanist oder so was, aber verstehen kann ich die Leute schon. Weißt du, wir haben einander gerettet, und jetzt verschwindet gefälligst. Aber in der Öffentlichkeit würde ich das nicht so gerne sagen. Das ist ungesund.«
»Ja, wahrscheinlich. Auf dem Campus haben wir auch Humanisten, aber mir kam das immer mehr wie so’n Verschwörungskram vor.« Sie zuckte die Achseln.
»Yeah, na ja, wie alt bist du denn, zwanzig? Ich bin doppelt so alt, Mann. Wenn du erlebt hättest, wie die vernünftiger klingenden Humanisten jung wegsterben und die Spinner es sich gut gehen lassen, und wie die Vernünftigen Unfälle haben und so … irgendwie komisch, Mann, da dran stimmt doch was nicht … weißt du, ich halte bloß die Augen offen und mach den Mund nicht auf. Nicht dass ich mich auf diese Darhel-Verschwörungstheorie einlassen würde. Ich schätze, da geht’s mehr darum, dass die großen Konzerne so viel Geld wie möglich an sich raffen wollen — das ist wieder dieselbe Geschichte wie früher mit dem militärisch-industriellen Komplex, weißt du. Sich mit diesem ganzen Establishment-Ding anzulegen, das geht nur, wenn man einfach aussteigt, weißt du? Manchmal habe ich das Gefühl, wir schaffen es nur dann, dass dieser Planet wieder zu dem Garten wird, der er sein könnte, wenn die Aliens alle ihre Sachen packen und nach Hause gehen und man dann die großen Konzerne total verbietet. Dann würden wir alle wieder echt frei leben, weißt du? Aber ich schaffe es gerade, dass ich so frei lebe wie ich kann und mein Maul nicht weit genug aufreiße, um auf die Liste der Konzerne zu kommen, verstehst du?«
»Ich schätze, ich kann da beide Seiten sehen«, erwiderte Cally. »Ich meine, ich hatte da eine Kunstvorlesung, die war echt cool, da wurde drüber geredet, unter welchem Druck wir in den verschiedenen Jobs stehen würden und welche Auswirkung das auf unsere kreative Authentizität hat. Andererseits ist die Vorlesung, die am Campus den meisten Zulauf hat, die, die sich ›Aliens in der Kunst‹ nennt. Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass ich da reingekommen bin. Die müssen die Studentenzahlen ganz klein halten. Die Thikp … Tchpth … Krabbe war wirklich komisch. Die hat da etwas gesagt so ähnlich wie, friedliche Kunst sei gute Therapie für blutdürstige, Fleisch fressende Barbaren.« Sie grinste. »Bloß dass es verdammt schwierig war, den Kerl zu zeichnen, weil die sich nämlich nicht ruhig halten können, weißt du?«
Er schmunzelte, und dann setzte wieder Schweigen ein, weil er sich auf die Straße konzentrierte und sie sich wieder einen von Marilyns Liebesromanen vorgenommen hatte.
Schließlich wichen die Berge sanften Hügeln mit allen möglichen Laubbäumen, deren Namen sie nicht einmal dann gekannt hätte, wenn man ihr viel Geld dafür gegeben hätte, und ein paar Trauerweiden dazwischen. Je flacher das Terrain wurde, desto häufiger konnte man auf den Hügeln weiße oder schwarze Bretterzäune sehen, hinter denen Pferde oder Ponys weideten, die meisten mit Fohlen. Als sie das erste Mal in Kentucky gewesen war, war sie sehr enttäuscht gewesen, weil das Gras dort überhaupt nicht blau war. Selbst jetzt, wo sie es besser wusste, war es irgendwie enttäuschend.
Der extraterrestrische Markt für Pferde war eines der seltsameren Ergebnisse des Kontakts mit den Galaktern gewesen. Die Indowy waren von den intelligenten, geselligen Pflanzenfressern entzückt gewesen, und selbst die Tchpth hatten gelegentlich gemeint, dass es auf der Erde eine angehend intelligente und zivilisierte Spezies gäbe. Und wenn die Himmit auch nicht gerade Haustiere kauften, schienen sie doch von den Beziehungen zwischen Pferden und Indowy fasziniert. Die Folge war, dass die Pferdezucht in Kentucky mehr Raum als je zuvor einnahm und die Züchter im Augenblick die Nachfrage kaum decken konnten, besonders, wenn es um Ponys und Miniaturpferde ging, die als Haustiere verkauft wurden — was dazu geführt hatte, dass die Pferdezucht zu einer der verlässlichsten planetarischen Quellen für FedCreds geworden war. Einmal kamen sie sogar an einem Feld vorbei, wo zwei Ponys von einem Indowy-Käufer inspiziert wurden, dem es nicht das Geringste auszumachen schien, dass die Stute und ihr Fohlen ihm sanft das Fell leckten.
Reefer hatte voraustelefoniert, als sie die Grenze zum Pferdeland überschritten hatten. Als sie daher auf der Fahrt durch Lexington die Interstate verließen und auf den Parkplatz eines Waffle House rollten, parkte er hinter dem Restaurant neben einem uralten grünen Off-Roader, dessen Fahrer jetzt seinen PDA weglegte und um den Wagen herumging, um die hintere Scheibe herunterzukurbeln.
»Wie wär’s, wenn du reingehst und uns einen Platz besorgst? Wir könnten ja eigentlich hier zu Mittag essen.« Reefer deutete mit einer Kopfbewegung auf das Restaurant. Es stand an einer verkehrsreichen Hauptstraße neben einer Menge anderer Restaurants, aber er hatte so geparkt, dass ihn nur wenige Leute sehen konnten, während er seine Ware an den Mann brachte. Unglücklicherweise bedeutete das, dass ihr der Gestank eines Müllcontainers ins Gesicht schlug, als sie auf den heißen Asphalt trat, was dazu führte, dass sie etwas wehmütig zu dem eleganten italienischen Kettenrestaurant auf der anderen Straßenseite blickte, während sie auf den Eingang des Waffle House zuging.
Als Reefer hereinkam, saß sie an der Theke, hatte neben sich einen Sitz freigehalten und bereits ihren Kaffee bekommen; jetzt pickte sie an einer Pecan-Waffel herum. Er brauchte nicht lange, um ein Omelette und eine Cola zu verputzen, dann ging die Fahrt weiter. Obwohl sie das Stadtzentrum links liegen ließen, waren doch die vielen historischen Bauten Lexingtons nicht zu übersehen. Sie hatte ein etwas seltsames Gefühl in der Kehle und fragte sich, ob sie vielleicht eine Erkältung ausbrütete. Es war, als würden sie durch ein winziges Stück Vorkriegserde fahren, und sie konzentrierte sich bewusst auf ihren Bildschirm, als draußen die Landschaft vorbeihuschte und gelegentlich langsamer wurde, wenn ein Zirpen von irgendwo unter dem Armaturenbrett die Anwesenheit des höchst illegalen dort unten versteckten Geräts verriet.
Als das Zirpen zum ersten Mal zu hören war, spürte sie, wie er zu ihr herübersah. Als sie zu ihm aufblickte und die Achseln zuckte und sich dann wieder ihrem Buch zuwandte, grunzte er nichts sagend und schob sich wieder einmal einen Kaugummi in den Mund, schien aber von dem Augenblick an nicht mehr beunruhigt, wenn sich der Detektor vernehmen ließ — er wurde lediglich langsamer, bis das kleine rote Licht an seinem Würfelspieler erlosch.
Am späten Nachmittag setzte er sie an einer Tankstelle in der Nähe der Ausfahrt Hopple Street in Cincinnati ab. Als sie ihren Rucksack und ihren Koffer aus dem Wagen hievte, ihm die Hand schüttelte, höflich, ein weiteres Jobangebot ablehnte und dem VW-Bus nachsah, wie er die Zufahrt zur Interstate hinaufrollte, konnte sie immer noch die Musik seiner Würfel hören … can’t revoke your soul for tryin’, Get out of the door and light out and look all around. Sometimes the ligth’s all shinin’on me; Other times I can barely see. Lately it occurs to me …
Als er ihren Blicken entschwunden war, trug sie ihre Sachen zu der Telefonzelle, um sich ein Taxi zu rufen. Dann setzte sie sich auf die Bank neben dem Telefon und wartete, studierte ihre Umgebung und die Mischung aus hohen, ganz schmalen alten Stadthäusern und kleinen Industriebauten beiderseits der Straße. Die Busstation befand sich zwischen der Tankstelle und einer Reparaturwerkstätte für Haushaltsgeräte. Auf der anderen Straßenseite konnte sie durch die Lücken zwischen zwei Häusern die Skyline der Innenstadt erkennen, die allerdings zum größten Teil vom Smog verdeckt war, sodass man nur undeutliche geometrische Konturen erkennen konnte.
General Beed vermittelte es ein Gefühl der Wichtigkeit, dass man ihn zu einer Besprechung in Chicago einbestellt — nun ja, eigentlich eingeladen — hatte, um dort seinen nächsten Auftrag zu besprechen. Nach dem Krieg gab es, nun ja, eine große Zahl alter Generäle mit großer Erfahrung, die, so wie die Dinge jetzt standen, sehr lange leben würden. Er hatte das Glück gehabt, im aktiven Dienst bleiben zu können und leitete die Kriminalermittlungsabteilung der Region Südost. Das war eine wesentlich wichtigere Position, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, schließlich war der Südosten für den Wiederaufbau der restlichen achtundvierzig Staaten der kontinentalen USA von lebenswichtiger Bedeutung.
Der Konferenzsaal hätte vor dem Krieg jedem an der Börse notierten Großkonzern zur Ehre gereicht — der Konferenztisch aus auf Hochglanz poliertem Holz, Gemälde an den Wänden, üppiger Teppichboden in elegantem Rosa, wofür es wahrscheinlich einen hochtrabenden Namen gab, und frisch getünchte Wände — alles Erinnerungen an eine Art von Vorkriegsopulenz, wie man sie heutzutage nur noch selten zu sehen bekam, ganz besonders beim Militär. Und der Ausblick vom Fleet Strike Tower war atemberaubend grandios. Rang brachte ganz eindeutig Privilegien mit sich. Er hob die Hand, um sich durch Tasten zu vergewissern, dass sein Schnurrbart in Ordnung war, strich sich vorsichtig über das dunkelblonde Haar, um den Sitz seiner Frisur zu kontrollieren, dabei sorgsam darauf bedacht, sie nicht in Unordnung zu bringen — obwohl das nach reichlicher Benutzung von Haarspray keine große Gefahr darstellte. Fast machte es ihm nichts aus, hier auf General Vanderberg warten zu müssen. Fast.
Als der Major General schließlich den Raum betrat, beeindruckte er Beed in keiner Weise. Der Austausch von Ehrenbezeigungen verschaffte ihm, wie immer, einen kurzen Augenblick, um sich ein Bild von dem anderen Mann zu machen und einen ersten Eindruck zu entwickeln. Die Verjüngungsbehandlung half natürlich, und er konnte weder an der Uniform des Mannes noch seinem gepflegten Aussehen einen Makel erkennen. Dennoch sollte ein General von Fleet Strike wie ein General aussehen, und die krumme Nase, die fast zusammengewachsenen Augenbrauen und aus seiner Jugend übrig gebliebene Aknenarben hinterließen einen allgemeinen Eindruck einer, nun ja, Gewöhnlichkeit, die nach der Erfahrung seines Gastes nicht dem Bild eines guten Generals entsprach. Unglücklicherweise hatte ihn auch niemand nach seiner Meinung gefragt. Dennoch, man erwies dem Rang den gebührenden Respekt, und der Mann schien zumindest auf eine Art und Weise fit, die auf ein lobenswertes Maß an Fitnesstraining hindeutete. Er war, ebenso wie Beed, drahtig und schlank gebaut, eine typische Läuferfigur, wie man sie gewöhnlich mit guten Soldaten in Verbindung brachte, und das ließ in ihm ein wenig freundlichere Gefühle gegenüber dem anderen aufkommen.
»General, man hat Sie in Verbindung mit einem höchst sensiblen Einsatz im Bereich der Nachrichtendienste hierher beordert. Lassen Sie mich bitte etwas vorweg sagen, ehe ich fortfahre. Die Information, die Sie jetzt von mir erhalten werden, ist top secret, Codebezeichnung Hartford. Sie werden das, was Sie jetzt erfahren, mit niemandem diskutieren, der nicht ganz konkret auf der für Hartford freigegebenen Personenliste steht; Sie sind nicht befugt, irgendwelche Personen zu dieser Liste hinzuzufügen. Die Codebezeichnung ›Hartford‹ selbst ist ebenfalls geheim, und Sie sind nicht befugt, Hartford gegenüber irgendwelchen Personen zu erwähnen, die nicht auf der Einsatzliste stehen. Haben Sie verstanden?«
»Ich verstehe, Sir«, sagte Beed würdevoll und bemühte sich, noch eine Spur aufrechter zu stehen.
»Wir haben in letzter Zeit gewisse Informationen und schlüssige Beweise dafür erhalten, dass eine sowohl der Föderation wie auch Fleet Strike feindlich gesonnene Organisation existiert, die den Willen und die Fähigkeit unter Beweis gestellt hat, auf ziemlich hohem Niveau Agenten bei Fleet Strike einzuschleusen und diese Agenten über längere Zeiträume unentdeckt operieren zu lassen. Das ist praktisch die gesamte Information, die uns über jene Organisation zur Verfügung steht, und auch das wüssten wir ohne eine Kombination aus einer Sicherheitspanne auf Seiten jener Organisation und sehr viel Glück und kluges Handeln vor Ort auf unserer Seite nicht.«
»Sir, das klingt …«
»Lächerlich, unglaublich, unerhört — ja, ich weiß. Alles das und noch mehr. Wir haben uns mit Spekulationen sehr zurückgehalten, um nicht irgendwelche Vorurteile aufkommen zu lassen, haben aber dennoch eine Liste bekannter Gruppen oder Ideologien mit feindseliger Einstellung gegenüber der galaktischen Föderation oder den nicht menschlichen Rassen oder Fleet Strike selbst aufgestellt. Diese Liste reicht von Elementen in der Regierung der Vereinigten Staaten bis hin zu der humanistischen Bewegung der Familien für Christus.«
»Familien für Christus?«, wiederholte Beed ungläubig.
»Sie sind offenbar in hohem Maße mit der großen Zahl von Ehen nicht einverstanden, die zerbrochen sind, nachdem nur der Ehemann verjüngt worden ist. Sie behaupten, es gäbe da eine erfolgreiche Verschwörung von Satanisten, die sich die Zerstörung der amerikanischen Familie zum Ziel gesetzt hat. Und selbstverständlich gibt es Querbeziehungen zwischen dieser Gruppe und den Humanisten.«
»Wenn Sie hier von der Regierung der Vereinigten Staaten sprechen, denken Sie vermutlich an den Konstitutionalisten-Club der Republikanischen Partei?«
»Jede Gruppe hat ihre extremen Randelemente. Sie sind immer noch sehr unzufrieden damit, dass die ursprünglichen Verträge mit den Galaktern für den Bau der Suburbs ausdrücklich jede Änderung der internen Regeln verbieten, die sie zu waffenfreien Zonen für Zivilpersonal machen.« Vanderberg zuckte die Achseln. »Wie ich schon sagte, bei dieser Feststellung handelt es sich ausschließlich um Spekulationen. Konkret wissen wir erschütternd wenig. Ihr Einsatz steht in Verbindung mit einem Operationsplan, den wir entwickelt haben, um dieses Problem zu lösen.«
Vanderberg stand auf und begann auf und ab zu gehen.
»Sie werden in Kürze das Kommando über die Dritte MP-Brigade übernehmen, deren Hauptquartier sich auf der Basis Titan befindet. Der größte Teil der Brigade befindet sich unter fähigen, Ihnen unterstellten Offizieren im vorgeschobenen Einsatz. Ihr XO, Colonel Tartaglia, ist ein äußerst tüchtiger Mann, der schon längst befördert worden wäre, wenn es die durch Verjüngung entstandenen Beförderungshindernisse nicht gäbe. Das Büro Ihres Hauptquartiers befindet sich ganz nahe bei der CID, was Ihnen eine konzeptuell vertraute Umgebung einbringt und reichlich Zeit und Energie, um sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Weil Sie eine Person brauchen werden, der Sie absolut und uneingeschränkt vertrauen können, werde ich Ihnen meinen persönlichen Adjutanten als Ihren neuen Adjutanten zur Verfügung stellen. Er verfügt über eine volle Freigabe für Hartford-Material, und Sie werden sicherlich seine Dienste als ebenso hilfreich empfinden, wie das bei mir der Fall war.«
»Ah, ich bitte um Vergebung, General, aber sagten Sie Basis Titan? Das ist ohne Zweifel ein erstrangiges Kommando, dennoch verblüfft es mich, dass wir ausgerechnet diesen Stützpunkt für eine nachrichtendienstliche Operation auswählen.«
»Die Sicherheit in physischer Hinsicht ist auf Titan bedeutend höher. Aus verschiedenen Gründen glauben wir nicht, dass die gegnerische Organisation, was auch immer sich hinter ihr verbirgt, dort ebenso stark sein wird. Nach erfolgreichem Abschluss der ersten Phase möchten wir nicht, dass Sie irgendwelche Risiken eingehen. Aber wollen wir doch fortfahren und Ihren neuen Adjutanten rufen.« Er kratzte sich kurz am Kinn.
»Jenny«, wies er dann sein AID an, »schick uns Lieutenant Pryce rein.«
»Aber gern, Peter«, antwortete eine kühle Sopranstimme.
Beed war zwar nicht davon begeistert, dass man ihm bei der Wahl seines persönlichen Adjutanten keine Mitbestimmung einräumte, aber sein erster Eindruck des schlanken, dunkelhaarigen jungen Mannes war durchaus positiv. Dem Lieutenant war in Anbetracht der völlig normalen Nervosität in Gegenwart hochrangiger Vorgesetzter unangenehm, dass ihn das Tablett mit Kaffee, das er trug, davon abhielt, die gebotene Ehrenbezeigung auszuführen. Der General hatte gerade Zeit zu der Überlegung gehabt, dass die graue Seidenuniform des jungen Mannes makellos war, wie es sich auch gehörte, als der erste Eindruck abrupt ins Gegenteil umkippte, indem dieser Idiot Pryce über die eigenen Füße stolperte und ihm das ganze Tablett mit heißem Kaffee und allem, was dazugehörte, in den Schoß kippte.
»Verdammte Scheiße!« Beed sprang hoch, das Gesicht vor Schmerz, Wut und Schrecken puterrot, als der unselige Offizier anfing, mit den kleinen Papierservietten, die mit dem Kaffee auf dem Tablett gewesen waren, an Beeds nasser Seide herumzutupfen. Wahrscheinlich hätte es etwas genutzt, wenn die Servietten nicht schon selbst mit vergossenem Kaffee getränkt gewesen wären.
So verzichtete er unter großer Zurückhaltung darauf, diesem Vollidioten eine Standpauke zu halten, die dieser verdiente, weil er wusste, dass das vor dem ranghöheren General und, was noch viel schlimmer war, seinem infernalischen AID, schlechten Eindruck machen würde. Die verdammten Dinger zeichneten schließlich alles auf, einschließlich verständlicher, aber dennoch peinlicher Augenblicke, die man am besten vergaß. Die augenblickliche Situation war zwar peinlich, aber ganz entschieden nicht verständlich; vermutlich würde sich ja der augenblickliche Vorgesetzte später unter vier Augen darum kümmern, diesem tollpatschigen Lieutenant die gebührende Abreibung zu verpassen.
»Jenny, könntest du bitte Corporal Johnston mit ein paar Papierservietten hereinschicken?« Dem General schien der gesellschaftliche Fauxpas seines Adjutanten kaum etwas auszumachen. »Pryce, würden Sie bitte dem General eine frische Tasse Kaffee besorgen.«
»Äh, nein! Ich meine, das ist schon in Ordnung. Nicht nötig.«
»Tatsächlich sind wir mit all den Dingen, die persönlich diskutiert werden müssen, ohnehin praktisch fertig. Sie wollen sich sicherlich sobald wie möglich umziehen, und deshalb wäre es vielleicht am besten, wenn ich Pryce mit einem Ausdruck sämtlichen Hintergrundsmaterials über Ihr neues Kommando mitschicken würde. Ich weiß, dass Sie Hardcopy vorziehen.« Vanderberg stand auf und streckte Beed die Hand hin, was diesem keine andere Wahl ließ, als sie zu schütteln, obwohl er von seinem neuen Vorgesetzten alles andere als entzückt war. »Willkommen an Bord.«
»Freut mich, dass ich diese Gelegenheit bekomme, Sir.«
Nachdem der mit Kaffee getaufte Brigadier General den Raum verlassen hatte, wandte Vanderberg sich dem unglückseligen Lieutenant zu und grinste breit. »Die Streifen eines Lieutenant stehen Ihnen gut, General Stewart. Besonders mit diesem Bartflaumgesicht.«
»Hey, kann ich was dafür, dass man mich erst vor kurzem runderneuert hat? Warum waren Sie eigentlich so scharf darauf, dass ich diesem Trottel den Kaffee auf die Hose schütte?« General James Stewart schenkte sich von dem Tablett ein, das Corporal Johnston gleich nach Beeds Abgang hereingebracht hatte.
»Dann habe ich Ihnen wohl gar nicht gesagt, warum ich den Kerl nicht ausstehen kann?« Er zog eine Schreibtischschublade auf, entnahm ihr eine Metallflasche ohne Etikett, schraubte sie auf, schüttete einen reichlichen Schuss ihres Inhalts in seine Tasse und sah dann den jüngeren Mann mit fragend hochgeschobenen Augenbrauen an.
»Nein, General, ich hab’s Ihnen einfach geglaubt, dass Sie sehr gute Gründe hatten.« Er hielt ihm die Tasse hin und rührte den hervorragenden Scotch, um den es sich dem Geruch nach handelte, in den Kaffee.
»Sie haben doch Benson kennen gelernt. Sie hat, ehe sie Urlaub nahm, um eine Familie zu gründen, in der Logistik für mich gearbeitet.« Vanderberg lehnte sich an seine Schreibtischkante und nahm genießerisch einen Schluck aus seiner Tasse.
»Brünett, etwa so groß?« Stewarts Hand zeigte auf einen Punkt etwa in gleicher Höhe mit seinem Kinn.
»Genau die. Sie hat vorher für Beed gearbeitet. Der hat ihr eine der schlechtesten Beurteilungen gegeben, die ich je gesehen habe. Und hat damit eine viel versprechende Karriere zerstört. Benson war übrigens in Logistik ausgezeichnet und nach meiner Einschätzung ein sehr guter junger Offizier.«
»Sie wollen sagen, dass sie sich die lausige Beurteilung nicht verdient hat.«
»Ich will sagen, dass der Mistkerl sie fertig gemacht hat, weil sie sich nicht von ihm hat flachlegen lassen. Aber das konnte sie nicht beweisen. Kein Wunder, dass der Dreckskerl nirgendwo in seiner Umgebung ein AID duldet. Ganz zu schweigen, dass es mehrere Fälle gegeben hat, wo seine Kumpel aus der Hudson School for Boys es gerade noch mit Mühe geschafft haben, seinen Hintern zu retten.«
»Okay. Das erklärt den Kaffee.« Stewart grinste. »Aber warum dieses Theater und die ganze Maskerade?«
»Das erzähle ich Ihnen beim Abendessen. Jane hat Sie schon lange nicht mehr gesehen.« Er klopfte eine Zigarette aus seinem Päckchen. Seit einen Zigaretten nicht mehr umbringen und auch nicht mehr süchtig machen konnten, war ihre Popularität insbesondere bei Runderneuerten wieder stark angestiegen. »Jenny, ruf Jane an und sag, sie soll zum Abendessen decken, ja?«
»Wird sofort erledigt, Peter.«
»Oh, und Ihr AID werden Sie übrigens als PDA tarnen lassen müssen. PDAs duldet Beed gerade noch, weil man ihnen sagen kann, dass sie sich abschalten sollen und sie nicht alles aufzeichnen und es dann, so wie das bei den AIDs der Fall ist, in den Generalspeicher der Galakter laden. Beed wird von Ihnen verlangen, dass sie ihren PDA anweisen, nichts aufzuzeichnen. Ein regelrechter PDA würde eine solche Anweisung befolgen. Ihr AID wird nicht nur nicht gehorchen, sondern es ist auch clever genug, den Befehl zu bestätigen, als ob es vorhätte, ihn zu befolgen. Herrgott, ich mag echte Al«, sagte er und grinste bösartig.
»Stört es Sie eigentlich nicht, dass die AIDs gelernt haben, wie man lügt?«
»Das würde es wahrscheinlich, bloß dass ich schon vor langer Zeit gelernt habe, meine Zeit und meine Energie nicht darauf zu vergeuden, mir den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die ich nicht ändern kann. Also, James, haben Sie in letzter Zeit mit Iron Mike gesprochen?«
»Letzte Woche habe ich tatsächlich einen Brief von ihm bekommen, in dem er sich entschuldigte, dass er an dem Triple-Nickel-Treffen nicht teilnehmen kann.«
»Nicht einmal per AID?«
»Die Posleen auf Dar Ent sind wieder mal übermütig geworden. Er steckte gerade mitten in einem Gefecht.«
»Das ist wieder mal typisch für ihn. Und sonst? War die Beteiligung gut?«