Dick Francis Comeback

Kapitel 1

Ich heiße Peter Darwin.

Die Frage kommt immer wieder, darum sage ich am besten gleich, daß ich nicht mit Charles verwandt bin.

Eigentlich wurde ich als Peter Perry geboren, doch John Darwin, der meine verwitwete Mutter heiratete, als ich zwölf war, gab mir unter vielem anderen ein neues Leben, einen neuen Namen und eine neue Identität.

Zwanzig Jahre legten sich wie Nebel auf die Erinnerungen an meine Kindheit damals in Gloucestershire, und jetzt war ich, Peter Darwin, zweiunddreißig, Adoptivsohn eines Diplomaten, selbst im diplomatischen Dienst.

Da es ganz von der Laune des Auswärtigen Amtes abhing, wohin mein Stiefvater und später auch ich selbst versetzt wurden, hatte ich die zwanzig Jahre in vieler Herren Ländern zugebracht, drei lange Jahre hier, vier schnelle dort, von Caracas bis Lima, von Moskau über Kairo bis Madrid, hatte in kargen Betonbunkern und prächtigen Villen gewohnt, die das Außenamt zur Verfügung stellte, und mich nirgends zu Hause gefühlt.

Freundschaften waren auf Zeit, besonders mit Einheimischen, die man zurückließ. Andere Diplomaten und ihre Kinder kamen und gingen. Ich hatte keine festen Bindungen, führte ein Wanderleben und war zufrieden damit.

»Besuchen Sie uns mal in Florida«, sagte Fred Hutchings beiläufig, als er Tokio verließ, um Konsul in Miami zu werden.

»Bleiben Sie ein, zwei Tage, wenn Sie auf der Durchreise sind.«

Diese »ein, zwei Tage«, dachte ich ironisch, zeigten

recht klar, was für Gefühle wir füreinander hegten: mäßig bis lau.

»Danke«, sagte ich.

Er nickte. Wir hatten über Monate reibungslos zusammengearbeitet. Die Einladung war halbwegs ernst gemeint. Fred war auf Höflichkeit getrimmt wie wir alle.

Ich selber wurde fast ein Jahr darauf überraschend nach England versetzt, ins Amt für Auswärtige Angelegenheiten und die Länder des Commonwealth in Whitehall.

»Was?« Mein Stiefvater in Mexiko-Stadt gluckste vor Vergnügen am Telefon, als ich es ihm mitteilte. »Persönlicher Referent! Gratuliere! Die Bezahlung ist lausig. Aber vorher wirst du noch Urlaub machen. Komm uns besuchen. Du fehlst deiner Mutter.«

Nach einem knapp vierwöchigen Aufenthalt bei ihnen wollte ich über Miami weiter nach England, verpaßte wegen einer Verspätung aber den Anschlußflug, und so kam es, daß ich vierundzwanzig Stunden totzuschlagen hatte und mir die Einladung von Fred Hutchings durch den Kopf ging. Warum nicht? dachte ich, ließ mir von der Auskunft seine Nummer geben und rief ihn einfach an.

Er klang ehrlich erfreut am Telefon, und ich stellte ihn mir am anderen Ende der Leitung vor - um die Vierzig, dick, sommersprossig und beflissen, mit schwitzender Stirn bei der geringsten nervlichen Belastung. Mir fiel wieder ein, wie wenig ich ihn eigentlich mochte, doch für einen Rückzieher war es zu spät.

»Fein, fein«, sagte er herzlich. »Ich würde Ihnen ja anbieten, hier zu übernachten, aber den Kindern geht’s nicht gut. Sollen wir essen gehen? Nehmen Sie ein Taxi zum >Tauchenden Pelikan< in der 186. Straße, North Miami Beach. Wir treffen uns da gegen acht. Ist Ihnen das recht?«

»Prima«, sagte ich.

»Gut. Gut. Schön, sich mal wiederzusehen.« Er nannte mir noch einmal die genaue Adresse des Restaurants. »Da essen wir oft. Und dabei fällt mir ein ...«, er legte Begeisterung in seine Stimme, »... zwei von unseren Freunden dort fahren morgen auch nach England. Die werden Ihnen gefallen. Vielleicht sind Sie ja alle im selben Flugzeug. Ich kann Sie miteinander bekannt machen.«

»Vielen Dank«, sagte ich schwach.

»Nichts zu danken.« Ich spürte förmlich, wie er vor Wohlwollen strahlte. »Bis dann.«

Seufzend legte ich den Hörer auf, quartierte mich und mein Gepäck für die Nacht im Flughafenhotel ein und fuhr zur festgesetzten Zeit mit dem Taxi zu meiner Verabredung.

>Der tauchende Pelikane, weniger eindrucksvoll als sein Name, lag schummrig beleuchtet am Ende einer dunklen Ladenzeile. Sonst schien in der Ecke nicht viel los zu sein, doch die rund zwanzig Parkplätze vor dem Lokal waren belegt. Ich zog die Tür auf, betrat die kleine Eingangshalle und wurde von einer jungen Frau begrüßt, die mit einem strahlenden Lächeln sagte:

»Und wie geht’s uns heute?«, als ob sie mich seit Jahren kennen würde.

»Gut«, sagte ich und fragte nach Fred.

Das Lächeln wurde breiter. Fred war schon da. Fred war anscheinend gern gesehen.

Er saß allem an einem runden Tisch mit einem cremefarbenen Spitzendeckchen über einer rosa Schutzdecke. Rostfreies Besteck, rosa Servietten, schlichte Weingläser, Öllämpchen, eine Nelke in einer Solitärvase - das Zubehör der mittleren bis gehobenen Preisklasse. Kein sehr großes Lokal, aber gut besucht. Von einem tauchenden oder sonst einem Pelikan war nichts zu sehen.

Fred stand auf, um mir die Hand zu geben, und die lächelnde Dame rückte mir einen Stuhl zurecht, präsentierte eine Speisekarte aus Glanzpapier und zeigte ihre Backenzähne.

»Fein, fein«, sagte Fred. »Tut mir leid, daß ich solo bin, aber Meg wollte die Kinder nicht allein lassen. Sie haben die Windpocken.«

Ich gab ein paar mitfühlende Laute von mir.

»Sind voller Flecken, die Ärmsten«, sagte Fred. »Nehmen Sie Wein?«

Wir aßen Salat als Vorspeise, wie es die Amerikaner tun, und tranken einen annehmbaren Roten. Als ich ihn nach der Arbeit in seinem Konsulat fragte, erzählte mir Fred, er habe es hauptsächlich mit britischen Touristen zu tun, die sich über verlorene Ausweise, gestohlenes Geld und entfleuchte Liebhaber beklagten.

»Die binden einem die wildesten Bären auf«, sagte Fred.

»Rührstücke am laufenden Band.« Mit heimlicher Belustigung sah er mich von der Seite an. »Ein netter kleiner Legationsrat wie Sie, der das Leben in der Botschaft gewöhnt ist, wäre diesen Unglücksraben hilflos ausgeliefert. Die Hälfte von denen will nichts als eine kostenlose Heimfahrt.«

»Sie sind zynisch geworden, Fred.«

»Ich habe dazugelernt«, meinte er.

Sei immer auf Lügen gefaßt, hatte mein Stiefvater vor Jahren gesagt, als er anfing, mich in die Geheimnisse seines Berufs einzuweihen. Politiker und Diplomaten sind Lügner, bis das Gegenteil erwiesen ist. »Du auch?« hatte ich bestürzt gefragt, und er hatte sein höfliches Lächeln aufgesetzt und mir die Sache erklärt. »Dich und deine Mutter belüge ich nicht. Du darfst uns auch nicht anlügen. Wenn du mich in der Öffentlichkeit die Unwahrheit sagen hörst, bist du bitte still und denkst darüber nach, warum ich geflunkert habe.«

Wir waren auf Anhieb gut miteinander ausgekommen. Ich hatte keine Erinnerung an meinen leiblichen Vater, der starb, als ich noch ein Baby war, und daß jemand anders seinen Platz einnahm, störte mich überhaupt nicht. Ich hatte mich danach gesehnt, einen Vater zu haben wie andere Jungen auch, und auf einmal war er da, der große fremde Mann mit seinem ansteckenden Lachen. Wie ein Sturmwind war er in unseren Mutter-und-Kind-Haushalt hineingefegt, und ehe wir’ s uns versahen, hatte er uns an den Äquator entführt. Später erst begriff ich nach und nach, wie unwiderruflich er mich umgekrempelt hatte und was für ein Glück das für mich gewesen war.

Fred sagte: »Wohin kommen Sie nach Ihrem Urlaub?«

»Nirgendwohin. Nach England, meine ich. Persönlicher Referent.«

»Sie Glückspilz!« Es hörte sich an, als sei er wegen meiner Beförderung etwas eifersüchtig, und das paßte sehr gut zu seiner Stichelei über die leichtgläubigen jungen Männer in den Botschaften, zu denen er schließlich selbst einmal gezählt hatte.

»Vielleicht muß ich anschließend nach Ulan Bator«, sagte ich. Ulan Bator war das letzte, wo wir hinwollten. Angeblich wurde dem Botschafter dort statt eines Dienstwagens ein Yak zugeteilt.

»Niemand bekommt nur die Rosinen vom Kuchen.«

Fred lächelte beschämt, weil ich gemerkt hatte, daß er neidisch war, und fiel schmatzend, voller Heißhunger über unsere Fettucini mit Meeresfrüchten her. Er hatte sie als die Spezialität des Hauses empfohlen. Ich hatte mich überreden lassen, und sie waren wirklich gut.

Während wir aßen, wurde plötzlich laut geklatscht, und Freds Augen leuchteten auf, während seine Gabel auf dem Weg vom Teller in den Mund in der Luft verharrte.

»Ah«, sagte er väterlich. »Vicky Larch und Greg Wayfield. Die Bekannten, von denen ich sprach, die morgen nach England fliegen. Sie wohnen hier gleich um die Ecke.«

Vicky Larch und Greg Wayfield waren nicht bloß Bekannte; sie waren Sänger. Unangekündigt hatten sie das Restaurant durch einen Vorhang am anderen Ende betreten, sie in einem paillettenbesetzten weißen Kasack, er in einem bunt karierten Sakko, beide in hellen Hosen. Das einzig wirklich Überraschende an ihnen war ihr Alter. Sie waren sozusagen in reiferen Jahren und nicht mehr ganz schlank.

Besorgt dachte ich, daß ich mir die Peinlichkeit, zwei ehrenvoll ergrauten Amateuren auf dem ganzen Weg nach England Beifall spenden zu müssen, gern erspart hätte. Sie hantierten mit Verstärkern und klopften auf Mikrofone, um sich zu vergewissern, daß alles funktionierte. Fred nickte ihnen und mir ermunternd zu und widmete sich gutgelaunt wieder seiner Mahlzeit.

Sie setzten die Anlage in Gang und spielten ein Band ab: leichte Unterhaltungsmusik aus alten Bühnenshows, bekannt und anspruchslos. Greg Wayfield summte schließlich ein paar Takte mit, dann stimmte er den Text an, und ich sah überrascht von meinen Fettucini auf, denn zu hören war kein altersschwaches Gegreine, sondern eine schöne, klare Stimme, kräftig, sanft und ausdrucksvoll.

Fred sah mir ins Gesicht und grinste befriedigt. Das Lied ging zu Ende, die Gäste applaudierten, und das Band lief weiter. Jetzt leitete die Frau, ebenfalls ohne Ansage oder Getue, zu einem Liebeslied über, der Text ein wenig traurig, melancholisch, vorgetragen mit dem eingängigen, synkopierten Rhythmus langer Erfahrung. Du meine Güte, dachte ich erleichtert, das sind Profis. Gute alte Profis, die sich amüsieren.

Sie sangen abwechselnd sechs Lieder und zum Schluß ein Duett, dann fädelten sie sich unter begeistertem Applaus zwischen den Tischen durch und setzten sich zu Fred und mir.

Fred machte uns bekannt. Halb stehend gab ich den Sängern über das Spitzendeckchen hinweg die Hand und sagte aufrichtig, daß mir ihr Auftritt sehr gefallen habe.

»Sie singen noch mehr«, versicherte Fred und schenkte ihnen Wein ein. »Sie machen jetzt nur eine Pause.«

Aus der Nähe betrachtet, wirkten sie so gesund und altmodisch wie ihr Auftritt - er sah immer noch gut aus, sie gab sich das Gehabe einer jungen Sängerin, die in einem großmütterlichen Körper gefangen war.

»Haben Sie mal in Nachtclubs gesungen?« fragte ich, als sie neben mir Platz nahm.

Sie riß die blauen Augen auf. »Woher wissen Sie das?«

»Ihr Vortrag hat so etwas. So intim. Wie geschaffen für späte Stunden und gedämpftes Licht. Auch die Art, wie Sie den Kopf wiegen.«

»Tja, also ich habe jahrelang in Clubs gesungen.« Sie war belustigt und reagierte körperlich auf mich, trotz ihres Alters. Einmal Frau, immer Frau, dachte ich.

Ihre Haare waren weiß, eine flaumige Kappe. Sie hatte einen reinen Teint, nur leicht geschminkt, und das einzige Zugeständnis ans Showgeschäft waren die seidigen, nach oben geschwungenen falschen Wimpern, die bei ihr fast echt aussahen.

»Aber ich habe mich vor einer Ewigkeit schon zur Ruhe gesetzt«, sagte sie und klappte in harmloser Koketterie die Augenlider auf und zu. »Kriegte einen Schwung Babies und wurde zu dick. Zu alt. Wir singen hier nur zum Vergnügen.«

Sie sprach dialektfreies britisches Englisch mit einer klaren, geübten Diktion. Ließ man ihr Getändel einmal beiseite, wirkte sie abgeklärt, selbstsicher und vernünftig, und ich befürchtete für die Reise am nächsten Tag nicht mehr das Schlimmste. Mit den Flugbegleiterinnen konnte ich wohl doch ein andermal anbändeln.

Greg sagte: »Meine Frau würde sogar mit einem Stuhlbein flirten«, und beide sahen mich lieb an und lachten.

»Traut Peter nicht«, warnte Fred sie ironisch. »Er ist das größte Schlitzohr, das ich kenne, und ich kenne wirklich eine Menge.«

»Pfui, wie gehässig«, sagte Vicky ungläubig. »Er ist doch ein Lamm.«

Fred lachte hüstelnd und vergewisserte sich, ob wir tatsächlich alle denselben Flug gebucht hatten. Es stand außer Zweifel. Ein Jumbo der British Airways nach Heathrow. Alle in der Touristenklasse.

»Fein. Fein«, sagte Fred.

Greg, dachte ich, war Amerikaner, obwohl man es kaum merkte. Er war weder noch oder beides: gemischter Akzent, amerikanische Kleidung, englischer Gesichtsschnitt. Er gehörte zur Szene hier in Miami und besaß auch eine gewisse Ausstrahlung, aber nicht das natürliche Bühnencharisma seiner Frau. Er war kein Solist gewesen, dachte ich.

Er sagte: »Sind Sie auch Konsul, Peter?«

»Im Augenblick nicht.«

Da er verblüfft dreinsah, erklärte ich es. »Im britischen diplomatischen Dienst richtet sich der Titel nach dem Posten, den man gerade hat. Man nimmt seinen Rang nicht mit. Ob Sie an dem einen Ort nun Legationsrat 1. oder 2. Klasse sind, Botschaftsrat, Konsul oder Generalkonsul, ob Gesandter, Hochkommissar oder Botschafter - am nächsten Ort sind Sie wahrscheinlich etwas anderes. Der Rang bleibt bei dem Posten. Sie erhalten den Rang, der zu Ihrem neuen Job gehört.«

Fred nickte zustimmend. »In den Staaten gilt, einmal Botschafter, immer Botschafter. >Ihre Exzellenz< auf immer und ewig. Selbst wenn man nur für zwei, drei Jahre Botschafter in irgendeinem winzigen Land gewesen ist und danach bloß noch Staub wischt, behält man den Titel. Nun, bei den Briten ist das anders.«

»Schade«, sagte Greg.

»Nein«, widersprach ich, »es ist besser so. Wenn es keine festgefügte Hierarchie gibt, gibt es auch weniger Hickhack und weniger Verzweiflung.«

Sie sahen mich erstaunt an.

»Wohlgemerkt«, sagte Fred mit spöttischer Vertraulichkeit zu ihnen, »Peters Vater ist im Augenblick Botschafter. Zusammen haben sie schon jeden erdenklichen Rang bekleidet.«

»Aber ich immer die niedrigeren«, sagte ich lächelnd.

Vicky meinte tröstend: »Sie werden Ihren Weg schon machen.«

Fred lachte.

Greg schob sein halb ausgetrunkenes Glas Wein weg und sagte, sie müßten wieder an die Arbeit, ein Entschluß, den das aufnahmebereite Publikum mit Beifall begrüßte. Sie sangen beide noch drei Lieder; Greg brachte zum Abschluß eine leise, schnulzige Version von >The Last Farewell< dem

Klagelied eines Matrosen, der seinen Südseeschatz verläßt, um in die von Sturm und Krieg umtobten Breiten Großbritanniens zurückzukehren. Wenn man wie ich mit geschlossenen Augen zuhörte, konnte man glauben, Greg sei der dem Untergang geweihte junge Mann. Es war eine Meisterleistung, ganz außergewöhnlich. Eine Frau am Nebentisch zog ihr Taschentuch hervor und trocknete heimlich ein paar Tränen.

Die Gäste saßen wie gebannt vor ihrem längst kalt gewordenen Kaffee und zeichneten Greg damit aus, daß sie einen Augenblick vollkommen still waren, bevor sie ihre Begeisterung kundtaten. Das Ganze mochte sentimental sein, dachte ich, aber Sachlichkeit pur vertrug man schließlich auch nur begrenzt.

Das Duo kam unter begeistertem Applaus wieder an unseren Tisch, und diesmal sprachen sie dem Wein gern zu. Sie waren aufgedreht von der starken Adrenalinausschüttung, die auf jede Leistung, jeden gelungenen Auftritt gleich welcher Art folgt, und es würde eine Weile dauern, bis sie davon wieder herunterkamen. In der Zwischenzeit unterhielten sie sich angeregt, erzählten von sich und bewiesen erneut, wenn es eines Beweises noch bedurft hätte, daß sie durch und durch gute, wohlmeinende Menschen waren.

Mich hatte das Gute immer schon mehr interessiert als das Böse, auch wenn ich damit vielleicht nicht so ganz im Trend lag. Meiner Ansicht nach brauchte man mehr Mut und mehr Disziplin, um gut zu sein, eine Auffassung, in der meine eigenen Mängel mich immer wieder bestärkten.

Eigentlich sei er ausgebildeter Opernsänger, sagte Greg, aber es habe nicht genügend Rollen für die zur Verfügung stehenden Sänger gegeben.

»Wenn man schon kein Italiener ist«, meinte er kläglich.

»Und von jeder Generation schaffen immer nur einige wenige den Durchbruch. Ich habe im Chor gesungen. Ich wäre lieber verhungert, als daß ich >The Last Farewell< gesungen hätte. In jungen Jahren war ich arrogant, was die Musik betrifft.« Mit einem Lächeln verzieh er sich seine Jugend. »Also habe ich eine Lehre in der Treuhandabteilung einer Bank angefangen, und irgendwann konnte ich mir dann sogar Karten für die Oper leisten.«

»Aber Sie haben doch weiter gesungen«, wandte ich ein. »So wie Sie kann man nur singen, wenn man in der Übung bleibt.«

Er nickte. »In Chören. Auch in Kirchen und so weiter. Wo immer ich konnte. Und natürlich in der Badewanne.«

Vicky hob die Augenwimpern zum Himmel.

»Jetzt singen die beiden hier zwei- bis dreimal die Woche«, erzählte mir Fred. »Der Laden würde ohne sie eingehen.«

»Pscht«, machte Vicky und hielt nach den möglicherweise gekränkten Besitzern Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken.

»Wir tun das doch gern.«

Greg sagte, sie wollten für einen Monat nach England. Eine von Vickys Töchtern wolle heiraten.

Von Vickys Töchtern?

Ja, sagte sie, die Kinder seien von ihr. Zwei Jungen, zwei Mädchen. Von dem Vater habe sie sich vor langer Zeit scheiden lassen. Sie und Greg seien erst kurz zusammen: seit achtzehn Monaten verheiratet, noch in den Flitterwochen.

»Belinda ist meine Jüngste - sie heiratet einen Tierarzt«, sagte Vicky. »Sie war schon immer verrückt auf Tiere.«

Ich lachte.

»Na ja«, sagte sie, »natürlich hoffe ich, daß sie auch in ihn vernarrt ist. Sie arbeitet seit Jahren mit ihm, aber gefunkt hat’s erst vor ein paar Wochen. Auf jeden Fall fahren wir jetzt ins Pferdeland. Er hat hauptsächlich mit Pferden zu tun. Er ist Tierarzt an der Rennbahn von Cheltenham.«

Ich schnalzte leise mit der Zunge, worauf sie mich fragend anschauten.

»Mein Vater und meine Mutter«, sagte ich, »haben sich auf der Rennbahn von Cheltenham kennengelernt.«

Darüber staunten sie natürlich, und es schien mir ein bißchen dumm, jetzt noch nachzuschicken, daß meine Mutter und mein Stiefvater sich auf der Rennbahn von Cheltenham kennengelernt hatten, deshalb ließ ich es bleiben. Mein richtiger Vater, dachte ich, war sowieso John Darwin: Nur an ihn konnte ich mich erinnern.

Fred sagte nachdenklich: »Hat Ihr Vater nicht seine ganze Jugend auf Rennplätzen verbracht? Sagten Sie das nicht damals in Tokio, als Sie zum Japan Cup gegangen sind?«

»Kann sein, daß ich es gesagt habe«, gab ich zu, »dann war das wohl etwas übertrieben. Er geht aber immer noch hin, wenn sich die Gelegenheit bietet.«

»Ist es üblich, daß Botschafter zum Pferderennen gehen?« fragte Vicky verwundert.

»Dieser besondere Botschafter betrachtet Rennbahnen als das ideale diplomatische Parkett«, sagte ich ironisch, aber herzlich.

»Er lädt die hohen Herren des nationalen Jockey-Clubs zu einer Botschaftsparty, und sie laden ihn dafür zu den Rennen ein. Er sagt, beim Pferderennen lernt er mehr über ein Land als in vier Wochen diplomatischen Hände-schüttelns. Und recht hat er. Wußten Sie, daß es auf der Rennbahn von Tokio Fahrrad-Parkplätze gibt?«

Greg sagte: »Ehm ... ah ... ich komme nicht ganz mit.«

»Nicht nur Parkplätze für Autos«, erklärte ich. »Auch Motorrad- und Fahrrad-Parkplätze. Und zwar reihenweise. Das sagt eine Menge über die Japaner aus.«

»Was denn zum Beispiel?« fragte Vicky.

»Daß sie ihr Ziel so oder so erreichen.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Natürlich«, sagte ich würdevoll. »Und eine Kinderkrippe gibt es auf der Rennbahn auch. Man läßt die Kleinen im Bauch eines riesigen wippenden Donald Duck spielen, während man ungestört sein Geld verwettet.«

»Und was lernen Sie daraus?« neckte Vicky.

»Daß die Kinderkrippe mit Gewinn arbeitet.«

»Laßt euch von Peter nicht irritieren«, meinte Fred begütigend. »Er denkt um tausend Ecken, aber im Ernstfall kann man auf ihn zählen.«

»Danke«, sagte ich trocken.

Greg stellte ein paar Fragen über unsere Zeit in Japan. Ob es uns zum Beispiel gefallen habe. Sehr, sagten wir beide. Und konnten wir auch die Sprache? Wir konnten. Fred war Legationsrat 1. Klasse in der Handelsabteilung gewesen, damit beschäftigt, die wirtschaftlichen Beziehungen anzukurbeln. Ich dagegen hatte zu erkunden gehabt, was voraussichtlich auf der politischen Bühne geschehen würde.

»Peter ist zu den Mittagessen und den Cocktailparties gegangen«, sagte Fred, »und Peter hat Sake aus viereckigen Holzschalen getrunken statt aus Gläsern.«

Die Bräuche und Besonderheiten Japans waren mir noch frisch im Gedächtnis, kaum überlagert von dem Monat in Mexiko. Wenn man eine Kultur zurückläßt, die man sich ernsthaft zu verstehen bemüht hat, führt das immer zu einem eigenartigen Verlustgefühl. Nicht gerade so, als ob man ins Leere stürzt, aber doch eine schmerzliche Trennung.

Die Gäste des Restaurants waren nach und nach gegangen, bis nur wir vier noch übrig waren. Vicky und Greg standen auf, um ihre Ausrüstung zusammenzupacken, und ganz selbstverständlich teilten Fred und ich uns die Rechnung bis auf den letzten Cent.

»Möchten Sie’s in Yen?« fragte ich.

»Um Gottes willen«, sagte Fred. »Haben Sie auf dem Flughafen nichts umgetauscht?«

Doch, hatte ich. Gewohnheitssache. Fred nahm die Scheine und gab mir etwas Kleingeld heraus, das ich einsteckte. Das Auswärtige Amt war ständig pleite, und unser Grundgehalt entsprach nicht annähernd dem Status und der Verantwortung, die man uns auflud. Ich beklagte mich nicht. Niemand trat je in den diplomatischen Dienst ein, um steinreich zu werden. Fred sagte, er werde mich zurück zum Flughafen bringen, damit ich nicht noch ein Taxi zu bezahlen brauchte, und das war nett von ihm.

Vicky und Greg kamen wieder; sie mit einer großen weißen Handtasche, auf der bunte, in weiße Zierschnur gefaßte Steine glitzerten, und dann er mit einer schweren knautschigen Reisetasche, die er sich jungenhaft über die Schulter gehängt hatte. Wir verließen das Restaurant alle zusammen, blieben noch eine Weile vor der Tür stehen, um uns gute Nacht zu sagen, und Vicky und Greg brüteten aus, wo sie mich am nächsten Tag treffen könnten.

In einem Glaskasten neben der Tür hing eine Speisekarte, flankiert von zwei großformatigen Schwarzweißfotos der Sänger, Aufnahmen, die offensichtlich vor langer Zeit entstanden waren.

Vicky sah, wo ich hinschaute, und zog einen kleinen traurigen Schmollmund, blieb sonst aber gelassen. Ihr

Porträt, das eindrucksvolle Hochglanzfoto einer Bühnenschönheit mit schräggelegtem Kopf, schrägen Schultern, viel Licht auf der Stirn, leuchtenden Augen, taktvollen Schatten auf dem Ansatz eines Doppelkinns, mußte vor mindestens zwanzig Jahren aufgenommen worden sein. Der offen und direkt in die Kamera lächelnde Greg war mit weniger fotografischer Finesse abgelichtet und ein klein wenig unscharf, als wäre das Bild die Vergrößerung eines nicht ganz gelungenen Abzugs. Es war auch ein früherer Greg, dünner, betont männlich, kantig, mit einem dunklen, jetzt nicht mehr vorhandenen Schnurrbart.

Vickys Charakter ließ sich aus solchen Fotos unmöglich erkennen, aber bei Greg konnte man es versuchen. Intelligent, selbstzufrieden, weil erfolgreich, wollte gefallen, lebensbejahend. Nicht der Typ, der hinter ihrem Rücken über andere herzog.

Letzte Gutenachtgrüße. Vicky bot mir ihre Wange zum Kuß. Bitte, gern.

»Unser Wagen steht da unten«, sagte sie und wies in die Ferne.

»Meiner da drüben«, sagte Fred, in die entgegengesetzte Richtung deutend.

Wir trennten uns, der Abend war vorbei.

»Sind nett, die Leute«, sagte Fred zufrieden.

»Ja«, stimmte ich zu.

Wir stiegen in seinen Wagen und schnallten uns pflichtbewußt an. Er ließ den Motor anspringen, schaltete das Licht ein, stieß rückwärts aus der Parklücke und schlug die Richtung zum Flughafen ein.

»Stopp!« rief ich plötzlich und riß an dem Verschluß des Sicherheitsgurts herum, der so leicht zugegangen war.

»Was?« Fred stellte den Fuß auf die Bremse, begriff

aber nichts. »Was zum Teufel ist denn los?«

Ich antwortete ihm nicht. Ich bekam endlich den blöden Gurt herunter, stieß die Tür auf und rannte fast schon los, noch ehe ich beide Füße auf dem Boden hatte.

Beim Herausfahren hatte ich im gleitenden Licht von Freds Scheinwerfern Vicky gesehen - das ferne Glitzern ihres paillettenbesetzten Kasacks -, und ich hatte gesehen, daß sie kämpfte, daß sie hinfiel, bedrängt von einer dunklen Gestalt, die sie halb verdeckte und sie angriff, eine Gestalt mit unverkennbar bösen Absichten ...

Ich rannte schneller und hörte sie gellend schreien.

Ich rief: »Vicky, Vicky«, um damit den Straßenräuber zu verscheuchen, doch er klebte an ihr wie eine Klette, vornübergebeugt, entschlossen, während sie am Boden lag und nach ihm trat.

Von Greg war nichts zu sehen.

Ich erreichte den Mann bei Vicky und rammte ihn aus vollem Lauf, um ihn in die Flucht zu schlagen. Er war robuster, als ich gedacht hatte, und so leicht nicht abzuschrecken, und er lief keineswegs vor mir weg, sondern schien mich lediglich als weiteres Opfer zu betrachten. Seine kräftige Faust schoß nach meinem Gesicht, ein Schlag, dem ich rein instinktiv auswich, und ich versuchte ihn bei den Kleidern zu fassen und gegen ein parkendes Auto zu werfen.

Ohne Erfolg. Sein nächster Schlag traf mich in den Brustkorb, daß mir die Luft wegblieb und daß ich meinte, er hätte mir das Herz ans Rückgrat gepinnt. Das Gesicht über den Fäusten war eine dunkle Fläche mit schmalen Augen: Er war kleiner als ich und stämmiger.

Ich drohte den Kampf zu verlieren, und das machte mich zwar wütend, aber auch nicht viel wehrhafter. Ich hatte es mit Feindseligkeit zu tun, dachte ich, nicht nur mit

Habgier. Hinter dem Überfall steckte Haß.

Vicky, die stöhnend davongekrochen war, kam plötzlich wie elektrisiert auf die Beine und trat hinter unseren Angreifer. Einen Moment lang sah ich ihre Augen über seiner Schulter, angstgeweitet und doch resolut. Sie zielte und versetzte ihm einen heftigen Fußtritt. Er zischte seinen Schmerz heraus, drehte sich nach ihr um und bekam einen ungezielten Tritt von mir, der ihn in die Kniekehle traf.

Vicky hielt ihre Hände mit den langen scharlachroten Nägeln vor sich, die Finger gekrümmt wie eine Hexe. Auf ihrem Kasack waren glänzende Blutspritzer. Ihr Mund war weit geöffnet, die Lippen aber vorgestülpt, so daß es in dem trüben Licht aussah wie das Zähnefletschen eines Wolfs, und sie stieß einen Schrei aus, der tief begann und sich zu einem lauten, hellen Kreischen irgendwo über dem hohen G steigerte.

Es ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen, und dem Dieb nahm es den Mut. Er stolperte einen Schritt an ihr vorbei, dann noch einen und verzog sich endlich in einem schwerfälligen Trott.

Vicky sank mir kraftlos in die Arme, nicht mehr die wütende, siegreiche Furie, sondern nur noch ein zitterndes Häufchen Elend, das mit heiserer Stimme wirres Zeug redete.

»Gott. Ogottogott ... Die waren zu zweit ... Greg ...«

Rasch näher kommende Scheinwerfer strahlten uns an. Vicky und ich erstarrten wie geblendete Kaninchen, und ich spannte die Muskeln, um uns beide nach der Seite zu werfen, als der Wagen mit quietschenden Reifen anhielt und die schwarze Gestalt, die wie ein Schatten in den Lichtkegel trat, sich in den vertrauten Anblick Freds verwandelte. Der rettende Konsul. Guter alter Fred. Ich fühlte mich etwas benommen und kam mir deshalb blöd vor.

»Geht’s ihr gut?« fragte Fred mich besorgt. »Wo ist Greg?«

Vicky und ich lösten uns voneinander, und zu dritt machten wir uns auf die Suche nach Greg.

Er war nicht schwer zu finden. Bewußtlos zusammengesunken lag er vor dem Hinterrad auf der straßenabge-wandten Seite des dunkelblauen BMW, der ihm und Vicky gehörte.

Ein Augenblick ungläubigen, entsetzten Schweigens trat ein. Dann fiel Vicky mit einem Aufschrei neben ihm auf die Knie, und ich hockte mich hin und legte ihm die Finger an den Hals, um den Puls unter seinem Kinn zu fühlen.

»Er lebt«, sagte ich erleichtert im Aufstehen.

Vicky schnüffelte, weinte immer noch vor Kummer. Fred sagte, praktisch wie immer: »Am besten rufen wir einen Krankenwagen.«

Ich stimmte ihm zu, doch ehe wir etwas unternehmen konnten, jaulte ein Polizeiauto die Straße entlang und hielt neben uns an, auf dem Dach eine Leiste mit rot, weiß und blau blinkendem Licht.

Ein kräftiger Mann in mitternachtsblauer Hose und Hemd mit Dienstabzeichen stieg aus, zückte sein Notizbuch und erklärte, er sei wegen einer schreienden Frau verständigt worden; was es damit auf sich habe? Alle Achtung, dachte ich. Phantastisches Einsatztempo. Er sei in der Nähe Streife gefahren, sagte er.

Greg begann zu stöhnen, bevor jemand antworten konnte, und als er versuchte, sich aufzurappeln, wirkte er benommen, desorientiert und schrecklich alt.

Vicky umfaßte seine Schultern, um ihn zu stützen. Gequält, voll Rührung und Dankbarkeit blickte er sie an, sah das Blut an ihrem Kleid und bat sie um Entschuldigung.

»Entschuldigung!« rief Vicky verständnislos. »Wofür denn?«

Er antwortete nicht, aber was er meinte, war klar: Es tat ihm leid, daß er sie nicht hatte beschützen können. Ich wertete es als gutes Zeichen, offenbar wußte er, wo er war und was passiert war.

Der Polizist rief über das Sprechfunkgerät, das er am Gürtel trug, den Krankenwagen und fragte Vicky dann bemerkenswert freundlich, was eigentlich vorgefallen sei. Sie blickte zu ihm hoch und versuchte zu antworten, doch die Sätze kamen unzusammenhängend und unter halb hysterischen Atemstößen heraus, wie Gedankensplitter.

»Gregs Brieftasche . die haben seinen Kopf gegen den Wagen geknallt ... Schatten ... hab sie nicht gesehen ... er wollte ... na ja, er wollte mir die Ringe abnehmen ... die Flugscheine ... es ist die Hochzeit meiner Tochter ... ich hätte ihn umgebracht ...«

Sie hörte auf zu reden, als wüßte sie selbst, daß es ungereimtes Zeug war, und sah hilflos von einem zum andern.

»Lassen Sie sich Zeit, Ma’am«, sagte der Polizist. »Nur langsam.«

Sie holte tief Atem und versuchte es noch einmal. »Die haben da gelauert ... hinter dem Wagen ... ich könnte sie umbringen ... Sie haben sich auf Greg gestürzt, als er rüber ist ... ich hasse sie ... Ich hoffe, die brechen sich das Genick .«

Sie hatte rote Flecke über den Backenknochen von der extremen Anspannung, und ähnlich gerötete Stellen an Kinn und Hals. An ihrem Hals war auch Blut, ziemlich viel sogar.

»Es geht Ihnen schon besser«, sagte der Polizist.

Er war ungefähr in meinem Alter, dachte ich, und der

Dienst hatte ihm die ungezwungene Freundlichkeit noch nicht ausgetrieben.

»Mein Ohr tut weh«, sagte Vicky heftig. »Ich könnte ihn umbringen.«

Wir hatten wohl alle schon bemerkt, woher das Blut auf ihrem Kasack kam, uns aber noch nicht darum gekümmert. An einem ihrer Ohrläppchen war eine ausgefranste, gleichmäßig tropfende Wunde. Sie drehte ein wenig den Kopf, und plötzlich schimmerte das andere Ohr im Licht der Scheinwerfer, geschmückt mit einem großen, diamantenbekränzten Aquamarin.

»Ihr Ohrring!« rief Fred aus und suchte bereits nach einem Taschentuch, fand aber keins. »Sie müssen verbunden werden.«

Vicky hielt sich zögernd einen Finger ans Ohr und zuckte scharf zusammen.

»So ein Schwein«, sagte sie mit zitternder Stimme. »So ein Dreckskerl. Er hat einfach dran gezogen ... gezerrt ... er hat mir das halbe Ohr abgerissen.«

»Gehen Ohrringe sonst nicht leichter ab?« fragte der Polizist treuherzig.

Vickys Stimme war schrill vor Wut und Empörung. »Wir haben sie in Brasilien gekauft.«

»Ehm ...«:, sagte der Polizist verdattert.

»Vicky«, schaltete sich Fred ein, »was spielt es für eine Rolle, ob sie aus Brasilien sind?«

Sie blickte ihn verwirrt an, als könne sie nicht verstehen, daß er nicht verstand.

»Die haben keine Schmetterlingsclips auf der Rückseite«, stieß sie hervor. »Die haben Schmetterlingsschrauben. Eine Schraube mit Mutter, damit sie nicht rausfallen können und verlorengehen. Und damit sie keiner klauen kann ...« Ihre Stimme ging in Schluchzen unter, ein Geräusch, das sie selbst auf einmal zu mißbilligen schien, denn sie schnüffelte wieder energisch und straffte die Schultern. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, dachte ich. Droht zu zerbrechen, kämpft dagegen an. Hat ihre Erregung gerade noch im Griff.

»Und noch etwas«, jammerte sie, wobei Unglück und Zorn in ihr erneut um die Vorherrschaft rangen. »Die haben meine Handtasche gestohlen. Da ist mein Paß drin ... und, ach verdammt, meine Aufenthaltsgenehmigung ... und unsere Flugscheine ...« Ein paar Tränen zwängten sich an ihren guten Vorsätzen vorbei. »Was sollen wir bloß machen?«

Auf den verzweifelten Appell antwortete Fred wieder ganz praktisch, indem er sagte, er sei nicht umsonst Konsul und werde sie mit Leichtigkeit zur Hochzeit ihrer Tochter bringen.

»Ma’am«:, sagte der Polizist, an Reisevorkehrungen nicht interessiert, »können Sie die beiden Männer beschreiben?«

»Es war dunkel.« Sie schien sich plötzlich über ihn zu ärgern. Über alles. Wütend sagte sie: »Sie waren dunkelhäutig.«

»Schwarz?«

»Nein.« Sie war unsicher, nicht nur verärgert.

»Was denn, Ma’am?«

»Dunkelhäutig. Ich kann nicht denken. Das Ohr tut mir weh.«

»Kleidung, Ma’am?«

»Schwarz . Was spielt das für eine Rolle? Ich meine . die waren so schnell. Er wollte mir die Ringe abnehmen ...«

Sie streckte ihre Finger aus. Wenn die Steine echt waren, lohnte es sich, sie zu stehlen.

»Mein Verlobungsring«, erklärte sie. »Dank Peter hat das Schwein ihn nicht gekriegt.«

Die schrille Sirene eines Krankenwagens mit grellem Blaulicht zerriß die Nacht, Sanitäter stürzten zielbewußt heraus, übernahmen mit professionellem Schwung das Kommando und behandelten Vicky und Greg wie Kinder. Der Polizist sagte Vicky, er werde ihnen ins Krankenhaus folgen und eine ordnungsgemäße Aussage aufnehmen, sobald sie und Greg ärztlich versorgt seien, doch sie schien das nicht mitzubekommen.

Mit Blinklicht und heulenden Sirenen trafen zwei weitere Polizeiwagen ein, die genug blaue Gestalten ausspien, um die halbe Nachbarschaft zu verhaften, und im Nu hatten Fred und ich die Hände auf dem Wagendach und wurden gefilzt, sosehr wir auch beteuerten, daß wir nicht die Straßenräuber seien, sondern der britische Konsul, Freunde und Zeugen.

Der nette erste Polizist schaute sich das kurz an und sagte etwas, was ich in dem Trubel nicht verstand, aber zumindest schien es den schlimmsten Verdacht von uns abzuwenden. Fred wiederholte laut, er sei der britische Konsul, und diesmal wurde er barsch aufgefordert, das doch bitte zu beweisen. Man erlaubte ihm, eine überdimensionale Kreditkarte hervorzuholen, die seinen diplomatischen Status belegte, worauf man widerstrebend einen etwas anderen Ton anschlug.

Greg war auf den Beinen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und wurde von einem mitternachtsblauen Arm aufgehalten.

»Lassen Sie sich seine Wagenschlüssel geben«, sagte ich.

»Wenn der Wagen die ganze Nacht hier stehenbleibt, wird er gestohlen.«

Widerwillig rief die mitternachtsblaue Figur etwas über ihre Schulter, und bald darauf drang die Auskunft zu uns durch, daß Greg die Schlüssel beim Auto verloren hatte, als er angegriffen wurde. Mitternachtsblau schaute nach, fand die Schlüssel und händigte sie nach Rücksprache Fred aus.

Die Uniformierten gingen mit einer Schnelligkeit vor, die zweifellos auf viel Übung beruhte und der bei solchen Fällen üblichen Gangart entsprach. Vicky und Greg wurden in den Krankenwagen gesetzt, der sogleich abfuhr, und der erste Polizist fuhr hinterdrein. Andere Polizisten kämmten die umliegenden Straßen nach den Räubern ab, falls die sich noch in der Gegend versteckt hielten. Wohl kaum, dachte ich.

Einer von der neuen Truppe setzte meinen Namen unter den von Fred und stockte, als ich ihm die Anschrift nannte: Auswärtiges Amt, Whitehall, London, England.

»Diplomatische Immunität, wie bei ihm?« fragte er mit Blick auf Fred.

»Ich bin Ihnen gerne behilflich«, sagte ich.

Er saugte eine Weile an seinem Kugelschreiber und fragte mich dann, was ich beobachtet hätte.

Ich berichtete ihm ziemlich ausführlich.

Hatte ich den einen Ganoven aus der Nähe gesehen?

Ja, sagte ich, da er mich geschlagen habe.

Aussehen?

»Dunkelhäutig.«

»Schwarz?«

Mit der Hautfarbe tat ich mich genauso schwer wie Vicky.

»Kein Westinder oder Afrikaner«, sagte ich. »Vielleicht Mittelamerikaner. Spanische Herkunft vielleicht. Er hat nichts gesagt. Mehr kann ich Ihnen da nicht bieten.«

»Kleidung?«

»Schwarz.« Ich dachte zurück, erinnerte mich, wie ich versucht hatte, ihn umzureißen, wie seine Sachen sich angefühlt hatten. »Schwarze Jeans, schwarzes Baumwoll-Sweatshirt, schwarze Turnschuhe, würde ich sagen. Als er weglief, war nicht viel von ihm zu sehen.«

Ich schätzte sein Alter, seine Größe, sein Gewicht und so weiter, hatte aber ein zu verschwommenes Bild von ihm, um sicher zu sein, daß ich ihn bei Tag, in einem anderen Aufzug, wiedererkennen würde.

Mitternachtsblau klappte sein Notizbuch zu und zog zwei Karten mit seinem Namen hervor, eine für Fred, eine für mich. Er wäre dankbar, deutete er an, wenn wir uns am nächsten Morgen um zehn auf seinem Revier melden würden, und er vermittelte uns den Eindruck, daß die Bitte, hätten wir nicht unter dem Schutz und Schirm des Außenministeriums gestanden, ein Befehl gewesen wäre.

Die ausgeschwärmten Fahnder kehrten zwar ohne Ganoven zurück, überraschenderweise aber mit Vickys abgerissenem Ohrring, den sie am Boden gefunden hatten. Eingetütet und etikettiert, wurde er feierlich in polizeilichen Gewahrsam genommen. Von der großen weißen, juwelenbesetzten Handtasche, von Gregs Brieftasche und seiner Reisetasche mit dem Schultergurt fehlte anscheinend jede Spur.

So schnell, wie sie gekommen waren, zogen die Mitternachtsblauen ab und ließen eine plötzliche, lähmende Stille zurück, in der Fred und ich uns leicht beduselt anschauten und überlegten, was jetzt zu tun sei.

Die paar neugierigen Anwohner verschwanden in ihren Häusern, nachdem sie für den Lärm und die blauweißrote Festbeleuchtung ohnehin denkbar wenig Interesse auf gebracht hatten, so als seien sie nichts anderes gewöhnt -, und dabei, bemerkte Fred traurig, nannte sich das hier ein ruhiges Viertel.

»Am besten fahren Sie den BMW zum Krankenhaus«, sagte Fred, »und holen die beiden ab und bringen sie nach Hause.«

»Hm .«

»Ich selber kann nicht«, erklärte er. »Ich habe Meg versprochen, nicht zu spät wiederzukommen. Sie hat alle Hände voll zu tun . die Kinder haben geheult, weil der Ausschlag so juckt.«

»Läßt das Krankenhaus sie denn nicht in einer Ambulanz heimbringen?« fragte ich.

Fred sah mich mitleidig an. »Hier gibt es keinen staatlichen Gesundheitsdienst. Man zahlt sich dumm und dämlich.«

»Also gut«, sagte ich. »Wo ist das Krankenhaus?«

Er begann mir den Weg zu erklären, zuckte schließlich aber die Achseln und sagte, ich solle hinter ihm herfahren; so brachte er mich dann bis zur Einfahrt, zeigte durch sein heruntergelassenes Fenster eindringlich auf das Tor und sauste, ohne sich noch mit Reden aufzuhalten, heim zu den Windpocken.

Ich fand Greg und den freundlichen Polizisten im Warteraum, bedrückt nebeneinandersitzend: Greg sah bleich und erschöpft aus, der Polizist strotzte vor Gesundheit und sah den vorbeikommenden Krankenschwestern nach, wie ich es selber auch tat, nachdem ich mich dazugesetzt hatte.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte ich Greg - eine überflüssige Frage.

»Müde«, sagte er, »aber mit meinem Kopf ist alles in Ordnung. Nur eine Prellung, sagen sie. Brauche bloß ein bißchen Ruhe.«

Ich nickte. »Ich bin mit Ihrem Wagen gekommen«, sagte

ich. »Ich fahre Sie nach Hause.«

»Danke«, sagte er matt.

Die Unterhaltung schlief ein. Das Verhältnis von mittelalten zu jugendlichen Krankenschwestern lag bei zehn zu eins. Enttäuschend.

Nach langem Warten erschien Vicky dann in einem Rollstuhl, den eine (mittelalte) Krankenschwester hereinschob, und in Begleitung eines jungen Arztes, dessen schmuddeliger weißer Kittel von langem Bereitschaftsdienst zeugte. Vicky trug einen dicken weißen Verband wie einen Ohrenschützer über dem blutbefleckten Glitzerkasack, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und hatte die Augen zu. Ihr von Schminke gesäubertes Gesicht wirkte faltig und verquollen. Die falschen Wimpern hatte man entfernt. Die Bühnenpersönlichkeit war abgemeldet; die Großmutter allein bewohnte den Körper.

Der junge Arzt sagte Greg, seiner Frau gehe es gut, die Wunde an ihrem Ohr sei unter örtlicher Betäubung genäht worden, die Heilung werde unproblematisch sein; er habe ihr ein Schmerzmittel, ein Beruhigungsmittel und Antibiotika gegeben und sie solle später am Tag zum Wechseln des Verbands noch einmal wiederkommen. Vicky schlug die Augen auf und sah nicht besser aus.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, daß es schon fast zwei war. Die Zeit vergeht im Flug, dachte ich sarkastisch, wenn man sich amüsiert.

Der Arzt ging fort, und der Polizist stellte Vicky behutsam einige Fragen, die sie nüchtern mit leiser Stimme beantwortete. Danach holte er eine Karte mit seinem Namen hervor und bat sie und Greg, am Morgen um zehn auf die Polizeistation zu kommen, um ihre Aussagen zu vervollständigen.

»Sie auch«, sagte er zu mir.

»Ihre Kollegen haben mir schon eine Karte gegeben.« Ich zeigte sie ihm. Er beäugte sie und nickte. »Selbe Zeit, selber Ort.«

Er sagte uns gute Nacht und ging, und ich begriff, daß seine Freundlichkeit Methode war, ein gewohnheitsmäßig eingesetztes Mittel, um seine Arbeit zu erledigen, nicht etwa tiefes Mitgefühl mit jedem einzelnen. Trotzdem noch sehr viel besser, als generell die Gefühle anderer Leute mit Füßen zu treten.

Die Krankenschwester kam wieder und schob Vicky bis zum Ausgang, aber kein Stück weiter. Krankenhausbehandlung und Krankenhausversicherung hörten hier auf, sagte sie entschieden. Daß ich den Wagen an die Tür bringen durfte, damit Vicky nicht zu laufen brauchte, war schon das äußerste; selbst dieses Zugeständnis machte sie ungern. Greg und Vicky konnte das nicht mehr erschüttern.

Sie setzten sich im Wagen beide nach hinten, und ich stellte ihnen nur die allernötigsten Fragen nach dem Weg, etwa, in welche Richtung wir abbiegen mußten. Es war wie ein Wunder, daß wir doch noch bei ihnen zu Hause ankamen, denn Vicky hielt die Augen geschlossen, und Greg schlief immer wieder ein, wachte auf, wenn ich anhielt, und fragte mich, wo wir seien.

»Sagen Sie mir das«, erwiderte ich.

Ich unterdrückte meine aufkommende Gereiztheit und fuhr vorsichtig, und schließlich hielten wir auf der halbkreisförmigen Zufahrt zu ihrem Haus. Greg hatte zum Glück noch die Haustürschlüssel in der Tasche, und mir schien es nicht so ganz der passende Augenblick, um laut darüber nachzudenken, ob die Diebe sich das Wissen, das sie aus ihrem Fang geschöpft haben mußten, zunutze gemacht hatten und hierhergekommen waren, um zu stehlen und zu demolieren, während ihre Opfer sich im Krankenhaus befanden.

Ich bat die beiden, noch einen Moment sitzen zu bleiben, ließ mir von Greg den Hausschlüssel geben und sperrte mit einem unguten Gefühl die Tür auf. Es war jedoch dunkel und still im Haus, und als ich, tastend, den Lichtschalter fand, zeigte sich, daß auch alles unberührt war.

Die vielen Büsche draußen schienen mir ein sehr geeignetes Versteck für Räuber, und da ich halb auf einen zweiten Überfall gefaßt war, versuchte ich Greg und Vicky ins Haus zu scheuchen, so rasch es ging, ohne sie vollends zu entnerven, doch sie waren entsetzlich langsam. Erst als wir alle drinnen hinter der verschlossenen Tür in Sicherheit waren, entspannte ich mich ein wenig.

Sie bewohnten ein eingeschossiges Haus, in dem die meisten Zimmer türlos ineinander übergingen. Heizungsprobleme gab es hier in Südflorida natürlich nicht. Ich ging umher, sah nach, ob alle Vorhänge zugezogen waren, und stellte dabei fest, daß die Wayfields eine Vorliebe für farbenfrohe Blumenmuster und für Mahagonimöbel hegten.

Als ich wiederkam, saßen sie beide in den Sesseln ganz vorn bei der Haustür, als hätten ihre Beine sie nicht weiter getragen - die Lebenskraft am Tiefpunkt -, und ich schlug ihnen vor, sich etwas Warmes, Süßes zu trinken zu machen, bevor sie schlafen gingen. Ich würde mir jetzt ein Taxi rufen, sagte ich.

Sie schauten mich entsetzt an.

»Bitte nicht«, sagte Vicky, den Tränen nahe. »Bleiben Sie. Bitte bleiben Sie hier. Ich sage es ungern, aber ich fühle mich so alt und wacklig. Und ich habe Angst. Ich kann nichts dafür. Die könnten doch herkommen. Mir ist klargeworden, daß sie jetzt unsere Adresse haben.«

Greg streckte den Arm aus und drückte ihr die Hand. Er sagte zwar nicht direkt, daß er Angst hatte, aber auch er bat mich zu bleiben.

»Sie haben sie ja schon mal verjagt«, sagte Vicky. »Die kommen nicht, wenn Sie hier sind.«

Ich dachte sehnsüchtig an mein ruhiges Bett im Flughafenhotel, sah aber ein, daß es unmöglich war, sie in dieser Nacht mit ihrer Furcht alleinzulassen. Ich kannte sie noch keine sechs Stunden; und doch war es, als hätten wir schon immer zusammengehört.

»Gut, ich bleibe«, sagte ich, »aber der sie verscheucht hat, war ich nicht. Das waren Sie«, sagte ich zu Vicky, »Sie mit Ihrem unglaublichen Schrei.«

Ich sah sie wieder vor mir, eine weißhaarige Hexe mit scharfen scharlachroten Krallen und leuchtenden Augen, die Verkörperung aller dunklen weiblichen Kräfte, vor denen die Männer seit Urzeiten zu Stein erstarrt sind.

»Sie waren großartig«, sagte ich; beängstigend, hätte ich ehrlicherweise hinzufügen müssen.

Ihr Gesicht hellte sich bei der Erinnerung ein wenig auf, ihre Augen funkelten. »Es war nicht bloß der Schrei«, sagte sie. »Es war der Tritt.«

Mir ging ein Licht auf, und ich fragte: »Wo ging der hin?«

Sie sah auf ihre hochhackigen, spitzen Schuhe nieder. »Was meinen Sie wohl?« sagte sie. »Ich hab auch getanzt früher. Hoch das Bein. Ich war hinter ihm und hab direkt unter die Basis seiner Wirbelsäule gezielt. Ich war so wütend - ich hätte ihn umgebracht, wenn ich gekonnt hätte.« Sie sah mit beinah lächelnden Augen auf, voll befriedigter Rachsucht. »Ich hab alles da hineingelegt. Es war ein Volltreffer, hart und genau. Er hatte die Beine auseinandergestellt, um das Gleichgewicht zu halten, während er auf Sie einschlug.« Sie schwieg und schloß dann mit einem befriedigten Nicken. »Ich habe ihm in die Eier getreten.«

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