Kapitel 5

Die Fahrt zum Pferderennen in Stratford-upon-Avon war so kurz, daß Belinda mir gegenüber zwar nicht gerade herzlich wurde, aber wenigstens höflich blieb. Sie machte keine Bemerkungen mehr über meine nicht erforderliche Anwesenheit und schien sich vorläufig damit abgefunden zu haben, daß ich eben dazugehörte, solange ich da war; und ich hatte betont, daß ich mich schon bald zum Dienstantritt in London melden mußte.

»Wann?« fragte Ken unverblümt.

»Montag muß ich anrufen. Da nennen sie mir ein Datum.«

»Ich hatte gehofft ...« Er schwieg einen Moment, warf mir über die Schulter einen Blick zu und fuhr fort: »Was halten Sie von ein bißchen Detektivarbeit?«

»In welcher Sache?« fragte Belinda.

»So verschiedenes.«

»Ken!« Sie war verständlicherweise aufgebracht. »Wenn du das meinst, was in der Praxis schiefgelaufen ist, das kann Peter doch vom tierärztlichen Standpunkt überhaupt nicht beurteilen, oder? Noch viel weniger erklären.«

»Es hat da gebrannt, Liebes«, murmelte Vicky.

»Ja, Mutter, aber darum wird die Polizei sich kümmern.«

Belinda, die auf dem Beifahrersitz neben Ken saß, hatte einen kastanienbraunen Lederrock an, einen weiten weißen Pulli, kniehohe Stiefel und einen Ledermantel. Sie sah schlank und hübsch aus. Das Haar fiel ihr lose auf die Schultern, der Mund war in einem weichen Farbton nachgezogen. Ken tätschelte ihr ab und zu liebevoll das Knie.

Ich saß etwas eingezwängt zwischen Vicky und Greg auf der Rückbank, unbehaglich Backe an Backe mit Greg, während Vicky mich ein wenig kokett mit ihrem Knie berührte. Sie trug leuchtendes Rot, um ihre weißen Haare zur Geltung zu bringen, und schien bis auf ein kleines Pflaster überm Ohr wieder ganz auf der Höhe zu sein, klagte aber, daß ihr immer noch bei jeder Gelegenheit die Augen zufielen.

Ich erkundigte mich, wie es der Stute ging, und Belinda beantwortete meine Frage gut informiert: »Kein

Anzeichen von Rückfluß, darum haben wir die Nasenschlundsonde gestern abend entfernt. Heute morgen frißt sie Heu und trinkt normal. Bis jetzt ist alles bestens.« Sie warf einen bewundernden Blick auf Ken, zuversichtlich, weil sie ihn liebte.

Ken selbst sah etwas weniger gehetzt aus, als hätte er die schlimmsten seiner Befürchtungen zurückgestellt. Er schien fest entschlossen, seinen Mitfahrern einen angenehmen Tag zu bereiten, so daß wir sogar zu einer langsamen Rundfahrt durch Stratford kamen, mit Theater, Schwänen und einer Fülle von schwarzweißem Tudor-Fachwerk, darunter tatsächlich auch echtem.

Auf der Rennbahn trennten wir fünf uns wie von selbst. Greg und Vicky machten sich auf die Suche nach einem Happen zu essen, und ich konnte somit allein herumlaufen und seit Jahren zum erstenmal wieder ein Hindernisrennen erleben.

Die Rennbahn von Cheltenham war der Spielplatz meiner Kindheit gewesen, mein vertrauter Hinterhof. Der »Aushilfsjob« meiner Mutter war eine Ganztagsbeschäftigung im Büro des

Rennvereinsgeschäftsführers gewesen, ihr Lohn unser Lebensunterhalt. In den Schulferien, während sie an ihrem Schreibtisch arbeitete, erlaubte mir der Geschäftsführer, fast überall auf der Rennbahn und in den Tribünenbauten umherzustreifen - »nur daß er nicht lästig wird« war die einzige Auflage. Da Lästigwerden die sofortige Verbannung zu meiner (tyrannischen) Großmutter bedeutet hätte - öde, nicht enden wollende Tage in ihrem muffigen kleinen Cottage, verfolgt von ihren Knopfaugen -, trachtete ich mit glühendem Eifer, das Gegenteil eines lästigen Bengels zu sein, und im großen und ganzen gelang mir das auch.

Während der Renntage schwebte ich immer im siebten Himmel (und schwänzte die Schule), und bis John Darwin daherkam, hatte ich es für selbstverständlich gehalten, daß ich eines Tages auch so ein Jockey sein würde, der über die Sprünge flog. Verzückt stand ich neben den Hindernissen, während die mächtigen Pferde herandonnerten. Ich hörte die Jockeys um die Wette fluchen und sagte mir die Wörter daheim unter der Bettdecke vor. Ich las Rennsportzeitungen, ließ keine Rennsportsendung im Fernsehen aus, kannte Namen und Werdegang eines jeden Hindernispferdes, Trainers und Jockeys im Land. Sah mich in endlosen Wunschträumen als Spitzenjockey und als Sieger in sämtlichen Spitzenrennen, besonders in dem großen direkt vor der Haustür, dem Cheltenham Gold Cup.

Zwei kleine Hindernisse trübten die reellen Chancen, wenn auch nicht die Träume. Erstens besaß ich kein eigenes Pony und ergatterte nur selten eine Gelegenheit, überhaupt zu reiten; von der täglichen Praxis, die ich gebraucht hätte und die ich ersehnte, gar nicht zu reden. Zweitens sah ich mich dem felsenfesten Vorsatz meiner Mutter gegenüber, mir das Erreichen meines Ziels zu verwehren.

»Es liegt mir im Blut«, protestierte ich mit zehn, nachdem ich gerade auf diese verwegen klingende

Redensart gestoßen war.

»Das kannst du nicht bestreiten.«

»Mag sein, daß es dir im Blut liegt, aber du siehst doch, wohin es deinen Vater gebracht hat.«

Es hatte meinen Vater ins Grab gebracht. Der Mann, der mich gezeugt hatte, den ich nur von Fotos kannte, war ein kurzes Jahr lang Hindernisjockey gewesen. Mit vier Siegen im Plus war er eines Morgens wie gewohnt mit dem Lot hinausgeritten und den Weg zum Trainingsgelände entlanggetrabt. Sein Pferd, sagten sie, hatte wegen eines Vogels, der aus einer Hecke aufflog, gescheut: Er selbst wurde aus dem Sattel geschleudert und war schon tot, ehe die anderen Reiter absitzen und ihm zu Hilfe eilen konnten.

Es gab keine Schlagzeilen, nichts von dem Wirbel, der veranstaltet worden wäre, hätte es ihn in einem Rennen erwischt. Meine Mutter bewahrte noch den vergilbten kleinen Ausschnitt aus der Lokalzeitung auf, der das Wesentliche knapp zusammenfaßte. »Paul Perry, 21, aufstrebender Hindernisjockey, starb Dienstag früh in der Baydon Road, Lambourn, bei einem Unfall, in den das von ihm gerittene Rennpferd und ein entgegenkommender Pkw verwickelt waren. Das Pferd und der Autofahrer blieben unverletzt. Perry hinterläßt eine Witwe und einen kleinen Sohn.«

Die Witwe, die selbst noch keine zwanzig war, wurde in den Monaten darauf von der wohltätigen JockeyUnterstützungskasse über Wasser gehalten, einer wundervollen Organisation, die ihr als gelernter Sekretärin schließlich zu der Stelle auf der Rennbahn von Cheltenham verhalf. Sehr passend, meinten alle: eine elegante und praktische Lösung. Der kleine Perry - ich -konnte aufwachsen in seines Vaters Welt und später in die

Fußstapfen seines Vaters treten.

Das karitative Denken hinter all dem spülte damals über mich hinweg, ohne daß ich erkannt hätte, wieviel ich ihm verdankte, und erst viel später, als ich als Peter Darwin nach England zurückkehrte, um mich in Oxford einzuschreiben, begriff ich, wieso die Erinnerungen an meine frühe Kindheit vorwiegend schön waren. Wenn ich seither etwas spendete, dann immer für die JockeyUnterstützungskasse.

In Stratford, wo ich nach mehr als zwanzig Jahren in die Welt meines längst verstorbenen Vaters zurückkam, schien es in mancher Hinsicht, als wäre die Zeit stehengeblieben. Viele von den Namen der Jockeys auf den Anzeigetafeln waren die gleichen wie damals, doch mußten es jetzt die Söhne und Töchter der Leute sein, die ich damals vergöttert hatte. Mit den Trainern im Rennprogramm verhielt es sich ähnlich, wobei ich nach und nach herausfand, daß in diesem Fall tatsächlich noch viele von der alten Garde dabei waren.

J. Rolls Eaglewood zum Beispiel, nach der Liste identifiziert, als er mit seinem Starter vor dem ersten Rennen im Führring stand, war jetzt ein alter Mann, der sich schwer auf seinen Gehstock stützte, aber zweifellos identisch mit J. Rolls Eaglewood, dem Vater von Russet-ohne-Schlüpfer, und sicher auch verwandt mit Izzy, der Verflossenen von Ken McClure.

Ich hätte ihn so nicht wiedererkannt: Sein Name allein war auf einer entlegenen Nervenbahn erhalten geblieben, um beim Druck auf den richtigen Knopf aufzuleuchten; ein Name, der nicht mit einem Gesicht verknüpft war, sondern mit Macht und Bedrohung.

Nur die Pferde selbst waren völlig unbekannt, einschließlich ihrer Abstammung; zu viele

Pferdegenerationen lagen dazwischen wie überschlagene Seiten in einem Buch. Viele Besitzer waren jedoch erkennbar dieselben, Pferdenarren und Züchter aus Leidenschaft.

Ich suchte im Programmheft nach Ronnie Upjohn, dem Besitzer, der Ken einen Prozeß angedroht hatte, weil der es gewagt hatte, mit einem ausrangierten Upjohn-Pferd zu siegen, aber er mischte heute nicht mit.

Upjohn ... und Travers. Upjohn und Travers.

Sie gingen in meinem Kopf zusammen wie Abbott und Costello, aber eindeutig ohne das Gelächter.

Ich wandte mich vom Führring ab und schlängelte mich langsam durch das Gedränge zu einem guten Beobachtungspunkt auf der Tribüne vor. Die Rennplatzbesucher hatten sich überhaupt nicht verändert: Es gab vielleicht weniger Hüte und mehr Hemden mit offenem Kragen, aber die Hersteller ihrer Mäntel und Daunenjacken waren offensichtlich weiterhin gut im Geschäft. In den Gesichtern der Wettbegierigen stand die gleiche zahlenwälzende Unruhe zu lesen, die Buchmacher schrien unter den gleichen Phantasienamensschildern ihre Offerten, die Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, waren ein genaues Echo der Stimmen von vor fünfundzwanzig Jahren.

». eingangs der Zielgeraden schlappgemacht .«

»... der muß das noch mal auf dem Schaukelpferd üben .«

»... als könnte er kein Wässerlein trüben ...«

»... ist doch eine verfluchte Schande ...«

». der Handikapper hat ihn umgebracht .«

Ich lächelte still in mich hinein und kam mir vor wie ein Außerirdischer, der zu einem geliebten, langvermißten

Planeten zurückgekehrt war, und weil ich nicht aufpaßte, wohin ich ging, prallte ich fast mit zwei kleinen Männern zusammen, die sich als Japaner entpuppten.

Ich bat auf englisch um Entschuldigung. Sie verbeugten sich wortlos vor mir, und ich ging weiter zur Tribüne.

Die beiden Japaner, die links unterhalb von mir auf dem Platz vor dem Waageraum standen, schauten verwirrt und hilflos drein, und mir war, als hätte ich einen von ihnen schon mal gesehen, wenn ich auch vergebens die Regierungsbeamten durchging, mit denen ich hauptsächlich verkehrt hatte. Ich zuckte die Achseln, wandte den Blick ab, sah zu, wie die Starter aufgaloppierten.

Der Jockey, der für J. Rolls Eaglewood ritt, trug Purpur und Weiß und blieb brav und langweilig die ganze Zeit in der Mitte des Feldes, während der heiße Favorit den ereignislosen Lauf bequem gewann.

Die Zuschauer spendeten tosenden Beifall, strömten von der Tribüne, um ihre Gewinne abzuholen, und als der Staub sich gelegt hatte, blickte ich dorthin, wo die Japaner gestanden hatten.

Sie waren immer noch da, wirkten immer noch ratlos, obwohl sich jetzt eine junge Frau zu ihnen gesellt hatte, die versuchte, in der Zeichensprache mit ihnen zu reden. Die schwarzen runden Häupter zusammengesteckt, berieten die beiden Männer ernst miteinander und verbeugten sich einige Male vor ihrer Begleiterin, doch es war offensichtlich, daß niemand besonders viel verstand.

Der Drang zu helfen war vermutlich tief verwurzelt. Ich schlenderte von der Tribüne hinunter und blieb ein paar Schritte vor der jungen Frau stehen, die aus der Nähe betrachtet ebenso gereizt wie überfordert aussah.

Ich sagte: »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

Im auswärtigen Dienst gelernt.

Sie warf mir ganz kurz einen Blick zu, der Casanova gebremst hätte, und sagte mit entschiedener Mißbilligung: »Nur wenn Sie Japanisch sprechen.«

»Tu ich ja. Deswegen habe ich gefragt.«

Sie wandte mir ihre ganze Aufmerksamkeit zu und klammerte sich bildlich gesprochen wie eine Ertrinkende an die angebotene Rettungsboje.

»Dann fragen Sie die beiden doch bitte mal, was sie wollen«, sagte sie. »Die wollen irgend etwas und können mir anscheinend nicht klarmachen, was.«

Ich verbeugte mich vor den Japanern und stellte ihnen die Frage. Das Ausmaß der Erleichterung, als sie ihre Landessprache hörten, war beinah komisch, und ihre Antwort auch. Ich verbeugte mich und zeigte ihnen, was sie suchten, und sie hasteten davon, nicht ohne im Gehen noch eine Verbeugung anzudeuten.

Die junge Frau sah ihnen verärgert, mit offenem Mund nach.

»Sie wollten aufs Klo«, sagte ich. »Es war höchste Eisenbahn.«

»Verdammt, warum haben sie das denn nicht gesagt!«

»In der Zeichensprache?« fragte ich.

Sie starrte mich an, taute dann innerlich auf und mußte lachen.

»Schönen Dank auch«, sagte sie. »Was haben Sie denn heute nachmittag noch vor?«

»Ich bleibe hier und sehe den Rennen zu.«

»Kann ich Ihnen Rauchzeichen senden?«

»Ich halte danach Ausschau«, versprach ich.

»Eigentlich bin ich mit dreien unterwegs«, sagte sie zwanglos plaudernd, indem sie mich spontan zum Freund beförderte.

»Der dritte kann Englisch. Ich führe sie seit drei Tagen in London herum. Heute morgen hat Mr. Kamato, das ist der, der Englisch kann, Dünnpfiff gekriegt. Die beiden anderen wollten sich Stratford nicht entgehen lassen, und wenn Sie jemals versucht haben, Anne Hathaways Hütte mit den Händen zu erklären, können Sie sich vorstellen, was für einen Morgen ich hinter mir habe. Die beiden sind ausgesprochen charmant und halten mich wohl für leicht debil.«

»Sind es Geschäftsleute?«

»Nein, sie gehören zum japanischen Jockey-Club.«

»Ah«, sagte ich.

»Wieso >ah

»Ich glaube, ich bin einem von ihnen schon mal begegnet.«

»Wirklich? Wo denn?«

»In Japan. Ich habe da gearbeitet.«

Sie taxierte mich mit einem wachen Blick, und ich meinerseits vermerkte den kleinen Mund, die großen blauen Augen und das dichte braune Kraushaar, blond gesträhnt und in Ohrläppchenhöhe ringsherum abgeschnitten bis auf einen wimpernlangen Saum. Insgesamt wirkte das etwas flippig und puppenhaft, doch die Japaner irrten, der Verstand dahinter war kein Spielzeug.

»Ich arbeite beim britischen Jockey-Club«, sagte sie. »Ich organisiere die Besuche von hohen Tieren. Transport, Unterkunft, Touristenfallen, etcetera. Stil >Mädchen für alles<.«

Ich konnte mir Schlimmeres vorstellen, als von ihr herumgeführt zu werden.

»Ich heiße Peter«, sagte ich.

»Annabel.«

Vornamen bedeuteten lediglich, daß über den Nachmittag hinaus keine Verpflichtung bestand, erlaubten ihr aber einstweilen, etwas von ihrer Arbeitslast abzutreten. Die unausgesprochenen Signale waren wie ein Gesellschaftstanz, dachte ich, vor, zurück und eins-zweidrei. In diesem Stadium würde keiner von uns aus dem Tritt kommen.

Wir warteten auf die Rückkehr ihrer Schützlinge.

»Eigentlich sollten sie den Rennen von der Vereinsetage aus zuschauen«, sagte sie, »aber sie wollten sich unters Volk mischen. Wir hatten Drinks da oben.«

»Japaner fühlen sich in der Menge wohl.«

Sie sagte beiläufig: »Was haben Sie in Japan gemacht?«

»Fürs Auswärtige Amt gearbeitet.«

Sie zog die Nase kraus. »Als Beruf?«

»Mhm.«

»Dann kennen Sie sicher die berühmte Definition eines Diplomaten?«

Ich kannte sie. Jeder im auswärtigen Dienst kennt sie.

»Ein ehrlicher Mensch, der ins Ausland geschickt wird, um für sein Heimatland zu lügen«, zitierte ich.

Sie lächelte. »Und lügen Sie?«

»Manchmal.«

»Das Auswärtige Amt stiftet mehr Verwirrung und mehr Unruhe, als es wert ist.«

»Von wem stammt das?«

Sie sah verblüfft drein, dann ein wenig so, als müsse sie sich verteidigen. »Von meinem Vater, genau gesagt.«

Ich ging nicht darauf ein und widersprach auch nicht. An jeder dogmatischen Auffassung war etwas Wahres, und es

war durchaus schon vorgekommen, daß britische wie auch andere Botschafter angehenden Aggressoren die falschen Signale übermittelt hatten - zum Beispiel, daß die angestrebte Gewaltherrschaft auf wenig oder gar keinen Widerstand von englischer Seite stoßen werde. Sowohl der Kaiser als auch Hitler, hieß es, waren eingeschnappt, als der vermeintlich ergebene britische Löwe aufgewacht war und gebrüllt hatte.

Botschafter aller Länder konnten Sachverhalte mißverstehen und taten das auch oft. Alles hing davon ab, wie ihre Order von zu Hause lauteten und welche Informationen sie vor Ort erhielten. Meine eigentliche Aufgabe hatte jeweils darin bestanden, herauszufinden, was in unserem Gastland wirklich hinter den Kulissen passierte, und meine Vorgesetzten darüber auf dem laufenden zu halten. So hatte ich an Parties und an Abendessen teilgenommen oder selbst welche gegeben, mit dem einzigen Ziel, Gerüchte aufzufangen und zu prüfen, herauszubekommen, wer Einfluß hatte, wer Ideale hatte, wer mit wem schlief, wer an welcher Krankheit litt, wer Drogen nahm, wer trank, wer seine Frau schlug, wer einem jedes Märchen glaubte, wer nur auf Geld aus war, wen man kaufen oder erpressen konnte, wer wahrscheinlich zusammenklappen oder zurücktreten würde, wessen Informationen mitunter zu trauen war und wessen niemals, wessen Freundschaftsbeteuerungen eventuell ehrlich waren und wessen nicht.

Auf dieses Spiel verstand ich mich inzwischen ganz gut, aber es war unmöglich, immer richtig zu liegen. Und selbst wenn ein Botschafter mit lupenreinen Informationen versorgt wird, gibt es noch keine Garantie dafür, daß die Regierung zu Hause ihm glaubt und dementsprechend handelt. Das Haareraufen kann opernhafte Dimensionen erreichen in einer Botschaft, auf die niemand hört. Kein

Land der Erde ist davon ausgenommen.

Die Herren vom japanischen Jockey-Club kamen zurück, verbeugten sich mehrmals, und einer von ihnen brachte ganz besondere Freude zum Ausdruck, als ich ihm sagte, ich würde ihn kennen. Er entschuldigte sich dafür, daß er mich nicht auch sofort erkannt hatte. Wir rissen eine Menge Plattheiten und Verbeugungen herunter. Schließlich fragte ich, ob ich noch irgend etwas für sie tun könne, und sie sagten mit sichtlichem Eifer, sie hätten gern nicht zu starken heißen Tee ohne Milch und Zucker und - hier schlug ein gepflegter Humor durch - dazu eine japanische Teezeremonie. Als Gast und Genießer zahlloser Teezeremonien fragte ich sie, ob Miss Annabel da wohl einspringen könnte, wenn auch ohne Kimono und Obi. Ihre orientalischen Augen lächelten, während ihre Lippen ernst bekundeten, daß es ihnen eine große Freude wäre. Ich fragte, ob sie zu dem Zweck wieder hinauf in die Vereinsetage gehen wollten, aber daran lag ihnen offenbar nichts.

Ich sagte zu Annabel: »Sie haben Durst. Sie hätten gern schwachen Tee ohne Milch, ohne Zucker. Es wäre ihnen sehr lieb, wenn Sie den hier unten mit ihnen trinken würden.«

»Ist das alles, was sie gesagt haben?«

»Nicht ganz. In Japan gehört bei manchen Rennveranstaltungen die traditionelle Teezeremonie mit zum Programm. Ich glaube, sie haben Heimweh.«

»Hören Sie«, sagte sie, »Sie würden nicht vielleicht mit mir kommen?«

»Könnte ich mir überlegen. Wo ist die Teestube?«

Wir spürten das gewünschte Getränk auf und führten während des Trinkens ein etwas stockendes

Dreiecksgespräch. Als ich mich danach fürs erste

verabschiedete, sagte Annabel: »Warum verbeugen Sie sich mehr vor denen als die vor Ihnen? Das ist unenglisch.«

»Sie sind älter. Sie sind vom Jockey-Club, und wir sind auf einer Rennbahn. Sie beruhigt es, mich entwürdigt es nicht.«

»Ein verrückter Diplomat wie Sie darf mir jederzeit wieder zu Hilfe kommen.«

Ich lächelte sie an und bekam ein lebhaftes Lächeln zurück. Vielversprechend, dachte ich. Sie deutete meinen Gesichtsausdruck richtig, spitzte ihren kleinen Mund und schüttelte den Kopf.

Trotzdem noch vielversprechend.

Sie ging mit ihren Schützlingen auf deren gestikulierte Bitte hin in den Buchmacherring, damit sie die Buchmacher aus nächster Nähe sehen konnten, und ich beobachtete sie von der Tribüne aus, als die Starter zum nächsten Rennen aufgaloppierten. Sie war größer als die beiden Männer, und die Kombination von zwei schwarzen Häuptern und einem blondbraunen Krauskopf war sehr leicht im Auge zu behalten. Sie zogen langsam von einem Buchmacher zum anderen und zeigten auf die mit Kreide an die Tafeln geschriebenen Quoten, bis einer der Männer schließlich Geld hervorholte, das Annabel einem Buchmacher anbot. Die Wette wurde angenommen, der Schein ausgestellt. Das Trio ging in den Tribünenabschnitt hinter den Reihen der Buchmacher und verfolgte das Rennen von dort aus.

Greg und Vicky erschienen an meiner Seite und meinten müde, das sei doch alles sehr interessant, nicht? Ich diagnostizierte einen leichten Anfall von Langeweile, aber Vicky widersprach, es sei nicht Langeweile, sondern der Mangel an Sitzgelegenheiten. Sie hatten im ersten Rennen gewettet und verloren, doch das dritte brachte ihnen immerhin einen Gewinn, den sie, schon weniger deprimiert, abholen gingen.

Von Ken und Belinda sah ich überhaupt nichts, und später erfuhr ich, daß sie die Bahn hinuntergegangen waren, um näher bei den Sprüngen zu sein. Annabel ging mit den Japanern zum Führring, um dort vom Zaun aus zuzuschauen, wie die nächsten Starter herumgeführt wurden, und nicht aus Pflichtgefühl, sondern vielmehr weil ich Lust dazu hatte, gesellte ich mich zu ihnen.

Alle freuten sich, die Männer geradezu überschwenglich: Ich war ihr bester Kumpel im Westen geworden. Sie hofften, ich könnte ihnen sagen, welches der aufgebotenen Pferde das nächste Rennen gewinnen würde, da sie nach dem vorigen ihre Wettscheine hatten zerreißen müssen. Das Tüchtigste überlebt, war wegen meines angenommenen Namens lange Zeit meine Devise gewesen, und so beobachtete ich das Aufgebot und wies auf ein schlankes, glänzendes Kraftpaket, das träge mit gesenktem Haupt im Kreis schritt. Die Japaner verneigten sich dankend und eilten hinüber zu den Buchmachern, die, wie sie sagten, eine Neuheit für sie waren, und Annabel fragte mich, warum ich gerade dieses Pferd herausgepickt hatte.

»Es sieht fit aus«, sagte ich.

»Dann verstehen Sie was von Pferden?«

»Ich wollte einmal Jockey werden.«

Sie sah sich meine Körpergröße an. »Es hat wohl auch schon Jockeys gegeben, die über einsachtzig waren.«

Ich nickte. »Aber man könnte sagen, ich bin auf andere Weise da herausgewachsen.«

»Wie denn?«

»Völliger Mangel an Gelegenheit.«

»Ich war auch eine Ponynärrin«, sagte sie zustimmend, »und eines schönen Tages bestand das Leben nicht mehr nur aus Reiten.«

Sie war ganz in Schwarzweiß: schwarze Stiefel und dünne Beine, karierter Rock, weißer Rolli, schwarze Jacke und ein riesengroßer flaumiger weißer Schal mit schwarzen Troddeln. Manchmal sah sie wie sechzehn aus und manchmal doppelt so alt, und sie wirkte durch und durch kompetent, wenn sie nicht gerade gegen Sprachbarrieren anrannte.

»Leben Sie in London?« fragte ich.

»Fulham Road, wenn man das London nennen kann. Und Sie?«

»Unbehaust.«

Ich bekam einen enttäuschten Blick ab, wie er der Bemerkung angemessen war. »Heißt das, ein Gully am Trafalgar Square?«

»Gibt es irgendwelche guten Gullys in Richtung Fulham?«

Sie antwortete mit einer Miene, die besagte, das sei jetzt genug geplänkelt, und ich dachte bei mir, wenn ich mich nicht bald nach einer Bleibe umsah, würde ein schöner warmer Gully, in den heiße Luft aus unterirdischen Tunnels heraufstieg, durchaus seinen Reiz haben. Während meiner Studentenzeit hatte ich in der Hauptstadt mehr als einmal unbequem geschlafen; jetzt war ich doch wohl zu alt dafür.

Die Japaner kamen glücklich mit Wettscheinen wedelnd zurück, und wir gingen alle miteinander auf die Tribüne, um dem Tüchtigsten der Tüchtigen zuzuschauen. Er überlebte bis zur letzten Hürde, wo er sich dann in einem

Wirbel von Beinen überschlug.

Ich bat um Entschuldigung. Sie sagten, es sei nicht meine Schuld. Das Pferd stand auf und galoppierte reiterlos an der Tribüne vorbei, so munter, als hätte es noch gut zwei Runden drauf. Die Japaner steckten ihre wertlosen Tickets weg, zusammen mit ihren zerstörten Hoffnungen, und wollten vor dem nächsten Lauf gern hinunter zu den Hindernissen, denn sie hatten gesehen, daß andere dort auch hingingen. Ich war im Begriff, ihnen zu sagen, ich würde mitkommen, als ich Ken erblickte, der langsam für sich allein ging, in sein Programmheft schaute und unschlüssig stehenblieb.

»Ich werde hier sein, wenn Sie zurückkommen«, sagte ich hastig in zwei Sprachen, »aber jetzt muß ich mit jemand was bereden. Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment.«

Ich ließ sie mitten in der Verbeugung stehen, holte Ken ein, bevor er weiterging, und trat an seine Seite.

»Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte ich.

»Schießen Sie los.« Er hob kurz den Blick vom Programmheft.

»Allein und ungestört.«

»Aber Belinda -«

»Wenn Sie möchten, daß ich mich nützlich mache, müssen Sie schon etwas Zeit für mich erübrigen.«

»In Ordnung.« Er entschloß sich. »Gehen wir in die Bar?«

Die Bar erwies sich als mehr als ungeeignet, denn als wir den Eingang erreichten, sahen wir uns Auge in Auge J. Rolls Eaglewood gegenüber, der auf dem Weg nach draußen mit seinem Stecken angehumpelt kam.

»Tag, Sir«, sagte Ken. Ich hoffte, daß sein Zittern nur für mich erkennbar war: Die Panik wehte herüber wie ein Luftzug. Sein Drang, sich umzudrehen und wegzulaufen, hätte nicht ersichtlicher sein können.

J. Rolls blieb abrupt stehen und heftete einen bitterbösen Blick auf Kens Gesicht.

»Sie haben mein Pferd umgebracht«, sagte er.

Ken schüttelte schwach den Kopf. »Es ist gestorben. Wir konnten es nicht retten.«

»Sie haben schlicht versagt, und das lasse ich mir einfach nicht mehr bieten.«

Mager und grauhaarig, wie er war, die Haut übersät mit Altersflecken, strahlte Eaglewood von nahem doch immer noch die Macht und Bedrohlichkeit aus, die ich mit seinem Namen verband. In seiner Stimme lag das Schnarren desjenigen, der es gewohnt ist, daß man ihm aufs Wort gehorcht, und er verstand es, seine Jahre gegenüber einem Tierarzt, der nur halb so alt war wie er, punktebringend auszuspielen.

»Bis jetzt habe ich mich mit Ihnen abgefunden, weil meine Enkelin in Sie vernarrt war«, sagte er, »und auch aus Achtung vor dem Andenken Ihres Vaters, aber ich habe Carey sagen müssen, daß Sie meine Pferde niemals mehr anrühren dürfen, sonst gehe ich zu einer anderen Ärztegemeinschaft, und das würde mir nach all den Jahren leid tun, habe ich ihm gesagt, aber diese Schlachterei muß ein Ende haben.«

Es war zum Erbarmen: Ken unternahm nicht den kleinsten Versuch, sich zu rechtfertigen. Eaglewood nickte ihm kurz und grimmig zu, bedeutete ihm mit seinem Stock, aus dem Weg zu gehen, und tappelte außer Hörweite.

»Sehen Sie?« sagte Ken zitternd und so blaß wie nur je. »Ich kann’s ihm nicht mal verdenken. Das Pferd, das Donnerstag früh gestorben ist - das mit der Röhrenfraktur -, kam aus seinem Stall.«

»Es hörte sich fast so an, als wäre es nicht das erste Unglück gewesen.«

»Stimmt, war es auch nicht. Vor einem Monat ist mir eins von ihm auf dem Operationstisch gestorben, während ich es an den Atemwegen operierte. Und eines starb daheim in seiner Box ...«

Seine Stimme nahm den inzwischen vertrauten Tonfall der Verzweiflung an. »Ich mache nichts verkehrt, ich passe immer auf. Sie sind einfach gestorben.«

»Mhm. Nun, dann geben Sie mir doch mal eine vollständige chronologische Liste von allem, was schlecht ausgegangen ist. Und die Namen von sämtlichen Besitzern und Trainern und was es an Besonderem über sie zu bemerken gibt. Wenn Sie sicher sind, daß Sie gut gearbeitet haben, müssen wir eine andere Erklärung finden.«

»Was für eine Erklärung?«

»Gaunerei, oder nicht?«

»Aber das kann nicht sein. Das ist ja das Schlimme. Ich habe alles immer wieder abgeklopft. Bin alles in Gedanken durchgegangen. Es raubt mir den Schlaf ... Und was für einen Sinn hätte es, sie umzubringen?«

Ich seufzte. »Fangen wir mal mit der Liste an.«

»Dazu brauchte ich meine Berichte -« Entsetzt brach er ab.

»Meine ganzen Berichte sind verbrannt.«

Wir hatten uns vom Eingang der Bar entfernt und standen auf dem Platz vor dem Waageraum. Mir war aufgefallen, daß einige Leute Ken von der Seite ansahen, doch ich dachte, das sei vielleicht nur wegen seiner augenfälligen Verzweiflung, bis ich später erfuhr, daß

Eaglewood seine Ansichten überall breittrat.

»... ruiniert eine gute alte Praxis ...« und »... drei von meinen tot ... So geht das doch nicht weiter.« Ich fragte mich, wo die Grenze lag zwischen Meinungsäußerung und übler Nachrede.

»Es wird Zeit«, sagte ich Ken, »daß Sie aufhören, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was Sie falsch gemacht haben, und anfangen darüber nachzudenken, wie Sie vorgegangen wären, wenn Sie die Pferde, die gestorben sind, hätten töten wollen. Denken Sie über Nadel und Faden im Bauch einer Zuchtstute nach. Ja, gehen Sie alle Ihnen bekannten Möglichkeiten durch, ein Pferd umzubringen.«

»Aber ich .« Seine Stimme stockte unschlüssig.

»Wissen und Schuld sind zweierlei«, sagte ich. »Gewußt, wie man einen Dolch in den Brustkasten stößt, heißt noch nicht, daß man es getan hat.«

»Aber wenn Sie wissen, wie, dann könnten Sie es getan haben.«

»Sie kennen also Möglichkeiten.«

»Tja ... die kennt jeder Tierarzt.«

Ich sah in sein langes unglückliches Gesicht mit den kummervollen Augen und verstand seine mangelnde Bereitschaft, Informationen preiszugeben, die sich wie ein Schuldeingeständnis anhören konnten. Es war die gleiche Zurückhaltung, die ich am Abend des Brandes bemerkt hatte. Ich würde es schon aus ihm herausholen, aber je früher, desto besser und sicherer für ihn.

Über seine Schulter hinweg sah ich Belinda zielstrebig auf uns zukommen und bedauerte, daß wir nicht im Trubel der Bar untergetaucht waren.

»Stellen Sie die Liste auf«, drängte ich Ken. »Wir treffen uns morgen früh in der Klinik. Allein.«

»Wann?«

»Um acht?«

»Hm ...« Er wandte den Kopf, um zu sehen, wo ich hinschaute. Belinda hatte noch sechs Schritte zu gehen. »In Ordnung«, sagte er. »Acht.«

»Acht was?« fragte Belinda, die ihn gehört hatte.

»Die Nummer acht im nächsten Rennen«, erklärte ich.

Ken schloß die Augen.

»Was ist denn los?« fragte Belinda.

»Nichts.« Er schlug die Augen wieder auf, lächelte sie an und suchte nach seiner Brieftasche. »Sei so gut und setz doch bitte einen Fünfer auf die Acht für mich. Du weißt, mir liegt nichts dran, daß die Leute mich wetten sehen.«

»Die Acht hat keine Chance«, sagte sie.

»Trotzdem .«

»Na schön, aber du spinnst.«

Sie ging zu den Wettschaltern hinüber, und sofort sagte Ken: »Warum wollen Sie nicht, daß Belinda morgen früh dabei ist?«

»Sie sagen mehr und drücken sich klarer aus, wenn Sie allein sind. Ich kann sie dann ja immer noch nach ihren Eindrücken fragen.«

Er dachte darüber nach. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Und Sie sind ein abscheulicher Lügner.«

»Ich dachte, das könnte ich ganz gut.«

»Ich meine, Sie haben mich schockiert. So schnell!«

»Jahrelange Übung.«

»Auch das ist ziemlich schockierend.«

Als Belinda wiederkam, gingen wir auf die Tribüne, um uns das Rennen anzuschauen, und zu jedermanns bassem Erstaunen kam die Acht als erster ein. Die verblüffte Menge nahm den Sieg des Blindgängers mit Schweigen auf, und Belinda ließ Kens breites Grinsen gefrieren, indem sie etwas trotzig verkündete, sie habe seinen Fünfer nicht auf die Acht, sondern auf den Favoriten gesetzt.

»Es hat schon Scheidungen aus geringerem Anlaß gegeben«, sagte Ken in gerade noch höflichem Ton.

»Die Acht war nichts«, beharrte Belinda. »Ich wollte, daß du gewinnst.«

Die Acht erzielte ein Vermögen am Totalisator, was für einen neuerlichen Kälteeinbruch zwischen den Verlobten sorgte. Ich ließ sie diesen Kampf alleine ausfechten und machte mich auf den Weg zu Annabel, die mit ihrem Anhang zurück zum Führring kam.

Nach zwanzig Minuten der Trennung begrüßten wir einander bereits wie alte Bekannte. Der Ausflug an die vorderste Linie hatte Herzklopfen gebracht, wie es schien, und ganz offensichtlich auch die Stimmung gehoben. Die beiden Japaner erörterten lebhaft, welches Pferd für das nächste Rennen am fitesten aussah, und Annabel und ich blickten uns an, die Augen voller unausgesprochener Fragen.

Als sie schließlich das Schweigen brach, wollte sie nur eine Auskunft.

»Wer war das«, sagte sie, »mit dem Sie gesprochen haben, als wir zurückgekommen sind? Ein langer dünner Mann mit blonden Haaren und ein reizbares Mädchen.«

»Reizbar?«

Sie zuckte die Achseln. »Was weiß ich.«

»Ken McClure und Belinda Larch. Die Hochzeit ist heute in drei Wochen.«

Sie runzelte die Stirn, aber nicht wegen dieser Neuigkeit.

»Ist er Tierarzt?«

»Ja.«

»Ein Bekannter von Ihnen?«

»Ich habe ihn vorgestern kennengelernt, und insofern ist er ein Bekannter, ja.«

Ich wartete ein Weilchen, und sie sagte: »Ich schulde Ihnen was für Ihre Hilfe. Es wäre mir nicht recht, wenn Sie den Fehler begehen würden, sich zu sehr mit diesem Tierarzt anzufreunden. Man hat oben über ihn geredet.«

»Wer denn?«

»Der Vereinsvorstand und die Stewards. Jedenfalls einer von ihnen. Er hat ihn den anderen gezeigt, als sie während des Aperitifs am Fenster standen. Er sagte, Ihr Bekannter würde demnächst Praxisverbot bekommen oder etwas in der Richtung, da er ein Pferd nach dem anderen abmurkse, und er sei unehrlich, heimtückisch und eine Schande für seinen Berufsstand.«

»So harte Worte?«

»Noch härtere eigentlich. Da war viel Haß dabei.«

»Wirklich?« Das interessierte mich. »Wer war denn das?«

»Ich bin sehr schnell mit ungefähr acht Personen bekannt gemacht worden und habe dabei noch versucht, unsere Freunde hier vorzustellen« - sie deutete auf ihre Schützlinge -, »daher weiß ich seinen Namen nicht mehr, aber ich meine, es wäre einer von den Stewards gewesen.«

»Mal sehen«, sagte ich und blätterte zur Titelseite meines Rennprogramms zurück, wo ich zu meiner Verwirrung im Verzeichnis der Stewards den Namen fand, den ich im ganzen Innenteil vergebens gesucht hatte.

R. D. Upjohn, Esq.

»Ronnie!« rief Annabel aus. »Sein Nachname fällt mir immer noch nicht ein, aber er wurde Ronnie genannt.« Sie musterte mein Gesicht. »Sagt Ihnen das was?«

Ich erklärte ihr, warum Ronnie Upjohn Ken McClure haßte.

»Ken hat ihn dumm aussehen lassen. Das können manche Leute nicht ertragen.«

Sie lauschte mit geschürzten Lippen der Geschichte von dem abgeschriebenen und am Leben erhaltenen Pferd, das wieder siegen konnte, und sagte: »Ich verstehe den Groll und den Neid wegen des geretteten Tieres, aber was ist mit denen, die gestorben sind? Davon hatte nicht nur Ronnie gehört, ein paar von den anderen haben genickt.«

»Wie sieht dieser Ronnie aus?« fragte ich.

»Sie wechseln das Thema!«

»Ich weiß nicht, wieso die Pferde gestorben sind, noch weiß es Ken. Soweit sind wir noch nicht. Könnten Sie mir Ronnie Upjohn denn mal zeigen?«

Sie schüttelte den Wuschelkopf. »Die Stewards bei so einem Pferderennen sehen alle gleich aus.«

»Das sagt man auch den Japanern nach.«

»Aber nein«, widersprach sie sofort, »meine drei würde ich überall rauskennen.« Sie sah auf die Uhr. »Ich sollte mit den beiden hier wirklich wieder nach oben gehen, wo alle braven kleinen VIPs hingehören. Könnten Sie das mal antippen?«

Sie gingen, so schien es mir, mit höflicher Resignation: Im Gedränge unten mit ihrer reizenden Begleiterin machte es ihnen mehr Spaß. Auch für mich war mit ihrem Abgang unerwartet erst einmal die Luft raus, und ich sagte mir: »Na, na, na, Peter, mein Junge, immer mit der Ruhe, sie wird halb London im Schlepptau haben, und außerdem weißt du überhaupt nichts von ihr, bloß wie sie aussieht und wie sie redet ...«, doch wer brauchte eigentlich mehr? Alles mußte schließlich irgendwo anfangen.

Ich stieß auf der Tribüne wieder zu Greg und Vicky und erfuhr, daß sie zu guter Letzt zwei Stühle in der Bar ergattert, dort eine ganze Stunde bei einem einzigen Glas Tonic verbracht und sich die Rennen auf dem Monitor angeschaut hatten. Bei raschen Vorstößen zum Wettschalter hatten sie auf zwei Sieger gesetzt und einen Batzen auf die Acht gewonnen. »Mein Geburtstag ist am achten Achten«, sagte Vicky. »Die Acht war schon immer meine Glückszahl.« Sie hätten sich doch noch gut amüsiert, meinten sie.

Belinda kam mit bedrückter Miene an, um pflichtbewußt zu fragen, ob sie zurechtkämen, und wurde wütend, als sie von ihrem Gewinn auf die Acht hörte.

»Das blöde Vieh taugt nichts«, fuhr sie auf, »und Ken macht ein geradezu idiotisches Theater.«

»Weshalb denn, Liebes?« fragte Vicky verdutzt.

»Er hat mir Geld gegeben, damit ich für ihn auf die Acht setze, aber ich hab’s auf den Favoriten gesetzt, und so wie er sich anstellt, könnte man meinen, ich hätte ihn um einen Topf voll Gold gebracht.«

»Er steht sehr unter Druck«, sagte Greg sanft. »Das sieht man ihm doch an.«

»Er ist dickköpfig und stolz«, sagte Belinda, »und er redet kein Wort mehr mit mir.« Ein dünner Kranz von Tränen glitzerte plötzlich an ihren unteren Augenlidern. Sie warf den Kopf zurück, als könnte sie sie so ungeschehen machen, und blinzelte angestrengt, während sie einmal kurz schniefte.

Vicky sah aus, als sei sie erleichtert über dieses Anzeichen von Gefühl bei ihrer herrischen Tochter, und sagte nüchtern: »Er kommt schon drüber weg.«

Belinda sagte: »Ich habe angeboten, ihm das verflixte Geld zu zahlen, das er gewonnen hätte. Er sagte, darum ginge es nicht. Ja, um was denn dann?«

»Um sein Ego, Liebes«, sagte Vicky. »Du hast seine Entscheidung in Frage gestellt. Schlimmer noch, du hast dich darüber hinweggesetzt. Das fuchst ihn, nicht das verlorene Geld.«

Belinda sah ihre Mutter mit großäugiger stummer Verwunderung an, und ich dachte bei mir, daß sie jetzt vielleicht zum erstenmal, seit sie erwachsen war, ihrer Mutter richtig zugehört hatte. Nach einer langen Pause glitt ihr Blick von Vicky zu mir, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder hart und streng.

»Und Sie«, fragte sie feindselig, »was meinen Sie dazu?«

»Ich denke«, sagte ich ohne Nachdruck, »daß er von der Arbeit in der Praxis her zu sehr daran gewöhnt ist, daß Sie ihm aufs Wort gehorchen.«

Sie warf mir einen ähnlich erstaunten Blick zu wie ihrer Mutter.

»Ich wollte nur sein Bestes«, sagte sie.

Und ihm beweisen, daß Sie alles besser beurteilen können als er, dachte ich, hütete mich aber, das zu sagen.

Sie wechselte das Thema, wie um ihre Selbstachtung vor weiterer Analyse zu bewahren, und sagte: »Wir alle wüßten halt zu gern, wer diese verwegen aufgemachte Frau ist, mit der Sie sich den ganzen Nachmittag unterhalten haben.«

Da »wir alle« Belindas Umschreibung für »ich platze vor Neugier« war, schauten Greg und Vicky verwirrt drein. Sie hatten Annabel offensichtlich nicht bemerkt.

»Was für eine Frau?« fragte Vicky denn auch arglos.

»Sie arbeitet für den Jockey-Club«, sagte ich. »Sie begleitet ausländische Gäste bei offiziellen Besuchen. Heute sind es Gäste aus Japan. Ich habe ihr beim Übersetzen geholfen, weiter nichts.«

»Ach so.« Belinda zuckte die Achseln. »Erstaunlich, daß der Jockey-Club jemanden einstellt, der sich so fürs Pferderennen anzieht.«

»Bitte zeigen Sie sie mir mal«, sagte Vicky.

Annabel blieb jedoch bis zum letzten Rennen außer Sicht; danach erst kam sie von oben herunter und steuerte mit ihren Schützlingen auf den Ausgang zu. Sie sah mich dort herumlungern (ich ließ Ken und die anderen bereits warten) und kam zu mir, den kleinen Mund zu einem Grinsen verzogen.

»Ronnie Upjohn ist der Mann da vor uns, der mit der Frau mit der orangen Jacke.« Wir gingen zusammen hinaus auf den Parkplatz, hinter uns die zwei Japaner. »Ich konnte nicht viel mit ihm reden, er kam und ging immerzu, und ich hatte ja unsere Freunde dabei, aber er scheint ziemlich normal zu sein. Dogmatisch natürlich. Er meint, Jockeys können sich alles erlauben, aber wer tut das nicht?«

»Sich alles erlauben, oder denken, daß Jockeys sich alles erlauben können?«

»Ganz wie Sie wollen.«

Wir kamen zu einem großen Wagen mit Chauffeur, der bereitstand, um die sehr bedeutenden Japaner davonzutragen. Ich verbeugte mich zum Abschied vor den beiden Männern, ohne jedoch die entschwindende orange Jacke aus den Augen zu lassen.

»Nichts wie hinterher«, sagte Annabel, »wenn Ihnen so viel daran liegt.«

Ich lächelte ihr in die blauen Augen. »Ich rufe Sie an«, sagte ich.

»Gern.«

Sie stieg hinter ihren Schützlingen ein und zog die Tür zu, und ich eilte unverzüglich der orangefarbenen Jacke nach, so schnell ich konnte, ohne aufzufallen.

Die Jacke hielt bei einem großen grauen Wagen an, und der Mann, Ronnie Upjohn, schloß auf. Dann öffnete er den Kofferraum, nahm Hut, Fernglas und Mantel ab und legte sie hinein. Die ausgezogene Jacke folgte. Ich hatte noch Zeit, heranzukommen und Upjohn deutlich zu sehen, bevor er sich in den Wagen setzte; er glitt jedoch nicht hinter das Steuer, sondern auf den Beifahrersitz. Die orange gekleidete Dame, jetzt in Grau mit Perlen, fuhr.

Ronnie Upjohn war um die Sechzig und im wesentlichen unauffällig. Ich mußte seine Gesichtszüge im Kopf abhaken, wollte ich auch nur eine Chance haben, ihn woanders wiederzuerkennen. Haarfarbe grau. Stirn mittelhoch, zerfurcht. Augenbrauen mittelstark. Augen an den Außenwinkeln leicht verdeckt von schweren Lidern. Nase dick, etwas knollig. Schnurrbart mittelgroß, bräunlich. Mund verkniffen. Kinn ... ich gab es auf. An seinem Kinn war nichts, was man sich merken konnte. Außerdem war er inzwischen eingestiegen und nur noch durch die Scheibe zu sehen.

Ich wandte mich ab und ging quer über den Parkplatz auf Kens Wagen zu, und auf einmal sah ich, daß er mit auf dem Autodach verschränkten Armen dastand und mich verwundert bei meinen Kapriolen beobachtete.

»Wissen Sie, wem Sie da gefolgt sind?« fragte er ungläubig.

»Das war Ronnie Upjohn.«

»Will ich auch hoffen«, sagte ich.

»Aber wieso?«

»Ich wollte den Namen mit einem Gesicht verbinden.« Ich hielt inne. »Was macht er, außer daß er als Steward fungiert?«

»Besitzt ein paar Pferde.« Ken dachte nach. »Er macht irgendwelche Geldgeschäfte. Von einem Büro aus. Ich weiß nicht genau. Er ist halb im Ruhestand, glaube ich. Gut bei Kasse. Geerbtes Geld wahrscheinlich - kommt einem so vor. Allzu gewieft ist er nicht, würde ich sagen.«

»Er tut Ihnen im Augenblick nichts Gutes«, sagte ich.

Ken seufzte. »Das tut keiner.« Er richtete sich auf und schickte sich an einzusteigen. »Und ich habe Belinda regelrecht zur Schnecke gemacht, dabei wußte ich doch nicht mal, wie die Acht heißt, geschweige denn hätte ich gedacht, daß sie gewinnt, und Belinda habe ich damit furchtbar aufgeregt, und jetzt ist sie sauer auf mich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Halb so wild. Sie brauchen ihr nur mal das Knie zu tätscheln.«

Ich hatte mich schon daran gewöhnt, daß er mich ansah, als wäre ich übergeschnappt, doch auf der Heimfahrt streichelte er tatsächlich wortlos Belindas Knie, worauf sie in Tränen ausbrach und der Streit beigelegt war.

An diesem Abend, als alle ausgeflogen waren, aß ich einen Schinken-Käse-Toast, trank ein Glas Wein dazu und telefonierte mit meiner Mutter.

Meine Eltern hatten vor langer Zeit ein System entwickelt, wie ich sie von überall auf der Welt anrufen konnte, und das sah im wesentlichen so aus, daß sie bezahlten, wenn ich anrief. Ich brauchte ihnen lediglich die Nummer des Anschlusses durchzugeben, von dem ich sprach, und sie riefen zurück. So entfielen auf mich allenfalls die Gebühren für drei Minuten, auch wenn wir uns vielleicht eine Stunde lang unterhielten. Mein Vater hatte trocken dazu bemerkt, es sei für sie die einzige Möglichkeit, sich zu vergewissern, daß ich noch lebte.

Ich zählte das Geld für drei Minuten nach Mexiko-Stadt ab, legte es in einem Umschlag neben das Telefon in Thetford Cottage und sprach kurz darauf auch schon mit meiner Mutter.

Ich sah sie vor mir am anderen Ende der Leitung, schön wie eh und je. Sie hatte immer schon das besessen, was ich nur als Stil bezeichnen kann, eine angeborene Vornehmheit, die den Übergang von der tüchtigen Sekretärin zur Botschaftergattin logisch und wie eine verdiente Beförderung erscheinen ließ. Ich lauschte mit einem vertrauten Gefühl von Geborgenheit ihrer hellen Stimme, anmutig und sehr jung, alterslos.

»Wynn Lees?« wiederholte sie ungläubig, als sie zurückrief.

»Warum in aller Welt interessierst du dich für Wynn Lees?«

Die Erklärung schluckte einiges von ihrem Geld und belustigte und erschreckte sie zugleich.

»Find ich ja faszinierend, daß du Ken McClure kennengelernt hast, aber du solltest dich wirklich nicht mit Wynn Lees einlassen, Liebling. Der wird sich nicht geändert haben.«

»Gut, aber wieso?« fragte ich. »Was hat er denn so Schreckliches getan?«

»Himmel, das ist alles so lange her.«

»Ja, aber du sagtest mir immer, wenn ich mich nicht besserte, würde ich so werden wie Wynn Lees, als gäbe es kein schlimmeres Los auf Erden, und das einzige, was mir dazu noch im Kopf herumgeht, ist der verschwommene Eindruck, daß er mal im Gefängnis war.«

»Das stimmt allerdings.«

»Tja, und weswegen?«

»Wegen schwerer Mißhandlung von Pferden.«

»Was?« Ich war sprachlos.

»Das erstemal war es wegen Mißhandlung von Pferden. Das ist lange vor deiner Geburt gewesen, als Wynn Lees so etwa zwanzig war. Er und noch ein Jugendlicher haben einem Pferd die Zunge abgeschnitten. Ich glaube, sie haben das ungefähr sechsmal gemacht, bevor sie geschnappt wurden. Ich wußte nichts davon, bis wir nach Cheltenham gezogen sind, und da war Wynn Lees schon über dreißig und hatte noch mal im Gefängnis gesessen, aber diesmal wegen einer Prügelei. Du lieber Himmel, ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Das war ein gräßlicher Mensch. Er kam manchmal ins Büro, denn damals wohnte er noch auf der anderen Seite der Rennbahn. Erst später ist er nach Australien gegangen oder so. Er hat sich regelmäßig über den Grenzzaun beschwert, und ich konnte ihn nicht ausstehen. Er erzählte da was von Maschendraht, und ich mußte immer an die Pferde denken, die gestorben waren, weil man ihnen die Zunge rausgeschnitten hatte. Die Leute meinten, er hätte dafür bezahlt und es sei jugendlicher Übermut gewesen und alles längst Vergangenheit, aber ich glaube, die Leute sind ihre Vergangenheit, und wenn er es mit zwanzig fertiggebracht hat, so etwas zu tun, dann hat er es auch mit fünfzig oder sechzig noch drauf, auch wenn er es jetzt nicht unbedingt tun würde, wenn du verstehst, was ich meine. Wenn er jetzt also wieder in England ist, dann leg dich nicht mit ihm an, Liebling - bloß nicht.«

»Werde mich bemühen«, versprach ich. »Mit wem hat er

sich geprügelt?«

»Was? Ach du meine Güte ... ich weiß nicht mehr. Er war noch nicht lange aus der Haft entlassen, als er nach Cheltenham kam. Auf der Rennbahn konnte man nicht arbeiten, ohne andauernd von ihm zu hören. Warte mal ... Ach ja!« Sie kicherte plötzlich in sich hinein. »Es war nicht nur wegen einer Prügelei. Er war auf irgendwen mit einer Heftmaschine losgegangen und hatte ihm Klammern in die Jeans gejagt. Die Jeans an den Mann geheftet. Jetzt hört sich das lustig an, aber ich glaube, er hatte dem Mann vorgeworfen, heimlich mit seiner Freundin zu schlafen, und er wollte dafür sorgen, daß er nicht noch mal die Hosen runterkriegte.«

»Um Himmels willen!«

»Mhm. Jetzt fällt’ s mir wieder ein. Der Mann mußte ins Krankenhaus, um sich die Klammern rausnehmen zu lassen, und die steckten vorwiegend an den empfindlichsten Stellen - es war fraglich, ob er überhaupt noch mal mit jemand schlafen würde, von Wynn Lees’ Freundin ganz zu schweigen.«

»Wieso habe ich nie etwas davon gehört?«

»Nun, Peter, vielleicht hast du es sogar gehört, aber nicht von mir. Du warst ein Baby, als die Verklammerung stattfand. Ich kann dir aber sagen, daß du Wynn Lees überhaupt nicht leiden mochtest. Du hast dich immer versteckt, wenn er ins Büro kam, während du da warst. Ganz instinktiv. Du konntest ihn nicht riechen. Deshalb habe ich ihn als Buhmann benutzt, ohne dir angst zu machen mit dem, was er eigentlich getan hatte. Ich dachte, von den rausgeschnittenen Pferdezungen bekämst du Alpträume. Kindern würde ich so etwas auch jetzt noch nicht erzählen, obwohl heutzutage keinem Kind verborgen bleibt, wieviel Greuel es auf der Welt gibt.«

»Danke, daß du es mir nicht erzählt hast«, sagte ich. »Ich hätte schwer daran zu knabbern gehabt.«

»Ab und zu bist du ein recht liebenswerter Sohn.«

Streicheleinheiten. Und warum auch nicht? Wir hatten uns immer gut verstanden.

»Okay«, sagte ich, »gehen wir noch ein paar Namen durch. Was ist mit Ronnie Upjohn?«

»Upjohn ...« Ihr Ton war negativ, ohne ein Zeichen des Erkennens.

»Upjohn und Travers«, sagte ich. »Wer waren Upjohn und Travers?«

»Peter, ich habe keine Ahnung. Du bist mit einem Jungen namens Travers zur Schule gegangen. So hast du ihn genannt - Travers, das war sein Nachname. Er kam manchmal zum Spielen zu dir. Seine Mutter hat Siamkatzen gezüchtet.«

»Ich erinnere mich nicht an ihn.«

»Es ist auch ewig lange her, Welten entfernt.«

»Ich bin da jetzt drin, in dieser Welt.«

»Genau. Ist das nicht seltsam?«

»Doch«, stimmte ich zögernd zu.

»Wen hast du noch getroffen? Sonst noch jemand?«

»J. Rolls Eaglewood. Der nämliche, aber alt und mit Gehstock.«

»J. Rolls!« Sie lachte. »An Russet wirst du dich wohl nicht erinnern.«

»Kein Schlüpfer«, sagte ich.

»Sieht dir ähnlich, daß du das behalten hast.«

»Ich weiß auch noch, daß Jimmy tödlich verunglückt ist.«

»Der Arme. Ein nettes Kind.«

»J. Rolls hat was von einem Tyrannen«, sagte ich.

»Schon immer gehabt. Er hat mit eiserner Hand seinen Hof regiert und auch unser Dorf. Das alte Ungeheuer trainiert also immer noch ... Gegen Russet durfte keiner etwas sagen. Einmal hat er seinen Jockey gefeuert, bloß weil der lachte, als jemand einen Witz über sie gerissen hat. Da war die Hölle los. Was ist aus Russet geworden?«

»Weiß ich noch nicht. Es gibt jetzt eine Enkeltochter, die Izzy heißt. Sie war eine Zeitlang mit Ken McClure befreundet.« Ich hielt inne. »Mama, weißt du eigentlich, warum Kenny McClure sich umgebracht hat?«

Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Depressionen, nehme ich an. Es war ein furchtbarer Schlag damals. Er war bei allen beliebt. Dich hat er oft in seinem Jeep mitgenommen, wenn er die Bahn abgefahren ist. Ich habe die Gerüchte nie geglaubt.«

»Was für Gerüchte?«

»Es hatte etwas mit Arzneimitteln zu tun. Er soll die falschen Medikamente verordnet haben. Irgendein verheerend wirkendes Mittel. Das war ein Gerücht, weiter nichts. Die Leute suchten eine Erklärung dafür, daß er sich umgebracht hatte, obwohl er so beliebt war und ein guter Tierarzt. Es war wirklich unfaßbar.«

»Wie hat er sich umgebracht?«

»Jagdgewehr. Hat sich den Kopf weggeschossen. Erinnere mich nicht dran, Peter, es hat mich damals über Tage hinaus krank gemacht. Wenn ich bloß daran denke, kommt alles wieder hoch.«

»Entschuldige.«

Ich wunderte mich über den Gefühlsausbruch. Ich hatte nie Mutmaßungen über ihr Liebesleben angestellt, denn soviel ich wußte, hatte es zwischen dem ersten und dem zweiten Mann keines gegeben.

Aber jetzt ging mir auf, daß sie mit zweiundzwanzig, als Witwe und als so eindrucksvolle Erscheinung, wie die Fotos bezeugten, zumindest für die Liebe bereit und empfänglich gewesen sein mußte.

Sie hatte nicht untätig auf einen John Darwin gewartet, dachte ich.

Meine Mutter hatte seit jeher einen sechsten Sinn, um mein Schweigen zu deuten, und so sagte sie scharfsinnig: »Kenny war verheiratet. Es wäre nicht recht von ihm gewesen, Frau und Kinder zu verlassen, darin waren wir uns einig, und deshalb dauerte es auch nicht sehr lange. Es hörte schon Jahre vor seinem Selbstmord auf. Ich sah ihn oft, aber wir waren bloß Freunde. Ist es das, was du wissen wolltest?«

»Ich glaube schon.«

»Es wäre mir lieb, du würdest es deinem Freund Ken nicht erzählen.«

Ich lächelte in den Apparat. »Okay.«

»Er war ein netter Mann, Peter.«

»Ich verlasse mich auf dein Urteil.«

»Also weißt du«, sagte sie zögernd, »wenn du Ken in seiner schwierigen Lage helfen könntest, dann wäre das irgendwie angebracht. Laß ihn nicht tun, was sein Vater getan hat. Ich hätte alles darum gegeben, zu erfahren, was Kenny bedrückte ... und ihn davor zu bewahren. Aber er hat mir nichts gesagt ... wir waren uns nicht mehr so nah ... darum hilf seinem Sohn für mich und Kenny, ja?«

Ich war außerordentlich bewegt. Eltern steckten voll der erstaunlichsten Überraschungen.

»Ich werde ihm helfen«, versprach ich, »wenn ich kann.«

Am nächsten Tag um acht fuhr ich zur Klinik, entschlossen, soviel wie möglich aus Ken herauszuholen, doch statt eines ruhigen Sonntagmorgengesprächs unter vier Augen fand ich die ganze Stätte von brodelnder Aktivität erfüllt.

Eine große Absperrung blockierte den Zugang zum hinteren Parkplatz, der voller Polizeiautos stand, mit und ohne Blaulicht.

Ein Arm des Gesetzes verwehrte mir auch den Zugang zu Fuß. Auf der anderen Seite des Parkplatzes erblickte ich Carey Hewett in seinem mittlerweile schon vertrauten Zustand der Verzweiflung. Ich hatte ihn noch nie anders gesehen. Ken, in der gleichen Gruppe, war am ganzen Körper angespannt.

»Sie können nicht rein, Sir«, sagte das Gesetz.

Ich rief: »Ken!« Der hörte es, hob den Kopf, winkte und kam herüber.

»Gott weiß, was hier vorgeht«, sagte er. »Anscheinend hat die Feuerwehr mit den Leuten von der Versicherung gestern den ganzen Tag hier den Schutt durchgesiebt, auf der Suche nach stichhaltigen Beweisen für Brandstiftung.«

»Und haben sie welche gefunden?«

»Haben sie nicht gesagt. Aber sie haben eine Leiche gefunden.«

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