Kapitel 11

Der Abend mit Annabel, voller Lachen trotz des grausigen Bildes, das ich ihr vor Augen geführt hatte, endete wie schon einmal nicht im Bett, sondern mit einem Kuß.

Ein kurzer Kuß, aber auf die Lippen. Danach trat sie einen Schritt zurück und sah mich unschlüssig an. Ich spürte noch die weiche Berührung ihres Mundes: ein geschlossener Mund, selbstbeherrscht.

»Wie wär’s mit Freitag?« sagte ich.

»Sie haben die Fahrerei bestimmt schon satt.«

»Bald sind es nur noch zwei Meilen, nicht mehr hundert.«

Hätte sie nicht gewollt, daß ich nur zwei Meilen entfernt war, würde sie es nicht arrangiert haben. Ich hätte gern gewußt, ob es ihr so ging wie mir - ob sie wie auf Wolken schwebte, halb aber auch Angst hatte vor einem Buschfeuer.

»Freitag«, willigte sie nickend ein. »Dieselbe Zeit, derselbe Ort.«

Widerstrebend brach ich auf, fuhr zurück nach Cheltenham, wo ich eine unruhige Nacht verbrachte, voller verwirrender Träume. Beim Aufwachen dachte ich, daß etwas in den Träumen war, das ich behalten sollte, doch die Phantomfilme verblaßten sehr schnell. Ich hatte Träume noch nie gut behalten. Konnte mir nicht vorstellen, wie es war, sie beim Aufwachen noch genau in Erinnerung zu haben. Ich nahm ein Bad und zog mich an und frühstückte mit Vicky und Greg.

»Sie sehen müde aus«, sagte Vicky in einem Ton, als bitte sie um Entschuldigung. »Hätte man uns in Miami nicht überfallen, wären Sie in diese ganze Sache nicht hineingeraten.«

Und ich wäre nicht zum Pferderennen nach Stratford gefahren, dachte ich, und ich hätte Annabel nie kennengelernt.

»Ich bedaure nichts«, sagte ich. »Finden Sie es jetzt schon angenehmer, hier zu wohnen?«

»Sterbenslangweilig«, sagte sie vergnügt. »Diese Hochzeit rückt und rückt nicht näher. Ich kann es kaum erwarten, wieder daheim zu sein.«

Ich lungerte ungeduldig herum, bis der Briefträger kam, doch er brachte nur einen von den Antwortbriefen, und das war nicht der von Parkway Chemicals. Der einzige Brief, der innerhalb von zwei Tagen beantwortet worden war, enthielt einen ganzen Stoß Rechnungen für Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich steckte sie wieder in den Umschlag und rief Ken unter der Nummer seines Funktelefons an.

Es dauerte eine Weile, bis er sich meldete. Er gähnte. »Ich bin erschlagen«, sagte er. »Hab mich die halbe Nacht in einem Rennstall mit einer Kolik abgemüht.«

»Ich dachte, die Partnerschaft besteht nicht mehr.«

»Mag sein«, sagte er, »aber ich bin immer noch Tierarzt, und Pferde werden immer noch krank, und wenn ich um drei Uhr früh als einziger zu erreichen bin, dann gehe ich eben.«

»Zu operieren brauchten Sie nicht, oder?«

»Nein, nein. Ich habe es mit Schmerzmitteln und mit Herumführen wieder klargekriegt. Es hat den Stall nicht verlassen.«

»Welcher Trainer?«

»Keiner, den Sie kennen. Ich versichere Ihnen, das war eine echte, unkomplizierte, ganz normale Kolik.«

»Großartig.« Ich teilte ihm mit, daß die Antwort eines Pharmaproduzenten gekommen war und daß zumindest ich dafür einen Dolmetscher brauchte. In einer halben Stunde sei er bei mir, versprach er. Vicky solle ihm bitte etwas zu essen machen, fügte er hinzu.

Als er kam, aß ich ein zweites Frühstück mit ihm in der ungemütlichen Küche, wo wir auf harten Stühlen um einen weißen Formicatisch herumsaßen. Vicky machte Toast wie am Fließband.

»Ihr mit eurem Wolfshunger«, sagte sie. »Einfach ungerecht, daß ihr nicht dick werdet.«

»Du bist ein Engel«, sagte Ken. Vicky schnaubte, aber sie hörte es gern.

Restlos gesättigt nahm Ken die Rechnungen aus dem Umschlag und schaute sie durch.

»Sie haben die von einem ganzen Jahr geschickt«, stellte er fest.

»Mal sehen ... Natrium, Kalium, Kalzium, Chlor ... mhm, das sind die Bestandteile der Ringerlösung.«

»Was ist Ringerlösung?«

»Ein Allzweck-Blutersatz. Das Zeug in den Tropfinfusionen.«

»Oh.«

»Bei Operationen verwende ich die handelsüblichen sterilen Fertigpackungen mit Basislösung«, sagte er, »aber für die Infusionen im Stall machen wir uns die Lösung selbst, da das viel billiger kommt. In der Apotheke wiegt Scott ...« Er seufzte.

»Scott hat immer die Wirkstoffe hier ausgewogen, lauter weiße kristalline Pulver, und sie in Plastikbeuteln gelagert. Brauchen wir Lösung, geben wir destilliertes Wasser hinzu.«

Er schaute weiter die Rechnungen durch und runzelte die Stirn.

»Wir haben ja eine Menge Kalium verbraucht«, sagte er.

»In den Lösungen?«

Er nickte. »Bei Durchfallpatienten wird üblicherweise noch Kalium zugesetzt, weil sie dehydrieren und zuviel Kalium ausscheiden. Man kann es auch in den fertigen Infusionsbeutel injizieren.«

Er saß da und starrte ins Leere, ähnlich vor den Kopf geschlagen wie ich von Fugu.

Ich wartete. Er schluckte und wurde langsam rot, ganz entgegen seinem gewohnten Blaßwerden.

»Ich hätte es sehen müssen«, sagte er.

»Was denn?«

»Kaliumchlorid. O Gott.« Er zog seinen geistesabwesenden Blick von der Richtung des Küchenherdes ab und schaute mich entsetzt an. »Das hätte ich sehen müssen. Viermal! Ach du Schande.«

Ich konnte nicht sagen, ob seine Beschämung gerechtfertigt war oder nicht, denn mir fehlte das Fachwissen. Aber wie ich Ken kannte, würde er sich jeden Fehler bis zum Exzeß vorhalten und lange brauchen, um darüber hinwegzukommen.

Ich sagte: »Ich habe Ihnen immer gesagt, daß Sie eines Tages vor dieser Erkenntnis stehen würden. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie irgendwo, irgendwie Bescheid wissen.«

»Ja. Ich glaube, jetzt weiß ich es. Ich glaube, die vier bei der Operation Gestorbenen sind an überhöhtem Kaliumblutspiegel gestorben, an Hyperkaliämie, wie man sagt, und das hätte ich damals sehen müssen.«

»Sie hatten nicht erwartet, daß mit der Lösung etwas nicht stimmt.«

»Trotzdem ...« Er runzelte die Stirn. »Die Serumproben von dem letzten gestorbenen Pferd lagen im Labor, als es abgebrannt ist. Jetzt läßt sich das nicht mehr nachweisen, aber je mehr ich zurückdenke ...«

»Weiter«, sagte ich, da er zögerte.

»Die EKG-Kurven, von denen ich Ihnen erzählt hatte, daß sie verändert aussahen? Da gibt es die P-Wellen, die von den Herzvorhöfen ausgehen, und deren Höhe hatte sich verringert. Das Herz schlug langsamer.«

»War es nicht Scotts Sache, Ihnen das zu sagen?«

»Der Kapitän ist für das Schiff verantwortlich. Ich werfe immer mal einen Blick auf das EKG, auch wenn er es überwacht. Ich bin einfach nicht darauf gekommen, daß die Verlangsamung mit Kaliumüberschuß zusammenhing. Ich hatte ihnen kein Kalium zugesetzt.«

»Eben«, sagte ich. »Wer hat bei den vier Operationen die Infusionsbeutel geholt, und wer hat sie gewechselt, wenn sie leer waren?« Er wußte, daß ich die wahrscheinliche Antwort kannte, aber ich fragte trotzdem.

Nach einem Augenblick sagte er: »Scott.«

»Immer Scott?«

Er durchforstete sein Gedächtnis. »Oliver hat einmal assistiert. Bei der Kehlkopfoperation wollte er dabeisein. Er nahm Scotts Stelle ein. Es kann nicht Scott gewesen sein, der sie umgebracht hat.«

»Mhm ...« Ich grübelte. »Wieviel Kalium würde man brauchen?«

»Das ist nicht so einfach. Man müßte die Serumkonzentration steigern auf etwa acht bis zehn Äquivalenteinheiten pro Liter -«

»Ken!«

»Hm ... tja, normalerweise haben wir eine

Konzentration von vielleicht vier Äquivalenteinheiten pro Liter oder so, die müßte man also mehr als verdoppeln.

Um bei einem Pferd von tausend Pfund Gewicht den Wert von vier auf sechs zu erhöhen, brauchte man, ehm ... Moment . « Er zog einen Taschenrechner hervor und rechnete. »Dreiundzwanzig Komma sechs acht Gramm Kalium in Pulverform. Die löst man in Wasser auf und gibt sie zu der Flüssigkeit hinzu. Nach zwei Durchgängen, also nach zwei Beuteln, ist die Serumkonzentration auf acht erhöht. Mit einem dritten Beutel wäre es dann geschafft. Die Operation wäre mittlerweile weit fortgeschritten, so daß es aussähe, als hätte die lange Narkose den Zusammenbruch mit herbeigeführt.«

Er stand unwillkürlich auf und fing an, im Kreis um den Tisch herumzugehen.

»Ich hätte es merken müssen«, wiederholte er. »Hätten wir unsere hauseigene Mischung benutzt, würde ich sie auf Mängel untersucht haben, aber sie kam ja direkt vom Werk, und die hätten niemals einen so groben Fehler gemacht.«

Ich dachte an all die Beutel mit handelsüblicher, gebrauchsfertiger Infusionslösung, die in Kisten im Lagerraum der Klinik gestapelt waren, 1-Liter- und 5-Liter-Beutel. Für die Operation der Stute hatte Ken mindestens vier 5-Liter-Beutel gebraucht: Pferde in Schock- und Schmerzzuständen, Pferde mit komplizierten Koliken mußten große Mengen Flüssigkeit bekommen, hatte er mir gesagt, damit ihr Blutvolumen erhalten blieb. Ich hatte gesehen, wie Scott die leeren Beutel automatisch durch volle ersetzt hatte.

»Sie haben der Stute eine Menge Flüssigkeit zugeführt, die offensichtlich in Ordnung war, da sie die Operation überlebt hat«, sagte ich. »Wie viele Beutel nehmen Sie gewöhnlich?«

Er schürzte die Lippen, und seine Antwort war wieder nicht ganz einfach. Vielleicht gibt es keine einfachen Antworten in der Tiermedizin.

»Bei einer Routineoperation an einem gesunden Rennpferd - wie dem lädierten Röhrbein - kommt die Flüssigkeitszufuhr auf drei bis fünf Milliliter pro Pfund Pferd pro Stunde, also auf etwa vier Liter stündlich. Die Stute hat fünfzehn Liter die Stunde bekommen.«

»Sie würden also bei Kolik-Notoperationen zu den 5-Liter-Beuteln und bei Röhrbeinen zu den 1-Liter-Beuteln greifen?«

»Mehr oder minder.« Er überlegte. »Wohlgemerkt«, sagte er, »man könnte ein Pferd wahrscheinlich auch dadurch umbringen, daß man ihm zuwenig Flüssigkeit zuführt, oder zuviel. Vierzig Liter die Stunde von der normalen im Handel erhältlichen Lösung würden wohl zum Tod führen.«

Die todbringenden Möglichkeiten waren endlos, wie es schien.

»Also gut«, sagte ich. »Sie glauben, es war zuviel Kalium in den Infusionsbeuteln. Wie ist es da hineingekommen? Wie ist es gerade für diese vier Pferde da hingekommen und für sonst keine?«

Er sah verständnislos drein. »Scott kann es nicht gewesen sein. Das glaub ich nicht.«

»In der Nacht, als die Stute operiert wurde«, sagte ich, »kam Scott in die Klinik, während Sie noch unterwegs waren, und ich sah, wie er die Beutel aus dem Lager holte, und half ihm, sie in die Apotheke hinüberzubringen. Er hat sie dort auf dem Regal gestapelt, das man vom OP aus erreichen kann, wenn man die Glastür öffnet.«

»Ja.«

»Hat er die Beutel nach irgendeinem Schema hinüber-geschafft?«

»Ja. Immer der Reihe nach, wie sie gestapelt waren. Immer die vordersten oder die obersten.«

»Wollte man also Kalium zusetzen, dann konnte man das im Lagerraum machen, da man wußte, welche Beutel als nächstes benutzt würden.«

Ken sagte erleichtert: »Dann könnte es jeder gewesen sein, nicht nur Scott.«

Es konnte jeder gewesen sein, überlegte ich, der die Möglichkeit hatte, im Lagerraum ein und aus zu gehen, ohne daß es auffiel. Das galt für alle Partner der Gemeinschaft, für Scott, Belinda, für die Pflegerin, die im Streit gegangen war, und sehr wahrscheinlich auch für die Sekretärinnen und die Putzkolonne. Im Lagerraum hätte man sich nicht mit Kitteln, Überschuhen und Desinfizieren aufhalten müssen. Die klare Flüssigkeit in den Plastikbehältern selbst war steril, und das genügte.

»Ich denke, wir sollten mit Kommissar Ramsey reden«, sagte ich.

Ken schnitt ein Gesicht, erhob aber keine Einwände, als ich telefonierte und den Vorschlag des Kriminalbeamten, sich am späten Vormittag im Büro der Klinik mit uns zu treffen, dankend annahm.

Ramsey, der bäuerliche Typ, hörte sich geduldig die Theorie vom Tod der Pferde und von der Rolle, die Scott dabei gespielt hatte, an. Er kam mit uns in den Lagerraum, um zu sehen, wie die Infusionsbeutel gestapelt waren, so daß immer der vornan liegende als nächster benutzt wurde. Er las den Aufdruck auf der Kunststoffhülle: Zusammensetzung und Hersteller.

Er folgte uns in den kleinen Apothekenbereich, wo die Beutel in das Regal gelegt wurden, und er kam mit in den OP und sah, wie man sie bei Bedarf herausnehmen konnte, indem man die Glastür öffnete.

Niemand sprach direkt die Möglichkeit an, daß Scott entdeckt haben könnte, wer die Beutel präpariert hatte; es bedurfte kaum der Erwähnung.

»Die Pferde sind lange tot«, sagte Ramsey nachdenklich, wieder zurück im Büro. »Die letzten Blutproben sind vor der Auswertung verbrannt. Die leeren Infusionsbeutel sind weggeworfen worden. Ihre Theorie läßt sich nicht beweisen.« Er sah uns nacheinander grübelnd an. »Was wissen Sie sonst noch, wovon Sie nicht wissen, daß Sie es wissen?«

»Das Rätsel der Sphinx«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Pardon. Es hat sich angehört wie ein Rätsel.«

»Ein Rätsel in einem Gaukelspiel in einem Labyrinth«, sagte er unerwartet. »Polizeiarbeit ist oft so.« Er ergriff den Briefumschlag mit den Rechnungen. »Das war keine schlechte Idee. Geben Sie mir die anderen Antwortbriefe auch, wenn sie kommen.«

Wir versprachen es, und ich fragte ihn, ob er wisse, woran Scott gestorben sei. Und ob er wisse, wer in dem Feuer verbrannt sei.

»Unsere Ermittlungen«, sagte er, »sind im Gange.«

Ich besuchte Nagrebb.

Ken mochte nicht mitkommen, aber ich wollte - und sei es nur aus Neugier - den Mann sehen, der mit größter Wahrscheinlichkeit auf brutale Weise zwei Pferde umgebracht hatte, eines durch Hufrehe, das andere durch die Zerstörung einer Sehne. Ihn und Wynn Lees hatte es nicht gekümmert, ob ihre Pferde unter Qualen starben. Ich hatte die Stute von Wynn Lees leiden sehen, wie ich es bei einem Pferd nicht für möglich gehalten hätte, und daß sie

gestorben war, hatte mich mit Bitterkeit und Trauer erfüllt.

Ich konnte nicht nachweisen, daß ihr Besitzer ihr eine Teppichnadel zu fressen gegeben hatte. Ich konnte nicht nachweisen, daß er seinem Eaglewood-Pferd Insulin gespritzt hatte. Ich glaubte, daß es so war, und empfand eine so starke Abneigung gegen ihn, daß ich nie wieder in seine Nähe kommen wollte.

Nagrebb weckte in mir auf Anhieb das gleiche Gefühl.

Ich hatte ihn mir dick, bullig und dumm wie Wynn Lees vorgestellt, deshalb war seine äußere Erscheinung eine Überraschung.

Er war draußen auf der Koppel hinter seinem Haus, als ich, von Kens unwilliger Wegbeschreibung geleitet, seine halb versteckten hölzernen Torpfosten entdeckte und auf eine Zufahrt bog, die sich um das Haus ringelte, bis sie von der Straße aus nicht mehr zu sehen war.

Die Koppel, die dann in Sicht kam, war mit ehemals weißen Querlatten umzäunt, ein verlockender Fluchtweg, wie mir schien, für jedes selbstbewußte, mißhandelte Springpferd. Auf der abgenutzten Weide standen ein Mann und eine Frau mit kastanienbraunen Haaren neben einem knallrot und weißen Hindernis, einem Stück imitierter Ziegelmauer, und forderten einen anderen Mann auf einem dunklen muskulösen Pferd auf, es zu überspringen. Das Pferd brach seitlich aus, um den Sprung zu vermeiden, und wurde mit ein paar heftigen Peitschenhieben ermahnt, das nicht noch mal zu tun.

In diesem Moment bemerkten sie alle drei meine Ankunft und machten zur Begrüßung nur finstere Gesichter, ein Mienenspiel, das für sie so normal zu sein schien wie das Gehen.

Der Mann auf dem Pferd und die Frau, sah ich, waren jung. Der ältere Mann, auffallend breitschultrig, mit zu

kurzen Beinen für den kräftigen Rumpf, stiefelte grimmig auf den Koppelzaun zu. Kahl, stechender Blick, kampflustig; ein Rottweiler von einem Mann. Ich stieg aus und ging ihm bis dicht vor den Zaun entgegen.

»Mr. Nagrebb?« fragte ich.

»Was wollen Sie?« Er blieb einige Schritte vor dem Zaun stehen und hob die Stimme.

»Nur kurz mit Ihnen reden.«

»Wer sind Sie? Ich habe zu tun.«

»Ich schreibe einen Artikel über die Todesursachen bei Pferden. Ich dachte, da könnten Sie mir vielleicht weiterhelfen.«

»Sie haben falsch gedacht.«

»Sie kennen sich doch so gut aus«, sagte ich.

»Was ich weiß, behalte ich für mich. Schwirren Sie ab.«

»Ich dachte, Sie könnten mir etwas über plötzlich auftretende akute Hufrehe erzählen«, sagte ich.

Seine Reaktion war an sich schon Beweis genug. Das jähe Erstarren, die unwillkürliche Anspannung der Gesichtsmuskulatur um die Augen. Ich hatte das schon oft beobachtet, wenn ich in diplomatischen Kreisen scheinbar harmlose Fragen nach einem heimlichen, unerlaubten Sexualleben gestellt hatte. Ich erkannte Alarmsignale, wenn ich sie sah.

»Wovon reden Sie?« wollte er wissen.

»Von überschüssigen Kohlehydraten.«

Er antwortete nicht.

Etwas an ihm mußte die beiden anderen alarmiert haben, denn die junge Frau kam angelaufen, und der Reiter trottete mit seinem Pferd zu uns herüber. Sie hatte wild blitzende Augen, eine Harpye, er war so dunkel und muskelbepackt wie sein Pferd.

»Was ist, Dad?« fragte er.

»Der Mann will was über akute Rehe wissen.«

»Sieh einer an.« Seine Stimme glich der des Vaters; hiesiger Gloucestershire-Dialekt und aggressiv. Auch er wußte, wovon ich redete. Bei dem Mädchen war ich mir nicht sicher.

»Ich brauche Berichte aus erster Hand«, sagte ich. »Es soll für den Durchschnittsleser sein, nicht für ein tiermedizinisches Fachpublikum. Sie brauchen nur mit Ihren eigenen Worten zu schildern, was Sie empfunden haben, als Sie feststellten, daß Ihr Pferd unheilbar geschädigt war.«

»Quatsch«, sagte der Sohn.

»Im vorigen September ist das gewesen, nicht?« fragte ich. »War es versichert?«

»Hau ab«, sagte der Sohn, brachte das Pferd ganz an den Zaun heran und hob warnend die respekteinflößende Peitsche.

Ich dachte, es sei vielleicht an der Zeit, auf ihn zu hören. Ich hatte mir über Nagrebb ein Urteil gebildet, und das war der Zweck meines Ausflugs gewesen, nämlich die Bildergalerie der alten Männer zu vervollständigen. Kens Ansicht über den Sohn würde ich mich jederzeit anschließen. War die junge Frau die Tochter, dann war sie das Produkt des Familienethos, aber wohl nicht die treibende Kraft.

»Wer hat Sie zu uns geschickt?« wollte Nagrebb wissen.

»Gerede«, sagte ich. »Faszinierend, was so alles erzählt wird.«

»Wie heißen Sie?«

»Blake Pasteur.« Ich sagte den erstbesten Namen, der mir einfiel; den Namen eines Legationsratskollegen in

Tokio. Ich nahm nicht an, daß Nagrebb die Personallisten des Auswärtigen Amtes durchsehen würde. »Freier Journalist«, sagte ich. »Schade, daß Sie mir nicht helfen können.«

»Verschwinden Sie«, sagte Nagrebb.

Ich trat versöhnlich den Rückzug an, und damit wäre die Sache auch erledigt gewesen, wäre in dem Augenblick nicht ein anderer Wagen um das Haus gefegt und neben meinem zum Stehen gekommen.

Der Fahrer stieg aus. Oliver Quincy, zu meiner Bestürzung.

»Tag«, sagte er überrascht zu mir. »Was zum Teufel machen Sie denn hier?« Sein Mißfallen war offensichtlich.

»Ich hatte mir Informationen für einen Artikel über den Tod von Pferden erhofft.«

»Kennen Sie den?« wollte Nagrebb wissen.

»Natürlich. Ein Freund von Ken McClure. Steckt in der Klinik überall seine Nase rein.«

Die Stimmung wendete sich merklich zum Schlechteren.

»Ich schreibe einen Artikel über die Klinik«, sagte ich.

»Für wen?« fragte Oliver argwöhnisch.

»Für zahlende Abnehmer. Und die finden sich schon.«

»Weiß Ken davon?« rief Oliver aus.

»Es wird eine nette Überraschung für ihn. Und was machen Sie hier?«

»Das geht Sie einen Dreck an«, sagte Nagrebb, und Oliver antwortete gleichzeitig: »Das Übliche. Sehnenzerrung.«

Ich versuchte in Oliver hineinzuschauen, doch es gelang mir nicht. Ich nahm an, daß ich für ihn mit Ken und mit Lucy Amhurst verbündet war, den treuen Bewahrern von Carey Hewett und Partnern, den Gegnern der

Veränderung. Er sah mich feindselig an.

»Sind Sie noch in der Partnerschaft?« fragte ich.

»Selbst wenn die Partnerschaft sich auflöst«, erwiderte Oliver, »brauchen Pferde noch Betreuung.«

»Das sagt Ken auch.«

Nagrebbs Sohn, der uns eher beobachtet als zugehört hatte, glitt plötzlich von seinem Pferd herunter, gab die Zügel seinem Vater und stieg unter dem Koppelzaun durch, um zu Oliver und mir herauszukommen. Aus der Nähe war die Aggressivität, die er verströmte, nahezu greifbar. Sein Vater hoch zwei, dachte ich.

»Sie sind lästig«, sagte er zu mir.

Er hielt seine Peitsche in der linken Hand. Ich fragte mich flüchtig, ob er Linkshänder war. Er bewies mehr oder minder, daß er keiner war, indem er mir sehr schnell und hart die rechte Faust in den Magen schlug.

Es war, als hätte mich ein Pferd getreten. Ich verlor, wie mir schien, die Fähigkeit zu atmen. Zusammengekrümmt, praktisch gelähmt, ging ich auf ein Knie hinunter. Da half es wenig, daß Nagrebbs Sohn mir seinen bestiefelten Fuß auf die vorgezogene Schulter setzte und mich hintenüberkippte.

Niemand erhob Einspruch. Ich blickte staubigem altem Gras ins Auge. Auch das war nicht tröstlich.

Langsam bekam ich wieder Luft, und die Atemnot wich ohnmächtigem Zorn, der zum Teil gegen mich selbst gerichtet war, da ich die Situation heraufbeschworen hatte. Jetzt meinerseits auf Nagrebb junior loszugehen war zwecklos, ich würde lediglich noch einmal umgebügelt werden. Worte waren meine Waffen, nicht die Hände. Ich hatte noch nie jemand im Zorn geschlagen.

Ich rappelte mich auf die Knie hoch und stand auf.

Nagrebb schaute wachsam drein und sein Sohn unerträglich überlegen. Oliver war ungerührt. Das Mädchen lächelte.

Ich bekam genug Luft, um zu sprechen. Rang nach Beherrschung.

»Sehr aufschlußreich«, sagte ich.

Nicht die klügste Bemerkung, zugegeben, aber meine einzige Waffe. Der Sohn schlug noch einmal nach mir, aber diesmal war ich bereit und fing seinen Stoß mit dem Handgelenk ab. Auch davon kriegte ich noch taube Finger. Das einzige Plus schien mir zu sein, daß ich nichts über kollagenzersetzende Enzyme ausgeplaudert hatte und nicht mit schußbereiten Kollagenase-Spritzen konfrontiert worden war.

»Hören Sie«, sagte ich. »Ich bin Zeitungsschreiber. Wenn Sie nicht wollen, daß über Sie geschrieben wird, dann hab ich das kapiert.«

Ich kehrte ihnen den Rücken, ging die wenigen Schritte zu meinem Wagen und zwang mich, nicht zu zittern.

»Kommen Sie nicht noch mal«, sagte Nagrebb.

Ganz bestimmt nicht, dachte ich. Unter keinen Umständen.

Ich öffnete die Wagentür und ließ mich ächzend auf den Fahrersitz sinken. Als die Faust in meinem Magen gelandet war, bekam ich für einen Moment keine Luft mehr, aber inzwischen waren die Schmerzen das Hauptproblem. Irgendwo unten an meinem Brustbein war ein Bereich, der mir empfindlich weh tat.

Sie versuchten nicht, mich aufzuhalten. Ich ließ den Motor an, stieß um Olivers Wagen herum zurück und fuhr schmählich besiegt schnurstracks die Zufahrt hinunter. Einen Feind, dachte ich, greift man nicht ohne Schild und

Rüstung an.

Als ich nach Thetford Cottage kam, blieb ich erst noch eine Weile im Auto sitzen, und Ken kam heraus, um nachzusehen, warum.

Er bückte sich, schaute durchs Fenster, und ich drehte die Scheibe herunter.

»Was ist los?« fragte er.

»Nichts weiter.«

»Offensichtlich doch.«

Ich seufzte. Fuhr zusammen. Lächelte schief. Zeigte auf meinen Bauch.

»Nagrebbs Sohn hat mir den Solarplexus auseinandergenommen«, sagte ich.

Er war verärgert. »Ich sagte Ihnen doch, Sie sollten da nicht hingehen.«

»Ja. Ganz allein meine Schuld.«

»Aber warum? Warum hat er Sie geschlagen?«

»Ich habe nach akuter Hufrehe gefragt.«

Er sah geschockt aus. »Das war doch verdammt blöd.«

»Mhm. Aber aufschlußreich die Reaktion, finden Sie nicht? Und Oliver war übrigens auch dort, wegen irgendeiner Sehnenzerrung. Nagrebb hatte ihn gerufen.«

»War Nagrebb selbst da?«

»Ja. Und eine grimmige junge Rothaarige, die es lustig fand, daß Nagrebbs Sohn mich niedergeschlagen hatte. Sie sind alle draußen auf der Koppel gewesen, als ich hinkam.«

Ken nickte. »Das war Nagrebbs Tochter. Ich hatte Sie gewarnt, daß der Sohn ein Giftbolzen ist.«

»Sie hatten recht.«

Gift, dachte ich. Ich war drauf und dran, Ken von Fugu zu erzählen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weiter hergeholt kam es mir vor. Also kein Fugu. Wenn es aber ein nicht nachweisbares Gift gab, dann gab es vielleicht noch mehr von der Sorte. Warten wir, dachte ich, auf den Lieferschein von Parkway Chemicals.

Ich schob mich aus dem Wagen und richtete mich vorsichtig auf. Wenn ich im Film gesehen hatte, wie Leute fünf, sechs Schläge in den Magen bekamen, hatten sie das immer weggesteckt, als hätte eine Feder sie gestreift. Da ich die Behandlung nicht gewohnt war, fühlte ein Schlag sich an wie fünf, sechs Begegnungen mit einer Pfahlramme.

»Er hat ihnen wirklich weh getan«, meinte Ken besorgt.

»Na ja, wie Sie schon sagten, ich habe es ja herausgefordert.«

Als wir ins Haus gingen, bat ich ihn, mich vor Greg, Vicky und Belinda nicht in Verlegenheit zu bringen, und belustigt gab er mir sein Wort darauf.

Am Freitag morgen trafen zwei weitere Antwortbriefe ein, aber noch immer nicht der von Parkway Chemicals. Ich rief Parkway an, ließ mich zum Verkaufsleiter durchstellen und fragte, ob die Kopien für uns abgeschickt worden seien.

»Aber ja«, bestätigte er, »die sind gestern rausgegangen.«

»Vielen Dank.«

Er verstand nicht, daß ich so dahinter her war, und ich konnte es nicht erklären. Ob die Kopien einen Tag früher oder später eintrafen, mußte ihm belanglos erscheinen. Noch mehr Geduld war gefordert. Fürchterlich.

Ich erreichte Ken über sein Telefon und sagte ihm, daß noch zwei Pharma-Antworten gekommen seien.

»Bin gleich da«, sagte er.

Als er kam, erkundigte er sich nach meinen Blessuren.

»Es wird schon besser«, sagte ich. »Was haben wir heute?«

Er ging die gebündelten Rechnungen durch, Belege über sechs Monate von beiden Firmen. Er nickte, zog die Brauen hoch, nickte und ließ die Brauen wieder sinken.

»Nichts Ungewöhnliches«, bemerkte er zum ersten Stoß.

Der zweite Stapel versetzte ihn in Erregung.

»Jesses«, sagte er. »Sehen Sie sich das mal an!«

Er schob die Papiere über den Küchentisch und wies mit dem Zeigefinger auf eine Zeile.

»Insulin! Wir haben Insulin bestellt! Nicht zu fassen.«

»Wer genau hat es bestellt?«

»Weiß der Himmel.« Er runzelte die Stirn. »Wir haben keinen Extraapotheker, die Praxis ist nicht - war nicht -groß genug dafür. Wir stellen verschiedene Dinge in der Apotheke selbst her. Scott hat das oft gemacht. Jeder von uns. Was wir zur Verwendung entnehmen, schreiben wir auf. Die Herstellerfirmen werden mit eingetragen, wo es sich nicht um Ringerlösung, Schmerzmittel oder andere Dinge des täglichen Bedarfs handelt, die wir vom Großhändler beziehen. Die Sekretärin gibt die Liste in den Computer ein und ordert, sofern sie keine anderen Anweisungen hat, automatisch alles nach, wenn die Bestände knapp werden.«

»Demnach«, sagte ich, »könnte jeder Insulin als verwendet notieren, und die Sekretärin würde es automatisch mitbestellen?«

»Gott«, sagte er entsetzt.

»Wer nimmt die Lieferungen in Empfang?«

»Eine Sprechstundenhilfe schafft die Pakete in die Apotheke. Irgendeiner von uns packt die Sachen dann aus und ordnet sie ins Regal ein. Die meisten Sachen haben einen Stammplatz in den Regalen und werden viel gebraucht. Zum Beispiel Impfstoffe und Salben. Alles Ungewöhnliche oder Heikle steht in einem besonderen Fach. Stand, vielmehr. Ich sehe die Apotheke immer noch so vor mir, wie sie war, und vergesse, daß sie hinüber ist.«

»Wenn also jemand Insulin auspacken würde, dann käme das in eben dieses Sonderfach und wäre für den, der es bestellt hat, griffbereit?«

»Ein Klacks«, sagte er.

Er ging weiter die Rechnungen durch und stieß auf etwas, was ihm fast so gründlich den Atem verschlug wie mir die Faust von Nagrebbs Sohn.

»Das ist beängstigend«, sagte er tonlos. »Wir haben Kollagenase bestellt.«

»Wer hat sie bestellt?«

»Läßt sich nicht sagen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn die Sekretärin die Liste in den Computer eingegeben hat, vernichtet sie den Zettel vorsichtshalber im Shredder, damit ihn niemand aus unseren Papierkörben fischt und die Informationen benutzt, um Medikamente für sich zu bestellen. Wir müssen aufpassen mit Amphetaminen und beispielsweise auch den Wirkstoffen von LSD.«

»Weiß die Sekretärin, wer von Ihnen was bestellt hat?«

Er nickte. »Sie kennt unsere Unterschriften. Wir zeichnen immer ab, was wir entnehmen. Andernfalls fragt sie nach.«

»Ob sie sich wohl erinnert, wer Insulin und Kollagenase abgezeichnet hat?«

»Wir könnten sie fragen, aber sie hätte ja keinen Grund gehabt, sich das zu merken.« Er sah auf die Listen. »Insulin wurde vor sechs Monaten bestellt. Das paßt. Wynn Lees’ Pferd ist vergangenen September gestorben, kurz nachdem das Insulin hier eingetroffen sein dürfte. Da ist nicht lange gefackelt worden.«

»Und die Kollagenase?«

Er schaute das Datum nach. »Dito. Sie wurde ein paar Tage nachdem Nagrebbs Pferd sich das Bein durchbohrt hatte, geliefert.« Verwirrt blickte er auf. »Niemand hätte ein Pferd vorsätzlich so zurichten können.«

»Wie lange dauert es gewöhnlich, bis die Bestellungen kommen?«

»Nicht lange. Zwei, drei Tage, zumal wenn wir einen Sonderauftrag mit der Kennzeichnung >Eilt< aufgeben.«

»Ich könnte mir denken, daß in der Woche zwischen der Verarztung des durchbohrten Beins und der Auflösung der Sehne das Springpferd als gesund versichert und die Kollagenase per Eilauftrag angefordert worden ist.«

Ken rieb sich das Gesicht.

Ich sagte: »Was hindert jemanden daran, sich einen Bogen Briefpapier von der Praxis zu greifen, Insulin und Kollagenase zu bestellen und sich das Zeug an seine Privatanschrift schicken zu lassen? So wie ich die ganzen Briefe hierher geleitet habe.«

»Keine dieser Firmen würde irgendeine Substanz woanders hinschicken als an den Hauptsitz der Gemeinschaft«, überlegte er. »Die würden das nie tun. Dafür gibt es strenge Vorschriften.«

Ich seufzte. Viel weiter waren wir noch nicht, außer daß mit jedem langsamen Schritt die Gewißheit zunahm, daß jemand die Mittel und Wege der Ärztegemeinschaft für betrügerische Zwecke genutzt hatte.

»Bestellen alle Gemeinschaftspraxen nach dem gleichen Verfahren wie Sie?« fragte ich.

»Glaub ich nicht. Wir fallen da wahrscheinlich eher raus.

Aber bis jetzt war es bequem und unproblematisch.«

»Was ist mit Atropin?«

»Das brauchen wir ständig nach Augenoperationen, um die Pupille zu erweitern. Es wird naturgemäß ab und zu in kleinen Mengen auf den Rechnungen auftauchen.«

Wie gestern mußte ich erst eine Weile herumtelefonieren, bis ich Kommissar Ramsey erreichte.

»Was gibt’s?« fragte er ein wenig gereizt.

»Antworten von Pharma-Produzenten.«

Eine kurze Pause, dann: »Klinikbüro, heute nachmittag um drei.«

»Gut«, sagte ich.

Schließlich traf ich mich dann allein mit ihm, da Ken trotz der massiven Gerüchte, die wie Wespen durch die Gegend schwirrten, von einem Stammkunden gerufen worden war, einem Galopprenntrainer, der das Blutbild mehrerer potentieller Starter überprüft haben wollte. Er und Oliver, sagte Ken, seien ständig mit dieser Prozedur beschäftigt.

Der Kommissar schien ebenfalls allein zu sein, denn sein Wagen war der einzige auf dem Parkplatz. Ich parkte neben ihm, ging über den leeren Asphalt und in das verlassene Gebäude: keine Hunde, keine Katzen, keine Ärzte. Ramsey erwartete mich im Büro und hatte sich die Türen offenbar mit einem großen Schlüsselbund, wie auch Ken eins besaß, aufgeschlossen. Sein schütteres Haar war vom Wind zerzaust: Mehr denn je sah er aus wie ein Mensch, der viel im Freien war.

Wir setzten uns an den Schreibtisch, und ich gab ihm die Rechnungen und erklärte, was es mit Insulin und Kollagenase auf sich hatte und wie sie bestellt werden konnten.

Er kniff die Augen zusammen. »Sagen Sie das bitte noch mal.«

Als ich es wiederholt hatte, sah er nachdenklich drein. Ich erzählte ihm auch noch von der Teppichnadel und erwähnte Broses Theorie über die Vaterschaft des toten Fohlens.

Er kniff noch einmal die Augen zusammen. »Sie waren fleißig«, sagte er.

»Ich habe mir vorgenommen, Kens Namen reinzuwaschen.«

»Hm. Und Sie erzählen mir das jetzt alles«, sagte er auf seine unverblümte Art, »weil ich, wenn ich herausfinde, wer die Pferde umgebracht hat, dann auch weiß, wer Scott Sylvester umgebracht hat?«

»Ja.«

»Sie sagten, Sie haben noch die Teppichnadel, die in dem Darmstück steckt, und Sie haben Haarproben von der Stute, dem Fohlen und dem Hengst zum Chromosomenvergleich an ein Speziallabor geschickt. Ist das richtig? Und diese Stute hat Wynn Lees gehört?«

Ich nickte.

»Was noch?« fragte er.

»Atropin«, sagte ich und gab Kens Auffassung wieder.

»Sonst noch etwas?«

Ich zögerte. Er bat mich, weiterzureden. Ich sagte: »Ich habe die Besitzer und Trainer sämtlicher unter verdächtigen Umständen gestorbenen Pferde besucht oder mit ihnen gesprochen. Ich wollte ihnen mal auf den Zahn fühlen, wollte wissen, ob sie Schurken sind oder nicht. Herausbekommen, ob sie selbst in den Tod ihrer Pferde verwickelt gewesen sind.«

»Und?«

»Zwei sind Schurken, einer definitiv nicht, einer wahrscheinlich und einer vielleicht, aber der weiß nichts davon.«

Er fragte mich nach dem zuletzt Genannten, und ich erzählte ihm von dem alten Mackintosh und seinem sich ein- und ausblendenden Gedächtnis.

»Er erinnert sich«, sagte ich, »an die Reihenfolge, in der vor langer Zeit einmal Rennpferde in den Boxen auf seinem Stallhof gestanden haben. Die hat er mir vorgebetet wie eine Zauberformel. Sechs, sagte er, sei Vinderman. Nun, eines von den Pferden, bei denen man wahrscheinlich durch Atropin eine Kolik erzeugt hat, war in Box Nr. 6 untergebracht. Ich dachte, wenn man Mackintosh vielleicht einen Apfel oder eine Möhre in die Hand drückte - er gibt seinen Pferden täglich Mohrrüben - und ihn ausdrücklich bäte, sie an Vinderman zu verfüttern, dann würde er auf den Hof laufen und sie dem Pferd in Box Nr. 6 geben.«

Er sagte zweifelnd: »Sind Sie da sicher?«

»Natürlich bin ich mir nicht sicher, aber ich halte es für möglich. Es könnte auch sein, daß der Futtermeister weiß, wer Box 6 - und Box 16 - mit Geschenken für die Insassen beehrt hat. Der Futtermeister weiß mehr, als er sagt.« Dann setzte ich aus keinem anderen Grund als dem, daß es mir gerade durch den Kopf ging, hinzu: »Mackintosh wohnt in einer alten Mühle, die mal einer Familie Travers gehört hat.«

Selbst erfahrene Polizeibeamte haben ihre Muskulatur nicht ganz unter Kontrolle. Die leichte Haltungsänderung, die unwillkürliche Bewegungslosigkeit, die konnte er so wenig verbergen wie kürzlich Nagrebb. Ich hatte ihn überrumpelt.

»Travers«, wiederholte ich. »Was sagt Ihnen das?«

Er antwortete nicht direkt. »Kennen Sie jemand namens Travers?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Der Travers, mit dem ich als Kind gespielt hatte, war nur ein Name, an den meine Mutter sich entsann, nicht jemand, den ich kannte.

Er überlegte eine ganze Zeitlang, sagte aber nichts. Er stand auf und gab mir damit zu verstehen, daß das Gespräch hiermit vorbei und der einseitige Informationsfluß vorübergehend beendet war. Sollte ich noch weitere Auskünfte über Arzneimittel bekommen, sagte er, dann wäre er dafür sehr empfänglich.

»Wo kann ich Sie morgen erreichen?« fragte ich. »Wir haben nämlich zufällig herausgefunden, daß Scott zu einem Chemiewerk gefahren ist, um persönlich etwas abzuholen, was nicht mit der Post versandt werden darf. Morgen dürften wir wissen, was es war. Die Firma hat den Bescheid gestern abgeschickt.«

Ohne Zeit zu vergeuden, setzte er sich wieder hin, schrieb eine Nummer auf einen Notizzettel, gab sie mir und sagte, über die sei er immer zu erreichen.

»Der Postbote kommt um zehn«, sagte ich. »Ich werde Ken rufen müssen, damit er die Namen der Chemikalien in Worte übersetzt, die ich verstehe. Danach könnte ich Sie anrufen.«

»Ja, bitte«, nickte er.

»Erzählen Sie mir von Travers«, sagte ich überredend. »Vor langer Zeit gab es mal irgendeine Finanzierungsgesellschaft, die Upjohn & Travers hieß. Der jetzige Upjohn, Ronnie, ist so um die Sechzig. Er fungiert als Steward auf der Rennbahn von Stratford-upon-Avon. Vor etwa einem Jahr hatte er ein verletztes Pferd, das Ken einschläfern sollte. Ken sagte, er könne das Pferd retten, und hat es Upjohn zu nicht viel mehr als dem Fleischpreis abgekauft. Nach der fachmännischen chirurgischen Behandlung durch Ken hat das Pferd dann inzwischen ein

Rennen gewonnen, worüber Upjohn alles andere als erbaut ist. Unlogisch, aber so sind die Leute eben. Jedenfalls hatte der Vater von Ronnie Upjohn einen Partner namens Travers. Alles, was ich über ihn weiß, weiß ich aus zweiter Hand von Kens Mutter, Josephine, die den alten Travers als steinreich und als fürchterlichen Lüstling bezeichnet hat. Er wäre jetzt mindestens neunzig, schätze ich, wenn er noch lebte.«

Ramsey schloß die Augen, wie um zu verhindern, daß ich seine Gedanken las. »Sonst noch etwas?« fragte er.

»Hm ... Porphyr-Park.«

»Die scheußliche rote Bauruine auf dem Weg nach Tewkesbury? Was ist damit?«

»Der alte Mackintosh hat Geld da hineingesteckt und es verloren. Ronnie Upjohn und viele andere Leute hier aus der Gegend ebenfalls.«

Er nickte etwas grimmig, und ich fragte mich flüchtig, ob er selbst zu den Unglücklichen zählte.

Im Gesprächston fuhr ich fort: »Man muß nicht der Besitzer eines Pferdes sein, um es zu versichern. Es kann ohne Wissen des Besitzers versichert werden. Die von der Versicherung in gutem Glauben geleistete Zahlung läuft dann am Besitzer vorbei, der völlig ahnungslos bleibt.«

Seine Augen öffneten sich. Ich sah, daß er die Bedeutung des Gesagten durchaus verstand.

»Es ist sehr fraglich«, sagte ich, »aber vielleicht haben da einige eine Idee gehabt, wie sie ihre Verluste von Porphyr-Park wieder wettmachen könnten.«

Seine Hand fuhr zum Mund.

»Könnten Sie«, fragte ich, »irgendwoher eine Liste von den Leuten bekommen, die durch Anleihegarantien bei dem Projekt Geld verloren haben?«

»Sagen Sie bloß«, meinte er, bei aller Schulung doch ironisch, »das haben Sie noch nicht selbst geschafft?«

»Ich weiß nicht, wen ich fragen soll, und hätte wenig Aussicht, daß man es mir sagt.«

»Stimmt.« Ein Lächeln flackerte kurz auf. Er sagte nicht, ob er sich eine Liste besorgen und wenn ja, ob er sie mir zeigen würde. Die Polizei war nirgends auf der Welt dafür bekannt, daß sie ihre Informationen teilte.

Er stand wieder auf und ging mit mir hinaus auf den Parkplatz, nachdem er sorgfältig die Türen hinter sich abgeschlossen hatte. Er wirkte eher onkelhaft gemütlich als bedrohlich, aber andererseits konnten auch Bären kuschelig aussehen. Es war möglich, daß er mir zuhörte und im stillen dabei dachte, Ken habe die Pferde selbst getötet. Ken hatte sich zunächst ja auch gesträubt, wenn nicht sogar davor gefürchtet, mir zu sagen, wie man Pferde töten kann, weil solche Kenntnisse sich zu seinen Ungunsten auslegen ließen.

»Ich höre morgen von Ihnen«, sagte Ramsey mit einem Nicken und stieg in sein Auto.

»In Ordnung.«

Er wartete, bis ich meinen Wagen angelassen hatte und zum Ausgang gefahren war, fast als wollte er mich hinausbugsieren. Er hätte keine Angst zu haben brauchen, daß ich umkehren würde. Wenn ich Vollgas gab, kam ich gerade noch bis um sechs in die Fulham Road.

Annabel, einigermaßen konventionell heute mit silbernen Cowboystiefeln und einem glatten schwarzen Kleid, machte ihre Tür auf und sah lachend auf ihre Armbanduhr.

»Zehn Sekunden zu spät.«

»Bitte untertänigst um Entschuldigung«, sagte ich.

»Gebongt. Wo fahren wir hin?«

»Sie sind die Londonerin. Entscheiden Sie.«

Sie entschied sich für einen Abenteuerfilm und für ein Abendessen in einem Bistro. Der Held des Films wurde sechsmal in die Magengegend geboxt und stand lächelnd wieder auf.

In dem Bistro gab es Kerzen in Chiantiflaschen, rotkarierte Tischtücher und einen Zigeunersänger mit einer Blume hinterm Ohr. Ich erzählte Annabel von Vickys und Gregs Gesang. Altmodisch, aber vorzügliche Stimmen. Sie würde sie gern mal hören, sagte sie.

»Kommen Sie Sonntag vorbei«, sagte ich spontan.

»Sonntags besuche ich den Bischof und seine Frau.«

»Oh.«

Sie sah auf ihre Spaghetti nieder, das Kerzenlicht auf ihrem elastischen Stoppelhaar, die Augen im Schatten, nachdenklich.

»Die Sonntage mit ihnen lasse ich nur aus, wenn es wichtig ist«, sagte sie.

»Es ist wichtig.«

Sie hob die Augen. Ich konnte die Kerzenflammen darin sehen.

»Sagen Sie das nicht leichthin«, sagte sie.

»Es ist wichtig«, wiederholte ich.

Sie lächelte kurz. »Ich komme mit der Bahn.«

»Zum Mittagessen in einem Landgasthof?«

Sie nickte.

»Und Sie bleiben bis zum Abend, und ich fahre Sie nach Hause.«

»Ich kann mit der Bahn zurückfahren.«

»Nein. Nicht allein.« »Sie sind genauso schlimm wie mein Vater. Ich kann selbst auf mich aufpassen, damit Sie das wissen.«

»Trotzdem fahre ich Sie.«

Sie lächelte auf ihre Spaghetti hinunter. »Der Bischof wird Ihnen trotz Ihres Berufs seinen Segen geben müssen.«

»Mir bangt davor, ihn kennenzulernen.«

Sie nickte, als wäre das Bangen selbstverständlich, und fragte, wie sich die Dinge in der Praxis entwickelten. »Mir geht dieser arme Scott nicht aus dem Sinn.«

Ich erzählte ihr von den Auskünften der Pharma-produzenten, die sie abwechselnd faszinierten und erschreckten. Ich erzählte ihr, daß die Tierärzte, seit Carey die Partnerschaft aufgelöst hatte, alle herumsausten wie kopflose Hühner, weil sie sich zwar noch um kranke Tiere kümmerten, ihnen aber die zentrale Organisation fehlte.

»Kann man denn eine Partnerschaft einfach so auflösen?«

»Weiß der Himmel. Die Rechtslage sieht verwickelt aus. Carey kann nicht mehr und möchte raus. Die Hälfte von den andern will ihn auch raushaben. Sie tilgen gemeinsam die Hypothek auf die Klinik, die gegenwärtig geschlossen ist. Gott helfe Ken, wenn da mitten in der Nacht ein Notfall kommt.«

»Was für ein Schlamassel.«

»Ja. Aber doch weit weg vom Hier und Jetzt.«

»Mhm.«

»Und darum ... ehm, hat der Bischof sonst noch Töchter und Söhne?«

»Je zwei.«

»Donnerwetter.«

»Sie sind Einzelkind, nehme ich an«, sagte sie.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie brauchen keine Wurzeln.«

So hatte ich mein Nomadendasein noch nie gesehen, aber vielleicht war es das Alleinsein, das es mir so leicht machte, dahin zu gehen, wohin ich geschickt wurde.

»Wie stark sind Ihre Wurzeln?« fragte ich.

»Ich habe nie versucht, sie auszureißen.«

Wir schauten uns an.

»Ich werde vier Jahre in England sein«, sagte ich. »Danach alle zwei Jahre für ungefähr einen Monat. Wenn ich sechzig werde, kann ich ganz hierbleiben. Die meisten Diplomaten kaufen sich irgendwann zwischendurch hier ein Haus. Meine Eltern haben eins, aber da kann ich jetzt nicht wohnen, weil es an eine Firma vermietet ist. Wenn mein Vater sich in vier Jahren zur Ruhe setzt und der Mietvertrag ausläuft, werden sie für immer herkommen.«

Sie hörte aufmerksam zu.

»Das Auswärtige Amt kommt dafür auf, daß Kinder von im Ausland tätigen Diplomaten zu Hause ein Internat besuchen können.«

»Haben Sie das auch gemacht?«

»Nur die letzten beiden Schuljahre.« Ich erklärte die Geschichte mit dem Erlernen von Sprachen, bevor man zwanzig war. »Außerdem wollte ich bei meinen Eltern bleiben. Ich mag sie, und es ist ein sehr vielseitiges Leben.«

Ein Berufsprofil, dachte ich, war schon eine merkwürdige Art, ihr mitzuteilen, daß mich ihre Zukunft mehr als gemeinhin üblich interessierte. Sie schien das unschwer zu verstehen. Klar war auch, daß ein lustvolles, besinnungsloses Ausleben sexueller Anziehung, ohne Rücksicht auf die Folgen, hier nicht in Frage kam. Annabel wollte erst festen Halt.

Ich fuhr sie nach Hause und küßte sie wieder zum Abschied. Diesmal dauerte der Kuß länger und war eine prickelnde Angelegenheit, die besinnungslosen Sex absolut wünschenswert erscheinen ließ. Ich lächelte in mich hinein und sah sie an, und sie sagte, sie werde den letzten Zug nehmen, der am Sonntag vormittag in Cheltenham ankomme.

Samstag früh traf endlich der Brief von Parkway Chemicals ein, für mich ein einziger Buchstabensalat. Während ich auf Ken wartete, las ich die wenigen verständlichen Informationen, die den Rechnungen zu entnehmen waren.

Die Parkway Chemical Company verkaufte Wirkstoffe aus der organischen Biochemie an die Forschung und auch diagnostische Reagenzien. Die Firma, von der das Insulin und die Kollagenase gekommen waren, hatte ähnliche Angaben im Briefkopf gehabt. Parkway-Präparate konnten per Fax und gebührenfrei per Telefon bestellt werden.

Ich las die wenigen normalen Rechnungen durch, doch die einzige angeforderte Substanz, die ich kannte, war Fibrinogen, ein Mittel zur Blutgerinnung.

Der Lieferschein, den Scott bekommen hatte, war mit Warnungen übersät.

»Hochgefährliches Material.«

»Nur von geschultem Personal zu verwenden.«

»Nur für den Laborgebrauch.«

»Per Boten.«

Scott hatte den Empfang mit seinem Namenszug quittiert.

Der Wirbel drehte sich offenbar um drei kleine Ampullen mit etwas, was sich Tetrodotoxin nannte.

Als Ken das sah, sagte er gleich: »Alles, was die Endung >toxin< hat, ist giftig.« Mit gerunzelter Stirn las er die Einzelheiten vor: »Drei Ampullen a 1 mg Tetrodotoxin mit Natriumzitrat als Puffer. Wasserlöslich. Packungsbeilage beachten.«

»Was ist das?« fragte ich.

»Muß ich nachsehen.«

Die Eigentümer von Thetford Cottage waren zwar keine Büchernarren, besaßen aber doch eine Reihe von Nachschlagewerken und eine kleine Enzyklopädie. Ken und ich suchten vergeblich nach Tetrodotoxin. Das nächste, was das Lexikon zu bieten hatte, war »Tetrode«, eine Elektronenröhre mit vier Elektroden, und das paßte wohl nicht so ganz.

»Am besten hole ich mal zu Hause meine Giftbücher«, sagte Ken.

»Okay.«

Wo ich das Lexikon schon in den Händen hielt, sah ich auf gut Glück unter Kugelfisch nach. Die Eintragung lautete: »Kugelfisch, verschiedene Arten, lebt in

tropischen Gewässern und kann seinen Körper mit Wasser oder mit Luft kugelförmig aufblasen, wobei die Stacheln in der Haut sich aufrichten ...«

So weit, so gut. Das dicke Ende war es, was mir die Luft verschlug.

»... gehört zur Familie der Tetraodontidae.«

Kugelfisch.

Also doch mein alter Freund Fugu.

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