Kapitel 2

Am übernächsten Abend flog ich nach England. Auf der anderen Seite des Mittelgangs schlummerten Vicky und Greg friedlich Haupt an Haupt, bis zum Kinn in Decken eingemummt, wie Babies in der Wiege.

»Ihnen macht’s doch nichts aus, Peter, Ihre Abreise noch einen Tag hinauszuschieben«, hatte Fred gesagt. »Sie haben doch nichts Bestimmtes vor. Und Sie wissen, wie sehr Vicky und Greg das alles mitgenommen hat.«

Fred war eindringlich und ernst, geradezu christlich in seinem Eifer, Gutes zu tun, oder vielmehr in seinem Eifer, mich Gutes tun zu lassen. Ich mußte an den Slogan auf einem T-Shirt denken, das ich einmal besessen hatte: »Streß entsteht, wenn dein Bauch NEIN sagt und dein Mund JA, GERN«; und Fred fragte mich, was es zu lächeln gebe.

»Nichts eigentlich.«

»Sie warten also noch einen Tag?«

»Also gut.«

»Fein. Fein. Wußte ich doch, daß Sie das tun würden. Ich hab’s den beiden zugesichert. Sie werden einsehen, daß die heute abend nicht reisen können.«

Wir waren gerade in seinem Büro, auf dem Konsulat in Miami, am Tag nach dem Überfall. Die Nacht war ohne räuberische Übergriffe verlaufen, doch es war ein sehr erschöpftes Paar, das am Morgen dann in Bademänteln in der Küche herumhantierte, um das bitter nötige Frühstück auf den Tisch zu bringen. Vickys Ohr schmerzte, Gregs Stirn hatte eine dunkelblaue Beule, und beide waren deprimiert.

»Meine ganzen Kreditkarten . «, sagte Greg müde. »Jetzt ist so viel zu tun.« Er griff zum Telefon und gab die schlechte Nachricht an die Institute weiter.

Ich dachte an meine Koffer, die herrenlos in meinem unbenutzten Zimmer standen, und rief das Hotel an: Überhaupt kein Problem, sagten sie, ich könne das Gepäck später abholen, würde für die vergangene Nacht aber bezahlen müssen. Selbstverständlich, stimmte ich zu.

Als sie angezogen waren, fuhr ich mit Vicky und Greg bei Fred vorbei und weiter zu dem Termin bei der Polizei, eine Angelegenheit, die das noch verbliebene Durchhaltevermögen der Wayfields arg strapazierte. Der einzige Lichtblick war, daß Vicky ihren Ohrring zurückerhielt, auch wenn sie annahm, es würde noch lange dauern, bis sie ihn wieder tragen konnte.

»Ich möchte nicht andauernd an gestern abend denken«, sagte sie heftig während der Vernehmung, doch der freundliche Polizist bohrte trotzdem freundlich weiter. Schließlich durften wir alle vier gehen, und Fred fuhr dem BMW durch die Stadt voraus zu seinem Amtssitz.

Das Konsulat entpuppte sich als eine bescheidene Bürosuite weit oben in einem gläsernen Hochhaus. Britische Firmen und Urlaubsreisende hatten auf der Gründung eines Konsulats in Miami bestanden, doch um es zu finanzieren, hatte sein Gegenstück an einem anderen Ort, wo der Touristenstrom versiegt war, geschlossen werden müssen.

Im 21. Stock angekommen, drängten wir uns durch hohe, schmale Türen in ein kleines Vorzimmer, in dem bereits eine entrüstete Familie wartete, die in Disneyworld beklaut worden war, sowie ein Mann in einem Rollstuhl, den die Polizei allein und verwirrt auf der Straße aufgegriffen und hier abgeliefert hatte, da er nicht wußte, wo er in Florida wohnte, und immer wieder eine englische Adresse vor sich hin murmelte.

Zwei gutaussehende junge Frauen hinter einer gläsernen Trennwand, die das alles zu klären versuchten, zeigten sich über Freds Auftauchen erleichtert.

»Panzerglas natürlich«, sagte Fred zu mir und bedeutete den Mädchen, uns die elektronische Tür zu öffnen. »Machen Sie weiter«, sagte er zu ihnen, und mir schien, sie taten das sehr kompetent.

Der verfügbare Raum hinter der Antiterrortür war geschickt unterteilt, so daß alle Ressorts des Botschaftsbetriebes ihren Platz hatten, wenn auch im kleinen. Archiv, Coderaum, Konferenzraum, Einzelbüros, große geschäftige Schreibstube, Küche und ein geräumigeres Büro mit vorzüglicher Aussicht für den Chef. Diese zweckmäßige Einrichtung, sagte Fred, wurde von ihm selbst, den beiden Supersekretärinnen und zwei Vizekonsuln geleitet, von denen einer für den Handel und der andere (momentan dienstlich unterwegs) für heikle Bereiche wie Drogenschmuggel zuständig war.

Fred setzte Greg und Vicky in den Konferenzraum, der gerade groß genug war für einen runden Tisch mit Eßzimmerstühlen drum herum, winkte mich dann in sein Privatgemach und schloß die Tür.

»Sie werden heute nicht fahren können«, sagte er. »Sie« war inzwischen ein Kürzel für Greg und Vicky. »Die Flugscheine gehen klar, aber ihr Paß dauert, und sie muß noch mal ins Krankenhaus und hat erst halb gepackt, sagt sie.«

»Und sie brauchen neue Schlösser für ihr Haus«, stimmte ich zu.

»Sie können doch also noch einen Tag bleiben und ihnen helfen, nicht wahr?«

Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder, und darauf hatte Fred seine ganze Überredungskunst aufgebaut.

Fred und ich waren als Diplomaten ranggleich -Konsuln und Legationsräte 1. Klasse entsprachen (wenn man zum Vergleich die Armee heranzog) beide in etwa dem Obersten.

Wie in der Armee war der nächste Schritt nach oben erst der große. Legationsräte und Konsuln waren reichlich vorhanden, aber Botschaftsräte, Generalkonsuln und Gesandte standen näher an der Spitze der Pyramide: Es gab mindestens sechshundert Konsuln und wahrscheinlich noch mehr Legationsräte 1. Klasse rund um die Welt, jedoch nur etwa einhundertfünfzig Botschafter.

Fred blickte von seinem Fenster hinaus auf das weite, atemberaubende Panorama mit den Palmen, dem funkelnden Meer und den Wolkenkratzern des Zentrums von Miami und sagte mir, er sei noch nie so glücklich gewesen.

»Das freut mich, Fred«, sagte ich und meinte es auch.

Er drehte sich mit einem bitter selbstironischen Lächeln um, körperlich dick und schlaff, im Kopf aber so wendig wie ein Akrobat.

»Wir wissen doch beide, daß Sie es weiterbringen werden als ich«, sagte er.

Ich machte eine abwehrende Geste, die er unbeachtet ließ.

»Aber hier«, fuhr er fort, »bin ich zum allerersten Mal der Chef. Das ist ein tolles Gefühl. Großartig. Das wollte ich Ihnen nur sagen. Es gibt nicht viele, denen ich das sagen kann. Die meisten würden es nicht verstehen. Sie schon, nicht wahr?«

Ich nickte langsam. »So richtig am Ruder war ich eigentlich noch nie, höchstens ab und zu mal einen Tag. Irgendwem ist man immer unterstellt.«

»Das hier ist viel besser.« Er grinste und sah beinah jungenhaft aus. »Denken Sie mal an mich, wenn Sie in Whitehall herumscharwenzeln.«

Ich dachte an ihn, als ich mit Greg und Vicky, die auf der anderen Seite des Gangs schliefen, in dem Jumbo saß. Wahrscheinlich hatte ich ihn in den letzten Tagen besser kennengelernt als während der ganzen Zeit in Tokio, und auf jeden Fall mochte ich ihn jetzt lieber. Daß er sein eigener Herr war, hatte offenbar die Grundzüge seines Charakters stärker hervortreten lassen und viele nervöse Eigenarten zum Verschwinden gebracht, und eines Tages blieb vielleicht sogar die schweißige Stirn trocken.

Irgendwie hatte er mich nicht nur dazu überredet, mit seinen unglücklichen Bekannten nach England zu reisen, sondern sie auch noch wohlbehalten bei ihrer Tochter in Gloucestershire abzuliefern. Ich wußte, daß meine Antwort vielleicht anders ausgefallen wäre, wenn sie etwa nach Northumberland gewollt hätten, doch die Aussicht, an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren, hatte mich neugierig gemacht. Ich hatte noch zwei Wochen frei und nichts Bestimmtes vor in dieser Zeit, außer mir in London eine Wohnung zu suchen. Also erst mal nach Gloucestershire - warum nicht?

Als wir am Morgen in Heathrow ankamen, mietete ich einen Wagen und fuhr die schrecklich dankbaren Wayfields nach Westen, allgemeine Richtung Cheltenham und Rennbahn, denn Vicky hatte gesagt, ihre Tochter wohne ganz in der Nähe der Bahn.

Da Vicky noch nie dort gewesen war und meine Erinnerungen recht verschwommen waren, hielt ich ein paarmal an, um die Karte zu studieren, die wir zusammen mit dem Wagen bekommen hatten. Wir erreichten die

Außenbezirke von Cheltenham gegen Mittag, ohne uns zu verfahren, und hielten an einer Tankstelle, um noch ein letztes Mal nach dem Weg zu fragen.

»Die Tierärzte? Rechts ab, an der Feuerwache vorbei ...«

Die Straße verlief durch ein unruhiges architektonisches Allerlei, Alter und Patina waren von knallbunten Ladenfronten und modernisierten Pubs in den Schatten gedrängt. Weniger ein Dorf, mehr ein Vorort: kein einheitlicher Charakter.

Die Tierarztpraxis lag in einem stattlichen, von der Straße zurückgesetzten Backsteingebäude mit Parkplätzen nicht nur für mehrere Pkws, sondern sogar für einen Pferdetransporter. Tatsächlich parkte gerade ein großer Pferdetransporter davor. Machten Tierärzte keine Hausbesuche mehr?

Ich setzte den Mietwagen auf ein freies Stück Asphalt und half Vicky beim Aussteigen. Sie spürte bereits die Zeitverschiebung, litt unter einem Stoffwechsel, der ihr sagte, daß sie um zwei Uhr früh aufgeweckt worden war, auch wenn die Uhren hier alle auf sieben gestanden hatten. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ein eingefallenes Gesicht und machte insgesamt einen erschöpften Eindruck. Ein weißer Plastikschild an einem Kopfband schützte ihr verletztes Ohr, doch das weiße Haar ringsherum hatte viel von seiner flaumigen Spannkraft verloren. Sie sah wie eine müde alte Frau aus, und auch der im Auto vorhin noch schnell aufgetragene Lippenstift verbarg den wahren Sachverhalt in keiner Weise.

Das Wetter half ebensowenig. Direkt aus der Wärme Floridas in einen graukalten, windigen englischen Februartag hineinzukommen ist für jeden ein schauderhaftes Erlebnis; den Wayfields in ihrem angeschlagenen Zustand gab es den Rest.

Vicky trug einen dunkelgrünen Hosenanzug und eine weiße Bluse, kaum die richtige Ausrüstung für England, und war noch zu matt, um sich mit Goldkettchen und dem ganzen Klimbim vollzuhängen. Einfach nur ins Flugzeug zu steigen hatte schon gereicht.

Greg tat sein Bestes, ihr eine Stütze zu sein, aber trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen war es klar, daß der Überfall, die lange Ohnmacht und seine Unfähigkeit, Vicky in dieser Situation zu Hilfe zu kommen, ihn in den Grundfesten erschüttert hatten. Er hatte das Kofferschleppen völlig mir überlassen, nicht ohne sich vorher sechsmal zu entschuldigen, daß er sich so schwach fühle.

Ich war keineswegs der Ansicht, sie müßten schon längst wieder auf den Beinen sein. Die Straßenräuber waren starke, entschlossene Gegner gewesen, und der Schlag, den ich selbst abbekommen hatte, war wie ein Stoß mit der Pfahlramme gewesen. Außerdem hatte die Polizei uns alle durch die Einschätzung deprimiert, daß man die Täter weder ermitteln noch ergreifen werde: Die brutale Feindseligkeit, mit der sie uns behandelt hatte, war anscheinend nichts Ungewöhnliches. Vicky wurde mehr oder weniger empfohlen, in Zukunft keine Ohrringe mit Schraubverschluß mehr zu tragen.

»Damit sie mich leichter berauben können?« hatte sie mit müdem Sarkasmus gefragt.

»Es ist besser, Sie tragen Imitate, Ma’am.«

Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Wenn man echten Schmuck hat, macht das keinen Spaß.«

Vor der Tierarztpraxis kletterte Greg ohne meine Hilfe aus dem Wagen, und alle drei gingen wir zu dem Backsteingebäude und traten durch eine Glastür in einen Vorraum. Dieser mit braunem Teppich ausgelegte Raum enthielt zwei Stühle und einen Schalter, an den man sich lehnen konnte, während man mit der jungen Frau in dem Büro auf der anderen Seite sprach.

Sie saß an einem Schreibtisch und telefonierte.

Wir warteten.

Schließlich machte sie sich ein paar Notizen, legte auf, wandte uns ein fragendes Gesicht zu und sagte: »Ja?«

»Belinda Larch ...«:, sagte Vicky zögernd.

»Ist leider nicht im Haus.« Eine knappe Antwort: nicht direkt unhöflich, aber auch nicht gerade entgegenkommend. Vicky sah aus, als fehlte nicht viel, und sie würde in Tränen ausbrechen.

Ich sagte zu der jungen Frau: »Vielleicht können Sie uns sagen, wo wir sie finden. Dies ist ihre Mutter, sie kommt gerade aus Amerika. Belinda erwartet sie.«

»Ah, ja.« Sie sah keinen Anlaß zu übertriebener Herzlichkeit.

»Ich dachte, die sollte gestern ankommen.«

»Ich hatte angerufen«, sagte Vicky kläglich.

»Setzen Sie sich«, sagte ich zu ihr. »Sie und Greg setzen sich auf die Stühle hier und warten, und ich hole Belinda.«

Sie setzten sich. Ich kümmerte mich jetzt schon so lange um sie, daß sie mir vielleicht sogar gehorcht hätten, wenn ich gesagt hätte: »Legen Sie sich auf den Boden.«

»Also«, sagte ich zu dem Mädchen. »Wo finde ich sie?«

Sie wollte mich auf die gleiche kühle Tour abfertigen, sah dann aber etwas in meinem Gesicht, das sie bewog, den Kurs zu ändern. Sehr klug von ihr, dachte ich.

»Na, sie ist im Kliniktrakt und assistiert den Ärzten. Da können Sie nicht rein. Die operieren ein Pferd. Tut mir leid, aber Sie werden warten müssen.«

»Können Sie sie anrufen?«

Sie hatte das Nein auf der Zunge, sah die Wayfields an, sah mich an und griff mit hochgezogenen Augenbrauen zum Hörer.

Das Gespräch war kurz, brachte uns aber weiter. Das Mädchen legte auf und zog ein beschriftetes Schlüsselbund aus einer Schublade.

»Belinda sagt, sie kann frühestens in einer Stunde raus, aber hier sind die Schlüssel für das Cottage, in dem ihre Mutter wohnen soll. Wenn Sie dahin fahren, kommt sie nach, sobald sie kann.«

»Und wo ist das Cottage?«

»Die Adresse steht auf dem einen Etikett und auf dem Schlüsselring. Ich weiß nicht, wo das ist.«

Danke trotzdem, dachte ich. Ich geleitete Greg und Vicky zurück zum Wagen und fragte Passanten nach dem Weg. Die meisten hatten keine Ahnung, doch schließlich erhielt ich den zuverlässigen Hinweis eines auf einem Leitungsmast arbeitenden Fernmeldetechnikers, lenkte von der belebten Straße weg, eine Steigung hinauf, um eine Kurve und nahm die erste Abzweigung nach links.

»Es ist das erste Haus da auf der rechten Seite«, hatte man mir von oben herunter gesagt. »Sie können es nicht verfehlen.«

Tatsächlich hätte ich es doch beinah verpaßt, da es nicht meiner Vorstellung von einem Cottage entsprach. Kein Strohdach, keine Rosen vor der Tür. Keine malerischen kleinen Fenster oder ausgebauchten, weiß getünchten Wände. Thetford Cottage war ein ziemlich großes Haus, nicht älter als Vicky oder Greg.

Ich bremste unschlüssig, aber es gab keinen Zweifel: Die Worte »Thetford Cottage« waren in zwei viereckige Steinsäulen gemeißelt, die ein imposantes steinernes Tor einrahmten. Ich hielt an, stieg aus, öffnete das Tor, fuhr hindurch und hielt innen auf dem kiesbestreuten Vorplatz.

Es war ein verwittertes, dreistöckiges graugelbes Gebäude, gemauert aus dem hiesigen Cotswoldgestein, gedeckt mit grauem Schiefer, die Fenster braun umrandet. Das einzige Überraschende an der sonst strengen Fassade war der überdachte Balkon über dem Vordereingang, mit einer Steinbalustrade und von der Straße eben noch sichtbaren Fenstertüren dahinter.

Vicky stieg zögernd aus, hielt sich an meinem Arm fest und stemmte sich gegen den Wind, der ihr das Haar zerzauste.

»Ist es hier?« fragte sie unsicher.

Sie blickte sich um, sah auf die kahlen Blumenbeete, die unbelaubten Bäume, das ungepflegte Gras und ließ verzagt die Schultern hängen.

»Hier ist es doch bestimmt nicht ...?«:

»Wenn der Schlüssel paßt, schon«, sagte ich betont optimistisch; und der Schlüssel paßte wirklich, und schon hatten wir aufgeschlossen.

Im Haus war es kalt, eine klirrende Kälte, die verriet, daß es in letzter Zeit nicht beheizt worden war. Wir standen in einer Diele mit Holzfußboden und schauten auf eine Menge geschlossene Türen und eine blankgeputzte Holztreppe, die zu noch unentdeckten Freuden hinaufführte.

»Tja«, sagte ich bibbernd. »Sehen wir uns mal um.«

Ich öffnete entschlossen eine der Türen, erwartete zumindest einen Fensterblick und stellte fest, daß es eine Toilette war.

»Gott sei Dank«, sagte Greg erleichtert, während er die Annehmlichkeiten im Inneren betrachtete. »Entschuldigen Sie mich, Peter.« Er drängte sich an mir vorbei, ging hinein und schloß die Tür hinter sich.

»So ist einer von uns schon mal zufrieden«, sagte ich und mußte mir ein Lachen verbeißen. »Jetzt brauchen wir noch einen Ofen.«

Eine Flügeltür führte in ein großes Gesellschaftszimmer, eine andere Tür ins Eßzimmer, eine dritte in ein kleines Wohnzimmer mit Sesseln, Fernseher und - den Göttern sei Dank - einem Elektroofen, der sich ohne Papier, Holz und Kohle in Gang setzen ließ.

Er wärmte gut und führte uns sogar züngelnde Flammen vor. Vicky ließ sich wortlos in einen Sessel sinken und kauerte sich dann zitternd vor dem Feuer zusammen. Sie sah krank aus.

»Komme gleich wieder«, sagte ich und lief die Treppe hinauf, um eine Wolldecke oder sonst etwas Warmes zu holen. Auch oben waren sämtliche Türen geschlossen. Die erste, die ich aufmachte, führte in ein Bad. Du mußt ein Wünschelrutengänger sein, dachte ich. In dem Zimmer nebenan standen zwei Einzelbetten, ungemacht, aber mit säuberlich bereitgelegtem Bettzeug.

Besser als Wolldecken: Steppdecken. Königsblau,

übersät mit weißen Gänseblümchen. Ich raffte sie beide zusammen und stieg die blankgewienerte Treppe wieder hinunter, die sich, wenn man nicht achtgab, als Rutschbahn erweisen konnte.

Vicky hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Greg stand vor ihr und sah hilflos auf sie hinab.

Ich gab ihnen die Steppdecken. »Hier - wickeln Sie sich darin ein, und ich schau mal, ob in der Küche was Warmes zu trinken ist.«

»Johnnie Walker?« schlug Greg vor.

»Ich sehe nach.«

Ich hatte alle Türen im Flur offengelassen, zwei Zimmer aber noch nicht erkundet. Das eine war ein großer Abstellraum für Besen, Gartengeräte und Blumenvasen, das andere eine kalte, sterile Küche mit weißen Arbeitsflächen rings um den schwarzweiß gefliesten Fußboden. Auf einem Tisch in der Mitte die ersten noch frischen Spuren menschlichen Lebens: eine ungeöffnete Schachtel Tee in Aufgußbeuteln, künstlicher Süßstoff und ein großkariertes Päckchen Teekuchen.

Der Kühlschrank war bis auf eine Tüte Milch leer. Die Schränke enthielten neben dem üblichen Krimskrams eine Menge selbst eingemachter Marmelade, reihenweise Dosensuppen und Fischkonserven, hauptsächlich Thunfisch.

Ich ging wieder zu Vicky und Greg, die jetzt dumpf in Königsblau mit vielen weißen Gänseblümchen dasaßen.

»Teebeutel oder Schnellkaffee?« fragte ich.

»Tee«, sagte Vicky.

»Johnnie Walker?« wiederholte Greg hoffnungsvoll.

Ich lächelte ihn an und machte mich auf die Suche. Aber kein Alkohol in den Eßzimmerschränken, keiner in der Küche, keiner im Gesellschaftszimmer. Ich goß Tee für sie beide auf und brachte ihn zusammen mit dem Teekuchen und der schlechten Nachricht in das kleine Wohnzimmer.

»Sie meinen, hier ist nirgends was zu trinken?« rief Greg bestürzt aus. »Nicht mal Bier?«

»Ich kann nichts finden.«

»Das haben die weggesperrt«, sagte Vicky unerwartet. »Jede Wette.«

Es konnte zwar sein, daß die Eigentümer, wer immer sie waren, das getan hatten, aber andererseits waren ihre Vorratsschränke offen und gefüllt, und ich war nirgends auf versperrte Zugänge gestoßen.

Vicky hielt, während sie trank, die Tasse Tee in beiden

Händen, wie um sich daran zu wärmen. In dem Raum selbst war es inzwischen merklich wärmer als sonst im Haus, und ich überlegte schon, ob ich nicht herumlaufen und sämtliche erreichbaren Heizkörper einschalten sollte.

Ehe ich dazu kam, fuhr ein Wagen draußen vor, eine Tür knallte, und eine junge Frau betrat im Eilschritt das Haus. Das mußte Belinda sein.

Wir hörten sie »Mutter?« rufen, dann stand sie auch schon in der Tür. Sie war schlank, in steingebleichten Jeans mit einer olivgrünen Daunenjacke darüber. Feingliedrig und auf eine adrette Art hübsch. Um die Dreißig, dachte ich. Ihr hellbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der, obwohl sicher praktisch, ihr nicht sonderlich gut stand. Sie machte ein besorgtes Gesicht, allerdings, wie sich bald herausstellte, nicht ihrer Mutter wegen.

»Mutter? Ah, gut, da bist du ja.«

»Ja, Liebes«, sagte Vicky müde.

»Tag, Greg«, sagte Belinda knapp, trat auf ihn zu und gab ihm ein pflichtbewußtes Küßchen. Ihrer Mutter wurde dieselbe Behandlung zuteil: ein Kuß auf die Wange, aber kein liebevolles In-die-Arme-Schließen.

»Tja, Mutter, tut mir leid, aber ich kann nicht bleiben«, sagte sie. »Ich hatte mir gestern frei genommen, aber da ihr euch einen Tag verspätet habt ...« Sie zuckte die Achseln. »Ich muß wieder zurück. Das Pferd ist gestorben. Wir müssen eine Obduktion vornehmen.« Sie starrte ihre Mutter an. »Was ist denn mit deinem Ohr los?«

»Ich hab dir doch am Telefon erzählt -«

»Ah ja, hast du. Ich bin so in Sorge wegen der Pferde. Kommt das Ohr denn jetzt in Ordnung? Wir werden übrigens kirchlich getraut, nicht auf dem Standesamt, und geben den Empfang in diesem Haus. Das erzähle ich euch

noch. Jetzt muß ich zurück in die Klinik. Macht’s euch gemütlich, ja? Vielleicht könnt ihr euch was zu essen holen. Milch und so weiter hab ich gestern eingekauft.« Ihr gehetzter Blick blieb an mir hängen. »Entschuldigen Sie, wie war doch Ihr Name?«

»Peter Darwin«, erwiderte ich höflich.

»Peter«, sagte Vicky mit Nachdruck, »ist unser Helfer in der Not gewesen.«

»So? Na schön. Nett, daß Sie ihnen geholfen haben.« Ihr Blick glitt von mir weg, umfaßte den Raum als Ganzes. »Die Sandersons, denen das Haus gehört, sind für zwei Monate nach Australien. Sie vermieten es dir ziemlich günstig, Mutter, und ich laß dann einen Gastro-Service kommen ... Du wolltest doch immer, daß ich eine richtige Hochzeit feiere, mit allem Drum und Dran, und ich hab’s mir überlegt, du hast recht.«

»Ja, Schatz«, sagte Vicky demütig, mit allem einverstanden.

»Morgen in drei Wochen«, teilte ihr Belinda mit. »Und jetzt, Mutter, muß ich aber wirklich sausen.«

Unvermittelt fiel mir ein Gespräch ein, das ich vor langer Zeit in Madrid geführt hatte, mit meinem Vater.

»Ein Kind, das seine Mutter >Mutter< nennt, will sie beherrschen«, sagte er. »Daß du zu deiner Mutter niemals >Mutter< sagst!«

»Nein, Pa.«

»Du kannst Mama zu ihr sagen, Schatz, Mutsch, Mutti oder auch blöde alte Kuh, wie du das vorige Woche mal vor dich hin gemurmelt hast, aber niemals Mutter. Verstanden?«

»Ja, Pa.«

»Und warum hast du blöde alte Kuh zu ihr gesagt?«

Ihn anzulügen war so gut wie unmöglich: Er durchschaute es immer. Schluckend sagte ich ihm die Wahrheit. »Sie wollte mich nicht zum Wettlauf mit den Stieren nach Pamplona fahren lassen, weil ich erst fünfzehn bin.«

»Recht hat sie. Deine Mutter hat immer recht. Sie hat dich ordentlich erzogen, und eines Tages wirst du ihr dafür dankbar sein. Und sag niemals Mutter zu ihr.«

»Nein, Pa.«

»Mutter«, sagte Belinda, »Ken möchte, daß wir demnächst zusammen zu Abend essen. Eigentlich dachte er an heute abend, aber bei dem ganzen Ärger ... Ich ruf dich nachher noch an.«

Sie winkte kurz, drehte sich um und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Nach einer kurzen Pause sagte Vicky tapfer: »Als Baby war sie richtig süß, immer verschmust und lieb. Aber wenn sie heranwachsen, werden Mädchen so selbständig ...« Sie hielt inne und seufzte: »Wir kommen eigentlich ganz gut miteinander aus, wenn wir uns nicht zu oft sehen.«

Greg sah mich von der Seite an und schwieg, doch ich merkte, daß er meine Ansicht über die Begrüßung zwischen Tür und Angel teilte. Belinda, dachte ich, war ganz schön egoistisch.

»Gut«, sagte ich fröhlich, »dann können wir jetzt ja mal Ihr Gepäck reinholen, und wenn Sie möchten, gehe ich anschließend einkaufen.«

Eine gewisse Geschäftigkeit behob das momentane Gefühlstief wenigstens teilweise, und bald hatte Vicky sich hinreichend erholt, um den ersten Stock zu erkunden. Das große Bett in dem Raum, der sonst offensichtlich den Sandersons vorbehalten war, sah zumindest aus, als könnte man es gleich benutzen, auch wenn ihre Kleider noch die Schränke einnahmen. Vicky sagte apathisch, sie werde die Koffer, die ich ihr hinaufgetragen hatte, später auspacken, sich jetzt aber erst mal so, wie sie war, hinlegen.

Ich überließ sie Gregs Fürsorge und ging nach unten, und schließlich kam er erregt und ungehalten auch wieder herunter.

»Belinda ist ein Walroß«, sagte er. »Vicky heult. Sie möchte nicht im Haus von anderen Leuten sein. Und ich komme mir so hilflos vor.«

»Setzen Sie sich an den Ofen«, sagte ich. »Ich besorge uns was zu essen.«

Wenn ich es recht überlegte, hatte ich seit meiner Studienzeit in Oxford nicht mehr regelmäßig in England eingekauft. Ich war eher gewohnt, zu essen, was mir vorgesetzt wurde: Das Leben, das ich führte, war nur selten häuslich.

Ich fuhr zurück in den Vorort mit den verstreut liegenden Häusern, kaufte alle Grundnahrungsmittel, die mir einfielen, und kam mir vor wie ein Fremder im eigenen Land. Die Innenausstattung der Geschäfte war kaum merklich verändert gegenüber meinem letzten kurzen Besuch vor vier Jahren. Die angebotenen Artikel waren anders verpackt. Leuchtendere Farben. Sogar das Hartgeld hatte seine Form verändert.

Falls ich je eine klare Vorstellung davon gehabt hatte, was die Dinge in England kosteten, war sie mir abhanden gekommen. Alles erschien teuer, selbst nach Tokioter Maßstäben. Meine Unwissenheit wunderte die Verkäufer, da ich doch offensichtlich Engländer war, und insgesamt war es ein unerwartet verwirrendes Erlebnis. Ich fragte mich, wie es erst sein müßte, wenn jemand nach einem halben Jahrhundert wiederkam, zurückkam in die Welt der Kindheit meiner Eltern, eine Zeit, an die Millionen sich noch deutlich erinnerten.

Damals hatten alle Kinder im Winter Frostbeulen, sagte meine Mutter; aber ich hatte nicht gewußt, was eine Frostbeule war.

Ich nahm eine Flasche Whisky für Greg, eine Zeitung und noch ein paar andere Annehmlichkeiten mit und fuhr zurück nach Thetford Cottage, wo ich alles unverändert fand.

Greg erwachte aus einem Nickerchen, als ich ins Haus kam, und fand sich fröstelnd in der Diele ein. Der Anblick des Scotch ließ seine Augen aufleuchten. Er folgte mir in die Küche und sah zu, wie ich die Vorräte einräumte.

»Sie werden jetzt zurechtkommen«, sagte ich, als ich die Kühlschranktür schloß.

Er war bestürzt. »Aber Sie bleiben doch sicher?«

»Das hatte ich ... nicht vor.«

»Ja, aber ...« Seine Stimme wurde heiser vor Kummer. »Ich weiß, Sie haben schon viel für uns getan, aber bitte . nur noch eine Nacht?«

»Greg .«

»Bitte. Vicky zuliebe. Bitte.«

Auch ihm zuliebe, sah ich. Ich seufzte im stillen. Ich mochte sie ja wirklich gern, klar konnte ich über Nacht dortbleiben und die Wiederentdeckung Gloucestershires auf den Morgen verschieben, und so sagte ich gegen meine innere Überzeugung wiederum ja.

Seine Frau wachte am Abend um halb sieben auf und kam taperig die Treppe herunter, über deren Glätte sie sich beklagte.

Greg und ich hatten inzwischen dem Scotch zugesprochen, die Zeitungen von vorn bis hinten gelesen und herausgefunden, wie der Fernseher funktionierte. Wir hatten die Nachrichten gesehen, die wie üblich von Toten wimmelten. Erstaunlich, wie viele Arten zu sterben es gab.

Belinda hatte nicht angerufen.

Um sieben hielt jedoch ein Wagen draußen, und die Tochter kam herein wie zuvor, eher geschäftsmäßig als liebevoll. Aber diesmal hatte sie ihren Verlobten dabei.

»Mutter, du hast Ken doch vor zwei oder drei Jahren kennengelernt, gell?«

»Ja, Schatz«, sagte Vicky freundlich, obwohl sie mir gestanden hatte, sich nicht an ihn erinnern zu können. Sie bot ihm die Wange, und nach einem winzigen Zögern küßte er sie.

»Und das ist Greg«, sagte Belinda. »Er ist wohl mein Stiefvater.« Sie lachte kurz. »Komisch, wenn man einen Stiefvater hat nach all den Jahren.«

»Guten Abend«, sagte Ken höflich und gab Greg die Hand.

»Sehr erfreut, Sir.«

Greg schenkte ihm ein amerikanisches Lächeln, das reiner Firnis war, mit unsichtbaren Vorbehalten, und sagte, es freue ihn sehr, aus diesem frohen Anlaß in England zu sein.

Ken sah im Augenblick ganz und gar nicht froh aus. Unruhe schwang in jeder seiner Gesten, nicht die schlichte Nervosität vor der ersten Begegnung mit den zukünftigen Schwiegereltern, sondern ein viel tieferer, umfassenderer Kummer, zu stark, als daß er ihn hätte überspielen können.

Er war hoch aufgeschossen, dünn, rotblond und drahtig wie ein Langstreckenläufer. Ein norwegischer Einschlag vielleicht in der Kopfform und im hellen Blau seiner Augen. Gegen vierzig, schätzte ich, und vermutlich ging er völlig in seiner Arbeit auf.

»Entschuldigung«, sagte Belinda zu mir, ohne zerknirscht zu klingen. »Ich hab Ihren Namen nicht behalten.« »Peter Darwin.«

»Ah, ja.« Sie warf Ken einen Blick zu. »Mutters Helfer.«

»Guten Abend.« Er gab mir flüchtig die Hand. »Ken McClure«, sagte er.

Das kam mir sehr bekannt vor. »Kenny?« sagte ich unsicher.

»Nein. Ken. Kenny war mein Vater.«

»Oh.«

Keiner von ihnen achtete darauf, aber für mich war es, als hätte sich eine schlummernde Erinnerung in meinem Unterbewußtsein heftig geregt. Kenny McClure. So lange es auch her war, ich wußte etwas - aber was? - über Kenny McClure aus jener Zeit.

Er hatte sich umgebracht.

Das war’s, und ich erinnerte mich an die Neugier, die ich als Kind damals empfunden hatte, hörte ich doch zum erstenmal, daß Menschen sich umbringen konnten, und hätte gern gewußt, wie er es gemacht hatte und was für ein Gefühl es war.

Kenny McClure hatte in Cheltenham als Bahntierarzt fungiert. Ich wußte, daß ich ein paarmal mit ihm in seinem Landrover um die Bahn gefahren war, konnte mich aber nicht entsinnen, wie er ausgesehen hatte.

Ken hatte sich für den Abend in Schale geworfen und war in Schlips und Kragen gekommen, aber mit einem schwarzen und einem braunen Schuh. Belinda trug die olivgrüne Daunenjacke, darunter aber ein wadenlanges blaues Strickkleid, und machte Vicky Vorwürfe, weil sie sich nicht ebenfalls umgezogen hatte.

»Mutter, ehrlich, du siehst aus, als hättest du in den Sachen da geschlafen.«

»Hab ich auch, Liebes.«

Belinda scheuchte sie gereizt nach oben, um etwas weniger Zerknautschtes aufzutun, und Greg bot Ken einen Scotch an.

Ken beäugte die Flasche traurig. »Lieber nicht«, sagte er. »Muß noch fahren und so weiter.«

Ein kurzes Schweigen. Zwischen den beiden Männern gab es keinen direkten Draht. Blickkontakt minimal.

»Belinda hat uns erzählt«, sagte Greg schließlich, »daß Sie heute Probleme mit einem Pferd hatten.«

»Es ist gestorben.« Ken hatte einen Deckel auf die in ihm brodelnden Schwierigkeiten geschraubt, und seine Anspannung äußerte sich in abgehacktem Sprechen. »Wir konnten es nicht retten.«

»Das tut mir aufrichtig leid.«

Ken nickte. Seine hellen Augen blickten zu mir. »Bin heute abend nicht ganz in Form. Hab Ihren Namen vergessen.«

»Peter Darwin.«

»Ah ja. Irgendwie verwandt mit Charles?«

»Nein.«

Er musterte mich. »Wahrscheinlich sind Sie das schon öfter gefragt worden.«

»Hin und wieder.«

Er verlor das Interesse, doch ich hatte das Gefühl, daß er unter anderen Umständen mit mir besser ausgekommen wäre als mit Greg.

Ken versuchte es trotzdem. »Belinda sagt, man hat Sie überfallen, Sir, Sie und ... , äh, Mutter.«

Greg verzog bei der Erinnerung das Gesicht und schilderte ihm kurz den Vorfall. Ken tat sehr entrüstet. »Wie schlimm für Sie.«

Er sprach mit Gloucestershire-Akzent, nicht stark, aber doch erkennbar. Wenn ich wollte, konnte ich den Dialekt selbst noch sprechen, obwohl ich bald nach dem Einzug meines neuen Vaters auf dessen Eton-Englisch umgestiegen war. Er hatte mir sofort gesagt, ich sei ein Sprachtalent, und mich angehalten, meine ganzen Teenagerjahre hindurch intensiv Französisch, Spanisch und Russisch zu lernen. »Du wirst eine Sprache nie mehr so leicht lernen wie jetzt«, sagte er. »Damit du studieren kannst, schicke ich dich die beiden letzten Schuljahre nach England, aber um wirklich vielsprachig zu sein, mußt du Sprachen da lernen, wo sie gesprochen werden.«

Und so hatte ich mir Französisch in Kairo angeeignet, Russisch in Moskau, Spanisch in Madrid. An Japanisch hatte er nicht gedacht. Diese Versetzung war eine Laune des Auswärtigen Amtes gewesen.

Als Vicky und Belinda wiederkamen, Vicky diesmal in Rot, fuhren wir zu einer kleinen Dorfschenke mit angebautem Restaurant. Ken und Belinda kannten den Weg, und ich lenkte den Mietwagen mit Vicky und Greg im Fond hinter ihnen her, was Belinda zu dem Fehlschluß verleitete, »Helfer« bedeute Chauffeur. Sie warf mir streng mißbilligende Blicke zu, als ich ihnen allen in die Bar folgte und Kens Einladung zu einem Drink vor dem Essen annahm.

Wir setzten uns an einen kleinen dunklen Tisch in der Ecke eines Raums mit schwerem Balkenwerk und Eichenmöbeln. Das Licht der rot beschirmten Wandlampen war gerade hell genug, damit wir die Speisekarten lesen konnten, und insgesamt herrschte eine warme Atmosphäre, wie man sie auf der ganzen Welt nicht findet, außer in einem britischen Pub.

Belinda starrte mich über ihr Glas hinweg an. »Mutter sagt, Sie sind Sekretär. Ich verstehe nicht, wozu sie einen braucht.«

»Nein, Liebes -«, setzte Vicky an, doch Belinda bewegte Schweigen gebietend die Hand. »Sekretär, Chauffeur, Hilfskraft, was heißt das schon? Jetzt, wo du hier bist, kann ich mich sehr gut selber um dich kümmern, Mutter. Entschuldige, daß ich so offen bin, aber mir ist nicht klar, warum du diesen Personalaufwand betreibst.«

Greg und Vicky fiel das Kinn herunter, und beide sahen zutiefst verlegen aus.

»Peter .« Vicky fehlten die Worte.

»Ist schon gut«, versicherte ich ihr und sagte ruhig zu Belinda: »Ich bin Staatsbeamter. Referent im Auswärtigen Amt. Ihre Mutter bezahlt mich nicht. Ich bin wirklich nur hier, um ihnen über die schwierigen ersten Tage nach dem Überfall hinwegzuhelfen. Ich wollte sowieso nach England, deshalb sind wir zusammen gefahren. Vielleicht hätte ich das eher erklären sollen. Tut mir sehr leid.«

Sich schuldlos zu entschuldigen entschärfte gewöhnlich die Lage, hatte ich festgestellt. Die Japaner taten es unentwegt. Belinda zuckte mit den Schultern und verzog den Mund. »Dann entschuldigen Sie«, sagte sie ungefähr in meine Richtung, ohne mich wirklich anzusehen. »Aber woher sollte ich das wissen?«

»Ich hab dir doch erzählt ...«:, begann Vicky.

»Lassen Sie nur«, sagte ich. »Was steht denn Gutes auf der Speisekarte?«

Das wußte Belinda sofort, und schon belehrte sie Greg und ihre Mutter. Ken war mit seinen Gedanken die ganze Zeit weit fort gewesen, aber jetzt bemühte er sich sichtlich, die Stimmung des Abends zu retten, und einigermaßen gelang es ihm.

»Was für einen Wein möchtest du zum Essen . ehm . Mutter?« fragte er.

»Sag nicht Mutter zu mir, sag Vicky.«

Er ging mühelos zu Vicky über, ohne das »ehm«. Sie sagte, sie trinke am liebsten Rotwein. Irgendeinen. Er könne wählen.

Vicky und Ken würden miteinander auskommen, dachte ich, und das freute mich für Vicky. Belinda taute beim Essen soweit auf, daß die zarte Schönheit, die es Ken angetan haben mußte, zur Geltung kam, und Greg brachte einen Toast auf ihre Hochzeit aus.

»Sind Sie verheiratet?« fragte mich Ken, als er mit Vicky anstieß.

»Noch nicht.«

»Tragen Sie sich mit dem Gedanken?«

»Mehr oder weniger schon.«

Er nickte, und ich dachte an die junge Engländerin, die ich in Japan zurückgelassen und die sich einen dickeren Fisch aus dem Diplomatenteich geangelt hatte. Die jungen Engländerinnen unter den Botschaftsangestellten im Ausland waren oft die erlesenen Produkte vornehmer Internatserziehung, in aller Regel intelligent und gutaussehend. Liebschaften zwischen ihnen und den unverheirateten Diplomaten machten das Leben rundum interessant, endeten oft aber ohne Aufhebens, ohne Tränen. Ich hatte in drei verschiedenen Ländern liebevoll Lebewohl gesagt und es nicht bedauert.

Als der Kaffee kam, hatten die Beziehungen zwischen Greg, Vicky, Belinda und Ken bereits die Form angenommen, die sie wahrscheinlich behalten würden. Vicky war wie eine frisch gegossene Rose so weit wiederaufgeblüht, daß sie ganz leicht mit Ken flirtete. Ken und Greg waren nach außen herzlich, blieben innerlich aber steif. Belinda kommandierte ihre Mutter herum, war zurückhaltend gegenüber Greg und betrachtete Ken als ihr Eigentum. Alles in allem eine ziemlich normale Konstellation.

Ken zog sich mit seinen Sorgen immer noch etwa alle fünf Minuten sekundenlang in sich selbst zurück, machte aber keinen Versuch, darüber zu reden. Statt dessen sprach er von einem Pferd, das er vor zwei Jahren für ein Spottgeld gekauft hatte, um es vor dem Einschläfern zu bewahren.

»Schönes Pferd«, sagte er. »Hatte sich ein Röhrbein gebrochen. Der Besitzer wollte es töten lassen. Ich sagte ihm, ich könne das Tier retten, wenn er die Operation bezahle, aber dafür wollte er nicht aufkommen. Außerdem hätte das Pferd natürlich ein Jahr aussetzen müssen, bevor es wieder lief. Zuviel Umstände, meinte der Besitzer. Schläfern Sie’s ein. Also bot ich ihm ein bißchen mehr, als er von den Hundefutterfabrikanten bekommen hätte, und er war einverstanden. Ich hab das Pferd operiert, hab es ruhen lassen, dann wieder ins Training gestellt, und seit es neulich ein Rennen gewonnen hat, redet Ronnie Upjohn, das ist der Besitzer, kein Wort mehr mit mir, außer daß er sagt, er will mich verklagen.«

»So eine Frechheit«, sagte Vicky empört.

Ken nickte. »Zum Glück hab ich mir damals von ihm schriftlich geben lassen, daß er wußte, eine Operation könnte das Pferd vielleicht retten, daß er es aber lieber einschläfern lassen wollte, deshalb hat er vor Gericht keine Chance. Er wird schon nicht klagen. Aber ich denke, ich habe einen Kunden verloren.«

Ronnie Upjohn, dachte ich.

Den Namen kannte ich auch. Konkrete Einzelheiten konnte ich nicht damit verbinden, nur daß er in meiner vagen Erinnerung mit einem anderen Namen verknüpft war: Travers.

Upjohn und Travers.

Wer oder was waren Upjohn und Travers?

»Wir haben vor, das Pferd in ein paar Wochen hier in Cheltenham laufen zu lassen«, sagte Ken. »Ich will es Belinda schenken, es tritt dann in ihrem Namen an, und wenn es gewinnt, ist das ein schönes Hochzeitsgeschenk für uns beide.«

»Was für ein Rennen?« fragte ich gesprächshalber.

»Ein Hürdenlauf über zwei Meilen. Sind Sie Rennsportliebhaber?«

»Ich gehe manchmal hin«, sagte ich. »In Cheltenham war ich seit Jahren nicht mehr.«

»Peters Eltern haben sich auf der Rennbahn von Cheltenham kennengelernt«, sagte Vicky, und da Belinda und Ken sich interessiert zeigten, erzählte ich ihnen allen eine Version der Tatsachen, die zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben konnte, aber durchaus genügte für das zwanglose Tischgeplauder mit Leuten, die man voraussichtlich nicht näher kennenlernen wird.

»Meine Mutter half dort als Sekretärin aus«, sagte ich. »Mein Vater platzte in ihr Büro, um etwas zu fragen, und peng, Liebe auf den ersten Blick.«

»Bei uns war es nicht auf den ersten Blick«, sagte Belinda und berührte flüchtig Kens Hand. »Eher auf den fünfzigsten oder sechzigsten.«

Ken nickte. »Ich hatte sie monatelang vor der Nase und hab sie nie so richtig wahrgenommen.«

»Du mußtest erst über diese schreckliche Eaglewood wegkommen«, neckte Belinda.

»Izzy Eaglewood ist nicht schrecklich«, widersprach Ken.

»Ach, du weißt doch, wie ich das meine«, sagte seine Verlobte; und natürlich wußten wir es alle.

Izzy Eaglewood, dachte ich. Ein vertrauter Name, der doch falsch klang. Irgendwie anders. Eaglewood war

richtig, aber Izzy nicht. Warum nicht Izzy? Wie sonst?

Russet!

Fast hätte ich laut gelacht, verzog aber natürlich keine Miene. Russet Eaglewood war der Name, um den sich unsere sehr pubertären schmutzigen Witze gerankt hatten. Welche Farbe hat der Schlüpfer von Russet Eaglewood? Überhaupt keine, sie hat nämlich keinen an. Russet Eaglewood braucht keine Matratze, sie ist eine. Was treibt Russet Eaglewood sonntags? Dasselbe zweimal. Wir hatten natürlich keine Ahnung gehabt, was sie tatsächlich trieb. Wir sagten ES dazu, und ES war eigentlich auf jeden anwendbar. Ob sie ES treiben? Kicher, kicher. Eines Tages - eines unvorstellbar fernen Tages - würden wir selbst dahinterkommen, was ES war. Inzwischen ging ES in der ganzen Rennwelt munter weiter, und wie wir hörten, auch sonst überall.

Der Vater von Russet Eaglewood war einer der führenden Hindernistrainer gewesen, und deshalb hatten wir die frechen Geschichten ganz besonders lustig gefunden.

Die Erinnerungen drängten auf mich ein. Die Eaglewoods hatten ihren Stall am Ortsausgang gehabt, eine halbe Meile von unserem Cottage entfernt. Ihre Pferde waren im Morgengrauen durchs Dorf getrappelt, auf dem Weg zum Trainingsgelände, und ich hatte im Stallhof oft mit Jimmy Eaglewood gespielt, bis er von einem Laster überfahren wurde und nach dreiwöchigem Koma starb. Ich entsann mich gut an das Unglück, aber nicht an Jimmys Gesicht. Ich konnte mich an überhaupt kein Gesicht deutlich erinnern; nur ganz vage Eindrücke kamen wieder hoch.

»Izzy Eaglewood ist mit einem Gitarristen abgehauen«, sagte Belinda mißbilligend.

»Nichts gegen Gitarristen«, sagte Vicky. »Dein Vater

war auch Musiker.«

»Eben. Alles gegen Gitarristen.«

Vicky machte ein Gesicht, als wäre sie mit leidiger Regelmäßigkeit gezwungen, ihren längst geschiedenen Mann gegen Belindas Scherze zu verteidigen.

Ich sagte zu Ken: »Haben Sie Vicky und Greg mal singen hören? Ihre Stimmen sind wundervoll.«

Er verneinte. Der Gedanke schien ihn zu überraschen.

»Mutter«, sagte Belinda streng, »ich wünschte, ihr würdet das bleibenlassen.«

»Das Singen?« fragte Vicky. »Aber du weißt doch, daß es uns Spaß macht.«

»Ihr seid zu alt dafür.« Das war weniger eine Herabsetzung als vielmehr eine inständige Bitte.

Vicky musterte ihre Tochter und sagte mit trauriger Klarsicht: »Dir ist das peinlich, ja? Es behagt dir nicht, daß deine Mutter in Nachtclubs gesungen hat, um dich großzuziehen?«

»Mutter!« Belinda warf einen entsetzten Blick auf Ken, der jedoch keineswegs schockiert war, sondern sich richtiggehend freute.

»Hast du das wirklich gemacht?«

»Bis die Zeit einen Schlußstrich gezogen hat.«

»Ich würde dich gern mal hören«, sagte Ken.

Vicky strahlte ihn an.

»Aber bitte, Mutter, binde das nicht jedem auf die Nase«, sagte Belinda.

»Wenn du es nicht möchtest, Schatz.«

Rufen Sie es von den Dächern, hätte ich am liebsten gesagt. Belinda sollte stolz auf Sie sein. Geben Sie nicht jeder selbstsüchtigen Laune Ihrer versnobten Tochter nach. Aber Vickys Mutterliebe verzieh alles.

Ken verlangte die Rechnung und zahlte per Kreditkarte, doch ehe wir aufstehen konnten, um zu gehen, ertönte eindringlich ein Summer irgendwo in seiner Kleidung.

»Verdammt«, sagte er, faßte unter sein Jackett und löste ein tragbares Telefon von seinem Gürtel. »Ich habe Bereitschaft. Tut mir leid.«

Er klappte das Telefon auf, sagte seinen Namen und hörte zu; und es war offensichtlich kein Routineruf zu irgendeinem kranken Tier, denn das Blut wich aus seinem Gesicht, er richtete sich schnell und linkisch auf und wankte dann in seiner ganzen Größe buchstäblich hin und her.

Verstört, mit leerem Blick, schaute er uns an.

»Die Klinik brennt«, sagte er.

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