Kapitel 7

»Dem Datum nach«, sagte Ken, »war der erste Fall eines unerwartet gestorbenen Pferdes schon vor Monaten, letztes Jahr im September vielleicht. Ohne meine Aufzeichnungen kann ich da nicht sicher sein.«

»Was geschah?« fragte ich.

»Ich wurde eines Morgens um sechs hinaus zu den Eaglewoods gerufen. Von ihrem Futtermeister. Der alte Eaglewood war über Nacht weg, und der Futtermeister hatte die Aufsicht. Jedenfalls sagte er, eins von den Pferden sei zusammengebrochen und sterbenskrank, also bin ich hin, und er hatte keinesfalls übertrieben. Es war ein dreijähriger Hengst, den ich wegen einer Sehnenzerrung behandelt hatte, aber sonst war er vollkommen gesund gewesen. Jetzt lag er in seiner Box auf der Seite, im Koma, ab und zu lief ein Zittern und ein Zucken durch seine Muskeln, und es ging offensichtlich zu Ende mit ihm. Ich fragte den Futtermeister, seit wann das so war, aber das wußte er nicht. Er war zeitig zum Füttern erschienen, wie gewohnt, und hatte ihn in diesem Zustand vorgefunden, aber mit stärkeren Muskelkrämpfen.«

»Was haben Sie getan?« fragte ich.

»Ich wußte nicht, was ihm fehlte, aber es war zu spät für jede Hilfe. Ich habe nur ein paar Blutproben für die Analyse genommen und ihn von seinen Qualen erlöst.«

»Und was fehlte ihm?«

Ken schüttelte den Kopf. »Alles in seinem Blut war im Bereich des Normalen, auch wenn der Blutzucker niedrig war, aber ...«

Er schwieg.

»Aber was?«

»Nun, es gab andere Dinge. Bis zu der Sehnenverletzung war es ein guter Hengst gewesen. Ein mehrmaliger Sieger. Selbst wenn die Sehne ordentlich geheilt wäre, hätte es ein Wunder gebraucht, damit er seine frühere Form wiedererlangt hätte. Ich fragte den Futtermeister, ob das Pferd versichert sei, denn die Frage stellt sich einfach, aber er wußte es nicht. Später habe ich auch den alten Eaglewood gefragt, aber er meinte, das gehe mich nichts an. Außerdem war die Herzfrequenz des Hengstes sehr hoch, bevor er starb, und er hatte Schwellungen um die Augen.«

Er schwieg. Ich sagte ihm, das müsse er erklären.

»Es sah aus, als hätte er ziemlich lange gelitten, bevor ich dort ankam. Ich dachte über Gift nach, über Mittel, die zu Krämpfen, hoher Herzfrequenz und Koma führen. Ich dachte, die Analyse eines Speziallabors würde uns Aufschluß geben, doch die hat nur Geld gekostet und nichts eingebracht. Aber Pferde sterben so nicht, ich meine, nicht unter normalen Umständen. Ich sprach mehrmals mit Carey darüber, und schließlich hat er Eaglewood selbst nach der Versicherung gefragt, doch anscheinend hatte der Besitzer den Hengst wirklich nicht versichert.«

»Aber Sie waren nicht ganz überzeugt?«

»Nun, ich meine, es war mir ein Rätsel. Ich mußte daran denken, wie es dem Hengst wohl ergangen war, bevor ihn der Futtermeister fand, ich meine, Stunde um Stunde vielleicht, während der Nacht, allein in seiner Box. Was war mit ihm, bevor er in dieses Endstadium geriet? Ich fragte mich, ob er Anfälle, den ganzen Körper erfassende Krämpfe wie ein Epileptiker erlitten hatte. Das Zittern zum Schluß war vielleicht nur der letzte Nachhall von etwas absolut Schrecklichem. Ich kann’s nicht sehen, wenn Pferde leiden ... Hatte dieser Hengst so gelitten, wie ich es mir vorstellte, und war das auf Gift zurückzuführen, dann würde ich nicht ruhen, dachte ich, bis ich den Täter vor Gericht gebracht hatte.« Er zuckte die Achseln.

»Ich habe nie jemanden vor Gericht gebracht, weil sich nicht feststellen ließ, wer es gewesen war, aber eines Morgens beim Aufwachen hatte ich die Lösung im Kopf, und ich bin sicher, daß der Hengst vorsätzlich getötet wurde, auch wenn es keinen ersichtlichen Grund dafür gab.«

»Was hat ihn denn umgebracht?« fragte ich fasziniert.

»Insulin«, sagte er, »obwohl ich es nicht beweisen kann.«

»Insulin

»Ja. Nun, also bei Pferden gibt es keinen Diabetes, nur ausgesprochen selten einmal, praktisch nie. Pferde werden nicht mit Insulin behandelt. Würde man einem Pferd eine starke Überdosis davon geben, fiele sein Blutzuckerspiegel katastrophal ab; es bekäme einen Insulinschock mit Krämpfen und anschließendem Koma und müßte unweigerlich sterben. Die Symptome des Hengstes stimmten damit überein. Ich begann in tiermedizinischen Fallgeschichten nach Verweisen auf Insulin zu suchen, aber viel erfährt man nirgends über den normalen Insulinhaushalt der Pferde. Da sie nicht zuckerkrank werden, besteht kein Forschungsbedarf. Ich fand aber genug, um beim nächsten Mal besser zu wissen, worauf ich bei der Blutbeschaffenheit achten muß - vorausgesetzt, es gibt ein nächstes Mal. Und ich fand heraus, daß in Amerika mit großer Wahrscheinlichkeit drei oder vier Rennpferde wegen der Versicherung auf diese Weise getötet worden sind. Ich zeigte Carey die Fallgeschichten, und beide erzählten wir Oliver, was ich dachte, damit er die Augen offenhielt, aber wir sind auf nichts Derartiges mehr gestoßen.«

»Es muß wegen der Versicherung gewesen sein«, meinte

ich grübelnd.

»Aber Eaglewood sagte doch, es war nicht versichert.«

»Hat der Hengst ihm gehört?«

»Nein. Tatsache ist, er gehörte dem Mann, dem auch die Stute gehört. Wynn Lees.«

Ich zog so scharf die Luft ein, daß er stutzte.

»Ein merkwürdiger Zufall ist es schon«, sagte er. »Aber die Stute ist nicht gestorben.«

»Ohne Sie wäre sie gestorben.«

»Haben Sie noch dieses Stück Darm?« fragte er.

»Das habe ich jetzt in die Gefriertruhe gelegt«, sagte ich.

»Oh.« Er nickte. »Gut.«

»Was wissen Sie über Wynn Lees?« fragte ich.

»Nichts weiter. Ich bin ihm Freitag morgen zum erstenmal begegnet. Warum sagten Sie mir, ich solle ihm nicht trauen?«

Ich dachte kurz daran, ihn aufzuklären, beschloß dann aber, es nicht zu tun. Noch nicht. Vielleicht fand ich einen weniger direkten Weg. Man mußte nicht schnurgerade auf jede Wahrheit zumarschieren, die es zu enthüllen galt, und wenn man eine Wahrheit ans Licht bringen konnte, ohne die eigene Rolle dabei herauszustreichen, war man bei der nächsten Gelegenheit im Vorteil.

Ken wartete auf meine Antwort.

»Instinkt«, sagte ich. »Natürliche Abneigung. Widrige Schwingungen. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Mir hat vor ihm gegraust.«

An all dem war noch so viel Wahres, daß es überzeugend klang. Ken nickte und sagte, auf ihn habe der Mann ähnlich gewirkt.

Nach einer Pause sagte ich: »Lebt Ihre Mutter noch?«

»Ja. Warum fragen Sie?«

»Ich weiß nicht ... mir ging nur durch den Kopf, ob sie eigentlich schon Gelegenheit hatte, mit Greg und Vicky zusammenzukommen. Sie hätten sich bestimmt viel zu erzählen, so kurz vor der Hochzeit. Und ich würde sie auch gern kennenlernen.«

Er sah mich mit erwachender Bestürzung an. »Verdammt, warum habe ich das nicht längst eingefädelt? Ich muß von allen guten Geistern verlassen sein. Aber ich habe ja auch so viel am Hals. Wie wär’s mit heute, zum Mittagessen?« Er streckte die Hand nach dem Telefon aus. »Ich ruf das alte Mädchen gleich an.«

»Da würde ich erst bei Belinda vorfühlen. Ehm ... ob denn auch genug zu essen da ist.«

Er warf mir einen Seitenblick zu, sah aber ein, daß es klug war, Belinda vorher zu fragen. Wer sich dann meldete, war Vicky, und sie nahm den Vorschlag begeistert auf - es sei eine reizende Idee, und sie werde Belinda sagen, es sei abgemacht. Ken legte lächelnd auf, wählte erneut und erreichte seine Mutter, deren Reaktion gedämpfter ausfiel. Ken redete ihr zu, und langsam ließ sie sich erweichen. Er werde sie abholen, versprach er, und sie anschließend nach Hause fahren, und es werde schon schiefgehen.

»Meine Mutter ist nicht so wie Vicky«, sagte er, als er den Hörer auflegte. »Sie plant gern voraus. Ich meine, mindestens Tage, wenn nicht Wochen im voraus. Sie findet, wir überstürzen die Hochzeit, aber in Wahrheit ist sie dagegen, daß ich überhaupt heirate.« Er seufzte. »Mit Belinda wird sie sich nie anfreunden. Die halbe Zeit sagt sie Miss Larch zu ihr. So sind Eltern eben!«

»Erinnern Sie sich noch an Ihren Vater?«

»Nur undeutlich. Da ich zehn war, als er starb, sollte ich mich wohl genauer an ihn erinnern, tu ich aber nicht. Ich kenne ihn von Fotos. Ich weiß, daß er mit mir gespielt hat und daß er lustig war. Ich wünschte ...« - er unterbrach sich - »... aber was nützt das schon? Ich wünschte, ich wüßte, warum er gestorben ist.«

Ich wartete schweigend, und er sagte: »Er hat sich umgebracht.« Das war offensichtlich noch immer ein wunder Punkt bei ihm. »Je älter ich werde, desto stärker habe ich das Bedürfnis zu wissen, warum. Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Albern, was?«

»Nein.«

»Jedenfalls wird vieles an meiner Mutter von daher verständlich.«

»Ich werde daran denken.« Ich sah auf seinen Notizblock nieder, auf den er lediglich das Wort »Insulin« geschrieben hatte.

»Wie wär’s, wenn ich die Notizen mache, während Sie reden?«

Dankbar schob er mir Block und Kuli zu. Ich schlug eine neue Seite auf, und nach einigem Nachdenken ging er wieder zu den Vorfällen über.

»Das nächste, was ich mir nicht erklären kann, kam kurz nach Weihnachten. Es war das Pferd, das meiner Ansicht nach Atropin bekommen hat.«

»Was für ein Pferd?« fragte ich, während ich schrieb.

»Ein Rennpferd. Hürdenpferd. Trainiert von Zoe Mackintosh, draußen vor Riddlescombe.«

»Zoe Mackintosh?«

»Ziemlich viele Frauen trainieren Pferde«, merkte Ken an.

Klar, dachte ich, aber Mackintosh war in meiner dunklen Erinnerung ein Mann.

»Ist sie die Tochter eines Trainers?« fragte ich.

Ken nickte. »Ihr Vater, der alte Mac, mischt noch mit, aber sein Gedächtnis läßt nach. Zoe hat die Lizenz und tut, was sie will, wenn er nicht hinsieht. Er ist ein alter Streithahn, der ihr ständig im Nacken sitzt. Sie geht noch zu Hewett und Partnern, weil sie Carey schon ihr Leben lang kennt - er und Mac sind dicke Kumpel -, aber sie ist wegen der toten Pferde sauer auf mich, und ich kann es ihr nicht verdenken.«

»Mehr als eins?«

»Zwei. Und ich könnte schwören, beide haben Atropin bekommen. Nach dem zweiten habe ich Zoe darauf angesprochen, und sie hat mich praktisch hochkant rausgeworfen. Sehr kräftige Dame, unsere Zoe. Aber es ist nicht gut, wenn sie herumläuft und durchblicken läßt, daß ich sowohl unfähig als auch verrückt bin, und das tut sie.«

Ich dachte darüber nach.

»Hatten die beiden Pferde denselben Besitzer?« fragte ich.

»Keine Ahnung.«

»Und waren sie versichert?«

»Ich glaube nicht. Da müßten Sie Zoe oder die Besitzer fragen, und ehrlich gesagt, ich werde das nicht tun.«

»Sie haben Angst vor ihr!«

»Sie kennen sie ja auch nicht.«

»Wie hießen denn die Pferde?«

»Was für eine Frage! Man sagt mir zwar immer die Namen, aber wenn ich sie fertig behandelt habe, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls selten. Nur wenn sie Spitzenklasse sind. Ich behandle Hunderte von Pferden jährlich. Sie sind unter ihrem Namen im Computer gespeichert - das heißt, sie waren -, aber um mein Gedächtnis anzukurbeln, schreibe ich was dazu, sagen wir: >Dreijährige Stute, weiße Füße, Schulterstriche< dann weiß ich sofort, um welches Pferd es sich handelt.«

»Beschreiben Sie die Atropin-Pferde.«

»Das erste, ein brauner vierjähriger Wallach mit breiter durchgehender Blesse. Das zweite ein fünfjähriger Fuchswallach, weiße Füße vorn, Laterne.«

»Okay.« Ich notierte die Beschreibungen. »Wie sind sie gestorben?«

»Kolikfälle, einer wie der andere. Wir hatten den Grimmdarm auf dem Tisch liegen, wie Sie es gesehen haben, und ich tastete den Dünndarm nach Verstopfungen ab, fand aber keine, und aus heiterem Himmel versagte ihr Herz, und ihr Blutdruck ging in den Keller. Das Alarmsignal ertönte, und wir hatten sie verloren. Aussichtslos. Aber wie ich schon sagte, das kommt mitunter vor, deshalb habe ich mir beim erstenmal nichts weiter gedacht.«

»Wie viele sind jetzt so gestorben?«

»Vier in acht Wochen.« Er schluckte. »Das ist eigentlich unmöglich.«

»Auf genau die gleiche Weise?«

»Mehr oder weniger, ja.«

»Was heißt, mehr oder weniger?«

»Es waren nicht alles Kolikoperationen. Das letzte war, wie gesagt, ein zusammengeschraubtes Röhrbein, und davor kam das Atemproblem, eine Kehlkopfkorrektur wie bei dem, das jetzt hier steht. Diese beiden gehörten Eaglewood, wie ich Ihnen in Stratford schon sagte.«

»Hm«, meinte ich und sah auf meine zunehmend chaotischen Notizen. »Wissen Sie die Reihenfolge noch genau?«

»Tja ...« Er überlegte. »Setzen Sie den Insulin-Hengst vornan, auch wenn er nicht hier im Spital gestorben ist.«

»Okay.« »Dann Zoe Mackintoshs Vierjähriger.«

»Gut.«

»Dann . Eaglewoods Kehlkopfkorrektur.«

»Okay«, sagte ich. »Nehmen Sie auch Intubationen vor? Ich weiß noch, wie es mich als Kind fasziniert hat, daß man einem Pferd ein Rohr in die Luftröhre einsetzen kann, damit es besser Luft bekommt, und daß man das Rohr mit einem Stöpsel am Hals öffnet oder verschließt wie mit einem Korken - rein zum Ausruhen, raus zum Galoppieren.«

»Ein seltener Eingriff. Es wird bei uns zwar noch manchmal gemacht, aber in Amerika dürfen intubierte Pferde nicht an Rennen teilnehmen, und hier hört das auch bald auf.«

»Und ist nicht vor langer Zeit mal ein intubiertes Pferd mit gezogenem Stöpsel hier in einen Kanal galoppiert und ertrunken?«

»Vor einer Ewigkeit«, nickte er lächelnd. »Es vergaß an der Canal Turn abzubiegen und lief in sein Verderben.«

»Derby Day II im Jahr 1930«, sagte ich tief aus dem Innern heraus.

Er war verblüfft. »Woher zum Teufel wissen Sie das?«

»Ich habe ein vorzügliches Gedächtnis für Trivialitäten.« Das sagte ich zum Scherz, aber mir war bewußt, daß es mehr oder weniger stimmte. »Und Trivialitäten«, sagte ich entschuldigend, »kommt von trivia, und trivia heißt >drei Wege< auf lateinisch. Wo immer drei Wege zusammenstießen, stellten die Römer Schilder auf und schlugen Nachrichten an. Kurze Meldungen vom Tage.«

»Jesses«, sagte Ken.

Ich lachte. »Also, was kam nach der Kehlkopfkorrektur?«

Er überlegte eine ganze Weile. »Das nächste war vermutlich Nagrebbs Springer, das Pferd mit dem Splitter im

Bein, von dem ich Ihnen erzählt habe. Es hatte sich beim Training daheim in einem Sprung verheddert, und als ich hinkam, war es noch auf der Wiese, und ein spitzes, dreißig Zentimeter langes Stück Holz steckte in seinem linken Hinterbein, über dem Sprunggelenk. Blut lief ihm am Bein hinunter, es war furchtbar erregt und versuchte sich von den zwei Leuten, die es am Halfter hielten, loszureißen. Das eine war ein Stallbursche, das andere die Tochter des Hauses, die Reiterin, und sie heulte die ganze Zeit, was ihrem Pferd auch nicht half. Pferde reagieren auf Furcht mit Furcht. Ich glaube, sie können sie riechen. Sie haben ein sehr feines Gespür. Jedenfalls hatte die Tochter Angst, es müßte eingeschläfert werden, und ihr Vater turnte herum und schrie mich an, ich solle doch was unternehmen, und regte das Pferd ebenfalls auf. Zusammen hatten sie es derart hochgeputscht, daß ich ihm erst mal ein Sedativum geben und abwarten mußte, bis es sich beruhigte, und das kam auch nicht gut an. Schließlich kriegte ich den alten Nagrebb dazu, daß er mit seiner Tochter ins Haus ging, denn der Stallbursche genügte mir völlig. Ich zog dann also den Splitter aus dem Bein und untersuchte den Schaden, der zwar beträchtlich war, aber vorwiegend muskulär. Ein paar Blutgefäße waren zerrissen, jedoch nicht die Schlagader, nicht die große Vene. Nun, ich habe die Wunde gereinigt und geflickt und sie mit einer starken Naht verschlossen. Klammern, wie ich sie bei der Stute verwendet habe, sind für solche Verletzungen nicht geeignet. Es sah alles ganz ordentlich aus. Ich sagte den Nagrebbs, das Bein würde eine Zeitlang heiß und angeschwollen sein, müßte mit Antibiotika aber zufriedenstellend heilen, und in einer Woche würde ich die Fäden ziehen. Sie wollten meine Zusicherung, daß das Bein so gut wie neu sein würde, aber wie hätte ich das versprechen können? Ich wußte es nicht. Ich hatte eher meine Zweifel daran, aber das behielt ich für mich. Ich sagte, sie sollten ihm Zeit lassen.«

Er hielt inne und dachte zurück. »Nun, wie ich schon sagte, das Bein heilte auch ganz gut. Ich fuhr mehrmals noch raus. Ich zog die Fäden. Fall abgeschlossen. Ein paar Tage drauf kriegte ich dann einen entsetzten Anruf und fuhr hin, und das untere Bein und die Fessel waren aufgeblasen wie ein Luftballon, das Pferd konnte mit dem Fuß nicht auftreten. Wir schafften es also her, und ich schnitt das Bein auf, weil ich befürchtete, die Sehnenscheide hätte sich entzündet, und wie schon gesagt, die Sehne hatte sich buchstäblich aufgelöst. Nichts mehr zu machen. Ich hatte noch nie so etwas Schlimmes gesehen. Ich ließ Carey kommen, damit er es sich ansah, weil ich dachte, Nagrebb würde ihm eher glauben als mir, denn natürlich mußten wir das Tier töten, und es war doch so ein bekanntes Springpferd. Nagrebb hatte es versichert, also teilten wir der Versicherungsgesellschaft mit, das Pferd sei nicht zu retten. Sie waren damit einverstanden, daß ich ihm die Todesspritze gab. Kurz darauf fing dann der alte Nagrebb an zu maulen, ich müsse die Fessel und die Sehne irgendwie selbst beschädigt haben, als ich die Wunde versorgte, aber ich weiß mit Sicherheit, daß das nicht zutrifft.«

Er schwieg wieder und blickte mich ernst an. »Ich sage Ihnen jetzt etwas, weil ich versprochen habe, Ihnen alles zu sagen, aber Sie dürfen mich nicht für völlig übergeschnappt halten.«

»Sie sind nicht völlig übergeschnappt«, sagte ich.

»Na gut. Also, man könnte sagen, ich habe über dieses Pferd gegrübelt, habe schwer darüber nachgedacht, wieso seine Sehne sich aufgelöst hat, und es gibt in der Tat etwas, wodurch das geschehen kann.«

»Nämlich?« fragte ich.

»Ein Zeug namens Kollagenase.« Er schluckte. »Wenn man, sagen wir, zwei Kubikzentimeter Kollagenase in eine Sehne injizierte, hätte es diese Wirkung.«

»Und wieso?«

»Es ist ein Enzym, das Kollagen zersetzt, und Sehnen und Bänder bestehen aus Kollagen.«

Ich starrte ihn an. Er starrte angstvoll zurück.

»Sie sind nicht völlig übergeschnappt«, wiederholte ich.

»Aber man kann nicht einfach hingehen und Kollagenase kaufen«, sagte er. »Sie wird von der chemischen Industrie geliefert, findet aber nur in Forschungslaboratorien Verwendung. Es ist ein ziemlich gefährliches Zeug. Es würde auch menschliche Sehnen zersetzen, meine ich. Nichts, wovon man sich eine Dosis ins Handgelenk jagen möchte.«

Jetzt hätte ich selbst beinah Jesses gesagt.

»Man bekommt es gefriergetrocknet, in kleinen Flaschen«, sagte Ken. »Ich habe das nachgelesen. Man löst es in einem Kubikzentimeter Wasser auf. Man braucht nur eine kleine Nadel.«

Jesses noch mal, dachte ich.

»Was halten Sie davon?« fragte er.

Ich hielt es für möglich, daß er in großer Gefahr war, aber ich sagte nur: »Kommen Sie zum nächsten Fall.«

»Vergessen Sie nicht«, sagte er, »daß ich dazwischen zig andere Pferde - Galopper, Hunter und so weiter -behandelt habe, mit denen alles klarging. Auf jedes Pferd, das hier gestorben ist, kommen viele, die ich ohne Zwischenfall operiert habe. Wir kriegen eine ganze Reihe Überweisungen von anderen Tierarztpraxen, und nicht eins davon ist gestorben. Zählt man die Todesfälle so nacheinander auf, hört sich das an, als wäre es Schlag auf Schlag gegangen, am laufenden Band.« »Ich werde daran denken.«

»Okay. Als nächstes starb dann das Pferd draußen in der Beobachtungsbox, von dem ich Ihnen heute morgen erzählt habe.«

Ich nickte. Damit schien das für ihn erledigt zu sein, aber ich fragte: »Wem hat es gehört?«

»Einem Mann namens Fitzwalter. Anständiger Kerl. Hat es gelassen genommen und mir nicht die Schuld gegeben.«

»Und haben Sie da Bedenken, oder glauben Sie, das Pferd ist eines natürlichen Todes gestorben?«

Er seufzte schwer. »Ich hatte dem Pferd Blut abgenommen, um es testen zu lassen, obwohl es eigentlich schon zu lange tot war. Die Ergebnisse waren negativ im Hinblick auf Fremdstoffe.«

Ich musterte sein blasses, besorgtes Gesicht.

»Selbst wenn die Tests negativ waren - haben Sie auch nur einen leisen Verdacht?«

»Es ist mir verdächtig, weil es passiert ist.«

Das mutete unter den Umständen ganz vernünftig an.

»Und gleich darauf kam das zweite Mackintosh-Pferd zu uns, und es starb auf dem OP-Tisch, genau wie das erste.« Er schüttelte den Kopf. »Erst nach dem zweiten dachte ich an Atropin. Weil die Pupillen erweitert waren, verstehen Sie? Ich dachte, das hätte ich beim erstenmal vielleicht übersehen, oder jedenfalls nicht erkannt, was es bedeutet, denn da hatte ich noch keinen Grund, mißtrauisch zu sein.«

»Nein.« Ich seufzte.

»Letzten Donnerstag, am Tag, als Sie gekommen sind, verloren wir dann das Eaglewood-Pferd mit dem Röhr-bein. Auf genau die gleiche Art. Herzschwäche und schlagartig absinkender Blutdruck. Ich habe ihm Blut abgezapft, bevor wir mit der OP anfingen, und Oliver hat weitere Proben genommen, als das Pferd nicht mehr zu retten war, aber darüber werden wir nie Aufschluß erhalten, weil sie bei uns im Labor auf Eis gelegen haben. Ich wollte sie zur Analyse an ein Fachlabor schicken.«

»War irgend etwas bei den beiden MackintoshOperationen anders als bei dem von mir beobachteten Eingriff an der Stute? Außer, daß Sie keinen Darmverschluß gefunden haben, meine ich.«

»Nein, nur daß natürlich Scott und Belinda bei mir waren, nicht Sie. Belinda führt Aufsicht, Scott macht die Narkose. Wir arbeiten immer so.«

»Nur Sie drei?«

»Nicht unbedingt. Einer von den anderen kann dazukommen. Lucy assistiert manchmal bei Ponys. Oliver hilft oft. Ich habe Jay schon bei Kühen und Bullen assistiert. Carey hat allgemein ein Auge auf die Dinge. Er kann alles, wenn es sein muß, behandelt jetzt aber hauptsächlich Kleintiere. Yvonne ist neben all ihren Reizen auch noch eine virtuose Chirurgin, der zuzuschauen eine Freude ist. Ich habe gesehen, wie sie von Autos überrollte Hunde und Katzen zusammengestückt hat wie ein Puzzlespiel. Sogar ein Kaninchen mal, für einen kleinen Jungen. Sie hat ihm das halb abgetrennte Bein unterm Mikroskop angenäht. Später ist es damit wieder herumgehoppelt.« Er hielt inne.

»Die Klinik ist unser ganzer Stolz, müssen Sie wissen. Nicht viele Tierarztpraxen sind so gut eingerichtet. Das hat uns viele Zuweisungen eingebracht.«

»Kommen wir auf den vorigen Donnerstagmorgen zurück«, sagte ich. »Da hatten Sie inzwischen doch vor beinah jeder Operation Bedenken, ja?«

Er nickte stumm.

»Deshalb haben Sie alles doppelt geprüft. Sie hatten Oliver dabei. Sie haben ein Bein operiert, nicht einen Bauch. Gehen Sie das in Gedanken noch mal alles durch, von der Ankunft des Pferdes an. Überspringen Sie nichts. Machen Sie langsam. Ich warte solange. Lassen Sie sich Zeit.«

Er erhob keine Einwände. Ich schaute ihm zu, beobachtete die kleinen Regungen seiner Gesichtsmuskeln, während er in der Erinnerung Schritt für Schritt nachvollzog. Sah, wie er den Kopf schüttelte, seine Stirn runzelte und schließlich verzagt den ganzen Körper bewegte.

»Überhaupt nichts«, platzte er heraus. »Nichts, außer -« Er schwieg unschlüssig, als wäre er von dem, was er dachte, nicht überzeugt.

»Außer was?« fragte ich.

»Nun, Oliver hat den Monitor beobachtet, so wie Sie neulich. Ich habe ab und zu einen Blick drauf geworfen. Ich kann’s nicht beschwören, aber ich meine jetzt, daß die EKG-Kurve - die Linie, die den Herzschlag anzeigt - sich leicht verändert hatte. Ich habe sie mir nicht genauer angesehen. Das hätte ich unter den Umständen vielleicht tun sollen. Allerdings hat sich die Kurve dann natürlich sowieso verändert, weil eben das Herz nicht richtig arbeitete.« Er blickte finster, während er darüber nachdachte. »Ich werde einiges nachschlagen müssen.«

»Hier?« fragte ich und blickte mich in dem leeren Büro um.

»Nein, zu Hause. Meine ganzen Bücher stehen zu Hause. Gott sei Dank. Carey hatte seine alle hier im Büro, damit wir an Ort und Stelle nachschauen konnten, wenn etwas auftauchte, womit wir nicht klarkamen. Was das Feuer nicht zerstört hat, wird das Wasser zerstört haben.« Er schüttelte den Kopf.

»Einige von diesen Büchern sind unersetzbar.«

»Wirklich Pech«, sagte ich.

»Man kann auch nicht sagen, daß die Sorgen vorbei wären.«

»Schon gar nicht, wenn so eine unbekannte Leiche herumliegt.«

Er rieb sich müde mit der Hand übers Gesicht. »Fahren wir nach Thetford Cottage.«

»Okay. Aber Ken .«

»Ja?«

»Bis man herausgefunden hat, wessen Leiche das ist, sollten Sie nicht durch irgendwelche dunklen Straßen laufen.«

Er starrte mich an. Offenbar hatte er sich wegen der Leiche weder Sorgen gemacht noch sie als Mahnung zur Vorsicht aufgefaßt.

»Das war doch der Brandstifter«, protestierte er.

»Mag sein. Aber weshalb hat er das Feuer gelegt?«

»Ich habe keine Ahnung. Das weiß niemand.«

»Mir kommt es vor, als hätte der Brandstifter bis zum letzten Moment selbst nicht gewußt, daß er Feuer legen wollte.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Reinigungsmittel. Farbe. Das war zufällig da. Wenn Sie vorhätten, ein Gebäude in Brand zu stecken, würden Sie dann einbrechen und sich darauf verlassen, daß da feuergefährliche Flüssigkeiten herumstehen?«

Er sagte langsam: »Nein.«

»Also seien Sie vorsichtig.«

»Sie machen mir angst, wissen Sie das?«

»Gut.«

Er musterte mein Gesicht. »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so sind.«

»Wie denn?«

»Daß Sie so scharf kombinieren ... die Fäden verknüpfen.«

Ich lächelte schief. »Wie eine Teppichnadel! Aber niemand denkt immer an alles. Niemand erkennt die ganze Bedeutung einer Sache auf einmal. Das Verständnis für etwas, was man gesehen hat, kommt schrittweise, ruckweise und manchmal ganz unerwartet. Sollte Ihnen also zu den toten Pferden noch etwas einfallen, was Sie mir noch nicht gesagt haben, dann lassen Sie es mich wissen.«

»Ja«, sagte er nüchtern, »das werde ich tun.«

Vicky gab sich alle Mühe, Kens Mutter, Josephine, zu bezaubern, doch in Wahrheit waren sie unvereinbare Geister. Spontan, großzügig, rundlich, im Innern jung trotz der weißen Haare, mußte Vicky gegen die Abwehr einer bieder gekleideten, eckigen Frau anrennen, der Mißbilligung zur Gewohnheit geworden war.

Belinda suchte Zuflucht in der Küche, kippte eine große Bloody Mary hinunter (zur Beruhigung und damit sie nicht losschrie, meinte Ken, der ihr den Drink mischte) und wirkte als Folge davon gleich menschlicher.

Greg und ich trieben ein wenig Konversation, ohne etwas Denkwürdiges zu sagen, und schließlich setzten wir uns alle nieder zu Lammbraten mit Kartoffeln, Erbsen, Mohren und Soße, einem Gericht, von dem ich schon beinah vergessen hatte, daß es das gab.

Als sich erst einmal alle bedient hatten und zufrieden speisten, war es nicht weiter schwierig, die Sprache auf Kens brillante Arbeit an der kolikgeplagten Stute zu bringen und auf das Mißtrauen, den Undank ihres Besitzers.

»Ein äußerst sonderbarer Mann«, sagte ich. »Wynn Lees heißt er. Er gefiel mir gar nicht.«

Josephine McClure, die neben mir saß, senkte die Gabel, die sie gerade zum Mund führte, und spitzte die Ohren.

»Er hat keine Zuneigung zu seiner Stute erkennen lassen«, fuhr ich fort. »Sie schien ihm egal zu sein. Es sah fast so aus, als wollte er, daß sie stirbt.«

»So herzlos kann doch keiner sein«, rief Vicky aus.

Josephine McClure aß weiter.

»Manche Menschen werden ohne Herz geboren«, sagte ich.

Ken erzählte noch einmal, wie er von Wynn Lees’ Frau die Erlaubnis zur Operation bekommen hatte. Dabei lachte er leise in sich hinein. »Er meinte, sie könne nicht mitten in der Nacht mit mir gesprochen haben, da sie immer Schlaftabletten nehme.«

Josephine McClure sagte bissig: »Wenn man mit Wynn Lees verheiratet ist, schluckt man selbstverständlich Schlaftabletten.«

Gott segne Sie, liebe Frau, dachte ich und bat sie amüsiert im Chor mit den anderen, das zu erläutern.

»Ken«, sagte sie streng, »du hattest mir nicht erzählt, daß du für Wynn Lees gearbeitet hast. Dieser Name! Unvergeßlich. Ich dachte, er wäre ins Ausland gegangen. Halte dich von ihm fern.«

Ken sagte verwundert: »Ich wußte gar nicht, daß du ihn kennst.«

»Ich kenne ihn auch nicht. Ich bin über ihn informiert. Das ist nicht dasselbe.«

»Was wissen Sie denn über ihn?« fragte ich in meinem unwiderstehlichsten Tonfall. »Bitte erzählen Sie’s uns.«

Sie schnaubte. »Er hat Pferde gequält und dafür im Gefängnis gesessen.«

Vicky tat einen entsetzten Ausruf, und ich fragte: »Wann?« »Vor Jahren. Wahrscheinlich ist es vierzig Jahre her. Es war ein furchtbarer Skandal, weil sein Vater Friedensrichter war.«

Ken sah sie mit offenem Mund an. »Davon hast du mir nie was erzählt.«

»Es bestand ja auch kein Anlaß dazu. Ich habe jahrelang nicht einmal mehr seinen Namen gehört. Ich habe nie an ihn gedacht. Er war fortgegangen. Aber wenn euer Mann herzlos gegen seine Stute war, dann dürfte es der gleiche sein, und er ist wiedergekommen. Es kann ja nicht Hunderte von Leuten geben, die Wynn Lees heißen.«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, sagte ich.

»Ich bin stolz darauf.«

»Ken hat auch ein bißchen Ärger mit Ronnie Upjohn bekommen«, sagte ich. »Wissen Sie über den irgendwelche Geschichten?«

»Ronnie Upjohn?« Sie runzelte leicht die Stirn. »Der hat meinen Mann gekannt. Es ist reichlich blöd von ihm, sich auf einmal zu beklagen, daß Ken mit diesem Pferd gewinnt. Ken hat mir davon erzählt.«

Ich sagte zögernd: »Ist er Geschäftsmann? Hat er einen Partner?«

»Ach, Sie meinen den alten Mr. Travers? Nein, das war der Partner von Ronnies Vater.«

Ich hielt den Atem an.

Josephine schnitt Braten und nahm einen Bissen.

»Da komme ich nicht mit«, sagte Ken. »Wovon redest du?«

»Der alte Mr. Travers«, sagte seine Mutter grimmig, »war ein fürchterlicher Lüstling.«

Vicky schien hingerissen von dem Gegensatz zwischen Josephines tadelnder Miene und ihren markigen Worten. Vicky hätte »Lüstling« mit einem Lachen gesagt, Josephine war es ernst damit. Greg, der lächelte, dachte vielleicht, daß die vertrocknete alte Josephine keine Angst vor den Aufmerksamkeiten irgendwelcher Lüstlinge zu haben brauchte - und doch war sie einmal glücklich verheiratet gewesen, und es gab noch Spuren von dieser jungen Frau, auch wenn ihr Mund jetzt verkniffen und verbittert war.

»Upjohn und Travers«, sagte ich.

»Ganz recht.« Sie aß gleichgültig weiter.

»Was für ein Geschäft war das?« fragte ich.

»Weiß ich nicht. Hatte irgendwas mit Finanzierungen zu tun.«

Ihr Tonfall besagte, daß Finanzierungen für sie ein Buch mit sieben Siegeln waren. »Ronnie Upjohn hat sein Lebtag nicht gearbeitet, soviel ich weiß. Sein Vater und der alte Mr. Travers schwammen im Geld.«

»Sie wissen eine Menge über all diese Leute«, sagte ich bewundernd. »Wie ist es mit den Eaglewoods?«

»O nein, nicht die Eaglewoods«, sagte Belinda.

Josephine warf ihrer Schwiegertochter in spe einen scharfen Blick zu und traf eine beachtenswerte Feststellung: »Gegenüber dieser Izzy sind Sie, glaube ich, ein Fortschritt.«

Belinda sah erstaunt drein, obwohl sie ganz derselben Meinung war. So zweifelhaft es sein mochte, sie hatte eben ein Kompliment bekommen.

»Was gab es an Izzy Eaglewood denn auszusetzen?« fragte ich Josephine.

»Ihre Mutter.«

Vicky verschluckte sich an ein paar Erbsen, und wir mußten ihr auf den Rücken klopfen.

Als die Ordnung wiederhergestellt war, fragte ich: »Was gibt es an der Mutter von Izzy Eaglewood denn auszusetzen?«

Josephine kniff die Lippen zusammen, konnte sich aber nicht enthalten, ihr Wissen preiszugeben. Einmal aufgezogen, schnurrte sie ab wie ein Uhrwerk.

Sie sagte: »Izzys Mutter war und ist ein Flittchen.«

Vicky hatte glücklicherweise keine Erbsen im Mund. Sie lachte entzückt und versicherte Josephine, so ein vergnügliches Essen habe sie schon ewig nicht mehr erlebt. Josephines blasse Wangen röteten sich leicht.

»Jetzt aber mal langsam«, protestierte Ken. »Was ihre Mutter ist, kann man Izzy doch nicht anlasten.«

»Vererbung«, meinte Josephine dunkel.

»Wer ist Izzys Mutter?« fragte ich neutral.

»Russet Eaglewood«, sagte Josephine. »Ein selten blöder Name. Izzy ist natürlich unehelich.«

»Hör doch auf«, bat Ken sie. Er blickte mich etwas verstört an.

»Können Sie nicht das Thema wechseln?«

Ich sagte entgegenkommend zu Josephine: »Wie ist es mit Zoe Mackintosh?«

»Mit wem? O ja. Die hätte als Mann geboren werden sollen. Sie hat Ken noch nie schöne Augen gemacht, soviel ich weiß.«

»Ich wollte nicht ...« Ich schüttelte den Kopf und ließ es auf sich beruhen. »Ob es irgendwelche hübschen Skandalgeschichten über sie oder ihre Familie gibt, meinte ich.«

»Ihr alter Vater ist am Verkalken, wenn man das skandalös nennen kann. Er war immer ein Lump. Angeblich hat er sich von den Buchmachern Prozente zahlen lassen, wenn er ihnen gesagt hat, daß ein heißer Favorit aus seinem Stall nicht siegen würde.«

»Erzählen Sie doch bitte«, sagte Vicky begeistert.

»Der Jockey-Club konnte es nie nachweisen. Dafür war Mackintosh zu gerissen. Wie es heißt, hat er vor ein paar Monaten sehr viel Geld durch eine Immobilienpleite verloren. Bei den steigenden Wohnungspreisen sollte man nicht meinen, daß jemand mit Immobilien Verluste machen kann, aber so ist es vielen hier ergangen. Nicht, daß sie mir leid tun, sie hätten nicht so habgierig sein sollen.«

»Was ist denn passiert?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht genau. Ein Nachbar von mir hat alles verloren. Er sagte, man solle nie eine Bürgschaft übernehmen. Ich weiß noch, wie er das gesagt hat, und ich habe es mir gemerkt. Er mußte sein Haus verkaufen.«

»Der Ärmste«, meinte Vicky.

»Er hätte klüger sein sollen.«

»Auch Millionäre können so einen Fehler begehen«, sagte ich.

Josephine schnaubte.

»Was ist mit der Familie Nagrebb?« fragte ich sie.

»Die haben doch die Springreiterin, nicht? Die hab ich im Fernsehen gesehen. Ken kümmert sich um ihre Pferde.«

»Und - ah - Fitzwalter?«

»Nie von ihm gehört.« Sie aß ihren Teller leer, legte Messer und Gabel ordentlich nebeneinander und wandte sich an Ken.

»Ist dieser Nagrebb nicht der Mann«, fragte sie, »der Scherereien bekommen hat, weil er Springpferde beim Training mißhandelt?«

Ken nickte.

»Was hat er gemacht?« fragte ich.

»Ihnen mit einer Stange gegen die Schienbeine geschlagen, während sie gesprungen sind, damit sie lernen, die Beine höher zu heben«, sagte Ken. »Läßt sich schwer nachweisen. Springpferde schlagen dauernd mit den Beinen an, wie Hürdler. Nagrebbs Pferde hatten immer Beulen und Blutergüsse an den Schienbeinen. Jetzt sehen sie besser aus, da er streng verwarnt worden ist.«

Belinda sagte: »Nagrebbs Tochter hat geschworen, er habe es nicht getan.«

Ken lächelte. »Sie tut alles, was er ihr sagt. Sie hat die Pferde geritten, denen er die Beine bearbeitet hat. Sie möchte siegen, und Papa stellt die nötigen Mittel, da kommt es nicht in Frage, daß sie ihn verpfeift.«

»Eine schlechte Welt«, sagte Vicky traurig.

Ein gewisses Maß an Bösem ist die Norm, hatte mein Vater mir erklärt. Ganz und gar gute Menschen sind die Aberration. Was heißt Aberration, hatte ich gefragt. Sieh es im Lexikon nach, dann merkst du es dir auch. Aberration, eine Abweichung vom Normalen und Üblichen. Sieh die Welt, wie sie ist, hatte er gesagt, und dann schau, was du Nützliches in ihr tun kannst. Lüg im Ausland für dein Heimatland. Die unzusammenhängenden Gedanken endeten mit der Überlegung, daß ich wie Nagrebbs Tochter von der Geistesart meines Vaters geprägt worden war.

Als sich die Mittagstafel auflöste, verließ ich Thetford Cottage und fuhr in das Dorf Riddlescombe, um zu sehen, was ich davon wiedererkennen würde. Ich hatte nur undeutliche Bilder im Kopf gehabt und stellte um so überraschter fest, wie vieles mir noch lebhaft vertraut war, als ich die sich hinziehende Hauptstraße entlangfuhr.

Die Post, die Tankstelle, die Kneipen; alles war noch da. Die Zeit hatte weder die kleinen Katen hinweggefegt noch die Steinhäuser verändert. Der Teich, in den ich Steine geworfen hatte, war in dem Verhältnis geschrumpft, wie ich gewachsen war, und ein Bäumchen, in dessen Rinde ich P. P. geritzt hatte, breitete jetzt Äste aus, die im Sommer Schatten spenden wurden. Ich stellte den Wagen ab und ging zu Fuß, und dabei fiel mir wieder ein, wer wo gewohnt hatte und wer gestorben war und wer abgehauen.

Es war wie die Rückkehr in ein vergessenes Land, das man für zwanzig Jahre eingemottet hatte. Henley’s, der Allzweckladen, verkaufte offenbar immer noch knallbunte Bonbons und Turnschuhe und Horrorcomics. Graffiti schockierten immer noch die braven Leute an der Bushaltestelle. Schilder drohten mit Geldstrafen für liegengelassenen Abfall. Für den Neubau des Sportplatzgebäudes wurden Freiwillige gesucht. Das Dorf war im Gegensatz zum Supermarkt noch bekanntes Terrain, wenn auch das rote Telefonhäuschen verschwunden war und ein nagelneues Ärztezentrum dort prunkte, wo der alte Doktor sein Haus gehabt hatte.

Unberührt von Jahrhunderten, ganz zu schweigen von zwanzig Jahren, stand die winzige alte Kirche, in die ich fast nur an Weihnachten gegangen war. Immer noch von einer niedrigen Steinmauer umgeben, mit einem Rasenstreifen, willkürlich angeordneten Eiben und verwitterten, namenlosen grauen Grabsteinen, stand sie da, Sinnbild der verzweifelten Hoffnung auf das ewige Leben.

Ich nahm an, daß sie in diesen normalbösen Zeiten außerhalb der Gottesdienste verschlossen sein würde, und ging ohne Erwartung den Kiesweg entlang, aber der alte Riegel schnappte mit einem vertrauten hohlen Klicken unter meinem Daumen zurück, und als ich die schwere Holztür aufstieß, empfing mich das muffige Geruchsgemisch von Gesangbüchern, Betkissen und Altarblumen, das ich als kleiner Junge für die Gegenwart Gottes gehalten hatte.

Eine ältere Frau, die gerade den Stapel Gesangbücher zurechtrückte, blickte sich um, als ich eintrat, und sagte: »Sie sind zu früh. Die Abendandacht ist erst in drei Stunden.«

Vielleicht könnte ich mich nur mal umsehen, schlug ich vor, und sie sagte, wenn ich leise sei, gäbe es dagegen nichts einzuwenden. Zehn Minuten, dann werde sie weggehen und das Licht löschen.

Ich setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie sie in der kleinen, turmartigen Kanzel herumhantierte und mit einem Staubwedel über das Messinggeländer fuhr, das für mich immer die Rampe der Kasperlebühne gewesen war, weil da von der Brust aufwärts auf einmal der Pfarrer in Sicht kam und klangvolle, unverständliche Verse deklamierte, die herrlich von den Wänden widerhallten.

Eigentlich wäre jetzt wohl ein Gebet angebracht gewesen, aber ich hatte mir das Beten abgewöhnt und empfand selten das Bedürfnis danach. Wenn es innerhalb dieser Mauern geistlichen Beistand gab, dann lag er für mich im Unvergänglichen und in der Stille, doch das war beides in zehn Minuten nicht zu erlangen.

Ich wanderte in den rückwärtigen Teil der Kirche und las die Inschrift auf der kleinen Messingplakette wieder, die unauffällig oben an ihrem Platz hing.

Paul Perry. Geburtsjahr und Todesjahr. Ruhe sanft.

Meine Mutter hatte den Pfarrer überredet, sie dort anbringen zu lassen, obwohl Paul Perry in Lambourn gelebt hatte. An jedem ersten Weihnachtstag hatte meine Mutter der Plakette eine Kußhand zugeworfen, und wenngleich ich das bei meiner Rückkehr jetzt nicht tat, wünschte ich ihm doch alles Gute, dem blutjungen Reiter, der mir das Leben geschenkt hatte.

Ich bedankte mich bei der alten Frau. An der Tür sei ein Klingelbeutel, sagte sie. Ich dankte ihr noch einmal, entrichtete meinen Obolus an die Vergangenheit und ging weiter die Straße hinunter, zu dem Bungalow, in dem wir gewohnt hatten.

Er sah natürlich klein aus und wirkte in dem wohlhabenden Dorf immer noch wie ein armer Verwandter. Der Anstrich war verwittert, der Garten öde, aber sauber, das Eingangstor, auf dem ich geschaukelt hatte, fehlte ganz. Ich blieb draußen stehen und fragte mich, ob ich versuchen sollte hineinzukommen oder nicht, doch im Haus würde alles anders sein, und ich würde Erklärungen abgeben müssen, und so nahm ich meine alten Erinnerungen schließlich unberührt wieder mit und schlenderte zurück zum Wagen.

Ehe ich fuhr, beschloß ich, noch einen Abstecher zum Ortsausgang zu machen, zum Stall der Eaglewoods, und obwohl Rennstallbesuche Sonntag nachmittags tabu waren, ließ ich den Wagen draußen stehen und wanderte hinein in der Hoffnung, falls mich jemand durchs Fenster erspähte, wie ein harmloser Tourist auszusehen, der sich verlaufen hatte. Ich wollte mich nur aus Nostalgie einmal kurz umschauen, weiter nichts - nur einmal sehen, ob ich mich dann besser an den so lange schon toten Jimmy erinnern könnte.

Tatsächlich hatte ich noch keine sieben Schritte auf den Hof getan, als mir auch schon jemand gebieterisch zurief: »Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«

Ich schwenkte herum. Die Stimme kam von einer dünnen Frau um die Vierzig in Jeans und Pullover, die auf einer Trittleiter stand und ein handgemaltes Schild an einer Stallmauer befestigte, leuchtend weiße Lettern auf frisch gebeiztem Holz: »Bitte die Pferde nicht füttern.«

»Ehm«, improvisierte ich. »Ich hatte gehofft, mit Mr. Eaglewood sprechen zu können.«

»Worüber?«

»Über eine Versicherung.« Das erste, was mir einfiel.

»Dafür haben Sie sich doch wohl eine völlig unmögliche Zeit ausgesucht. Außerdem ist unser Bedarf an Versicherungen gedeckt.« Sie betrachtete das Schild mit schräg geneigtem Kopf, nickte zufrieden und stieg die Leiter herab. Unten lehnten noch zwei gleichlautende Schilder an der Wand.

»Eine Versicherung für die Pferde«, sagte ich, schon zielbewußter.

»Gehen Sie bitte, ja? Sie verschwenden Ihre Zeit.«

Ein frischer Windhauch kühlte den dünnen Februarsonnenschein und wehte ihr das dichte hellbraune Haar übers Gesicht. Selbstsicher, ihres guten Aussehens bewußt, strich sie es zurück. Ihre Vitalität und natürliche Anziehung erzeugten ein ganz eigenes Kräftefeld. Auf mich zumindest wirkte sie sofort attraktiv. Sie versuchte die Leiter mit einer Hand zu packen und beide Schilder mit der anderen, und ich fing eines der Schilder auf, als es ihrem Griff entglitt.

»Danke«, sagte sie kurz. »Vielleicht können Sie’s mir tragen, obwohl Sie das keinen Schritt weiterbringt als bis zu der Mauer da drüben.«

Lächelnd folgte ich ihr über den Hof zu einer Stelle, wo knapp über Kopfhöhe zwei Haken in die alte Ziegelmauer geschraubt waren. Sie stellte die Leiter auf, stieg ein paar Sprossen hoch und bewegte das Schild, das sie getragen hatte, hin und her, bis die beiden Ringe auf der Rückseite in die Haken einrasteten. Als das Schild dann wie angedrückt an der Mauer hing, segnete sie es formell wieder mit einem Nicken ab und stieg herunter auf den Betonboden.

»Danke«, sagte sie. »Jetzt komme ich schon zurecht.«

»Ich bringe es dahin, wo Sie’s aufhängen wollen.«

Sie zuckte die Achseln, drehte sich um und ging mit mir durch einen Torbogen nach hinten, auf einen kleineren Hof, und sobald ich dort ankam, wußte ich wieder, wo der Heuspeicher war und wie man durch eine winzige Falltür auf einen Dachboden gelangte und auf die Stallburschen herunterschauen konnte, die nicht ahnten, daß Jimmy und ich da oben waren und ihnen nachspionierten. Sie machten nie etwas Schlimmeres, als in die Boxen zu pinkeln; lediglich das Geheimnis unseres Dabeiseins hatte es Jimmy und mir angetan.

Das dritte »Bitte die Pferde nicht füttern« wurde ebenfalls gut sichtbar an bereits eingeschraubten Haken aufgehängt.

»Einmal im Quartal führen Schulklassen hier Lern-projekte durch«, erklärte sie. »Wir bemühen uns zu verhindern, daß die Gören Zuckerzeug unter die Pferde verteilen. Schon weil sie dabei die Finger abgebissen kriegen können, was ich ihnen dauernd sage. Die kommen sich klug vor, wenn sie nicht hören.« Sie musterte mich von Kopf bis Fuß mit einem Blick, der wie ein Röntgenstrahl durch Fleisch und Geist zu gehen schien. »Was für eine Versicherung?«

»Lebensversicherungen für die Pferde.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das machen wir nicht. Das ist Sache der Besitzer.«

»Vielleicht würde Mr. Eaglewood -«

»Er schläft«, unterbrach sie. »Und ich bin die Geschäftsführerin. Ich verwalte die Finanzangelegenheiten. Wenn die Besitzer ihre Pferde versichern möchten, setzen wir sie mit einem Agenten in Verbindung. Sie brauchen nicht mit Mr. Eaglewood zu reden. Alles Derartige überläßt er mir.«

»Tja ... könnten Sie mir dann wohl sagen, ob Mr. Wynn Lees den Hengst versichert hatte, der vorigen September

hier im Koma gestorben ist?«

»Was?«

Ich wiederholte die Frage nicht, sondern beobachtete, wie hundertzwanzig Mutmaßungen ihr durch den Kopf sausten.

»Oder«, sagte ich, »ob das Pferd, das bei der Operation an den Luftwegen gestorben ist, von seinem Besitzer vorher versichert worden war? Und, ehm, dann die Röhrenfraktur - wie lange vor der tödlichen Operation am vorigen Donnerstag hat das Pferd sich die Verletzung zugezogen?«

Sie starrte mich sprachlos an, als traute sie ihren Ohren nicht.

»Ken McClure ist in großen Schwierigkeiten«, sagte ich, »und ich glaube nicht, daß er die selbst verschuldet hat.«

Sie fand ihre Stimme wieder, und es lag eher Neugier als Zorn darin.

»Wer sind Sie bitte?« fragte sie.

»Ein Freund von Ken.«

»Polizeibeamter?«

»Nein, bloß ein Freund. Die Polizei untersucht selten den anscheinend normalen Tod von Pferden.«

»Wie heißen Sie?«

»Peter Darwin.«

»Irgendwie verwandt mit Charles?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wer ich bin?« fragte sie.

»Die Tochter von Mr. Eaglewood?« fragte ich langsam zurück.

Ich hielt jeden Anflug eines Lächelns aus meinem Gesicht heraus, doch sie wußte zweifellos, in welchem Ruf sie stand.

»Was Sie auch über mich gehört haben«, sagte sie streng, »ändern Sie Ihre Meinung.«

»Hab ich schon.«

Das genügte ihr anscheinend, und auf jeden Fall hatte ich die Wahrheit gesagt. Ich hatte nicht den Grips erwartet.

»Wenn Sie mit Ken bekannt sind, wissen Sie auch, daß er ein Techtelmechtel mit meiner Tochter hatte«, sagte sie.

»Er mag sie«, sagte ich.

Sie zuckte gleichmütig die Achseln. »Izzy hat sich ihm an den Hals geworfen, das arme Ding. Sie ist ja erst siebzehn, halb so alt wie er. An sich hat er sie schon anständig behandelt. Sie ist da einfach rausgewachsen.«

»Er läßt nichts auf sie kommen ... und auf Sie auch nicht.«

Das klopfte sie zwar auf zynische Untertöne ab, schien es aber gern zu hören.

»Es ist windig hier draußen«, sagte sie, »und schon Abendstallzeit, bald rücken die Burschen an und machen Radau. Mein Vater wird rauskommen. Gehen wir beide doch ins Haus, damit wir uns ungestört unterhalten können.«

Ohne auf meine Zustimmung zu warten, zog sie mit der Leiter los, stellte sie in einen Schuppen und führte mich dann nicht zu dem großen hochragenden Haupthaus, sondern zu einem zweigeschossigen separaten kleinen Flügel, in dem sie, wie sie sagte, allein wohnte.

»Izzy ist irgendwo auf einem Musiklehrgang. Sie läßt sich viel zu leicht beeindrucken. Ich rechne stündlich damit zu erfahren, daß sie den vollkommenen Mann kennengelernt hat. Den vollkommenen Mann gibt es nicht.«

In punkto Einrichtung hegte sie eine Vorliebe für antikes Holz und klassische Stoffe, erzkonservativ; kühle Farbtöne, warme Zentralheizung. An den Wänden Ölgemälde, überwiegend Pferdemotive. Insgesamt eine Atmosphäre entspannten, angestammten Wohlstands.

Sie bot mir einen Sessel an und setzte sich auf die andere Seite des Kamins, die Beine in den blauen Jeans übereinandergeschlagen, Telefon und Adreßbuch auf einem Tischchen neben sich.

»Mit Wynn Lees rede ich auf keinen Fall, wenn ich nicht muß«, sagte sie. »Wir trainieren nicht mehr für ihn, und ich will ihn nicht auf dem Hof haben. Mir ist unbegreiflich, wie mein Vater überhaupt dazu kam, den Hengst für ihn auszubilden, er kannte ja seinen Ruf. Aber der Hengst ist doch an Krämpfen gestorben, oder? Zumindest hat Ken ihn einschläfern müssen.«

»Ken sagte, dieser Hengst sei nicht versichert gewesen. Wissen Sie, ob es die beiden anderen waren?«

»Davon habe ich nichts gehört.« Sie nahm den Telefonhörer ab, sah eine Nummer nach, tippte sie in die Tasten und fragte den Besitzer des an den Luftwegen operierten Pferdes selbst, ob er es versichert hatte. Das Gespräch wirkte freundlich und ruhig, und offenbar war das Pferd nicht versichert. Sie wiederholte die Anfrage bei dem Röhrbein-Besitzer, mit dem gleichen Ergebnis.

»Drei Tage lagen zwischen dem Röhrbeinbruch und der Operation«, sagte sie. »Es war eine Belastungsfraktur infolge eines Rennens. Zuerst schien das Pferd in Ordnung zu sein, aber am nächsten Tag lahmte es schwer. Ken kam mit einem tragbaren Röntgengerät vorbei und teilte uns die schlechte Nachricht mit. Mein Vater besprach das mit Ken und Carey, und die meinten beide, das Bein könne zusammengeschraubt und das Pferd gerettet werden. Der Besitzer willigte ein, die Kosten dafür zu tragen, weil das Pferd nicht kastriert war und in die Zucht genommen werden konnte, wenn es nicht wieder in Form kam. Diese beiden Pferde sind also einfach im Spital hopsgegangen. Sie waren nicht versichert. Mein Vater und alle anderen nehmen an, daß Ken zumindest nachlässig, wenn nicht regelrecht fahrlässig gewesen ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm bei einer schwierigen und sehr kritischen Operation an einer Stute zugesehen und weiß, daß er nicht schludern oder fahrlässig sein könnte. Er ist bei jedem Handgriff ausgesprochen sorgfältig.«

Sie dachte eine Weile darüber nach.

»Wollen Sie ernstlich behaupten«, fragte sie, »daß jemand diese beiden Todesfälle geplant und arrangiert hat?«

»Ich versuche das herauszufinden.«

»Und Ken hat keine Ahnung, wie?«

»Noch nicht.«

»Aber zu welchem Zweck denn, wenn es nicht wegen der Versicherung war?«

Ich seufzte. »Vielleicht, um Ken in Mißkredit zu bringen.«

»Und warum?«

»Das weiß er nicht.«

Sie sah mich grübelnd an. Ich fand, sie hatte eine Menge Glückspilze gekannt, wenn die Gerüchte stimmten.

»Natürlich«, sagte sie schließlich, »könnte auch jemand anders als der Besitzer die Pferde versichert haben.«

»Wie das?« fragte ich.

»Wir hatten mal einen Besitzer, der seine Rechnungen nicht zahlte. Schließlich nahmen seine Schulden bei uns überhand. Seine Geschäfte liefen nicht gut, er konnte das Geld nicht auftreiben. Sein wertvollstes Stück war das Pferd, das wir für ihn trainierten, und es kam so weit, daß wir das Pferd zum Ausgleich für unsere Rechnungen hätten einfordern können, aber um an das Geld zu kommen, hätten wir es verkaufen müssen, und mein Vater, der ihm den Sieg in der Grand National zutraute, wollte sich nicht von ihm trennen. Können Sie mir folgen?«

»Ja«, sagte ich.

»Nun, es sollte in ein Vorbereitungsrennen gehen, und bekanntlich sind Pferde nicht gegen Unfälle gefeit, und ich hatte so ein ungutes Gefühl, deshalb versicherte ich es am Tag vor dem Rennen so hoch, daß der Betrag, den uns der Besitzer schuldete, locker abgedeckt war - und entscheidend ist, ich hatte dem Besitzer nichts davon gesagt.«

»Und ist das Pferd umgekommen?«

»Nicht bei dem Rennen. Das hat es gewonnen. Es kam auf der Rückfahrt durch einen Unfall auf der Autobahn ums Leben.«

Ich gab einen mitfühlenden Ton von mir.

Sie nickte. »Das Pferd konnte uns niemand zurückgeben. Der Besitzer war platt, als ich ihm von der Versicherung erzählte. Ich hatte sie in seinem Namen abgeschlossen, und von Rechts wegen hätte er wahrscheinlich das ganze Geld kassieren und uns leer ausgehen lassen können, doch er war ehrlich, nur eben pleite, und hat gezahlt, was er uns schuldete. Aber ich hätte das Pferd auch versichern können, ohne ihm je ein Wort davon zu sagen, und den ganzen Zaster selbst einstecken können.«

Ich holte langsam und tief Atem. »Danke«, sagte ich.

»Es könnte sein«, sagte sie, »daß die Versicherungsgesellschaft prüft, ob der Name auf der Police mit dem Namen des eingetragenen Besitzers übereinstimmt, und selbst das ist nicht sicher, aber sie würde niemals jeden einzelnen Besitzer anrufen, um sich zu vergewissern, daß er von der Versicherung weiß und sie auch wirklich wünscht.«

»Es sei denn«, sagte ich, »sie wäre mißtrauisch geworden.«

»Bei uns hat sich noch nie eine Versicherungsgesellschaft nach einem Besitzanspruch erkundigt.« »Also«, sagte ich und wollte mich erheben, »ich kann Ihnen gar nicht genug danken .«

»Möchten Sie was trinken?«

Ich horchte sorgfältig auf Beiklänge, auf Untertöne, aber da waren keine.

»Herzlich gern«, sagte ich.

»Scotch oder Wein?«

»Beides gut.«

Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fließend. Sie stand auf, ging zu einem Tablett mit Flaschen auf einem Tisch und kam mit zwei Gläsern voll dunklem, gerbstoffreichem Bordeaux zurück. Ein Wein wie die Frau, dachte ich. Beständig, erdig, reif, voller Körper.

»Wie lange sind Sie mit Ken bekannt?« fragte sie, als sie sich wieder hinsetzte.

Ich dachte, »vier Tage« wäre vielleicht unangebracht, deshalb sagte ich bloß: »Die Mutter seiner Verlobten kenne ich schon länger«, was ja zutreffend, wenn auch nicht ehrlich war.

»Belinda!« sagte meine Gastgeberin verwundert. »Diese herrische Krankenschwester. Sie wäre die letzte, die ich für ihn ausgesucht hätte.«

»Sie ist gar nicht so übel.«

Sie zuckte die Achseln. »Na ja, wenn sie glücklich sind.«

Ich trank einen Schluck Wein. »Die haben etwas von einem Jungen gesagt, der vor langer Zeit hier gewohnt hat. Jimmy, nicht wahr?«

Ihr Gesicht wurde weicher, und sie sagte traurig: »Ja, mein kleiner Bruder. Ein ziemlich wildes Kerlchen war das.«

Ich hoffte im stillen, sie würde weiterreden, und nach einem Augenblick tat sie es auch. »Er hat immer mit einem Jungen aus dem Dorf Blödsinn gemacht. Sie kriegten Ärger, weil sie die Eisenbahn mit Steinen beworfen hatten, und ein Polizist in Uniform kam, um Jimmy die Meinung zu sagen, und am nächsten Tag ist er von einem Lastwagen überfahren worden und bald darauf gestorben, ohne noch mal das Bewußtsein wiederzuerlangen.« Sie lächelte zärtlich. »Seltsam, aber manche Sachen kommen einem immer so vor, als wären sie erst gestern passiert.«

»Mhm.«

»Ich war zehn Jahre älter als Jimmy. Mein Vater hatte sich immer einen Sohn gewünscht, und er ist nie darüber hinweggekommen.« Sie schüttelte sich plötzlich. »Ich weiß nicht, warum ich Sie damit belaste.«

»Ich hatte gefragt.«

»Stimmt.«

Ich war versucht, ihr zu sagen, daß ich der Junge aus dem Dorf war, doch da ich immer noch glaubte, die Anonymität von Peter Darwin, Diplomat, könnte mir bei der Entwirrung von Kens Schwierigkeiten förderlich sein, ließ ich den Augenblick verstreichen. Sie fragte mich schließlich, wovon ich lebte, und ich sagte es ihr, und sie erkundigte sich nach Japan und seinen Eigenarten.

»Alles Mögliche wird aus Papier und Holz gemacht«, sagte ich, »weil Bäume ja wieder nachwachsen. Sie sind ein sparsames, ordentliches Volk, das ständig Gefühle unterdrückt, weil ihnen der Platz zum Herumtoben fehlt. Ihre Häuser sind winzig. Sie arbeiten unermüdlich. Es ist eine von Männern beherrschte Gesellschaft, und Golf kommt als praktizierte Religion gleich hinter Shinto.«

»Aber Sie sagen das mit Respekt.«

»O ja. Und mit Zuneigung. Ich habe viele Freunde dort zurückgelassen.« »Gehen Sie denn noch mal rüber?«

»Wenn man mich schickt.«

Sie sagte mit weltläufiger Belustigung: »Gehen Sie immer brav dahin, wohin man Sie schickt?«

»Das gehört zum Dienstverhältnis und ist für mich normal, deshalb ist die Antwort ja.«

»Fände ich grauenhaft. Ich schlage schon nach einer Nacht in einem Hotelzimmer Wurzeln.«

Sie füllte unsere Gläser nach und redete weiter, knipste Tischlampen an und zog Vorhänge zu, als es dunkler wurde. Ich dachte, ich sollte eigentlich gehen, traf aber keine Anstalten dazu und entdeckte auch in ihrem Verhalten keine Entlassungsmanöver.

Klug ist der Mann, dachte ich, der weiß, wann er verführt wird.

Als die Flasche zur Neige ging, kam die Zeit der Entscheidung. Sie hatte keinen offenen Vorschlag gemacht, auch wenn alle erdenklichen Möglichkeiten jetzt nahezu greifbar in der Luft hingen. Ich ging in Gedanken die verschiedenen Formen verbaler Einladung durch und kam zu der, die am wenigsten sentimental, am wenigsten lüstern, am humorvollsten und am leichtesten abzulehnen war.

In der anhaltenden, von Lächeln erfüllten Stille lehnte ich mich im Sessel zurück und sagte beiläufig: »Na, wie ist es, gehn wir pudern?«

Sie lachte. »Ist das die am Auswärtigen Amt übliche Ausdrucksweise?«

»Hört man in Botschaften andauernd.«

Sie hatte schon lange die Absicht gehabt, und ich hatte sie nicht mißverstanden.

»Keine Bedingungen«, sagte sie. »Man trifft sich, man trennt sich.«

Ich nickte.

»Eins höher«, sagte sie knapp und nahm mein Glas mit. So gingen Russet Eaglewood und ich ausgiebig und bedingungslos pudern, und es stimmte alles, ein Schlüpfer war nirgends in Sicht.

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