Kapitel 8

Am nächsten Morgen, Montag, fuhr ich zur Klinik, um mich mit Ken im Büro zu treffen, und stellte fest, daß er fortgerufen worden war, um eine akute Hufrehe zu behandeln.

Diese Auskunft kam von Oliver Quincy, der den Platz eingenommen hatte, den er am meisten begehrte, den Polsterstuhl hinter dem Schreibtisch.

»Danach«, sagte Quincy, »steht eine Luftröhren-OP auf Kens Terminplan und heute nachmittag eine Überweisung von einer anderen Praxis, sofern die keinen Rückzieher machen - Ihre Wünsche also in Ehren, aber Sie müssen bis zur nächsten Katastrophe warten.«

Er war nicht besonders freundlich: Die trostspendende Gemütlichkeit sollte nicht an den erklärten Verbündeten des Mannes verschwendet werden, den er an die Luft zu setzen gedachte.

»Was haben Sie eigentlich gegen Ken?« fragte ich.

»Das wissen Sie doch ganz genau. Er pfuscht.«

»Er ist ein guter Chirurg.«

»War er mal.« Er starrte mich abschätzend an. »Sie haben ihn nur einmal operieren sehen. Sie wissen nichts. Sie können das nicht beurteilen. Er hätte das Röhrbein am Donnerstag nicht sterben lassen dürfen.«

»Sie waren doch dabei. Hätten Sie das verhindern können?«

»Natürlich nicht. Nicht mein Fall. Ich würde mich nicht in den Fall von jemand anders einmischen.«

»Was glauben Sie, woran das Pferd gestorben ist?«

Er starrte mich weiter an und gab keine Antwort. Wenn er

es wußte, wollte er es nicht sagen. Hatte er gewußt, wie es sich verhindern ließ, dann hatte er Ken nichts davon gesagt. Da ich keinen gesteigerten Wert auf seine Gesellschaft legte, schlenderte ich wieder hinaus auf den Parkplatz und beobachtete eine Weile das Kommen und Gehen bei der gutbesuchten Kleintiersprechstunde im Container.

Belinda arbeitete dort: Ich konnte sie in ihrem weißen Laborkittel sehen, da sie hin und wieder zum Eingang kam, um Leuten, die mit Katze oder Hund beladen waren, die Stufen hinauf- oder hinunterzuhelfen.

Die Polizei hatte auf der Rückseite des abgebrannten Gebäudes eine Schranke errichtet, um leichtsinnige Gaffer abzuschrecken. Am anderen Ende der Auffahrt suchte die Obrigkeit, wie ich sah, mit unermüdlichem Eifer noch nach Schuldbeweisen.

Drüben bei den Stallboxen wurde unter Scotts Aufsicht ein ungebärdig die Nüstern blähendes und mit dem Kopf schlagendes Pferd aus einem Transporter geladen, ein Pferd voller Schwung und Energie, das nicht im mindesten krank aussah. Ein Stallbursche brachte es in eine der leeren Boxen und sperrte es ein, ließ aber die obere Hälfte der Tür offen. Sofort erschien der Kopf des Pferdes dort, um das Treiben draußen zu beobachten.

Ich schlenderte hin, als der Transporter samt Stallbursche vom Parkplatz herunterfuhr, und fragte Scott, ob sich der Zustand der Stute weiterhin gebessert habe.

»Der geht’s gut«, sagte er. »Ihr Besitzer ist gerade bei ihr.«

»Bloß nicht!« rief ich erschrocken.

Scott, der darin keine Gefahr sah, sagte achselzuckend: »Das ist doch sein gutes Recht. Sie gehört ihm.«

Die obere Türhälfte an der Box der Stute stand ebenfalls offen, und ich ging unverzüglich hin und sah hinein.

Wynn Lees stand da und betrachtete kritisch den dicken Bauch der Stute, wobei er das Becken so vorstreckte, daß er selber einen dicken Bauch bekam. Er sah, wie sich durch meine Ankunft an der Tür das Licht änderte, und drehte sich fragend nach mir um, vorweg schon einen finsteren Ausdruck in dem fleischigen Gesicht.

Er hatte mich vom Freitag morgen nur schwach als eine Art Assistent in Erinnerung. Er brachte mich wie immer auf die Palme.

»Holen Sie Carey her«, sagte er trotzig. »Ich bin gar nicht zufrieden.«

Ich wandte mich ab und fragte Scott, wo Carey zu finden sei. Im Container, bei der Sprechstunde, sagte Scott, also ging ich dorthin und überbrachte die Botschaft.

»Was will er denn?« fragte Carey, als er mit mir zurückging.

»Er sagte, er sei nicht zufrieden.«

»Verdammte Nervensäge, daß er einfach so antanzt.«

Er trat in die Box der Stute, doch alles, was ich von der Unterhaltung mitbekam, waren Bemerkungen über die Weiterbehandlung mit Antibiotika, das Entfernen der Klammern und die näher rückende Geburt des Fohlens. Kurz darauf kamen beide Männer heraus, nicht gerade als ob sie einander besonders zugetan wären, und der eine fuhr mit seinem Rolls weg, der andere kehrte zu seinen Kranken zurück.

Scott und ich blickten über die Tür auf die Stute, die ruhig und unbekümmert wirkte, und Scott beschloß, sie in die Box am Ende der Reihe zu verlegen, damit die Beobachtungsbox für die neuen Patienten frei wurde. Ich ging mit ihm, als er das große trächtige Tier am Halfter führte, und stellte wieder eine Frage.

»Als am Donnerstag das Pferd mit dem Röhrbein starb«, sagte ich, »ist Ihnen da etwas Ungewöhnliches an der Kurve auf dem Bildschirm aufgefallen? An dem Elektrokardiogramm, meine ich.«

»Nichts, was ich nicht schon mal gesehen hätte. Nichts Beunruhigendes.«

»Hm ... und haben Sie so ein EKG schon oft gesehen?«

»Oft genug. Hören Sie«, er klang gekränkt, »will Ken vielleicht behaupten, es sei meine Schuld, daß das Pferd gestorben ist? Das muß ich ganz entschieden von mir weisen.«

Ich sagte beschwichtigend: »Ken sagt, Sie sind ein sehr guter Anästhesist.«

»Und überhaupt hat außer mir doch auch Oliver den Schirm beobachtet, wie Sie wissen.«

»Mhm.«

Ich dachte an meine eigene Wache vor dem Monitor zurück. Mich hatte nur die Stärke und Regelmäßigkeit der Herzschläge interessiert, nicht der genaue Verlauf der Kurve. Sie hätte sich schon in eine Reihe von Donald Ducks verwandeln müssen, sonst wäre mir nichts aufgefallen, und allem Anschein nach war die angenommene Veränderung so fein gewesen, daß nicht einmal Ken sie registriert hatte, bis ich Tage später seinem Gedächtnis auf die Sprünge half.

Scott führte die Stute in die Box und riegelte die untere Hälfte ihrer Tür zu, und ehe mir noch etwas einfiel, was ich ihn hätte fragen können, fegte ein kleiner unbe-schrifteter weißer Lieferwagen auf den Parkplatz und kam mit einem Ruck zum Stehen. Scott warf einen verächtlichen Blick darauf und setzte seine Muskelberge in Bewegung, um den Fahrer zu begrüßen.

»Ganz schön Zeit gelassen, was?« sagte er.

»Jetzt hören Sie mal zu, Kumpel ...« Der Fahrer sprang streitlustig heraus. »Mein Leben ist ein einziger langer Notruf, und ich hab’s gern, wenn man das anerkennt.«

Carey kam in seinem weißen Kittel eilends wieder aus dem Container, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet, und ließ dem Lieferwagenfahrer alle Wertschätzung zuteil werden, auf die der Mann ein Anrecht zu haben glaubte.

»Gut. Gut. Wunderbar«, sagte er und trat an die Hecktür des Wagens. »Schaffen Sie das alles ins Klinikbüro. Auspacken und verteilen können wir es dann selbst.«

Wie sich herausstellte, brachte der Lieferwagen Ersatz für die beim Brand der Apotheke zerstörten Grundbestände. Das erinnerte mich an den vorangegangenen Morgen im Container, und ich ging zu Carey hin und unterbreitete ihm meinen Vorschlag, wie sich die von der Polizei gewünschte »Verlust«-Liste erstellen ließe.

»Ich dachte mir«, sagte ich schüchtern, »wenn Sie alle Ihre Lieferanten bitten würden, Ihnen Kopien von den Rechnungen etwa der letzten sechs Monate zu schicken, oder welcher Zeitraum Ihnen sonst vernünftig erscheint, dann bekämen Sie doch eine ziemlich genaue Übersicht, den Tages- oder Wochenbedarf natürlich abgerechnet.«

Er sah mich so lange abwesend an, daß ich mich schon fragte, ob er wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, doch dann wurde sein Blick klar und erfaßte die Situation.

»Gute Idee. Ja. Eine Gesamtaufstellung vom Großhändler, dann brauchen wir uns nicht das Hirn zu zermartern. Ich wußte zuerst nicht, was Sie meinten. Ken soll sich darum kümmern, ja?«

Er eilte hinter dem Fahrer her, der stapelweise Kartons in die Klinik brachte, und ich dachte kläglich, daß Ken mir für die Mehrarbeit nicht danken würde. Ich ging ebenfalls ins Büro und fand dort Scott, der den Inhalt jedes eintreffenden Kartons sorgfältig prüfte und ihn auf einem mehrere Seiten langen Lieferschein abhakte.

Oliver Quincys Beitrag zu dieser Aktion war gleich Null. Er warte auf ein Entwurmungspulver, brummte er, ohne das er seinen ersten Hausbesuch heute morgen nicht antreten könne. Sobald es gefunden und abgehakt war, nahm er sich, was er brauchte, und verschwand, wobei Carey seiner Rückansicht einen verwundert-enttäuschten Blick nachsandte.

In diesem Moment kehrte Ken zurück und rauschte hocherfreut über den Medikamentennachschub zur Tür herein.

»Ist das Luftröhrenpferd gekommen?« fragte er.

»Steht draußen in der Box«, nickte Scott.

»Ich dachte, sie würden’s vielleicht abblasen.«

Carey räusperte sich. »Leider hab ich ihm gesagt ... ich meine, ich mußte dem Besitzer versprechen, daß ich, ehm ... mich um den Eingriff kümmern werde.«

Ken fragte: »Heißt das, Sie wollen die Operation selbst vornehmen?«

»Nein. Nein. Nur assistieren.« Seinem Tonfall nach hatte da aber nicht viel gefehlt.

Ken schluckte diese Beleidigung seiner Kunstfertigkeit als weitere bittere Pille in der für ihn zunehmend schwierigen Lage hinunter und bat mich, ebenfalls mit dabeizusein und Protokoll zu führen.

Scott blickte erstaunt, Carey meinte, das sei doch nicht nötig, Ken blieb stur. »In Ordnung?« fragte er mich, und ich sagte: »Ja«, und es war abgemacht.

Lucy Amhurst kam auf der Jagd nach den neuen

Medikamenten herein und nickte mir wohlwollend zu.

»Was macht die Spurensuche?«

»Stein für Stein«, sagte ich. »Das dauert.«

»Was für eine Spurensuche?« fragte Carey.

»Schon vergessen?« sagte Lucy. »Wir haben ihm gestern morgen doch grünes Licht gegeben. Er soll sehen, was er für Ken tun kann. Ach nein«, rief sie aus, »Sie waren ja nicht dabei.« Ich nahm an, daß ihr jetzt gerade die Anti-Carey-Unterhaltung einfiel, denn ihre Wangen röteten sich. »Wir dachten, es könnte nichts schaden, wenn Peter mal sieht, was er herausbekommt, und ob Ken damit zu helfen ist.«

»Nein, das ist prima«, nickte Carey. »Ganz meine Meinung.«

Zu mir sagte er: »Nur weiter. Tun Sie Ihr Bestes. Amateurdetektiv!«

»Er ist Staatsbeamter«, sagte Lucy.

»Ein Schnüffler«, fügte Scott hinzu, den Ausdruck von Jay Jardine übernehmend.

Carey zog belustigt eine Braue hoch, meinte zu mir, der Schimmel sei hoffentlich noch auf Trab, und kehrte zu seinen Hunden und Katzen zurück, indem er Ken bat, ihm Bescheid zu geben, wenn alles für die Operation bereit sei.

»Schimmel?« fragte Scott verständnislos, als er fort war.

»Amtsschimmel«, sagte ich.

»Oh.«

Lucy, die weise Frau, machte den Vorschlag, Ken und Scott sollten die Medikamente an einem sicheren Platz unterbringen, nahm sich dann, was sie selbst davon benötigte, und folgte Carey.

»Schreiben Sie auf, wer was entnimmt?« fragte ich.

»Normalerweise schon«, sagte Ken. »Wir haben ein Buch dafür. Hatten eins.« Er seufzte. »Jeder von uns hat auch einen Vorrat im Auto, wie Sie wissen. Ich könnte nie genau sagen, was da drin ist.«

Er beschloß, alles auf die Regale in einem der Lagerräume zu stellen, da der Arzneischrank zu klein war, und ich half ihm und Scott, die Kartons hinüberzuschaffen und sie systematisch zu ordnen.

Ich hätte gern für eine Stunde Kens ungeteilte Aufmerksamkeit gehabt, bekam sie jedoch nicht. Er setzte sich in den Polsterstuhl und bestand darauf, sich Notizen über das an Hufrehe leidende Hindernispferd zu machen, das er gerade untersucht hatte.

»Komisch«, unterbrach er sich und blickte zu mir auf, »die sagen, gestern war das Pferd noch ganz in Ordnung.«

»Ja, und?« fragte ich.

»Das hat mich an etwas erinnert .« Er brach ab, zog die Stirn kraus und redete langsam weiter. »Durch Sie sehe ich die Dinge jetzt anders.«

Nun mal raus damit, dachte ich, half aber eher behutsam nach.

»Woran hat es Sie erinnert?«

»An ein anderes Springpferd von Nagrebb.«

»Ken.« Etwas von meiner Ungeduld mußte wohl zutage getreten sein, denn er zog die Schultern hoch und sagte, was ihm auf der Seele lag.

»Einer von Nagrebbs Springern hatte Hufrehe ...«

»Was ist denn Hufrehe genau?«

»Eine Entzündung der Huflederhaut, das ist eine Gewebeschicht zwischen der Hufwand und dem Fußknochen. Manchmal flammt sie auf, und die Betroffenen humpeln herum, dann wieder scheinen sie völlig in Ordnung zu sein. Die Krankheit macht sie steif. Führt man das Tier, bewegt man es, dann gibt sich die Steifheit, aber sie kommt immer wieder. Na, jedenfalls hat eins von Nagrebbs Pferden die Rehe gekriegt, und Nagrebb war verärgert, daß ich es nicht kurieren konnte. Eines Tages ließ er mich dann kommen, im vorigen Herbst, und da lag dieser Springer auf der Weide und konnte sich buchstäblich nicht mehr rühren. Nagrebb sagte, er habe das Pferd über Nacht draußen gelassen, da es warm genug war, und es am Morgen in diesem Zustand akuter Rehe vorgefunden. Jetzt waren nicht, wie vorher, nur die beiden Vorderfüße entzündet, sondern alle vier Hufe. Das arme Tier konnte sich wie gesagt einfach nicht mehr bewegen. Ich hatte Nagrebb geraten, ihm nicht zuviel Gras zu geben, da es davon immer schlimmer wird, aber er hatte es trotzdem auf die Weide gelassen. Ich sagte ihm, wir könnten versuchen, das Pferd zu retten, obwohl ihm die Füße regelrecht aus dem Leim gingen und ich auch nicht verhehlte, daß die Prognose sehr schlecht war. Nagrebb beschloß, es von seinem Elend zu erlösen, und rief sofort den Abdecker. Dank Ihnen habe ich jetzt so meine Zweifel ... aber das würde selbst Nagrebb nicht machen ... aber da ist diese Sehne ...«

»Ken!« sagte ich.

»Schon gut. Also, es wäre nämlich recht einfach, einem Pferd Hufrehe anzuhängen.«

»Wie denn?«

»Man braucht lediglich eine Sonde in den Schlund einzuführen und ihm so drei, vier Liter Zuckerlösung in den Magen zu gießen.«

»Was -?«

Er kam der Frage zuvor. »Mehrere Pfund in Wasser gelöster Zucker, dick wie Sirup. Zucker oder sonstige

Kohlehydrate in großer Menge würden innerhalb weniger Stunden zu einer sehr schweren Hufrehe führen.«

Gott, dachte ich. Endlos, die möglichen Schurkereien.

»Das Gegenteil von Insulin«, sagte ich.

»Bitte? Ja, wahrscheinlich. Aber der Insulin-Hengst war von Wynn Lees und stand bei den Eaglewoods.«

»Sie sagten, es wäre ziemlich einfach, einem Pferd einen Schlauch in den Schlund einzuführen«, bemerkte ich. »Für mich wär’s das nicht.«

»Ein Kinderspiel für Nagrebb. Er könnte es mit einer Nasenbremse machen. Eine Nasenbremse ist .«

Ich nickte, denn was das war, wußte ich. Eine Nasenbremse war ein Holzstück mit einer kurzen Schnurschlinge, die man einem Pferd an der weichen Nasenspitze und der Oberlippe anlegte. Ein auf diese Weise fixiertes Pferd hielt still, weil jede Bewegung schmerzhaft war.

»Wenn er das getan hat«, sagte ich, »läßt es sich unmöglich nachweisen.«

Ken nickte düster. »Und welchen Sinn hätte es gehabt?«

»Versicherung«, sagte ich.

»Andauernd kommen Sie mir mit der Versicherung.«

Ich zog ein paar zusammengefaltete Bogen Papier aus meiner Tasche und sagte, ich wolle ihm eine Liste zeigen.

»Nein, jetzt nicht. Später. Ich möchte einfach meine Notizen noch vor der OP abschließen. Ich hätte nicht so viel Zeit verplempern sollen. Zeigen Sie mir die Liste nachher, okay?«

»Okay.« Ich sah ihm eine Zeitlang beim Schreiben zu und fragte dann, ob ich mal das Telefon benutzen dürfe. Zum Zeichen der Einwilligung wies er darauf, und ich führte ein R-Gespräch mit dem Auswärtigen Amt.

Es dauerte eine Weile, bis der richtige Schreibtisch erreicht war. Ich wollte Bescheid geben, daß ich in England sei, sagte ich. Wann bitte sollte ich in Whitehall antreten?

»Ah.« Hörbares Durchblättern von Papieren. »Da haben wir’s. Darwin. Vier Jahre Tokio. Acht Wochen zustehender Urlaub.« Ein Räuspern. »Wann wären die vorbei?«

»Heute in drei Wochen.«

»Gut.« Erleichterung über die genaue Angabe. »Sagen wir also ... ehm, heute in drei Wochen. Ich notiere das.«

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache.«

Lächelnd legte ich den Hörer auf. Sie hatten mir vierzehn Tage mehr als erwartet gegeben, und das bedeutete, ich würde die Rennen in Cheltenham, die in die letzte Woche fielen, besuchen können, ohne meine Pflichten zu vernachlässigen.

Ken war mit seinen Notizen fertig geworden.

»Noch ein ganz schnelles?« fragte ich und griff zum Hörer.

»Klar. Dann fangen wir an.«

Ich fragte die Auskunft nach dem Jockey-Club und den Jockey-Club nach Annabel.

»Annabel?«

»In der PR-Abteilung.«

»Bleiben Sie dran.«

Bemerkenswerterweise war sie da.

»Hier ist Peter«, sagte ich. »Was machen die Japaner?«

»Die reisen heute ab.«

»Gehen Sie morgen abend in London mit mir essen?«

»Morgen kann ich nicht. Wie wär’s mit heute abend?«

»Wo finde ich Sie?«

Sie hörte sich belustigt an. »>Daphne’s Restaurant< Draycott Avenue.«

»Um acht?«

»Bis dann«, sagte sie. »Muß mich beeilen.« Die Verbindung brach ab, bevor ich noch Wiedersehn sagen konnte.

Ken beobachtete meinen Gesichtsausdruck. »Zwei gute Nachrichten an einem Morgen! Wie ein Kater, der das Goldfischglas umgekippt hat.« Plötzlich fragte er mich bestürzt: »Sie reisen doch nicht ab, oder?«

»Noch nicht.« Da seine Bestürzung blieb, setzte ich hinzu: »Nicht, solange ich behilflich sein kann.«

»Ich verlasse mich auf Sie«, sagte er.

Ich hätte sagen können, daß das, was ich machte, mir vorkam, als ob ich auf der Suche nach einem roten Schnipsel durch einen Konfettiregen wanderte, aber damit hätte ich seine Sorgen nur vermehrt. Wahrscheinlich wäre es ihm gar nicht so unrecht gewesen, wenn sein Patient heute morgen nicht erschienen wäre, denn trotz seines Erfolges mit der Zuchtstute sah er wieder blaß und unruhig aus.

Die Operation verlief jedoch von Anfang bis Ende glatt. Carey sah aufmerksam zu. Und ich führte Protokoll. Scott und Belinda fungierten geschickt als Kens Satelliten, und dem tänzelnden Pferd, das jetzt fest schlief, wurde der Kehlkopf gerichtet und erweitert, damit es besser atmen konnte.

Hinter der schützenden Trennwand im Ruheraum stehend, beobachteten wir, wie es zu sich kam, während Scott das durch den Wandring geführte Seil hielt, um das Tier im Gleichgewicht zu halten. Es stand mit wackligen Beinen auf und sah jämmerlich aus, aber ganz entschieden lebendig.

»Gut«, sagte Carey, schon auf dem Weg zum Büro. »Ich habe versprochen, den Besitzer anzurufen.«

Ken warf mir einen kläglich-erleichterten Blick zu, und er und ich streiften unsere Kittel ab und ließen Scott und Belinda allein, die den Operationssaal für die Nachmittagsschicht herrichteten und weiter den Patienten im Auge behielten.

»Sie arbeiten hier alle schwer«, bemerkte ich.

»Wir sind unterbesetzt. Wir könnten ein paar Kulis gebrauchen. Möchten Sie eine Dauerstellung?«

Er erwartete keine Antwort. Wir gingen ins Büro, wo Carey eben die Erfolgsmeldung durchgab, und als Carey gegangen war, sagte er schließlich, es sei Zeit für meine Liste. Ich holte sie aus der Hosentasche, strich sie auf dem Schreibtisch glatt, da sie schon ganz zerknittert war, und fügte ihr eine Zeile hinzu. Wir setzten uns nebeneinander, und ich erklärte ihm, was er sah.

»In der linken Spalte«, sagte ich, »stehen die Besitzer und Trainer, deren Pferde unter gelinde gesagt fragwürdigen Umständen gestorben sind. In der zweiten Spalte steht, wie und woran sie jeweils gestorben sind oder auch nicht. In der dritten Spalte ... tja.«

Ken sah sich die dritte Spalte an und protestierte sofort, da alle seine Partner sowie Belinda und Scott dort namentlich aufgeführt waren.

»Die haben nichts damit zu tun«, beharrte er.

»Gut. Dann sehen Sie sich Spalte eins und zwei an, okay?«

»Okay.«

Ich hatte in Tabellenform geschrieben:

Wynn Lees/ Eaglewood Hengst mit Insulin:

Im Stall eingeschlafen

Wynn Lees/ Gestüt Vernonside Mackintosh

Mackintosh

Eaglewood

Eaglewood

Fitzwalter

Nagrebb

Nagrebb

Zuchtstute/Nadel:

(Lebt)

Kolik durch Atropin?

Bei OP gestorben Kolik durch Atropin?

Bei OP gestorben Atemwege Bei OP gestorben Röhrbein:

Bei OP gestorben Knieverletzung:

In Intensivpflege gestorben Springpferd / zerstörte Sehne: Auf OP-Tisch eingeschläfert Springpferd/Hufrehe:

Auf Weide eingeschläfert

»Puh«, sagte Ken nachdenklich beim Durchlesen.

»Gibt es noch andere?«

»Nicht daß ich wüßte.« Er hielt inne. »Wir hatten eins, das sich das Bein gebrochen hat, als es nach einer gelungenen Kolikoperation aus der Narkose erwachte und um sich schlug. Sie haben jetzt zwei ordentliche Aufwacher gesehen. Es geht nicht immer so ruhig dabei zu. Wir mußten dieses Pferd einschläfern.«

»Die Pferde, die bei der OP gestorben sind«, bemerkte ich, »könnten alle bestellt gewesen sein.« Ich kam seinem Einwand zuvor. »Wenn zwei Tiere Atropin bekommen haben, dann war der Zeitpunkt dafür gewählt. Das waren keine Notfälle, die sich zufällig ergeben haben.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Die Kehlkopf-OP war lange im voraus gebucht«, sagte ich, »und der Röhrbeinbruch geschah drei Tage bevor Sie ihn eingerichtet haben.«

»Woher wissen Sie das?« fragte er überrascht. »Ich dachte, es wäre am Tag vorher passiert.«

»Es war ein Belastungsbruch von einem Rennen am vorigen Montag.«

»Woher wissen Sie das?« wiederholte er verblüfft.

»Ich ... ehm, ich bin gestern nachmittag beim Eaglewood-Stall vorbeigefahren und hab gefragt.«

»Sie haben was? Hat Sie der alte Eaglewood nicht rausgeworfen?«

»Ich habe ihn nicht gesehen. Jemand auf dem Stallhof hat es mir gesagt.«

»Großer Gott.«

»Die Todesfälle im OP wurden also sehr wahrscheinlich alle vorsätzlich herbeigeführt, und es ist Ihre Sache, herauszufinden, warum.«

»Aber ich weiß es doch nicht.« Seine Verzweiflung kam wieder durch. »Wenn ich’s wüßte, säße ich ja nicht so in der Klemme.«

»Ich glaube, in irgendeinem dunklen Winkel wissen Sie es wahrscheinlich doch. Ich bin voller Zuversicht, daß demnächst ein blendendes Licht in Ihrem Kopf angehen und all das mit Sinn erfüllen wird.«

»Aber ich überlege doch andauernd.«

»Mhm. Dafür ist die dritte Spalte da.«

»Nein.«

»Es muß so sein«, sagte ich. »Besitzt von Lees, Eaglewood, Mackintosh, Fitzwalter oder Nagrebb irgendeiner die Kenntnisse, um das alles zu bewerkstelligen? Hat einer von ihnen die Gelegenheit gehabt?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

»Die Kenntnisse«, sagte ich, »sind tierärztlicher Art.«

»Jetzt aber Schluß damit.«

»Es ist in Ihrem eigenen Interesse«, sagte ich.

»Aber das sind doch meine Freunde. Meine Partner.«

Partner waren nicht unbedingt Freunde, dachte ich. Er sperrte sich immer noch gegen diese Einsicht: ein recht verbreiteter Reflex, der einem in Botschaften fortwährend begegnete.

Ich wollte ihn weder gegen mich aufbringen noch ihn zu destruktiver Selbstanalyse treiben. Es brauchte Zeit bei ihm. Meiner Erfahrung nach stellten Einsicht und Erkenntnis sich oft in kleinen Schritten ein, mit kleinen Durchblicken, kleinen unverhofften »Aha«-Erlebnissen. Was Kens Probleme anging, war ich von dem »Aha«-Stadium noch weit entfernt. Ich hoffte, wir würden es vielleicht zusammen erreichen.

»Übrigens«, sagte ich, »wissen Sie von der Arzneimittelliste, die die Polizei haben will?«

Er nickte.

»Carey meint, dafür wäre es ganz gut, bei Ihren Lieferanten Kopien von den Rechnungen der letzten sechs oder auch mehr Monate anzufordern. Ich soll Sie fragen, ob Sie das übernehmen würden.«

Wie vorauszusehen, stöhnte er. »Das kann doch eine Sekretärin machen.«

»Ich dachte nur«, sagte ich schüchtern, »wenn Sie es selber machen, dann könnten Sie die Rechnungen sich persönlich zuschicken lassen.«

»Wozu denn?«

»Hm . mal angenommen, daß zum Beispiel . « Ich pirschte mich langsam heran. »Mal angenommen, hier hat jemand so etwas bestellt wie ... Kollagenase.«

Die hellen Augen starrten mich an, als würden sie nie wieder blinzeln. Nach einer langen Pause sagte er: »Das liefert unser üblicher Grossist nicht. Man müßte es bei einem Chemiewerk bestellen, das Stoffe vertreibt, die nur für den Laborgebrauch bestimmt sind.«

»Steht Ihr Labor hier mit solchen Firmen in Geschäftsverbindung?«

»Na ja, schon.«

Stille machte sich breit.

Er seufzte schwer. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich schreibe sie an. Ich werde alle anschreiben, die mir einfallen. Hoffentlich antworten sie alle negativ. Bestimmt tun sie das.«

»Sehr wahrscheinlich«, stimmte ich zu und dachte, hoffentlich nicht.

Die Nachmittagsoperation, der Carey müde, aber wachsam beiwohnte, während ich wieder Protokoll führte, verlief ohne Zwischenfälle. Je besser ich mit der allgemeinen OP-Routine vertraut wurde, desto mehr beeindruckte mich Ken in Aktion: Seine langfingerigen Hände waren ruhig und geschickt, sein ganzer seltsam gelenkiger Körper, von dem man eher vielleicht schlaksige Unbeholfenheit erwartet hätte, funktionierte mit sparsamer Eleganz. Seine Selbstzweifel schienen jedesmal zu verfliegen, sobald er ein Skalpell in der Hand hielt, und eigentlich war das wohl auch vorauszusehen, denn die Zweifel wurden ihm von außen aufgedrängt, sie kamen nicht von innen.

Er schloß den Einschnitt mit einer sauberen Reihe von Klammern, und wieder hievte der Kran den großen schlaffen Körper an den Füßen hoch, um ihn in den gepolsterten

Ruheraum zu befördern. Alle gingen hinterher und warteten, geschützt durch die brusthohe Trennwand, bis sich der Patient schwankend und auskeilend aus seiner Bewußtlosigkeit hochrappelte und in dumpfer Verwirrung, zweifellos noch angeschlagen, stehen blieb.

»Gut. Gut«, sagte Carey wieder, seufzte aber dennoch. »Dem fehlt nichts.«

Er sah immer noch übermüdet aus, dachte ich, immer noch grau. Er schien von unregelmäßigen Energieschüben in Gang gehalten zu werden, nicht wie Scott von einem unerschöpflichen Stehvermögen.

Wie um meinen Eindruck zu bestätigen, rieb er sich mit der Hand über Gesicht und Hals, um die Verspannungen dort zu lösen, und sagte: »Ich habe Lucy gebeten, meine Bereitschaft zu übernehmen. Heute nacht sind also Lucy und Jay dran. Hoffentlich wird’s ruhig. Ich fahre nach Hause.«

Ken und ich gingen mit ihm ins Büro, wo er die überweisenden Ärzte anrief und ihnen mitteilte, daß ihr Pferd sich normal erholte. Er sagte das, als wäre es ganz selbstverständlich; nichts in seinem Tonfall deutete auf übermäßige Erleichterung. Oliver Quincy, der sich den ganzen Nachmittag Notizen gemacht hatte, während er den Monitor überwachte, um den Patienten vom Vormittag im Auge zu behalten, meinte verdrießlich, es sei an der Zeit, daß man ihn ablöse.

»Jay hat mich bequatscht«, protestierte er, »aber das hier ist nicht meine Aufgabe. Dafür sind Scott und Belinda da.«

»Wir müssen alle mit anpacken.« Carey sah da keine Schwierigkeit. »Wo ist Jay jetzt?«

»Er bedient sich aus dem neuen Medikamentenvorrat. Yvonne und Lucy waren auch schon da. Ich hab sie aufschreiben lassen, was sie mitgenommen haben.« »Gut. Gut«, sagte Carey.

Oliver warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, den er aber nicht bemerkte, und sagte, da er auf dem Heimweg noch zwei Besuche zu machen habe, sei es am besten, er breche jetzt auf. Jay streckte kurz den Kopf zur Tür herein, um in etwa das gleiche zu vermelden, und sie gingen gemeinsam weg, zwei, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel.

Ken begann seinen Bericht abzufassen, der das von mir geführte Protokoll ergänzen sollte, und durchs Fenster sah ich, wie Carey zu seinem Wagen ging und davonfuhr. Ich benutzte noch einmal das Telefon und rief Vicky an, um ihr zu sagen, daß ich nach London fuhr und daß sie nicht erschrecken sollte, wenn sie mich am frühen Morgen oder noch später zurückkommen hörte. Vielen Dank, mein Lieber, sagte sie. Sie klang gelangweilt, fand ich.

Ken blickte von seinem Bericht auf. »Jeder, wie er mag«, sagte er.

»Nun, Sie haben Ihr Glück direkt vor der Tür.«

Er grinste. »Ist Annabel das Mädchen aus Stratford?«

»Ja.«

»Sie vergeuden keine Zeit.«

»Es handelt sich nur um eine Erkundung.«

»Wissen Sie«, sagte er unerwartet, »ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich mal betrinken.«

»Geben Sie sich mehr Mühe.«

Er schüttelte freundlich-abschätzend den Kopf. »Sie würden nicht derart die Kontrolle verlieren wollen.«

Ich fühlte mich ertappt, und das nicht nur, weil er recht hatte.

»Sie kennen mich erst seit Donnerstag«, sagte ich, seine eigenen Vorbehalte wiederholend.

»Im Prinzip habe ich Sie nach einer halben Stunde gekannt.«

Er zögerte. »Schon komisch. Vicky hat mir dasselbe gesagt.«

»Ja«, meinte ich. »Ein offenes Buch.« Ich lächelte und schickte mich an zu gehen. »Bis morgen.«

»Bis dann.«

Ich verließ die Klinik und ging über den Parkplatz zum Wagen. Für das geplante Treffen war es noch sehr früh: Ich würde Zeit haben, Wohnungsinserate zu studieren. Ich würde lernen, wie schwierig es war, eine Bleibe zu finden, und wie teuer.

Belinda kam aus der Klinik und ging kurz in die Beobachtungsbox, um sie für den Neuzugang herzurichten. Sie ließ die erste Tür weit offen, warf einen Blick in die nächste Box, wo der Patient vom Morgen stand, und ging dann weiter, um sich routinemäßig auch noch die Stute anzusehen. Ich betrachtete ihre schlanke, tüchtige Gestalt und fragte mich, ob ihre fürsorglichen Neigungen sich mit der Zeit, oder wenn sie erst einmal Kinder hatte, ändern würden. Manche Pflegebediensteten wurden in der Ausübung ihres Berufs eher sanft, andere hart. Noch war alles offen, dachte ich.

Sie riegelte die Tür zur Box der Stute auf und ging hinein - und stürzte blitzartig wieder heraus, wobei sie schrie: »Ken! Ken!«

Sie lief in die Klinik zurück, und ich dachte: »O Gott, nein« und ging zu der letzten Box hinüber, um nachzusehen.

Die dicke Stute lag auf der Seite.

Da war kein keuchender Atem, kein Zucken in den Gliedmaßen. Ihr Kopf lag schlaff. Die feuchten Augen

wirkten grau und trüb, gebrochen.

Die Stute war tot.

Ken kam verzweifelt angerannt. Er fiel neben ihr auf die Knie und legte das Ohr an ihren braunen Körper, hinter der Schulter, doch man sah ihm an, daß nichts zu hören war.

Er hockte sich auf die Fersen, so bewegt, so überwältigt, als wäre sie ein Kind gewesen, und ich sah und verstand seine aufopfernde Liebe zu Pferden und die Sorge, die er ihnen angedeihen ließ, ohne doch irgendwelchen Dank dafür erwarten zu können.

Ich dachte daran, wieviel Mut es ihn gekostet hatte, diese Stute zu operieren. Dachte an das enorme Können, das er aufgeboten hatte, um ihr das Leben zu retten, in dem Bewußtsein, die eigene Zukunft aufs Spiel zu setzen. Empfand eine ohnmächtige Wut darüber, daß so viel Nervenstärke, so viel Kunstfertigkeit vergeudet worden waren. Anders als zuvor, da ich von ermordeten Pferden nur gehört, aber noch keins gesehen hatte, fühlte ich mich jetzt persönlich verpflichtet, sie zu rächen. Nicht mehr nur für Ken und meiner Mutter zu Gefallen würde ich alles tun, um den Nebel zu durchdringen, sondern auch für die Pferde selbst, die prächtigen, stummen Opfer, die sich gegen das Raubtier Mensch nicht wehren konnten.

»Sie hätte nicht sterben dürfen«, sagte Ken wie betäubt. »Sie war außer Gefahr.«

Es schien mir etwas zu früh, ihm zu sagen, ich sei anderer Meinung. Die Gefahr hatte hier viele Gesichter.

Er ließ seine Hand über die braune Flanke gleiten, stand dann auf und kniete sich wieder hin, diesmal an ihrem Kopf, zog das herabhängende Augenlid hoch, klappte das Maul auf, schaute ihr in den Rachen.

»Sie ist schon eine ganze Weile tot«, sagte er. Er erhob sich müde und zitterte wie ehedem. »Das überstehen wir nie. Das ist das endgültige Aus.«

»Es ist nicht Ihre Schuld.«

»Wie soll ich das wissen? Wie soll das irgend jemand wissen?«

Belinda, die in der Tür stand, sagte, als müsse sie sich verteidigen: »Heute mittag ging es ihr noch gut. Als wir den Luftröhren-Wallach hergebracht haben, war ich zur Kontrolle bei ihr, und da fraß sie Heu, ganz munter.«

Ken hörte nur halb zu. »Wir müssen eine Obduktion vornehmen«, sagte er dumpf. »Mal sehen, ob ich noch Blut bekomme.«

Er ging schlackernd in Richtung seines Wagens davon und kam nach einiger Zeit mit einer Tasche wieder, die Injektionsspritzen, Flaschen und einen Vorrat an Gummihandschuhen aus dem gut ausgestatteten Kofferraum enthielt.

»Ich habe übers Autotelefon die Abdecker gerufen. Sie kommen sie holen. Ich habe ihnen gesagt, daß wir eine Obduktion bei ihnen machen müssen, und dafür muß ich Carey und eine Anzahl außenstehender Tierärzte zusammentrommeln, und ich glaube auch nicht, daß ich die Obduktion selber vornehme. Ich meine . das geht wohl schlecht. Und was Wynn Lees erst sagen .« Seine Stimme brach ab; das Zittern nicht.

»Er war heute morgen hier«, sagte ich.

»Guter Gott.«

Ich schilderte, was ich von Wynn Lees’ Besuch mitbekommen hatte. »Die Stute war in Ordnung, als er wegfuhr. Danach hat Scott sie in die Endbox verlegt, und es ging ihr glänzend. Fragen Sie Carey.«

Ken blickte auf den Kadaver hinunter. »Gott weiß, was Carey dazu sagen wird.« »Wenn er vernünftig ist, wird er anfangen, sich Gedanken über Gift zu machen.«

Belinda war es, die mir vorhielt, ich würde dramatisieren, nicht Ken.

»Aber neulich«, griff er den Gedanken ohne weiteres auf, »als das Fitzwalter-Pferd hier draußen tot umfiel, waren alle Tests, die wir durchgezogen haben, negativ. Kein Gift. Es hat uns eine Menge Speziallaborkosten eingebracht und sonst gar nichts.«

»Versuchen Sie’s noch mal.«

Ohne zu antworten, zog er ein Paar Handschuhe an und versuchte mit mehreren Spritzen an verschiedenen Körperpartien der Stute Blut abzunehmen.

»Was sagten Sie noch, wie Sie einem Pferd Atropin verabreichen würden?« fragte ich.

»Spritzen oder ins Futter mischen. Aber das hier hat mit Atropin nichts zu tun.«

»Prüfen Sie ihr Futter trotzdem.«

Er nickte. »Leuchtet ein. Das Wasser auch. Belinda, sieh mal, ob du zwei fest verschließbare Gläser findest. In dem Schrank unterm Arzneischrank müßten noch Probengläser stehen.«

Belinda ging los, ohne Fragen zu stellen, war sie es doch gewohnt, im Dienst Befehle entgegenzunehmen. Ken schüttelte den Kopf bei seiner Arbeit und schimpfte leise darüber, wie schnell Blut nach dem Eintritt des Todes zerfiel.

»Und das Fohlen«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Solch eine Vergeudung.«

Ich fragte: »Was fangen wir mit der Nadel an, die Sie ihr aus dem Darm geschnitten haben?«

»Gott weiß. Was meinen Sie? Ist die noch wichtig?«

»Wenn Wynn Lees jemals darauf zu sprechen kommt, schon.«

»Bis jetzt hat er nichts davon gesagt.«

»Nein«, stimmte ich zu, »aber wenn er sie ihr in den Rachen geworfen hat, macht er sich bestimmt Gedanken ... Es könnte sein, daß er eines Tages noch fragt.«

»Das würde lediglich beweisen, daß er den Tod der Stute wollte und sich nach Kräften bemüht hat, sie umzubringen. Er käme vielleicht wegen Tierquälerei vor Gericht, aber ich würde nicht darauf wetten, daß er verurteilt wird. Jeder Tierarzt im Land würde bezeugen, daß Katzen und Hunde Nähnadeln verschlucken und sich die Eingeweide zusammenknäueln.«

Er begann die Fläschchen zu beschriften, die die kärglichen Blutproben enthielten.

»Ich werde jede Probe halbieren und sie an zwei verschiedene Labors schicken«, sagte er. »Doppelte Überprüfung.«

Ich nickte.

»Außerdem werden wir bei der Obduktion zig Gewebeproben von ihren Organen nehmen, und ich weiß jetzt schon, daß es wieder überhaupt nichts bringen wird, da wir nicht wissen, wonach wir suchen sollen.«

»Was für ein Pessimist Sie sind!«

»Mit gutem Grund.«

Er holte ein großes Rektalthermometer aus der Tasche und maß die Körpertemperatur, ein Mittel, so erklärte er, um die Todeszeit genauer zu bestimmen. Auf Grund ihrer Masse hielten Pferde die Körperwärme über Stunden, und das Ergebnis konnte nur annähernd sein.

Belinda kam mit zwei geeigneten Gläsern zurück, in die sie Proben füllte, einmal Wasser aus dem halb leeren Eimer und dann Heu aus dem halb leeren Netz. Es bestand kein Zweifel, daß die Stute aus diesen Quellen getrunken und gefressen hatte.

Scott kam gleich hinter Belinda her und konnte seine Erregung nicht bezähmen, eine Mischung aus Unglauben, Wut und der Angst, verantwortlich gemacht zu werden, soweit ich es beurteilen konnte.

»Ich habe sie in die Box gebracht. Ich habe ihr auch frisches Wasser und frisches Heu vorgesetzt, und sie war putzmunter. Peter wird es euch bestätigen. Sie kann nicht tot sein.«

Niemand machte sich die Mühe, darauf hinzuweisen, daß sie es dennoch war.

Ken streifte die Handschuhe ab, packte die letzten Proben ein, klappte die Tasche zu und richtete sich zu seinen vollen einsfünfundneunzig auf.

»Wer kümmert sich um den Patienten von heute nachmittag?« fragte er. »Scott, sehen Sie sofort mal nach. Belinda, du hängst einen Tropf in die Beobachtungsbox. Wir können ihn bald hier herausschaffen, dann kann Scott ihn heute abend überwachen. Er darf nicht allein gelassen werden, und wenn ich die ganze Nacht auf einem Stuhl vor seiner Tür hocken muß.« Er warf mir einen wilden Blick zu, immer noch verstört hinter der Fassade seiner Entschlossenheit. »Ich muß es Carey sagen.«

Ich ging mit ihm ins Büro und lauschte dem schicksalhaften Anruf. Am anderen Ende nahm Carey die Nachricht nicht mit Zorngeschrei, sondern schweigend auf.

»Carey?« sagte Ken besorgt. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«

Anscheinend hatte er es gehört und war sprachlos.

Ken sagte ihm, daß er mit den Abdeckern gesprochen hatte. Sagte ihm, daß er die Obduktion einem außen-stehenden Arzt zu überlassen wünschte. Sagte ihm, daß ich vorgeschlagen hätte, sie sollten nach Gift suchen.

Dieser letzte Satz rief eine scharfe Reaktion hervor, die ich nicht ganz mitbekam, die aber Ken überraschte und in Verlegenheit brachte. Er ging schnell zu der Feststellung über, daß die Stute schon mindestens zwei Stunden tot war, als Belinda sie fand. Zwei Stunden, sagte er und hatte offensichtlich gut darüber nachgedacht, das lasse einen Zeitraum möglich oder wahrscheinlich erscheinen, in dem er selbst, Carey, Belinda, Scott und Peter alle miteinander im Operationssaal mit einem langwierigen Eingriff beschäftigt gewesen seien. Wer wisse denn, sagte er, was währenddessen draußen passiert sei?

Dem folgte ein längerer Schwall von mißbilligenden Krächzlauten aus der Leitung, bis Ken schließlich sagte: »Ja. Ja, okay« und langsam den Hörer auflegte.

»Er will nicht glauben, daß jemand vorsätzlich die Stute umgebracht hat. Er meint, Sie sehen Gespenster.« Ken sah mich entschuldigend an. »Ich hätte ihm wohl nicht sagen sollen, was Sie denken.«

»Das macht nichts. Kommt er her?«

Er schüttelte den Kopf. »Er setzt die Obduktion für morgen früh an, und er benachrichtigt Wynn Lees - und ich bin heilfroh, daß mir das einer abnimmt.«

»Wynn Lees weiß es vielleicht schon.«

»Jesses«, sagte Ken.

Trotz rasendem Tempo kam ich nicht rechtzeitig zu meiner Verabredung nach London und schon gar nicht mehr zum Inseratelesen. Das Problem, daß ich mich im größten Teil Londons, wenn überhaupt, nur flüchtig auskannte, löste ich, indem ich von der M 40 kommend geradewegs in ein

Parkhaus fuhr und es einem Taxi überließ, die Draycott Avenue und >Daphne’s Restaurant< für mich zu finden, was allerdings irritierend langsam ging.

Annabel, die Tüchtige, war pünktlich gekommen. Ich kam siebzehn Minuten zu spät. Sie saß steif an einem Tisch für zwei, ein Glas Wein vor sich.

»Tut mir leid«, sagte ich und nahm den Stuhl ihr gegenüber.

»Entschuldigungen?«

»Ein totes Pferd. Hundert Meilen. Taxi-Engpaß. Stau.«

»Das soll genügen.« Der kleine Mund bog sich nach oben.

»Was für ein totes Pferd?«

Ich erzählte es ihr recht ausführlich und sicher auch zornig.

»Es kümmert Sie«, sagte sie, als ich geendet hatte.

»Ja. Wie auch immer ...«, ich tat es mit einem Kopfschütteln ab, »sind die Herren aus Fernost gut weggekommen?«

Sie bejahte das. Wir sahen uns die Speisekarte an und wählten, und ich schätzte das Ambiente und sie selber ab.

Sie war wieder in Schwarzweiß: schwarzer Rock, schwarzweiß gerautetes Harlekin-Top mit dicken schwarzen Pompons als Knöpfen vorne. Das kurz geschnittene Kraushaar, frisch gewaschen, sah flaumig aus, und sie trug leichtes Augen-Makeup und hellrosa Lippenstift. Ich wußte nicht, was für sie normal war oder wieweit sie es für den Abend getan hatte, aber das Ergebnis gefiel mir ausgesprochen gut.

Wie in Stratford errichtete sie mühelos eine neutrale Zone um sich herum, über die hinweg sie bis zu einem gewissen Grad herzlich war. Die Belustigung in ihren großen Augen war wie ein Burggraben, dachte ich, der übertriebene Aufmerksamkeiten fernhalten sollte.

Das enge Restaurant war laut und gestopft voll, eine heikle Sache für die umhereilenden Kellner mit ihren großen, in Kopfhöhe gehaltenen Tabletts.

»Glück, daß wir einen Tisch bekommen haben«, bemerkte ich, mich umschauend.

»Den hatte ich bestellt.«

Ich lächelte. Effektive Öffentlichkeitsarbeit. »Ich habe keine Ahnung, wo ich bin«, sagte ich. »Wo in London, meine ich.«

»Gleich hinter der Fulham Road, noch keine Meile von Harrod’s.« Sie betrachtete mich, den Kopf zur Seite geneigt. »Suchen Sie wirklich eine Wohnung?«

»Heute in drei Wochen«, sagte ich nickend, »fängt meine Arbeit in Whitehall an. Was müßte ich tun, wenn’s kein Gully sein soll?«

»Schwimmen Sie in Geld?«

Ich lachte. »Ich habe einen großen Karrieresprung gemacht, durch den ich jetzt halb so viel verdiene wie vorher.«

»Unmöglich.«

Ich schüttelte den Kopf. »In Tokio habe ich zu meinem Gehalt noch mal den gleichen Betrag und mehr für Lebenshaltungskosten und Aufwandsentschädigung bekommen sowie freie Kost und einen Wagen zum eigenen Gebrauch. Hier - Fehlanzeige. Wesentlich niedrigerer Lebensstandard, könnte man sagen. Drüben hatte ich diplomatische Immunität, wenn ich falsch parkte. Hier ist es mit der Immunität leider gar nichts, hier muß ich das Bußgeld bezahlen. Großbritannien ist übrigens das einzige Land auf der Welt, das seinen Diplomaten keine Diplomatenpässe ausstellt. Nicht die Spur von bevorzugter Behandlung.«

»Ihr Ärmsten.« »Mhm. Ich brauche also was, wo ich mein Haupt hinbetten kann, aber es darf nicht allzu komfortabel sein.«

»Würden Sie die Wohnung auch teilen?«

»Alles, für den Anfang.«

»Ich könnte ein paar Fühler ausstrecken.«

»Dafür wäre ich Ihnen dankbar.«

Sie aß Schnecken, sehr geschickt mit der Schneckenzange. Ich, noch immer unsicher im eigenen Land, hatte mich vorsichtshalber für Pastete und Toast entschieden.

»Haben Sie einen Nachnamen?« fragte ich beim Essen.

»Nutbourne. Sie auch?«

»Darwin. Wie derselbe, aber nicht verwandt.«

»Sie werden das bestimmt dauernd gefragt.«

»Ziemlich oft.«

»Und, hm, ist Ihr Vater so was wie ein Busfahrer?«

»Ist das wichtig?«

»Es ist nicht wichtig. Es interessiert mich nur.«

»Na gut, er ist auch Diplomat. Und Ihrer?«

Sie verspeiste die letzte Schnecke und legte Zange und Gabel ordentlich hin.

»Geistlicher«, sagte sie. Sie sah mich aufmerksam an, wartete auf eine Reaktion. Ich nahm an, daß sie überhaupt nur auf die Berufe zu sprechen gekommen war, um mir das mitzuteilen, und nicht aus Neugierde über meine Herkunft.

Ich sagte ab wägend: »Es gibt sehr gute, anständige Pfarrerstöchter.«

Sie lächelte, Lachfältchen um die Augen, der rosa Mund ein nach oben geschwungener Bogen. »Er trägt Gamaschen«, sagte sie.

»Ah. Das ist schon ernster.« Und das war es auch. Vor einem Bischof nahm man sich in acht, wenn man ein vernünftiger kleiner Legationsrat mit guten Aufstiegschancen beim Auswärtigen Amt war, und ganz besonders vor einem, der die Ansicht vertrat, daß das Auswärtige Amt mehr schadete als nützte. Eine Bischofstochter nahm man nicht auf die leichte Schulter. Das erklärte auch die Rühr-mich-nicht-an-Aura, dachte ich: Sie war anfällig für Klatsch und wollte nicht unnötig ins Gerede kommen.

»Mein Vater ist Botschafter«, sagte ich, »um ehrlich zu sein.«

»Danke«, sagte sie.

»Das bedeutet ja nicht, daß wir nicht nackt durch den Hydepark kapriolen könnten.«

»Doch«, sagte sie. »Die Kinder haften für die Tugenden der Väter genauso wie für ihre Sünden. Daran ist nicht zu rütteln.«

»Es schreckt nicht immer ab.«

»Es schreckt mich ab«, sagte sie rundheraus, »im eigenen und im Interesse meines Vaters.«

»Warum sind Sie zum Jockey-Club gegangen?« fragte ich.

Sie lächelte lebhaft. »Papas alte Seilschaft hat von meiner Existenz gehört und mich vorgeschlagen. Als sie meine Klamotten sahen, haben sie erst ein bißchen gestutzt, und sie halten auch jetzt noch höflich die Luft an. Sonst kommen wir ganz gut zurecht, weil ich meine Sache verstehe.«

Wir gingen zu Seezunge über, und ich fragte sie, ob es im Jockey-Club jemanden gab, der sich mit Versicherungsbetrug bei toten Pferden auskannte.

Sie sah mich ernst an. »Glauben Sie, daß es sich darum handelt?«

»Fast mit Sicherheit, wenn da nicht ein fixierter Psychopath frei herumläuft.«

Sie dachte darüber nach. »Ich kenne den stellvertretenden Direktor des Sicherheitsdienstes ganz gut«, sagte sie. »Ich könnte ihn bitten, sich mit Ihnen zu treffen.«

»Ja? Wann?«

»Wenn Sie gerade noch warten, bis ich mit Essen fertig bin, rufe ich ihn an.«

Mein detektivischer Eifer trat einen Schritt beiseite, während Annabel Nutbourne sorgsam jeden Krümel von den Gräten schälte und ein Skelett zurückließ, so blank wie in der Anatomiestunde.

»Haben Sie Verehrer in hellen Scharen?« fragte ich.

Sie warf mir einen amüsierten Blick zu. »Immer nur einen.«

»Und jetzt im Moment?«

»Bringt man Ihnen beim Auswärtigen Amt keine Diplomatie bei?«

Der Rüffel war verdient, nahm ich an. Wo waren die Kunstgriffe, die ich so oft geübt hatte? Ein kühler Honigtopf konnte eine gesunde Drohne sehr schnell dumm aussehen lassen.

»Irgendwelche guten Predigten gehört in letzter Zeit?« fragte ich.

»Ein Clown zu sein ist wahrscheinlich immer noch besser, als ein Flegel zu sein.«

»Sage ich jetzt danke schön?«

»Wenn Sie vernünftig sind.« Sie machte sich ohne Bosheit über mich lustig. Hinter diesem selbstbewußten Äußeren, dachte ich, lagen weniger Unsicherheiten, als man normalerweise antraf. Ich war es eher gewohnt, Augen zu trocknen, als von ihnen gefoppt zu werden.

Ich dachte an Russet Eaglewood, deren Unsicherheiten sich nicht erraten ließen und deren Ruf zur Legende geworden war. Als Liebhaberin war sie abwechselnd selbstsüchtig, großzügig, leidenschaftlich, passiv, gierig und zum Lachen aufgelegt gewesen, und Annabel würde das alles vielleicht auch sein, wenn die Zeit kam, aber ich glaubte nicht, daß ich mich an diesem Abend in meinem Sessel zurücklehnen und »Na, wie ist es, gehn wir pudern?« zu Miss Nutbourne sagen würde.

Sie wählte Cappuccino mit Muskat obendrauf für uns beide, und während ich danach die Rechnung zahlte, führte sie das Telefongespräch.

»Er sagt«, berichtete sie, »die beste Zeit sei jetzt.«

»Wirklich?« Ich war ebenso überrascht wie froh. »Was für ein Glück, daß er zu Hause ist.«

»Zu Hause?« Sie lachte. »Er ist nie zu Hause. Er hat bloß einen Telefonknopf im Ohr. Ich habe ein Taxi bestellt.«

Gut organisierter Transport, sagte sie, gehöre zu ihrem Job.

Der stellvertretende Direktor vom Sicherheitsdienst des Jockey-Clubs empfing uns in der Eingangshalle eines Spielsalons und trug uns als Gäste ein. Er war eine stattliche Erscheinung - breitschultrig, muskulös, flacher Bauch, lange Beine. Die wachsamen Augen ließen mich vermuten, daß er bei der Polizei gewesen war, im gehobenen Dienst.

»Brose«, sagte Annabel und streichelte ihm den Arm zur Begrüßung, »das ist Peter Darwin. Fragen Sie ihn nicht, die Antwort ist nein.« Dann stellte sie ihn mir vor: »John Ambrose. Sagen Sie Brose zu ihm.«

Er schüttelte mir die Hand; auch daran war nichts Unentschlossenes.

»Kennen Sie Blackjack?« fragte er mich.

»Siebzehnundvier? Mehr oder weniger.«

»Annabel?«

»Ebenso.«

Brose nickte und führte uns durch Schwingtüren in einen weitläufigen Spielsaal, wo das Leben auf grünem Filz unter hellen, niedrig hängenden Lampen stattfand. Zu meiner nicht gelinden Überraschung ging es laut zu, und die Einsätze waren zu meiner Erleichterung nicht so hoch, daß sie einen sofort ruinierten. Brose lotste uns zu einem verlassenen Blackjacktisch ohne Croupier und erklärte uns, daß dem, der wartet, alles zufällt.

»Bestellen Sie Limonade«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.«

Er stürzte sich in das Gedränge der Spieler, die zielbewußt kleine Plastikblättchen dorthin setzten, wo sie ihr Glück vermuteten, und ab und zu sahen wir, wie er sich Leuten über die Schulter beugte und ihnen etwas ins Ohr sagte.

»Sie würden nicht drauf kommen«, sagte Annabel, »aber er bringt hier einem Haufen schräger Rennbahntypen das Fürchten bei. Er zieht durch die Klubs und behält sie im Auge, und die hassen das. Er sagt, wer Verluste nicht wegstecken kann, bringt sich leicht in Schwierigkeiten, und davon abgesehen läßt sich mit den vertraulichen Informationen, die man ihm gibt, Gaunern das Handwerk legen und der Rennsport wenigstens halbwegs sauberhalten.«

»Hat er im wörtlichen Sinn Limonade gemeint?«

»Oh, ich nehme es an. Er trinkt keinen Alkohol, und er muß für alles, was er hier ausgibt, Rechenschaft ablegen. Champagner wären wir nicht wert.«

Wir begnügten uns statt dessen mit Sprudelwasser, und nach und nach setzten sich noch ein paar Leute an unseren Tisch, bis schließlich auch ein Croupier erschien, neue Blätter anbrach, eine Ewigkeit mischte, die Karten von einem dicken, asthmatischen Mann abheben ließ und sie in einen Schlitten steckte.

Die meisten Hinzugekommenen hatten Chips mitgebracht. Annabel und ich kauften jeder zwanzig und spielten vorsichtig, und nach kurzer Zeit hatte sie ihre verdoppelt, und ich besaß nur noch zwei.

»Sie können nicht gewinnen, wenn Sie bei 15 noch eine Karte nehmen«, sagte Brose mir ins Ohr. »Die Chancen stehen dagegen. Wenn der Geber nicht gerade eine 10 oder ein Bild vorlegt, bleiben Sie ab 12, und wetten Sie, daß die Bank sich übernimmt.«

»Das ist doch nicht aufregend«, sagte ich.

»Verlieren auch nicht.«

Ich hielt mich an seinen Rat, und die Bank übernahm sich dreimal hintereinander.

»Ich habe Zeit für einen Drink«, sagte er. »Möchten Sie reden?«

Er führte uns in eine durch ein Geländer abgeteilte Ecke, wo an kleinen Tischen hohläugige Unglücksraben saßen und ihre Hypothekenvaluta vertranken. Eine Kellnerin brachte Brose unaufgefordert ein Glas Zitronensaft, das er langsam und stetig in einem Zug hinunterkippte.

»Hier hält man die Luft trocken«, sagte er. »Haben Sie’s bemerkt? Da kriegen alle Durst. Sehr gut fürs Geschäft. Was genau möchten Sie wissen?«

Ich erzählte, welche Sorgen Hewett und Partner mit Pferden hatten, wobei ich ausführlich nur auf die Stute einging.

»Sie trug ein Fohlen von Rainbow Quest«, sagte ich. »Ihr Besitzer ist ein komischer Vogel ...«

»Name?« unterbrach Brose.

»Des Besitzers? Wynn Lees.«

Brose stieß einen Brummton aus, und seine Aufmerksamkeit erhöhte sich. »Zwei davon gibt’s ja wohl nicht.«

»Es ist derselbe«, versicherte ich ihm.

»Was ist an ihm komisch?« fragte Annabel.

Brose sagte: »Er ist pervers. Nicht in sexueller Hinsicht, das meine ich nicht. Grausam ist er. Man dürfte ihn niemals an Pferde heranlassen. Pech für uns, daß Australien ihn abgeschoben hat.«

Ich ging auf die Kolikoperation ein und erzählte ihm von der Nadel, dann schilderte ich die Umstände des Todes der Stute an diesem Nachmittag.

»Und die Ärzte da wissen nicht, woran sie gestorben ist?«

»Noch nicht, nein. Aber weshalb wurde sie umgebracht? Das Fohlen war wertvoll, sie selber auch.«

Er sah mich ernüchtert an. »Meinen Sie, Wynn Lees hat es getan?«

»Er war heute morgen da, aber sie lebte noch, als er wegfuhr.«

Er orderte mit erhobenem Finger und einem unerwartet netten Lächeln noch einen Zitronensaft. Die Kellnerin brachte ihm strahlend das Getränk.

»Ich sage Ihnen was«, meinte er schließlich. »Jede Wette, daß das Fohlen nicht von Rainbow Quest war.«

»Laut dem Gestüt Vernonside schon.«

»Das Gestüt glaubt doch, was man ihm sagt. Die bekommen eine Stute geschickt, auf deren Halfter ein Name steht. Das ist der Name, an den sie sich halten. Sie hat zweifellos auch Papiere bei sich, die ganz in Ordnung sind. Trächtig von Rainbow Quest. Weshalb daran zweifeln?«

»Okay«, echote Annabel. »Weshalb daran zweifeln?«

»Wegen der Art, wie sie gestorben ist.« Er hielt inne. »Also, Sie haben eine ganz passable Zuchtstute, die schicken Sie zu Rainbow Quest. Bald scheint sie trächtig zu sein, und Sie holen sie stolz nach Hause und lassen sie auf die Weide, aber irgendwann im weiteren Verlauf verfohlt sie. Es ist oft schwer festzustellen, wenn das passiert, aber schließlich erkennt man, daß einem nichts als ein unfruchtbares Jahr beschert ist. Aber nehmen wir mal an, da kommt Ihnen plötzlich eine Idee, und Sie ziehen los und kaufen eine andere Stute, die unbekannt ist und von irgendeinem hergelaufenen Hengst trägt. So, jetzt haben Sie eine ungefähr im richtigen Stadium trächtige Stute, und die versichern Sie, als wäre es die Stute, die von Rainbow Quest trägt. Falls jemand nachprüft, ist der Besuch bei Rainbow Quest urkundlich belegt. Sie kommt zum Abfohlen ins Gestüt Vernonside, da sie als nächstes für einen dort stehenden Hengst vorgemerkt ist. Sie müssen sich ja wie ein normaler Besitzer verhalten. An diesem Punkt ist das arme Vieh reif für den Abschuß, und so hat man es abgeschossen.« Er unterbrach sich und trank. »Heutzutage ist die Vaterschaft zweifelsfrei nachweisbar. Wäre ich die Versicherung, würde ich Gewißheit verlangen. Schade, daß Ihre Tierärzte keine Gewebeproben von dem Fohlen genommen haben. Auch wenn es tot ist, hätten sie vielleicht Aufschluß erhalten.«

»Das ginge noch«, sagte ich. »Die Obduktion ist morgen früh. Ich werde ihnen Bescheid sagen.«

»Was macht man denn mit der richtigen, ganz passablen Stute?« fragte Annabel fasziniert.

»Die schickt man seinen zwielichtigen Kumpanen in Australien.«

Ich sagte: »Wie finden wir heraus, welche Firma die Versicherung übernommen hat? Vorausgesetzt natürlich, Sie haben recht.«

Brose hegte wenig Hoffnung. »Da haben Sie ein Problem. Es gibt nicht gerade Tausende von Versicherungsgesellschaften, die Pferde übernehmen, aber jede von ihnen könnte es tun. Die nicht mit Seeversicherung befaßten

Konsortien von Lloyd’s versichern alles, von Lösegeldern bis zum verregneten Kirchenfest. Man fragt sie, und sie nennen einen Preis.«

»Vielleicht könnte man sie in einem Brief darauf hinweisen.«

»Damit handeln Sie sich Schwierigkeiten ein.« Brose schüttelte den Kopf. »Was ist denn Ihr Hauptanliegen bei dem Ganzen?«

»Ehm ... den Ruf von Ken McClure wieder zu kitten und nachzuweisen, daß der Tod der Pferde nicht seine Schuld war.«

»Schwierig«, meinte er.

»Ist es unmöglich?« fragte Annabel.

»Sagen Sie niemals, etwas sei unmöglich. Unwahrscheinlich ist besser.«

»Außerdem«, sagte ich, »ist das Hauptgebäude der Praxis durch Brandstiftung zerstört worden, und eine unbekannte Leiche lag darin.«

Brose hörte sich ungerührt, Annabel mit offenem Mund, das Ausmaß der Probleme von Hewett und Partnern an.

»Carey Hewett, der Seniorpartner, sieht stündlich älter aus. Alle Partner sind durch eine gemeinschaftlich aufgenommene Hypothek auf das abgebrannte Gebäude aneinander gebunden, aber der innere Zusammenhalt bröselt. Ihre sämtlichen Unterlagen sind verbrannt, auch die Sicherungskopien für den Computer. Ihr größter noch erhaltener Vermögenswert, die Klinik, wird immer mehr von Kunden boykottiert, die Angst haben, ihre Pferde von Ken operieren zu lassen. Nach dem heutigen Debakel wird das erst richtig losgehen. Es bleibt nicht viel Zeit, die Sache in Ordnung zu bringen.«

Brose schürzte die Lippen. »Ich nehme es zurück.

Unmöglich ist das richtige Wort.«

»Es wäre wirklich hilfreich«, sagte ich, »wenn Sie mir eine Liste von nicht feststellbaren Giften geben könnten.«

»Wenn sie nicht feststellbar sind«, sagte Brose, »läßt sich nicht beweisen, daß sie verabreicht wurden.«

Annabel zog die Augenbrauen hoch. »Dann gibt es sie also?«

»Das habe ich nicht gesagt«, sagte Brose.

»Praktisch schon.«

»Gibt es sie?« fragte ich.

»Wenn es sie gäbe«, antwortete Brose, »und ich sage nicht, daß es sie gibt, Annabel, dann wäre das eine Sache, von der ich nicht wollte, daß sie allgemein bekannt wird. Soviel aber kann ich Ihnen sagen, daß alle Gifte schwer festzustellen und zu identifizieren sind, wenn man nicht wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon hat, wonach man suchen soll.«

»Das hat Ken auch gesagt«, stimmte ich zu.

»Er hat recht.« Brose stand auf. »Da kann ich Ihnen nur Glück wünschen. Halten Sie mich auf dem laufenden über Wynn Lees.«

Er dachte kurz nach und änderte seine Meinung. »Wie wär’s, wenn ich demnächst mal nach Cheltenham käme? Es ist zwar strenggenommen keine Rennsportangelegenheit, aber vielleicht könnte ich ein paar Anregungen geben.«

»Großartig«, sagte ich erfreut.

»Fragen Sie Annabel«, sagte er, »und morgen schau ich mal in meinen Kalender.«

Er tätschelte Annabel die Stoffpuppenfrisur, nickte mir freundlich zu und schlenderte davon, um noch ein paar nichtsahnenden Schlawinern das Fürchten zu lehren.

Annabel hielt ihre Handvoll Chips hoch und sagte, sie hätte Lust, mehr daraus zu machen, und so suchten wir uns einen Tisch und verbrachten dort fast eine Stunde, in der sie ihren Einsatz erneut verdoppelte und ich alles verlor.

»Sie spielen zu oft im falschen Moment«, sagte sie, während sie ihren halben Zentner Plastik zur Kasse trug, um sich den Gegenwert auszahlen zu lassen. »Sie hätten auf Brose hören sollen.«

»Ich hatte Spaß für mein Geld.«

Sie legte den Kopf schräg. »Das hört sich an wie eine Grabinschrift.«

»Mit dieser wäre ich zufrieden«, sagte ich lächelnd.

Wir kehrten in die Außenwelt zurück, wo das Spiel Ernst war, und fuhren mit einem (von Annabel gerufenen) Taxi zu dem Haus in Fulham, in dem sie zur Miete wohnte. Das Taxi hielt vor der Tür, und der Fahrer wartete ergeben, um mich in Richtung der M 40 zu bringen.

Sie dankte mir für das Abendessen. Ich dankte ihr für Brose.

»Ich rufe Sie an«, sagte ich.

»Gern.«

Wir standen ein paar Augenblicke auf dem Gehsteig. Ich küßte sie auf die Wange. Ihr kleines Nicken, so schien es, hatte mich dazu berechtigt.

»Viel Glück mit allem«, sagte sie. »Es hört sich an, als ob Sie und die Tierärzte ein Wunder brauchen.«

»Ein Wunder wäre ausgezeichnet.«

Statt dessen bekamen wir einen Alptraum.

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