Kapitel 10

Mackintosh war klein und runzlig, ein vertrockneter alter Stecken von einem Pferdemenschen. Die blitzblauen Augen in dem wettergegerbten Gesicht sahen durchaus wach und intelligent aus, und erst nach und nach begriff man, daß die Gedanken dahinter in Unordnung waren wie ein durcheinandergewürfeltes Alphabet. Er saß dem stillstehenden Rad zugewandt und sah vermutlich durch es hindurch, auf die Wiese und die Hecke dahinter. Man gewann den Eindruck, daß er schon lange, gewohnheitsmäßig, dort saß. Die Armlehnen des Sessels waren da, wo seine Hände auflagen, verschlissen und mehrmals geflickt.

Er sagte mit einer kratzigen hohen Stimme: »Hast du den Abendstall vergessen?«

»Natürlich nicht, Paps«, sagte Zoe geduldig. »Das ist erst in einer halben Stunde.«

»Wen hast du da bei dir? Ich kann die Gesichter nicht gegen das Licht sehen.«

»Guten Tag, Mr. Mackintosh«, sagte Ken.

»Das sind Ken McClure«, teilte ihm Zoe mit, »und ein Freund von ihm.«

»Peter«, sagte Ken.

»Ich denke, du hast Ken gesagt«, maulte Mackintosh gereizt.

»Ich bin Peter«, sagte ich.

Zoe stellte uns noch einmal genau vor, doch ob es dem alten Mann einging, war zweifelhaft, denn er sah mich auch danach noch alle paar Sekunden verwirrt an.

»Du hast gesagt«, hielt er Zoe vor, »nur Carey würde kommen.«

»Ja, ich weiß, aber ich hab’s mir anders überlegt. Carey kommt noch zum Kartenspielen zu dir, aber Ken kümmert sich wieder um die Pferde.« Zu uns gewandt, fügte sie leise hinzu: »Sie spielen seit Jahren zusammen Karten, aber heutzutage ist das eine Farce. Carey tut nur noch so, und das ist nett von ihm.«

»Was hast du gesagt«, sagte Mackintosh ärgerlich. »Red doch laut.«

»Wo ist denn dein Hörgerät, Paps?« fragte Zoe.

»Das mag ich nicht. Es pfeift.«

Ken und ich standen beide vor ihm, zwischen ihm und dem Fenster, und es schien ihn zu stören, daß er das Rad nicht ganz sehen konnte, denn immer wieder bewegte er den Kopf, um an uns vorbei und hinter uns zu schauen. Ken empfand das wohl ebenso, denn er drehte sich zur Seite, als wollte er möglichst wenig die Aussicht versperren.

Das Hintergrundlicht vom Fenster fiel auf die eine Hälfte von Kens knochigem Gesicht, während der Rest im Schatten blieb, und Mackintosh setzte sich steil in seinem Sessel auf und starrte ihn freudig an.

»Kenny«, sagte er, »haben Sie das Zeug mitgebracht? Ich dachte, Sie wären ...« In banger Verwirrung brach er ab. »Tot«, sagte er schwach.

»Ich bin nicht Kenny«, sagte Ken bewegt.

Mackintosh ließ sich in den Sessel zurückfallen. »Wir haben das Geld verloren«, sagte er.

»Welches Geld?« fragte ich.

Zoe sagte: »Lassen Sie ihn. Sie bekommen doch keine vernünftige Antwort. Er redet von dem Geld, das er bei einer Immobilienspekulation verloren hat. Das läßt ihm keine Ruhe. Jedesmal, wenn ihn etwas beunruhigt oder er was nicht versteht, kommt er darauf zurück.«

Ich fragte Ken: »Ist das die Geschichte, von der Ihre Mutter gesprochen hat?«

»Josephine?« Zoe schnitt unwillkürlich ein Gesicht. »Die ist für ein saftiges Unglück auch immer zu haben. Tut mir leid, Ken, aber ist doch wahr.« Zu mir gewandt, setzte sie hinzu: »Paps hat ein kleines Vermögen verloren, aber er war nicht der einzige. Auf dem Papier sah das Projekt ganz gut aus, denn man brauchte kein bares Geld anzulegen, und gesunde Erträge winkten. Zig Leute haben für die Riesenanleihe gebürgt - für den Bau eines Freizeit-und Vergnügungszentrums zwischen Cheltenham und Tewkesbury, und das wurde auch gebaut -, aber die Lage und das Konzept waren voll daneben, so daß keiner hinging und keiner es kaufen wollte und die Bank alle Anleihen gekündigt hat. Wenn ich das blöde Ding nur schon sehe! Es ist immer noch nicht fertig und gammelt vor sich hin, und die Hälfte meiner Erbschaft steckt da drin.« Sie unterbrach sich reumütig. »Ich bin genauso schlimm wie Paps, wenn’s ans Quasseln geht.«

»Wie nannte sich das?« fragte ich.

»Unser ganzes Geld«, sagte Mackintosh mit seiner hohen Stimme.

»Porphyr-Park«, sagte Zoe lächelnd.

Ken nickte. »Ein großes, nutzloses Objekt, vorwiegend in Dunkelrot. Ich fahre manchmal daran vorbei. Böse Geschichte.«

»Ronnie Upjohn«, sagte Mackintosh frohlockend, »hat seine Strafe gekriegt.«

Zoe sah resigniert drein.

»Was meint er damit?« fragte ich.

»Ronnie Upjohn ist ein Steward«, erklärte sie. »Jahrelang hat er Paps dem Jockey-Club gemeldet und ihn beschuldigt, Schmiergeld von den Buchmachern zu nehmen, was Paps natürlich nie getan hat.«

Mackintosh kreischte vor Lachen, ein offensichtlich zufriedener Missetäter.

»Paps!« protestierte Zoe, und wie ich sah, wußte sie, daß die Vorwürfe stimmten.

»Ronnie Upjohn hat eine Masse Geld verloren.« Mackintosh schüttelte sich vor Schadenfreude, schien dann vor unseren Augen den Faden zu verlieren und fiel wieder in Verwirrung zurück.

»Steinback hat 100 zu 6 notiert.«

»Was meint er damit?« fragte ich Zoe wieder.

Sie zuckte die Achseln. »Alte Wetten. Steinback war ein Buchmacher, er ist seit Jahren tot. Paps erinnert sich an Sachen, bringt sie aber durcheinander.« Sie sah ihren Vater mit einem Ausdruck an, der sich zusammensetzte aus Zuneigung, starkem Unwillen und Angst; Angst vermutlich aus Sorge über die nicht allzu ferne Zukunft. Das hatten sie und Russet Eaglewood gemein: beides Töchter, die die zerfallende Existenz ihrer Väter zusammenhielten.

»Da Sie schon mal hier sind«, sagte Zoe zu Ken, »würden Sie gern mit auf den Stallrundgang kommen?«

Daß Ken die Einladung mit Freuden annahm, freute wiederum Zoe. Mein Rehabilitierungsversuch schien bei ihr ebenso geglückt zu sein wie bei Russet. Womit aber die Welt noch nicht erobert war.

»Komm, Paps«, sagte Zoe und half ihrem Vater auf die Beine. »Abendstallzeit.«

Der alte Mann war körperlich irgendwie viel kräftiger, als ich angenommen hatte. Untersetzt und leicht O-beinig, ging er gerade und mit großen Schritten quer durch das Zimmer. Zu dritt folgten wir ihm hinaus in die geflieste Diele und durch den Gang, vorbei an der offenen Tür von Zoes Zimmer. Sie streckte den Kopf dort hinein und pfiff, und die sechs Hunde kamen herausgeschossen und brachen sich fast die Ohren vor Aufregung.

Diese erweiterte Gruppe drängte sich in einen Landrover vor der Hintertür und fuhr eine Straße hinter dem Haus entlang, die zu einem etwa eine Viertelmeile entfernten Stallhof aus gekalkten Ziegeln führte. Aus einem einstöckigen weißen Gebäude auf der einen Seite kam der Futtermeister zu uns heraus, und ich wohnte zum erstenmal als geladener Gast dem Ritual der britischen Abendstallzeit bei.

Alles wirkte durchaus vertraut. Der langsame Zug von einer Box zur anderen, die kurze Unterhaltung zwischen Trainer, Bursche, Futtermeister über das Befinden eines jeden Pferdes, der Klaps und die Möhre vom Trainer, der auch gelegentlich ein suspektes Pferdebein abtastete. Ken besprach die alten Verletzungen der Insassen mit Zoe, und der alte Mackintosh gab dem Futtermeister einen Schwall von Anweisungen, die ernst zur Kenntnis genommen wurden, sich für mich aber widersprüchlich anhörten.

Zwischendurch fragte ich Zoe, in welchen Boxen die beiden Atropin-Kolikfälle gestanden hatten.

»Reg«, wandte sie sich an den Futtermeister, »unterhalten Sie sich mal mit meinem Bekannten hier, ja? Antworten Sie ihm auf alle Fragen.«

»Auf alle!« hakte er nach.

Sie nickte. »Er ist auf der richtigen Seite.«

Reg, klein und drahtig wie Mackintosh selbst, musterte mich argwöhnisch und ohne Sympathievorschuß. Reg, dachte ich, könnte auf der falschen Seite sein.

Ich fragte ihn trotzdem nach den Boxen. Widerwillig zeigte er darauf und sagte mir ihre Nummern, 6 und 16. Die Zahlen waren über den Türen schwarz auf die weiße Wand gemalt. Nr. 6 und Nr. 16 unterschieden sich in nichts von den anderen.

Reg, der die Tüte mit den Mohrrüben trug, reichte Zoe und ihrem Vater an jeder Box welche und wollte dabei nicht von mir gestört werden.

»Kennen Sie jemanden namens Wynn Lees?« fragte ich ihn.

»Nein.« Die Antwort kam sofort, ohne vorhergehende Denkpause.

Der alte Mackintosh, der gerade eine Mohrrübe entgegennahm, hatte die Frage auch gehört und gab eine andere Antwort.

»Wynn Lees?« sagte er vergnügt mit seiner hohen, lauten Stimme. »Der hat mal einem die Hose an die Eier genietet.« Er lachte lang und spitz, ein wenig keuchend. »Mit der Nietmaschine«, setzte er hinzu.

Ich blickte zu Ken. Er war vor Schreck erstarrt, sein Mund stand offen.

»Paps!« protestierte Zoe automatisch.

»Stimmt doch«, sagte ihr Vater. »Ich glaub, das stimmt wirklich, weißt du.« Er runzelte bekümmert die Stirn, als die Erinnerung ihm entglitt. »Ein bißchen träum ich ja, ab und zu.«

»Kennen Sie ihn, Sir?« fragte ich.

»Wen?«

»Wynn Lees.«

Die blauen Augen funkelten mich an. »Er ist fortgegangen ... Ich nehme an, er ist tot. Sechs ist Vinderman.«

»Komm, Paps«, sagte Zoe und ging weiter an den Boxen entlang.

Er sagte schelmisch, als gäbe er einen Kinderreim zum besten: »Revised Edition, Wishywashy, Pennycracker, Glue.«

Zoe sagte: »Davon will doch keiner was hören, Paps.«

Ich fragte ihn: »Was kommt nach Glue?«

»Faldy, Vinderman, Kodak, Boy Blue.«

Ich lächelte breit. Er lachte zufrieden, freute sich.

»Das sind Namen von Pferden, die er vor langer Zeit trainiert hat«, sagte Zoe. »Die neuen Namen behält er nicht.« Sie faßte ihn beim Arm. »Laß uns weitergehn, die Burschen warten schon.«

Er ging bereitwillig mit, und wir kamen zu einem Pferd, von dem Zoe sagte, es sei viel kräftiger und zäher, seit es gelegt worden sei. Gelegt gleich kastriert, dachte ich. Die meisten männlichen Hindernispferde waren Wallache.

»Oliver Quincy hat das gemacht«, sagte Zoe.

Ken nickte. »Das kann er gut.«

»Er war ein paarmal hier, er hat drei oder vier gelegt. Paps mag ihn.«

Ken sagte neutral: »Wenn er will, kann Oliver ganz nett sein.«

»Oliver?« fragte Mackintosh. »Haben Sie Oliver gesagt?«

»Ja, Sir. Oliver Quincy.«

»Der hat mir einen Witz erzählt. Mußte ich drüber lachen. Ich weiß ihn nicht mehr.«

»Er erzählt gern Witze«, stimmte Ken zu.

Am Sonntag war Olivers Witz von den vier Tieren, die eine Frau am liebsten hat, nicht angekommen. Meiner Mutter würde er gefallen, dachte ich.

Wir kamen zur letzten Box. »Poverty«, sagte Mackintosh und gab einem Fuchs mit Stern eine Mohrrübe. »Wie macht er sich, Reg?«

»Immer besser, Sir.«

»Ist sie noch rossig?« fragte ihn Zoe.

Reg schüttelte den Kopf. »Sie geht in Ordnung für Samstag.«

»Wie heißt sie denn?« fragte ich. »Soll ich auf sie setzen?«

»Metrella«, sagte Zoe, »und tun Sie’s nicht. Danke, Reg. Das war’s dann. Ich bin nachher unten.«

Reg nickte, und Zoe scheuchte alles wieder in den Landrover bis auf die Hunde, die unterschiedlich schnell hinterdrein rannten.

Zoe lud uns halbherzig ein, noch auf ein Glas mit hereinzukommen, und war nicht böse, als wir ablehnten.

»Lassen Sie sich mal wieder sehen«, sagte Mackintosh herzlich.

»Danke, Sir«, sagte Ken.

Ich schaute an der breiten Vorderfront entlang, dem verwitterten Gemäuer mit seinem Mühlrad auf der anderen Seite, an dem alten, für immer verschwundenen Bach.

»Herrliches Haus«, sagte ich. »Ein Stück Geschichte. Ich wüßte gern, wer früher hier gewohnt hat.«

»Da es schon zweihundert Jahre alt ist, kann ich Ihnen nicht alle aufzählen, aber die Leute, von denen Paps es gekauft hat, das war eine Familie Travers.«

Ken wollte nicht über die Mackintoshs mit mir reden, sondern über seine Sitzung mit dem Kommissar, die ihn mehr als alles andere beschäftigte. Als wir zu seinem

Wagen kamen, blieben wir noch eine Weile in meinem sitzen, und er erzählte mir, was sich im Büro getan hatte, nachdem ich gegangen war.

»Kommissar Ramsey wollte wissen, ob uns irgendwelche Gummihandschuhe fehlen. Also wirklich, wie sollen wir das beantworten? Die kaufen wir in Hunderter-Kartons. Wenn sie ausgehen, ordern wir nach. Carey sagte ihm, er solle uns was Leichteres fragen.«

»Carey war mit Ihnen da?«

»Ja, eine Zeitlang. Ich sagte Ramsey, daß wir Handschuhe in verschiedenen Größen haben. Yvonne braucht sechseinhalb. Meine sind viel größer. Er hat eine Unmenge Fragen gestellt. Woraus die Handschuhe bestehen. Wo wir sie kaufen. Wie oft wir sie zählen. Wie wir sie loswerden. Ich fragte ihn, ob er irgendwelche gebrauchten Handschuhe gefunden habe, die herumlagen, aber das wollte er nicht sagen.«

Als er Luft holte, sagte ich: »Woraus bestehen sie denn?«

»Aus Latex. Sie haben sie doch oft genug gesehen. Jedes Paar ist einzeln steril verpackt. Sie haben gesehen, wie ich sie in den Abfallbehälter werfe. Ich meine, es kann sein, daß ich bei einer Operation drei Paar davon verbrauche. Kommt immer drauf an. Dann verlegte er sich also auf Kittel, Kappen und Mundschutz, und da gibt es zwar weniger Größen, aber sonst ist es dasselbe. Wir werfen sie weg. Wir werfen die Verpackung weg. Wir könnten eigentlich nur beschwören, daß keine Laborkittel fehlen, denn die sind nicht zum Wegwerfen, die kommen in die Reinigung. Ramsey meinte, ob es nicht Verschwendung sei, so viel wegzuwerfen. Er hat keine Ahnung von aseptischem Arbeiten. Von Überschuhen hatte er noch nie was gehört. Nachdem eine solche Armee von Ärzten, Polizeibeamten und Fotografen durch den Operationssaal marschiert ist, hätte ich eigentlich gedacht, daß man alle Hoffnung, herauszubekommen, wer da drin war, aufgeben kann.«

»Mhm.«

»Und wie kommt er darauf, daß jemand Asepsis braucht, um einen Mord zu begehen?«

»Das haben Sie mir selbst gesagt.«

»Und zwar?«

»Um keinen verräterischen persönlichen Abfall bei Scott zu hinterlassen. Kein Haar, keine Haut, keine Fusseln, kein gar nichts.«

Er kniff die Augen zusammen. »Glauben Sie das wirklich?«

»Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, sie haben keine Fingerabdrücke auf dem Nahthefter gefunden und gehen deshalb davon aus.«

»Entsetzlich, das alles«, sagte er.

»Was haben sie sonst noch gefragt?«

»Sie fragten, ob ich glaube, daß Scott die Pferde getötet hat.«

»Mhm.«

»Was heißt da >mhmTierpfleger.«

»Und Anästhesist.«

»Sie sind genauso schlimm wie die Polizei.«

»Die Möglichkeit bestand doch immer«, gab ich zu bedenken. »Ich sage ja nicht, daß er sie umgebracht hat, sondern daß er die Fähigkeit und die Gelegenheit dazu hatte. Genau wie Sie.«

Er dachte darüber nach. »Oh.«

»Vielleicht hat er herausgefunden, wer sie umgebracht hat«, sagte ich.

Ken schluckte. »Ich habe Ihnen nicht geglaubt, als Sie sagten, die Sache sei gefährlich. Ich meine, Pferde töten ist eine Sache, aber einen Menschen töten ist etwas ganz anderes.«

»Gefährlich wird es, wenn man Mittel und Wege hat, spurlos zu töten.«

»Ja, verstehe.«

»Und Scott ist schon der zweite Tote hier.«

»Der zweite? Ach, Sie meinen den Brandstifter?«

»Alle vergessen ihn«, sagte ich. »Oder sie, natürlich.«

»Sie?«

»Was ist mit dieser Pflegerin, die im Streit gegangen ist?«

»Die hat die Polizei doch sicher überprüft!«

»Ja, wahrscheinlich«, überlegte ich. »Wie wär’s, wenn wir Nagrebb besuchten?«

Er schüttelte sich beim Gedanken daran. »Nagrebb ist schlimm genug, aber sein Sohn ist noch schlimmer.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, er habe eine Tochter.«

»Hat er auch. Zwei Söhne und eine Tochter. Einer von den Söhnen ist ebenfalls Springreiter, und er ist der gemeinste Hund, der je in einem Sattel gesessen hat.«

»Das will schon was heißen, wo doch Wynn Lees noch da ist.«

»Den werden Sie als nächstes besuchen wollen.«

»Nein, das glaube ich eigentlich nicht.«

»Einen Rest Verstand haben Sie also noch.«

»Nun«, sagte ich, »wer hat denn das Pferd von Fitzwalter trainiert?«

»Er selbst. Er hat eine Lizenz.« »So?« Ich wußte nicht, warum mich das erstaunte. Viele Besitzer von Hindernispferden trainierten ihre Pferde selbst. »Sie sagten, glaube ich, es war ein Hengst?«

»Ja. Ein dreijähriger Hengst. Er hatte als Zweijähriger auf der Flachen gesiegt, und Fitzwalter hat ihn gekauft, weil er sie gern auf Leistung trimmt und sie als Drei- und Vierjährige in Hürdenrennen laufen läßt und etwas später dann über die Hindernisse.«

»Wie ist er?«

»Fitzwalter? Rechthaberisch, aber als Trainer gar nicht so übel. Wenn Sie daran denken, ihn zu besuchen, würde ich mitkommen. Er hat den Tod seines Pferdes recht gut aufgenommen.«

»Wo wohnt er?«

»So fünf Meilen von hier. Soll ich anrufen, um zu sehen, ob er da ist?«

»Wäre vielleicht ganz gut.«

»Er hat mich allerdings nicht sausen lassen. Ich meine, Sie brauchen ihn nicht umzustimmen wie die anderen. Und wie haben Sie bloß Zoe so schnell besänftigt? Sie war ja Wachs in Ihren Händen. Nicht eine Kralle zu sehen.«

»Ich weiß nicht. Ich fand sie attraktiv. Das hat sie wahrscheinlich gemerkt.«

»Attraktiv!«

»Auf ihre Weise.«

»Erstaunlich. Na, jedenfalls beschäftigt uns Fitzwalter quasi auf Vertragsbasis, und der Vertrag besteht noch.«

»Gut - können Sie denn bei ihm reinschneien, ohne daß er Sie ausdrücklich ruft?«

Er nickte. »Ich schau da oft im Vorbeifahren kurz rein.«

»Dann nichts wie los!«

Er suchte in seinem Adreßbüchlein die Nummer heraus und rief an. Offenbar war Fitzwalter zu Hause, denn Ken stieg von meinem Wagen in seinen um und fuhr mir voran, über die Felder und eine Serpentine hinauf zu einer kahlen Hochfläche, auf der ein graues, unscheinbares Steinhaus stand. Direkt daneben ein hektargroßer Autofriedhof voller zertrümmerter und verrosteter Wagen, eine Schutthalde von alten Träumen.

Wir bogen von der Straße auf eine gerade Zufahrt, die an dem Haus vorbeiführte und an einem kleinen, nach hinten offenen Stallhof endete, der aussah, als wäre er aus alten Schuppen, einer Scheune, ein oder zwei Garagen und einem Hühnerstall zusammengezimmert.

»Fitzwalter ist Alteisenhändler«, erklärte Ken unnötigerweise, als wir ausstiegen. »An Wochenenden wimmelt es auf diesem Schrottplatz von Leuten, die nach Einzelteilen, Reifen, Ventilen, Sitzen und nach Kolben suchen, er verkauft alles. Die ausgeschlachteten Kadaver preßt er dann und läßt sie einschmelzen. Verdient ein Vermögen damit.«

»Eigenartige Kombination, Altmetall und Pferde«, sagte ich.

Ken gab belustigt zurück: »Sie würden staunen. Die Hälfte aller Jugendlichen, die bei Springturnieren und Gymkhanas den Pokalen nachjagen, werden auf diese Weise finanziert. Na gut, nicht die Hälfte, aber jedenfalls ein Teil.«

Auf dem Hof standen Türen offen, Burschen schleppten Eimer: Die Abendstallzeit war in vollem Gang. Fitzwalter, von Ken schlicht Fitz genannt und auch so vorgestellt, kam aus einem garagenartigen Stand und begrüßte uns mit einem Winken. Er trug geflickte, schwarz mit Öl verschmierte Kordhosen und ein großkariertes derbes Wollhemd. Keine Jacke, trotz der kalten Luft. Er hatte glattes schwarzes Haar, dunkle Augen, sonnengebräunte Haut, war dünn, energisch und um die Sechzig.

»Sie sollten ihn mal auf der Rennbahn sehen«, sagte Ken leise, als wir über den Hof gingen. »Dort trägt er Maßanzüge und sieht aus wie ein eleganter Städter.«

Im Augenblick sah er eher wie ein Zigeuner aus, aber sein Englisch war gepflegt und sein Benehmen geschäftsmäßig. Er entschuldigte sich, daß er uns nicht die Hand gab, da er Sulfanilamid-Puder an den Fingern hatte, und wischte sie statt dessen beiläufig an seiner Hose ab. Ken kam ihm offenbar wie gerufen, denn er bat ihn, nach einem freundlichen Nicken in meine Richtung, sich doch schnell einmal den Ausschlag am Kniegelenk seiner Stute anzusehen.

Wir gingen zu der Box, aus der er gekommen war und die, wie sich zeigte, eine ungeheure fuchsrote Hinterhand und einen peitschenden Schwanz beherbergte. Vermutlich gehörte dazu auch ein Kopf und das übliche Vordergestell, aber die waren außer Sicht. Ken und Fitz glitten unbekümmert an der Auskeilzone vorbei, doch ich blieb zurück, außer Reichweite.

Da ich von der fachlichen Beratung im Innern nichts hören konnte, beobachtete ich statt dessen das Treiben draußen auf dem Hof und lauschte dem Klappern und Klirren der Eimer.

Hier kam mir nichts bekannt vor. In meinem Gedächtnis herrschte Leere.

»Versuchen Sie es lieber mit Vaseline«, sagte Ken beim Herauskommen. »Halten Sie den Ausschlag eine Zeitlang feucht, statt ihn vorschnell zu veröden. Sonst sieht sie ja ganz gut aus.«

Er und Fitzwalter gingen über den Platz aus festgebackener Erde und welkem braunem Unkraut auf die Scheune zu. Als ich ihnen folgte, sah ich dort drinnen zwei geräumige Stallboxen, stabil genug gebaut für Zugpferde, aber bewohnt von zwei schmalen, fit aussehenden Braunen, die an der Wand angehalftert waren.

Ken und Fitzwalter schauten sie sich der Reihe nach an. Ken tastete die Beine ab. Ausgiebiges Nicken auf beiden Seiten.

»Wie viele Pferde trainieren Sie?« fragte ich Fitzwalter interessiert.

»Sechs zur Zeit«, sagte er. »Jetzt ist ja gerade Hauptsaison. Ich habe Platz für sieben, aber einen haben wir vor einiger Zeit verloren.«

»Ja. Ken hat es mir erzählt. Pech.«

Er nickte und fragte Ken: »Haben Sie rausbekommen, was mit ihm war?«

»Nein, leider nicht.«

Fitzwalter kratzte sich den Nacken. »Guter kleiner Hengst«, sagte er, »schade, daß er sich am Knie verletzt hat.«

»Hatten Sie ihn versichert?« fragte ich mitfühlend.

»Ja, aber nicht hoch genug.« Er zuckte unbekümmert die Achseln. »Manche versichere ich, manche nicht. Meistens ist die Prämie zu hoch, so daß ich lieber verzichte. Ich lasse es drauf ankommen. Aber ihn, na ja, den hatte ich teuer gekauft und mich deshalb auch abgesichert. Allerdings nicht genügend. Mal gewinnt man, mal verliert man.«

Ich lächelte unverbindlich. Vielleicht log er, dachte ich.

»Seriöse Versicherungsgesellschaft, ja?«

»Sie haben bezahlt, das ist die Hauptsache.« Er lachte aus vollem Halse und führte uns dann aus der Scheune heraus. »Ich lasse die Fünfjährige morgen in Worcester laufen«, sagte er zu Ken. »Wie wär’s mit einem Blutbild, um zu sehen, ob sie gut in Form ist?«

»Klar«, sagte Ken, und schon holte er die für eine

Blutabnahme nötigen Utensilien aus seinem Wagen und erklärte Fitzwalter, für die Auswertung werde er auf das Labor eines benachbarten Tierarztes zurückgreifen. »Unseres ist ja in Rauch aufgegangen«, sagte er, »wenn Sie sich erinnern.«

Fitzwalter nickte, dankte ihm und bot uns zu trinken an, doch auch hier lehnten wir ab. Er blickte Ken abwägend an, wie er es zwischendurch immer wieder getan hatte, und gab sich dann einen Ruck.

»Einer von meinen Stallburschen«, sagte er, »hat mir ein Gerücht erzählt, das ich kaum glauben kann.«

Ken sagte: »Was für ein Gerücht?«

»Daß einer von Ihren Leuten heute früh ermordet worden ist.« Er sah Ken prüfend ins Gesicht und erhielt die Bestätigung.

»Wer denn? Doch nicht etwa Carey!«

»Scott Sylvester, unser Anästhesist«, sagte Ken widerstrebend.

»Was ist passiert?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Ken und vermied bewußt, auf Scotts Zustand einzugehen, »Es wird in den Nachrichten kommen ... und in den Zeitungen.«

»Sie scheint das ja nicht sehr zu kümmern«, rügte Fitzwalter. »Ich hatte erwartet, Sie würden es mir sagen. So dachte ich schon, es könnte nicht wahr sein. Wie ist er umgebracht worden?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Ken verlegen. »Die Polizei untersucht es noch.«

»Das hört sich aber nicht gut an.«

»Es ist verheerend«, gab Ken zu. »Wir bemühen uns, normal weiterzumachen, aber ich weiß offen gestanden nicht, wie lange wir dazu noch in der Lage sind.«

Fitzwalters dunkle Augen blickten nachdenklich in die Ferne. »Ich werde mit Carey reden müssen«, sagte er.

»Carey ist sehr durcheinander. Scott war lange bei uns«, sagte Ken.

»Ja, aber warum wurde er umgebracht? Sie müssen doch mehr wissen, als Sie sagen.«

»Er lag tot in der Klinik, als wir heute morgen hinkamen«, sagte Ken zu ihm. »Im Operationssaal. Die Polizei kam und schaffte ihn weg und stellte uns Fragen, aber bis jetzt haben wir keine Antworten, und die Polizei hat uns ihre Mutmaßungen nicht mitgeteilt. Es ist einfach noch zu früh. Morgen werden wir mehr wissen.«

»Aber«, beharrte Fitzwalter, »ist er erschossen worden? War Blut da?«

»Ich glaube nicht«, sagte Ken.

»Kein Gewehr?«

Ken schüttelte den Kopf.

»Selbstmord?«

Ken schwieg. Ich antwortete an seiner Stelle: »Es war kein Selbstmord.«

Fitzwalter wandte mir erstmals seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu. »Woher wissen Sie das?«

»Ich habe ihn gesehen. Seine Hände und Füße waren gefesselt. Er kann sich nicht selbst umgebracht haben.«

Er akzeptierte meinen entschiedenen Ton. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte er.

»Ein Bekannter von Ken.«

»Nichts mit der Praxis zu tun?«

»Nur zu Besuch.«

»Ein Tierarzt?«

»Aber nein«, sagte ich, »keineswegs.«

Er verlor das Interesse und wandte sich weder Ken zu. »Ich finde es merkwürdig, daß Sie mir das nicht gleich erzählt haben.«

»Ich versuche es zu verdrängen«, gestand Ken.

Verdrängen konnte er es, vergessen unmöglich. Ich würde Scotts Gesicht niemals vergessen. Die Erinnerung daran war den ganzen Tag mit Anfällen von Übelkeit zurückgekehrt. Ken war es bestimmt ähnlich ergangen.

Fitzwalter zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich bin dem Mann nur mal begegnet, als das Pferd gestorben ist. Da dachte ich, er sei eingeschlafen und habe nicht richtig aufgepaßt, aber er hätte es wohl so oder so nicht retten können. Das ist der Mann, ja?«

Ken nickte.

»Tut mir leid.«

»Danke«, sagte Ken. Er seufzte tief. »Als es noch bloß um tote Pferde ging, war das Leben einfacher.«

»Ja, ich hörte, Sie hätten eine Epidemie gehabt.«

»Jeder hat davon gehört«, sagte Ken verzagt.

»Und einen Brand und noch eine Leiche. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Hewett und Partner das überstehen wollen.«

Ken antwortete nicht. Je öfter jemand die Katastrophen aneinanderreihte, desto unmöglicher wurden die Aussichten. Selbst mit einer raschen Patentlösung für alles war der Schiffbruch vielleicht nicht aufzuhalten, und Patentlösungen gab es nun mal nur im Wolkenkuckucksheim.

»Zeit zu gehen«, sagte ich, und Ken nickte.

»Wie sieht es für uns aus?« fragte er Fitzwalter. »Für Sie und mich?«

Fitzwalter zuckte die Achseln. »Ich brauche einen Tierarzt. Sie kennen die Pferde. Ich werde Carey anrufen.

Mal sehen, was sich tun läßt.«

»Vielen Dank.«

Fitzwalter begleitete uns ein Stück bis zu unseren Wagen.

»Wenn Sie den alten Ford da mal verschrotten wollen«, sagte er zu Ken, »mach ich Ihnen ein Angebot.«

Kens Auto war altgedient und klapprig, was ihn nicht daran hinderte, es empört zu verteidigen: »In der Kiste stecken noch Hunderte von Meilen.«

Fitzwalter bedachte ihn mit einem mitleidigen Kopfschütteln und wandte sich ab. Ken tätschelte seinen alten Bus zärtlich und zwängte seine schlaksige Gestalt hinter das Lenkrad. Wir wurden beide in Thetford Cottage erwartet, doch anscheinend hatte er es damit ebensowenig eilig wie ich.

»Wie wär’s mit einem Halben?« fragte er. »Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen, und mir ist so flau, daß ich offen gestanden nicht länger als fünf Minuten mit Greg reden könnte, ohne in Leichenstarre zu verfallen.«

Die letzten Worte hätte er am liebsten zurückgenommen. Scott war in unseren Köpfen allgegenwärtig.

»Ich fahre Ihnen nach«, sagte ich, und er nickte.

In der einsetzenden Dämmerung fuhren wir an dem Schrottplatz vorbei, die Serpentine hinunter und gelangten über die Feldwege zu einem ruhigen alten Pub, in dem nur die chronisch Durstigen bereits die Theke stützten.

Bier konnte ich jetzt keins sehen, und so trank ich einen Brandy mit viel Wasser: nicht unbedingt ideal auf nüchternen Magen, aber doch beruhigend für die Nerven.

»Es ist aussichtslos, nicht?« Ken starrte in sein Glas. »Als ich mit Fitz sprach, ist mir das klargeworden. Sie machen mir manchmal Hoffnung, aber das ist eine Illusion.« »Wie alt ist Nagrebb?« fragte ich.

»Nicht Nagrebb. Da gehe ich nicht hin.«

»Sechzig oder älter?«

»Er sieht nicht so aus, aber er hat einen über dreißigjährigen Sohn. Was liegt daran?«

»Alle Besitzer oder Trainer von den toten Pferden sind Männer um die Sechzig oder älter.«

Er starrte mich an. »Na und?«

»Und was weiß ich. Ich suche nur nach Ähnlichkeiten.«

»Sie kennen mich alle«, sagte Ken. »Das haben sie gemeinsam.«

»Kennen sie Oliver auch alle?«

Ken dachte darüber nach. »Ich wüßte nicht, daß Wynn Lees ihm schon untergekommen ist. Die anderen kennt er wahrscheinlich. Sie alle kennen natürlich Carey.«

»Na ja, klar. Aber sonst ... gibt es sonst noch etwas, was sie verbindet?«

»Ich verstehe nicht ganz, was das soll«, sagte er, »aber wahrscheinlich ist alles einen Versuch wert.«

Ich sagte: »Wir haben einen perversen Pferdeschinder, einen verkalkten alten Mann, einen Altmetallhändler, einen skrupellosen Springpferdetrainer, den tyrannischen alten Vater von Russet Eaglewood und einen Steward.«

»Was für einen Steward?«

»Ronnie Upjohn.«

»Aber sein Pferd hat doch überlebt.«

»Er hat das richtige Alter.«

»Das ist Unsinn«, sagte Ken. »So kommen Sie nie weiter. Ein Viertel der Bevölkerung ist über sechzig.«

»Sie haben vermutlich recht.« Ich schwieg, dann sagte ich: »Kannten sie auch alle Ihren Vater?«

Er warf mir einen leicht verstörten Blick zu, wich aber der Frage nicht aus.

»Der alte Mackintosh offensichtlich schon«, sagte er. »War das nicht allerhand? Daß ich ihm so ähnlich sehe, wußte ich gar nicht.«

»Wer noch?«

»Keine Ahnung. Da er Tierarzt hier in der Gegend war, nehme ich an, er hat die meisten von ihnen gekannt.«

»Und er wußte natürlich von Wynn Lees.«

»Aber das kann doch jetzt keine Rolle mehr spielen, nach so langer Zeit.«

»Ich denke nur laut«, sagte ich. »Kennen sie sich alle untereinander?«

Er runzelte die Stirn. »Eaglewood kennt Lees und Mackintosh und Upjohn. Bei Nagrebb weiß ich’s nicht. Die drei Trainer kennen sich natürlich gut. Sie treffen sich ja dauernd beim Rennen. Nagrebb lebt in einer anderen Welt. Wynn Lees auch.«

»Und das Ganze hat angefangen, nachdem Wynn Lees aus Australien zurückgekommen ist.«

»Ich nehme es an.«

Völlig deprimiert tranken wir unsere Gläser leer und fuhren nach Thetford Cottage. Belinda, die müde aussah, hatte Vicky und Greg bereits von Scott erzählt, und so verbrachten wir einen langen gedrückten Abend. Vicky erbot sich, zur Verbesserung unserer Laune zu singen, doch Belinda war damit nicht einverstanden. Sie und Ken gingen um zehn, und wir anderen legten uns erleichtert schlafen.

Am Morgen fuhr ich wie von einem Magnet angezogen wieder zur Klinik, doch da tat sich nichts. Die Türen des Containers waren zu. Der gewöhnlich überfüllte Parkplatz war halb leer. Zwei Polizeiwagen standen vor der Klinik, aber nirgends war eine Schranke, die andere Fahrzeuge ferngehalten hätte.

Ich parkte am Vordereingang und ging hinein und fand Ken, Oliver, Jay und Lucy düster schweigend im Büro sitzen.

»Morgen«, sagte ich.

Niemand konnte sich zu einer Begrüßung aufraffen.

»Carey hat die Praxis geschlossen«, sagte Ken, die allgemeine Stimmung erklärend. »Er hat sämtliche Kleintiertermine von der Sekretärin absagen lassen. Sie war im Container und telefonierte herum, als wir kamen. Jetzt nimmt sie die Anrufe entgegen und sagt den Leuten, sie sollen sich andere Tierärzte suchen.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß er uns das antut«, rief Lucy aus. »Er hat uns nicht mal gefragt.«

»Er hat gar nicht das Recht dazu«, sagte Oliver. »Wir haben eine Gemeinschaftspraxis. Da kann er zwar aussteigen, wenn er will - je eher, desto besser -, aber er kann uns nicht einfach so um unsere Arbeit bringen.«

Jay sagte: »Meine Rinder sind ja von der Unheilswelle hier gar nicht berührt. Ich werde meine Klienten anrufen und ihnen sagen, daß ich mich selbständig gemacht habe.«

»Manchmal brauchen Sie die Klinik«, sagte Ken.

»Wenn das anfällt, werde ich den OP mieten.«

»Gute Idee«, meinte Oliver.

Ich unterließ es, darauf hinzuweisen, daß es für sie als gemeinsame Besitzer, die jeder einen Teil der Hypothek abtrugen, schwerer sein könnte, von der Klinik loszukommen, als sie dachten. Das ging mich nichts an.

»Ist Carey hier?« fragte ich.

Sie schüttelten die Köpfe. »Er war hier. Er hat uns

Bescheid gesagt. Es hat uns die Sprache verschlagen. Dann ist er wieder weg.«

»Und die Polizei? Ihre Wagen sind da.«

»Im OP«, sagte Lucy. »Wir wissen nicht, was sie da machen.«

Wie aufs Stichwort erschien ein Polizist am Eingang und bat die Tierärzte, mit ihm zum Kommissar zu kommen. Sie strömten hinaus und folgten ihm durch den Gang, und ich hätte vielleicht versuchen können, mich unauffällig dranzuhängen, doch das Telefon auf dem Schreibtisch brachte mich auf eine bessere Idee, und ich rief statt dessen Annabel im Jockey-Club an.

»Ah, gut«, sagte sie, als ich mich meldete, »ich wußte nicht, wie ich Sie erreichen kann. Ein paar Leute, die ich kenne, suchen einen neuen Untermieter. Sind Sie interessiert?«

»Brennend«, sagte ich.

»Wann können Sie kommen?«

»Heute abend«, sagte ich.

»Können Sie mich um sechs bei mir zu Hause abholen?«

»Ja, um sechs, und ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Muß jetzt Schluß machen. Tschüs.«

»Tschüs«, sagte ich, aber sie war schon weg. Ich dachte beim Auflegen, daß das Leben doch nicht nur aus Not und Verderben bestand.

Fast sofort klingelte das Telefon wieder, und da niemand aus der Chirurgie herbeigelaufen kam, nahm ich nach einigen Augenblicken den Hörer ab und sagte: »Hewett und Partner, was kann ich für Sie tun?«, genau wie Ken.

Eine Stimme am anderen Ende sagte: »Hier ist die Parkway Chemical Company. Wir müßten Kenneth McClure sprechen, von dem wir heute morgen einen Brief erhalten haben.«

Ich sagte: »Am Apparat.« Im Ausland lügen für das eigene Land .!

»Schön, Dann also zu Ihrer Anfrage. Ich bin übrigens der Verkaufsleiter. Wir bedauern, daß es bei Ihnen gebrannt hat.«

»Danke. Es ist ein Chaos.«

»Müssen Sie jetzt alles ersetzen, was verlorengegangen ist?«

»Ja«, sagte ich. »Wenn Sie uns die früheren Rechnungen zuschicken würden, könnten wir eine neue Einkaufsliste zusammenstellen.«

»Ausgezeichnet«, sagte er. »Sie erinnern sich aber doch sicher auch, daß einige Stoffe darunter sind, die wir nicht mit der Post aufgeben können. Da werden Sie wie letztes Mal wieder jemand schicken müssen, der sie abholt.«

»Okay«, sagte ich.

»Unseren Unterlagen zufolge war Ihr Bote letztes Mal ein Mr. Scott Sylvester. Er ist abholberechtigt, aber wenn Sie jemand anders schicken, dann benötigen wir einen vollständigen Nachweis seiner Legitimation und ein Begleitschreiben Ihres Labors. Auch Mr. Sylvester würde sich ausweisen müssen. Tut uns leid und alles, aber Sie wissen, wir müssen vorsichtig sein.«

»Ja«, sagte ich. »Könnten Sie uns die Rechnungskopien möglichst bald zukommen lassen?«

»Natürlich. Wir stellen sie gerade eben zusammen. Sie gehen heute noch raus.«

»Könnten Sie auch eine Kopie des Lieferscheins mitschicken, den Sie Scott Sylvester sicher gegeben haben, als er die Ware bei Ihnen abgeholt hat?«

»Natürlich, wenn Sie möchten.« »Es erleichtert uns die Neuordnung unserer Unterlagen.«

»Selbstverständlich. Ich suche das gleich heraus.«

»Haben Sie herzlichen Dank.«

»Keine Ursache. Wir helfen gern.« Er legte sanft den Hörer auf, und ich stand da und dachte über die mögliche Bedeutung dessen nach, was er mir erzählt hatte.

Scott hatte mindestens eine Substanz, die nicht mit der Post versandt werden durfte, persönlich abgeholt. Es konnte etwas Harmloses sein. Es konnte alles mögliche sein. Ich hätte den Verkaufsleiter gern gefragt, was Scott eigentlich befördert hatte, doch er hatte davon gesprochen, als wüßte ich Bescheid, und ich hatte ihn nicht mißtrauisch machen wollen. Morgen früh oder wann immer die Antwort durch den Briefkastenschlitz von Thetford Cottage fiel, würden wir es herausfinden. Geduld, dachte ich, war manchmal die schwerste aller Tugenden.

Ich kam pünktlich um sechs bei Annabel an, und sie öffnete auf mein Klingeln die Tür.

Ihre Kleidung bestand diesmal aus einer flatterigen schwarzen Seidenhose und einem weiten Top, das aussah, als sei es ganz aus zarten weißen Federn. Dazu trug sie silberne Stiefel, einen breiten silbernen Gürtel, silberne Ohrringe und hatte gegen die Kälte ein schwarzes Cape überm Arm. Ihr Mund war rosa, und ihre Augen lächelten. Ich küßte sie auf die Wange.

»Wir können eigentlich gleich mit Ihrem Wagen weiterfahren«, sagte sie. »Die Leute erwarten uns.«

»Prima.«

Unterwegs erzählte sie mir, daß die Leute ein Wohnschlafzimmer anboten, daß ich aber Putzen und Frühstück in Kauf nehmen müßte.

»Es liegt ihnen daran, Sie wieder loswerden zu können, wenn ihnen Ihre Gewohnheiten nicht passen. Sie möchten keinen Rechtshandel.«

»Da komme ich nicht mit.«

»Das Mieterschutzgesetz natürlich.«

Ich war mit den Mieterschutzbestimmungen nicht vertraut und wurde in einem kurzen Vortrag darüber belehrt, daß es derzeit unmöglich war, unerwünschte Mieter herauszusetzen, sofern der Vermieter nicht für sie putzte und sie am besten auch noch beköstigte.

»Putzen und Frühstück, da bin ich voll dabei«, sagte ich. »Das paßt mir ausgezeichnet.«

Die Wohnung selbst lag im vierten Stock eines alten sechsstöckigen Wohnblocks und war mit einem knarrenden alten Aufzug zu erreichen. Die Wohnungsinhaber waren ein bärtiger Professor und seine verschüchterte Frau. Das Zimmer, das sie anboten, war groß und altmodisch, mit Blick auf benachbarte Dächer und Feuerleitern. Es gefiel mir nicht sonderlich, aber zumindest war es eine Möglichkeit, Fuß zu fassen. Wir einigten uns über die Bedingungen, ich ließ ihnen als Anzahlung einen Scheck da, und Annabel und ich knarrten hinunter zum Wagen.

»So furchtbar toll ist das ja nicht«, meinte sie zweifelnd. »Ich hatte es vorher nicht gesehen.«

»Es ist ein Anfang. Ich schau mich später nach etwas anderem um.«

Immerhin hatte die Wohnung den Vorzug, daß sie keine zwei Meilen von Annabels Haus entfernt war, und diese zwei Meilen hoffte ich oft zu fahren. Die Bischofstochter ließ mich jetzt schon in so gewichtigen, ungewohnten Begriffen denken wie »für immer«, »fest« und »Bindung«, und die Vernunft sagte mir, daß es dafür zu früh war. Es war immer zu früh gewesen; die Vernunft hatte immer gesiegt. Die Vernunft hatte es noch nie mit einer Annabel zu tun gehabt.

»Zwanzig vor sieben«, sagte sie nach einem Blick auf ihre übergroße schwarze Armbanduhr. »Brose hat jemand aufgetan, mit dem er Sie bekannt machen kann, wenn Sie möchten. Wegen der Versicherung von Pferden.«

»Ja, bitte«, sagte ich interessiert.

»Brose sagt, der Mann geht immer in einer Hotelbar nicht weit vom Londoner Sitz des Jockey-Clubs was trinken, und er müßte so um diese Zeit dort sein. Sie könnten ihn noch erwischen.«

»Sie kommen doch hoffentlich mit«, sagte ich.

Sie lächelte als Antwort, und ich fuhr unter ihrer Anleitung zu dem Treffpunkt. Es war nicht schwer zu finden, aber einen Parkplatz zu ergattern dauerte fast so lange wie die Fahrt dahin, und ich befürchtete, wir würden zu spät kommen.

Brose selbst war auch in der Bar und unterhielt sich mit einem kleinen glatzköpfigen Mann mit Spitzbauch und goldgerahmter Brille. Brose sah uns eintreten, da Annabel, wo sie auch auftauchte, aller Augen auf sich zog, und winkte uns zu sich.

»Dachte schon, Sie kämen nicht mehr«, sagte der hochgewachsene Mann.

»Kein Parkplatz«, erklärte Annabel ihm knapp.

»Darf ich Ihnen Mr. Higgins vorstellen?« sagte er und deutete auf den Spitzbauch. »Seine Gesellschaft versichert Pferde.«

Wir gaben uns die Hand und führten die Vorstellung zu Ende. Higgins’ Aufmerksamkeit blieb wie hypnotisiert auf Annabel gerichtet, während sie das Cape abstreifte und mit der Hand gegen den Strich über ihr Gefieder fuhr.

»Ehm«, sagte er. »O ja, Pferde.«

Ich spendierte allen etwas zu trinken, ein erträglicher finanzieller Aufwand, da Brose, Annabel und ich Zitronensaft wählten, zum großen Entsetzen von Higgins mit seinem doppelten Wodka und Tonic. Die Bar war eine von der dunklen Sorte, schummrige Beleuchtung und altes Holz, gediegen, blitzblank und überhaupt so aufgezogen, als ob noch die Zeit König Edwards herrschte, als draußen noch Pferdedroschken durch den verräucherten Londoner Nebel rasselten.

Brose sagte: »Ihr Fiasko kam in den Nachrichten. Ich wollte Higgs eben davon erzählen. Das ist außer Kontrolle geraten, wie?«

»So ziemlich«, gab ich zu.

»Was ist passiert?« fragte Annabel. »Was für ein Fiasko?«

Brose fragte etwas von oben herab: »Sehen Sie nicht fern? Lesen Sie keine Zeitung?«

»Manchmal schon.«

Er sagte: »Der Anästhesist von Hewett und Partnern ist in der Nacht zum Montag ermordet worden. Hat Ihnen der Stolz des Auswärtigen Amtes das nicht erzählt?«

»Ich hätte es ihr heute abend gesagt«, sagte ich.

Annabel hörte sich bestürzt den kurzen Bericht an, den Brose und ich ihr lieferten. Brose hatte sogar mit Kommissar Ramsey selbst gesprochen, der ihm erklärt hatte, die Ermittlungen seien im Gange.

»Das bedeutet, sie haben keinen Schimmer«, sagte Brose. »Ich habe ihnen unsere Dienste angeboten, wann immer sie die gebrauchen können, und das ist der momentane Stand der Dinge.«

Er sah mich listig an. »Was wissen Sie, was ich nicht weiß?«

In den Zeitungen, die ich gesehen hatte, war nicht von

Kränen und von Klammern die Rede gewesen, und ich nahm an, daß die Polizei ihre Gründe hatte, darüber zu schweigen. Ich hätte es Brose jetzt erzählt, doch da Higgins auf die Uhr sah, seinen Wodka austrank und Anstalten machte zu gehen, sagte ich zu Brose: »Erzähl ich Ihnen nachher« und zu Higgins: »Ich hätte wirklich gern Auskunft über die Versicherung von Pferden.«

Der Spitzbauch lagerte sich wieder hin. Ich spendierte ihm noch ein Glas, und damit war er fest verankert.

»Brose hat vorgeschlagen«, sagte Higgins mit seiner sonoren Baßstimme, »daß ich mal einfach rede, und wenn Sie was fragen wollen, haken Sie ein.«

»Großartig«, sagte ich.

»Pferde versichern«, begann er, »ist ein Risikogeschäft. Wir machen das nur nebenher, ja? Die Agenten rufen an, und wir treffen ein Abkommen. Die Prämien sind hoch, weil die Risiken hoch sind, verstehen Sie?«

Ich nickte. »Geben Sie uns ein Beispiel«, sagte ich.

Er überlegte kurz. »Angenommen, Sie haben einen guten Derby-Kandidaten, dann lohnt es sich wegen seines möglichen künftigen Zuchtwertes, ihn zu versichern. Wir handeln also aus, wie lange die Police laufen soll und was genau von ihr gedeckt wird. Normalerweise ist das Unfalltod, aber sie kann auch böswillige Verletzung, Fahrlässigkeit und Tod durch Krankheit umfassen. Da die meisten Pferde nicht in jungen Jahren eines natürlichen Todes sterben, ist das weniger riskant als Rennsportunfälle. Wir würden einer Police zustimmen, die Tod aus natürlichen Ursachen einschließt, würden sie aber jährlich überprüfen und die Prämie erhöhen. Nach zehn Jahren würden wir, außer bei Zuchthengsten, vielleicht auf jeden Fall nein sagen, aber im allgemeinen werden Rennpferde bis zu zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt. Das heißt, wenn man der Natur ganz ihren Lauf läßt. Die meisten Leute schläfern ihre alten Pferde vorher ein, wenn das humaner ist.«

»Oder billiger«, sagte Brose trocken.

Higgins kippte mit einem traurig zustimmenden Nicken die Hälfte seines zweiten Glases hinunter.

»Was ist mit einer Zuchtstute?« fragte ich.

»Tragend?«

»Tragend von einem Spitzenhengst.«

»Mhm. Wir würden sie versichern, sofern die Trächtigkeit einwandfrei erwiesen ist und normal verläuft. Das ist zwar nicht üblich, aber es ginge, besonders wenn die Decktaxe gezahlt werden muß, egal ob ein Fohlen geboren wird oder nicht. Kein Fohlen, kein Geld, ist die Regel. Alter der Stute?«

»Weiß ich nicht.«

»Es käme auf ihr Alter und ihre Zuchtleistung an.«

»Das kann ich Ihnen sagen«, schaltete sich Brose ein. »Sie war neun und war ein Jahr nichttragend gewesen, hatte aber vorher zwei gesunde Fohlen geboren, einen Hengst, eine Stute.«

Higgins zog die Augenbrauen hoch, bis sie über die goldene Fassung seiner Brille hinausragten. Ich merkte, wie sich gleichzeitig auch meine eigenen Brauen hoben.

»Woher wissen Sie das?« fragte ich.

»Peter, wirklich. Ich bin Detektiv von Beruf.«

»Entschuldigung.«

»Ich habe mir die Liste der Stuten besorgt, die in der vergangenen Saison von Rainbow Quest belegt wurden, und habe sie überprüft. Leute mit Deckhengsten wie Rainbow Quest sind wählerisch mit den Stuten, die sie annehmen, denn sie brauchen Fohlen von guter Qualität, soll der Wert des Hengstes bestehen und die Höhe des Deckgeldes erhalten bleiben.«

»Einleuchtend«, stimmte ich zu.

»Also«, sagte Brose, »habe ich den früheren Besitzer der Stute, die angeblich in Ihrer Klinik war, angerufen und ihn gefragt, wieso er sie an Wynn Lees verkauft hat. Er sagte, er sei wegen geschäftlicher Einbußen gezwungen gewesen, einige Sachen zu verkaufen. Seine Stute habe er auf das erste annehmbare Angebot hin verkauft. Er habe vorher noch nie etwas von Wynn Lees gehört, sagte er, und der Name fiel ihm auch erst wieder ein, als ich nachhalf. Völlig unkaufmännisch, kein Wunder, daß er in Schwierigkeiten steckte.«

»War die Stute tragend, als er sie verkauft hat?«

»Sagt er. Vielleicht war sie es, vielleicht auch nicht. Vielleicht dachte er, sie sei es, vielleicht hat er aber auch einen Vermögenswert veräußert, von dem er wußte, daß er nicht mehr bestand. Jedenfalls hat er an Wynn Lees verkauft.« Er hielt inne. »Haben Sie Gewebeproben von dem Fohlen besorgt?«

Ich nickte. »Haare. Auch Haare von der Stute. Sie sind zum Vergleich eingeschickt worden. Jetzt brauchen sie noch welche von Rainbow Quest.«

»Die besorge ich Ihnen«, sagte Brose. »Welches Labor macht die Vergleichsprobe?«

»Da muß ich Ken McClure fragen.«

»Fragen Sie ihn, und lassen Sie’s mich wissen.«

Ich bedankte mich sehr herzlich bei ihm. Er habe für Betrug nichts übrig, sagte er.

Higgins nickte und sagte: »Die Versuchung, ein versichertes Pferd zu töten, ist mit ein Grund für die hohen

Prämien. Betrug ist ein großes Problem. Manchmal ist der Schwindel offenkundig, aber wenn wir ein Pferd versichern und es bricht sich ein Bein, müssen wir zahlen, auch wenn wir glauben, daß jemand mit einer Eisenstange dahergekommen ist und draufgehauen hat.«

»Waren bei Ihrer Gesellschaft«, sagte ich, »auch schon Pferde versichert, die während oder nach chirurgischen Eingriffen gestorben sind?«

»In letzter Zeit nicht«, sagte er. »Sie sterben nicht oft bei Operationen. Ich kann nicht beschwören, daß noch nie so eins bei uns versichert war, aber ich wüßte nicht, daß wir dafür schon mal hätten zahlen müssen. Wohlgemerkt, ich kann hier nicht für andere Gesellschaften sprechen. Möchten Sie, daß ich mich umhöre?«

»Würden Sie das tun?«

»Für Brose immer.«

Brose sagte: »Danke, Higgs.«

Ich fragte: »Würden Sie ein Pferd auch speziell gegen den Tod bei einer Operation versichern?«

Higgins schürzte die Lippen. »Ja, wenn es bereits versichert wäre. Ich würde eine Zusatzprämie von einem Prozent verlangen und zahlen, wenn das Pferd stirbt.«

»Abscheulich, das alles«, meinte Annabel.

Brose und Higgins, groß und klein, schlank und dick, aufeinander eingespielt wie ein Komiker-Duo, stimmten ihr lächelnd zu. Higgins verabschiedete sich bald darauf und ging, doch Brose blieb und sagte sofort: »Erzählen Sie von dem Mord.«

Ich warf einen Blick auf Annabel.

»Sagen Sie es ruhig vor dem Mädchen«, ermunterte mich Brose, der mein Zögern offenbar richtig gedeutet hatte. »So eine zarte Pflanze ist sie nicht.« »Es ist aber ziemlich grausig«, gab ich zu bedenken.

»Wenn es zu blutig wird, stoppe ich Sie schon«, sagte sie.

»Da war kein Blut.«

Ich erklärte die Sache mit der Hebevorrichtung für betäubte Pferde. Brose nickte. Annabel hörte zu. Ich sagte ihnen, daß Scott auf den Operationstisch gehoben worden war und wie seine Arme und Beine in die Luft geragt hätten.

Brose kniff die Augen zusammen. Annabel blinzelte einige Male.

»Weiter«, drängte Brose, der mich beobachtete.

Ich erklärte, wie Tierärzte Wunden, auch Operationswunden, verklammerten. Ich beschrieb die kleinen Klammern. »Etwas anders als Heftklammern, aber das gleiche Prinzip. Wundklammern sind etwa drei Millimeter breit, nicht schmal wie normale Klammern. Wenn man den Klammerer an die Haut ansetzt und drückt, gehen die Klammern ziemlich tief rein, bevor sie umgebogen werden. Es ist schwer zu erklären.« Ich hielt inne. »Aus der Klammer wird ein kleiner eckiger Ring. Nur die Oberseite davon ist sichtbar. Der Rest liegt unter der Haut und zieht die beiden Seiten der Wunde zusammen.«

»Klar«, sagte Brose, doch Annabel war sich nicht so sicher.

»Die Klammern sind wie unpoliertes Silber in der Farbe«, sagte ich.

»Was soll das mit den Klammern?« wollte Annabel wissen.

Ich seufzte. »Scotts Mund war mit einer Reihe von Klammern verschlossen.«

Ihre Augen wurden schmal. Brose sagte: »Das ist ja ein Ding« und blickte nachdenklich drein.

»Vor oder nach dem Tod?« fragte er.

»Danach. Kein Blut.«

Er nickte. »Wie wurde er umgebracht?«

»Weiß ich nicht. Man konnte nichts sehen.«

»So wie die Pferde?«

»Wie die Stute vielleicht.«

»Passen Sie auf«, sagte Brose.

»Mhm.«

»Er ist doch nicht etwa in Gefahr«, fuhr Annabel erschrocken dazwischen.

»Wie nicht? Bei den ganzen Nachforschungen, die er betreibt?«

»Dann hören Sie damit auf«, sagte sie entschieden zu mir.

Brose betrachtete sie mit spöttischen Augen, und sie errötete ganz leicht. Ungebeten kamen mir all die schwierigen Wörter wieder in den Sinn. Es ist zu früh, es geht zu schnell, beharrte die Vernunft.

Brose richtete sich zu seiner vollen Größe auf, strich Annabel übers Haar und sagte zu mir, er werde von sich hören lassen. Annabel und ich blieben noch, als er gegangen war, und unterhielten uns lebhaft, wenn wir auch vieles unausgesprochen ließen.

Sie fragte nach meiner Zukunft im auswärtigen Dienst, und mir war, als hörte ich da das ferne Echo einer von ihrem Vater angeregten und gewünschten Sondierung.

»Haben Sie Ihren Eltern von mir erzählt?« fragte ich neugierig.

»Na ja, schon. So nebenbei. Ich hatte ihnen von den Japanern erzählt.« Sie hielt inne. »Also, wohin gehen Sie denn nach Ihrer Zeit in England?«

»Wohin man mich schickt.«

»Und schließlich werden Sie Botschafter?« »Kann ich noch nicht sagen.«

»Hängt die Beförderung zum Botschafter nicht bloß davon ab, daß man lange genug dabei ist?« Es klang nicht feindselig, aber ich nahm doch an, daß die Frage geradewegs vom Bischof stammte.

»Wer lange dabei ist«, sagte ich, »ist sehr kompetent.«

Ihre Augen lachten. »Keine schlechte Antwort.«

»In Japan«, sagte ich, »schleppen die Männer ihre Sachen in bunten Tragetüten herum statt in Jackentaschen oder Aktenmappen.«

»Wie in aller Welt kommen Sie jetzt darauf?«

»Nur so«, sagte ich. »Ich dachte, es wäre etwas, was Sie vielleicht gern wissen würden.«

»Ja, es bringt Licht in mein Leben, Haut mich glatt um.«

»In Japan«, sagte ich, »sind da, wo Westler nicht hinkommen, die Klos oft nur Löcher im Fußboden.«

»Sagenhaft. Weiter.«

»In Japan haben alle Einheimischen glattes schwarzes Haar. Alle Frauennamen enden mit -ko. Yuriko, Mitsuko, Yoko.«

»Und haben Sie auch auf dem Fußboden geschlafen und rohen Fisch gegessen?«

»Laufend«, stimmte ich zu. »Aber Fugu habe ich nie probiert.«

»Was in aller Welt ist Fugu?«

»Das ist der Fisch, der die meisten tödlichen Lebensmittelvergiftungen in Japan verursacht. Fugu-Restaurants bereiten ihn mit ungeheurer Sorgfalt zu, und trotzdem sterben Leute ...« Die Stimme versagte mir. Ich war stumm, wie versteinert.

»Was ist?« fragte Annabel. »Woran haben Sie gedacht?«

»Fugu«, sagte ich, und der Kloß in meinem Hals löste sich wieder, »ist einer der giftigsten Fische überhaupt. Sein Gift tötet schnell, da es das neuromuskuläre System lahmt und die Atmung stillstehen läßt. Bekannter ist er unter dem Namen Kugelfisch. Ich glaube, mir hat mal jemand gesagt, das Gift sei in so geringer Konzentration schon tödlich, daß es bei einer Obduktion praktisch nicht zu entdecken ist.«

Sie saß mit offenem rosa Mund einfach nur da und starrte mich an.

»Das Problem ist«, sagte ich, »man kann in Cheltenham nicht grad mal um die Ecke gehen und einen Kugelfisch kaufen.«

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