Kapitel 12

»Kugelfisch?« sagte Ramsey.

Der Kommissar hatte sich wieder allein mit uns in der leeren Klinik getroffen. Es war fast so, als wollte er seine Sitzungen mit Ken und mir von den anderen Ermittlungen, die er durchführte, getrennt halten.

Ken hatte sein Buch über Gifte von zu Hause geholt.

»Tetrodotoxin«, las er vor, »ist eines der stärksten bekannten Gifte überhaupt. Es wird aus dem Kugelfisch gewonnen und führt durch Lähmung des neuromuskulären Systems zu Atem- und Herzstillstand. Die letale Dosis ist überaus gering; nur Mikrogramm pro Kilo Körpergewicht. Bei gerichtsmedizinischen Untersuchungen ist es daher kaum zu entdecken.«

»Lassen Sie mich das mal lesen«, sagte Ramsey.

Ken gab ihm das Buch, und wir warteten, während er die schlechte Nachricht verdaute. Dann ergriff er den Lieferschein und las ihn zum zweiten- oder drittenmal durch.

»Sie wollen mir also erzählen«, sagte er, »daß ein Milligramm von diesem Pulver ein Pferd umbringt? Ein Tausendstel Gramm?«

»Ja, mit Leichtigkeit«, sagte Ken. »Ein Rennpferd wiegt so ungefähr 450 Kilo. Ein Mikrogramm ist ein millionstel Gramm. Über den Daumen gepeilt, reicht eine von den Ampullen aus, um vier Pferde zu töten. Bis jetzt sind erst zwei tot, Fitzwalters angeknackstes Knie und die Zuchtstute.«

Betroffenes Schweigen trat ein, während wir uns, jeder für sich, ausrechneten, daß noch eine ganze Menge von dem Zeug herumliegen konnte.

»Streut man das Pulver dem Pferd aufs Futter?« fragte

Ramsey.

»Das könnte man schon«, meinte Ken zweifelnd, »aber normalerweise würde man es in Wasser auflösen und spritzen, am besten intravenös.«

»Und dabei Gummihandschuhe tragen«, tippte ich an.

»Mein Gott, ja.«

»Scott«, sagte ich, »muß gewußt haben, wer ihn gebeten hat, so weit zu fahren, um das Päckchen abzuholen. Er muß gewußt haben, wem er es gegeben hat. Er hat nicht unbedingt gewußt, was drin war.« Ich schwieg und setzte hinzu: »Das hat er wahrscheinlich am eigenen Leib erfahren.«

»Jesses«, sagte Ken leise.

»Sagen Sie’s uns«, bat ich Ramsey. »Sagen Sie nur ja oder nein. Haben Sie Einstichspuren von einer Nadel bei Scott entdeckt?«

Er schürzte die Lippen. Besah sich die Frage von Nord bis Süd. Ging einen ungeschriebenen Verhaltenskodex durch.

»Sie haben uns erheblich weitergeholfen«, sagte er schließlich. »Die Antwort ist ja.« Er konsultierte noch einmal sein Gewissen und rang sich zu einigen weiteren Sätzen durch. »Unsere viertägigen Untersuchungen haben ergeben, daß sich das Dreifache der normalen Dosis eines Schlafmittels, eingenommen in Kaffee, in dem Körper befand. Sonst sind bisher keinerlei Giftstoffe gefunden worden. Der Einstich ging in eine Vene auf dem Handrücken.«

Wenigstens hatte Scott geschlafen, als er starb, dachte ich. Und das war wahrscheinlich auch nötig gewesen. Diese ganze geballte Muskelkraft mußte auf einen, der sich mit einer todbefrachteten Spritze an ihn heranpirschen wollte, ziemlich abschreckend gewirkt haben. Da war die

Gefahr einfach zu groß, daß der Spieß umgedreht wurde.

Das symbolische Verschließen von Scotts Mund, dachte ich, war eine unbewußte Offenlegung des Motivs. Ich hatte noch nie mit einem Mord zu tun gehabt und verstand wenig von dem überwältigenden Drang zu töten, doch der makabre Zustand von Scotts Leiche deutete unmißverständlich auf einen überaus starken Zwang. Es hatte nicht genügt, ihn einfach stumm zu machen: Die barbarische Inszenierung mußte aus unbezähmbaren Trieben geboren worden sein. In den Tiefen der Seele versagte die Logik, Vorsicht galt nichts mehr, Besessenheit fegte alle Zurückhaltung weg.

Scott konnte ein Komplize gewesen sein, der schließlich Einwände erhoben hatte. Er konnte Unregelmäßigkeiten entdeckt und damit gedroht haben, sie zu enthüllen. Er konnte eine gefährliche kleine Erpressung versucht haben. Die Brutalität der Klammern war die gewalttätige Antwort darauf gewesen.

Ramsey plauderte, nachdem er einmal damit angefangen hatte, weiter aus der Schule: »Es kann wohl nicht schaden, wenn ich Ihnen mitteile, was heute noch der Presse bekanntgegeben werden wird. Wir haben die Person identifiziert, die nach dem Brand hier gefunden worden ist.«

»Wirklich?« rief Ken aus. »Wer war das?«

Aufreizenderweise beantwortete Ramsey die Frage im Krebsgang. »Normalerweise erhalten wir Meldung, wenn jemand vermißt wird. In diesem Fall wurde der Betroffene nicht als vermißt gemeldet, da seine Familie glaubte, er sei auf einem mehrtägigen Angelausflug und einer Handelskonferenz. Als er am vergangenen Donnerstag abend nicht zur erwarteten Zeit wiederkam, stellte die Familie fest, daß er gar nicht auf der Konferenz gewesen war. Sie war beunruhigt und verständigte uns sofort. Zum

Teil wegen Ihrer Informationen und Ihrer Andeutungen, Sir«, sagte er zu mir, »haben wir vermutet, der Vermißte und der unidentifizierte Leichnam könnten ein und dieselbe Person sein. Anhand seines Gebisses ist uns jetzt der Nachweis gelungen.«

Er schwieg. Ken sagte genervt: »Kommen Sie schon, wer war’s?«

Ramsey genoß seine Enthüllungen. »Ein Mann von zweiunddreißig, auf nicht allzu gutem Fuß mit seiner Frau, die nicht erwartet hatte, daß er sie von der Konferenz aus anrufen würde. Ein Versicherungsagent.« Er schwieg. »Sein Name«, sagte er schließlich, »war Travers. Theodore Travers.«

Ich merkte, wie mir die Kinnlade herunterfiel.

Theo, dachte ich. Der Travers, mit dem ich gespielt hatte, der Travers von der Mühle, hieß Theo.

Guter Gott, dachte ich. Vielleicht sollte man nie an den Ort seiner Kindheit zurückkehren, vielleicht nie das Schicksal seiner Freunde in Erfahrung bringen. Als Fremder in die Zukunft des eigenen früheren Lebens zurückzukehren, ein Abenteuer, das mir anfangs gefallen und mich gefangengenommen hatte, erschien mir jetzt als ein gefährliches Spiel, von dem man am besten die Finger ließ.

Es war zu spät, mir zu wünschen, ich wäre nie zurückgekommen. Da ich durch eine Verkettung seltener Zufälle nun einmal hier gelandet war, konnte ich nur noch versuchen, Kennys Sohn in einer besseren Verfassung zurückzulassen, als wenn ich mich aus all dem herausgehalten hätte.

»Upjohn und Travers«, sagte ich.

Ramsey nickte. »Wir haben das überprüft, nachdem Sie gestern davon gesprochen hatten. Die Firma existiert nicht mehr, schon seit vielen Jahren nicht, aber in den Tagen des geilen alten Travers war es eine Versicherungsagentur. Sie löste sich auf, als Travers und auch Upjohn starben.« Er sah mir gerade ins Gesicht. »Wo haben Sie von Upjohn und Travers gehört, Sir?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich schwach.

Ken warf mir einen scharfen Blick zu, immer noch vertrauensvoll, aber zunehmend verwirrt.

Ich mußte den Namen der alten Firma wohl bei Theo zu Hause gehört haben. Ich wußte nicht, wieso er mir im Gedächtnis geblieben war.

»Weshalb«, fragte ich, »sollte ein Versicherungsagent sich spät abends in der Tierarztpraxis aufhalten?«

»Nun, weshalb?« fragte Ramsey, als wisse er die Antwort.

»Jemand hat ihn hereingelassen, um über Versicherungspläne zu sprechen«, sagte ich. »Vielleicht über die widerrechtliche Versicherung von Pferden. Vielleicht kam es dabei zu einem Streit, der zum Unfalltod oder zur vorsätzlichen Tötung von Travers geführt hat. Vielleicht wurde der Brand gelegt, um das zu vertuschen.«

»Das sind eine Menge Vielleichts«, bemerkte Ramsey, »womit ich nicht sagen will, daß Sie unrecht haben.«

Wirf die Steine in die Luft, dachte ich, und sie kullern alle durcheinander.

Ramsey komplimentierte uns wieder hinaus und schloß die Türen ab, obschon Ken vermutlich seine Schlüssel in der Tasche hatte und uns gleich wieder hineinlassen konnte, wenn er wollte. Ken schien die Klinik jedoch bedrückend zu finden und war froh, von dort wegzukommen. Wir blieben auf dem Parkplatz bei unseren Wagen stehen, und Ken sagte: »Wie geht’s jetzt weiter?«

Weiter ging es mit einer dieser eigentümlichen, jäh aufblitzenden Erinnerungen an früher, die meistens quälend unvollständig waren, manchmal aber auch gestochen scharf. Vielleicht mußten erst viele Fäden zusammenlaufen, bevor die richtige Synapse zündete. Ich erinnerte mich an meinen bedrohlichen nächtlichen Traum, und im selben Moment wußte ich wieder, daß ich meine Mutter schon einmal mehr hatte sagen hören als das, was sie mir am Telefon erzählt hatte.

»Hm«, sagte ich aufgeregt, »wie wär’s, wenn wir Josephine besuchten?«

»Aber wozu denn?«

»Um über Ihren Vater zu sprechen.«

»Nein«, protestierte er, »das können Sie nicht machen.«

»Ich glaube, wir müssen«, sagte ich und erklärte ihm andeutungsweise, was ich damit im Sinn hatte.

Er sah verwirrt drein, fuhr aber in seinem Wagen zu Josephine voran, während ich ihm folgte.

Sie bewohnte die zwei oberen Stockwerke eines stattlichen edwardianischen Gebäudes in einer eleganten, im Halbkreis angeordneten Häuserreihe in Cheltenham. Die Fenstertüren ihres Wohnzimmers gingen auf einen schmiedeeisernen Balkon mit Blick auf den winterlichen Park hinaus. Es hätte hinreißend sein können, doch Josephines Einrichtung war steif und einfallslos, als stünde jedes Möbel seit Jahrzehnten, wo es stand.

Ken hatte uns telefonisch angekündigt, und sie freute sich durchaus über unseren Besuch. Wir hatten eine Flasche süßen Sherry mitgebracht, da Ken meinte, seine Mutter trinke ihn sehr gern, traue sich aber nicht, selbst welchen zu kaufen. Widerstrebend angenommen, wurde das Mitbringsel dennoch gleich geöffnet. Ken schenkte seiner Mutter ein großes Glas voll und bedachte sich und mich nicht ganz so reichlich. Beim ersten Schluck verzog er das Gesicht, aber ich konnte mittlerweile alles trinken, ohne Abneigung zu zeigen.

Achte nicht darauf, was du eigentlich in den Mund steckst, hatte mein Vater mir nützlicherweise geraten. Wenn du weißt, es ist ein Schafsauge, wird dir bloß schlecht. Stell dir vor, es sei eine Weintraube. Konzentrier dich auf den Geschmack, nicht auf die Quelle. Ja, Papa, hatte ich gesagt.

Josephine trug einen grauen Rock, eine steife cremefarbene Bluse und eine schlickgrüne Strickjacke. Auf einem Couchtisch war ein silbern gerahmtes Foto, das sie jung, hübsch, lächelnd zeigte. Neben ihr auf dem Foto stand eine Variante des Ken, den ich kannte: der gleiche längliche Kopf, das lange Gestell, das blonde Haar. Kennys Konterfei lächelte glücklich: Ken lächelte selten.

Wir setzten uns. Josephine drückte die Knie zusammen: um Lüstlinge abzuwehren, vermutete ich.

Der Anfang war harzig. »War Kens Vater ein guter Sportler?« fragte ich.

»Wie meinen Sie das?«

»Ehm ... hat er gern geangelt? Mein Vater angelt die ganze Zeit.« Mein Vater wäre erstaunt gewesen, das zu hören, dachte ich.

»Nein, er hat nicht gern geangelt«, sagte Josephine und zog die Brauen hoch. »Wieso fragen Sie?«

»Ging er auf die Jagd?« fragte ich.

Sie machte ein prustendes Geräusch und verschluckte sich halb an dem Sherry.

»Hör bitte zu, Mutter«, sagte Ken überredend. »Wir haben eigentlich nie erfahren, warum Pa sich umgebracht hat. Peter hat eine Theorie.«

»Die will ich nicht hören.«

»Doch, ich glaube schon.«

Ich fragte: »Hat er gejagt?«

Josephine sah Ken an. Er nickte ihr aufmunternd zu. »Erzähl es ihm«, sagte er.

Sie trank einen Schluck Sherry. Wenn sie erst einmal angefangen hatte zu reden, würde sie nichts mehr zurückhalten, dachte ich in Erinnerung an das Öffnen der Schleusentore des Klatsches bei dem Mittagessen in Thetford Cottage. Und so kam es dann auch.

»Kenny«, sagte sie, »ist immer mit der Meute auf Fasanenjagd gegangen.«

»Was für eine Meute?«

»Ach, Sie wissen schon. Farmer und so. Mac Mackintosh. Rolls Eaglewood. Ronnie Upjohn. Diese Leute eben.«

»Wie viele Gewehre hatte Kenny?«

»Nur das eine.« Sie schauderte. »Ich denk nicht gern daran.«

»Ich weiß«, sagte ich beschwichtigend. »Wo war er, als er sich erschossen hat?«

»Ogottogott.«

»Sag es ihm«, sagte Ken.

Sie schluckte den Sherry hinunter wie ein Lebenselixier. Ken schenkte ihr nach.

Wenn meine Erinnerung nicht trog, dann kannte ich die Antwort, aber Ken zuliebe mußte sie von seiner Mutter kommen.

»Du hast mir nie erzählt, wo er gestorben ist«, sagte Ken.

»Keiner wollte mit mir über ihn reden. Ich sei zu jung, meinten alle. In letzter Zeit, jetzt wo ich in dem Alter bin, in dem er gestorben ist, interessiert mich das mehr denn je. Es hat lange gedauert, aber ich habe mich damit abgefunden, daß er sich umgebracht hat, und jetzt möchte ich auch wissen, wo und warum.«

»Ich bin mir nicht sicher, warum«, sagte sie unglücklich.

»Dann sag, wo.«

Sie schluckte.

»Na komm, Mama.«

Die Zuneigung in seinem Ton überwältigte sie. Tränen strömten ihr aus den Augen. Eine Zeitlang brachte sie kein Wort heraus, aber schließlich, nach und nach, sagte sie es ihm.

»Er starb ... er stand im Bach ... als er sich erschossen hat ... an einer flachen Stelle ... ein Stück unterhalb vom Mühlrad ... bei den Mackintoshs.«

Die Enthüllung schockte Ken und bestätigte meine Ahnung. In der Erinnerung hörte ich deutlich die Stimme meiner weinenden Mutter, die, kurz nachdem sie es erfahren hatte, mit einer Besucherin sprach, während ich mich irgendwo versteckt hielt.

»Er ist in den Mühlbach gefallen, und sein Gehirn wurde weggeschwemmt.« Ich hatte diesen schauerlichen Satz in die Tiefkühlung verfrachtet, da er ein Bild enthielt, das zu schrecklich war, um ins Bewußtsein gerufen zu werden. Jetzt, wo er mir wieder eingefallen war, erstaunte mich die Verdrängung. Ich hätte gedacht, das sei genau der Horrorkram, für den kleine Jungen sich begeisterten. Vielleicht lag es daran, daß meine Mutter darüber geweint hatte.

»Wissen Sie«, fragte ich sanft, »ob sein Gewehr bei ihm im Bach lag?«

»Ist das wichtig? Es lag bei ihm, ja. Natürlich lag es bei ihm. Sonst hätte er sich doch nicht erschießen können.«

Sie setzte ihr Glas ab, stand unvermittelt auf und ging zu einem Mahagoni-Sekretär. Aus dem oberen Teil des Schreibschranks angelte sie einen Schlüssel, mit dem sie die unterste Schublade öffnete, und aus der untersten Schublade zog sie einen großen polierten Holzkasten hervor. Um ihn zu öffnen, war wieder ein Schlüssel nötig, aber schließlich kam sie mit dem Kasten herüber und stellte ihn auf den Tisch neben ihrem Sessel.

»Die Sachen habe ich mir seit kurz nach Kennys Tod nicht mehr angesehen«, sagte sie, »aber dir zuliebe, Ken, muß es jetzt vielleicht sein.«

Der Kasten enthielt Zeitungen, maschinegeschriebene Blätter und Briefe.

Die Briefe, obenauf, waren Beileidsbekundungen. Die Meute, wie Josephine sie nannte, war ihrer Pflicht mit Wärme nachgekommen: Sie hatten Kenny offensichtlich gemocht. Mackintosh, Eaglewood, Upjohn, Fitzwalter - eine Überraschung, das - und viele Kondolenzschreiben von Kunden, Freunden und Tierarztkollegen. Ich blätterte sie durch. Kein Brief von Wynn Lees, soweit ich sehen konnte.

Als ich fast fertig war, setzte mein Herz einen Schlag lang aus. Da lag ein kurzer Brief in der regelmäßigen Handschrift meiner Mutter.

Meine liebe Josephine,

es tut mir entsetzlich leid. Kenny war immer ein guter Freund, und er wird uns auf der Rennbahn sehr fehlen. Wenn ich irgend etwas tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Mit der innigsten Teilnahme

Margaret Perry

Meine arme junge Mutter hatte, auch wenn sie vor Kummer weinte, tadellose Manieren gehabt. Ich legte ihren Brief von damals zu den anderen und versuchte mir keine Bewegung anmerken zu lassen.

Als ich mich den Zeitungsberichten zuwandte, stellte ich fest, daß sie in Abstufungen sachlich bis reißerisch waren und weitgehend die gleichen Fotos von dem Verstorbenen zeigten. »Beliebt«, »geachtet«, »ein großer Verlust für die Gemeinde«. Urteil bei der amtlichen Totenschau: »Keine ausreichenden Beweise dafür, daß er vorhatte, sich das Leben zu nehmen.« Kein Abschiedsbrief. Zweifel und Fragen. »Wenn er sich nicht umbringen wollte, wieso hat er sich dann mit Schuhen und Strümpfen mitten im Januar in einen Bach gestellt?«

»Typisch Kenny, immer rücksichtsvoll, so brauchten andere hinterher keinen Dreck wegzumachen.«

»Ich kann das einfach nicht lesen«, sagte Josephine bedrückt.

»Ich dachte, ich hätte ihm verziehen, aber es stimmt nicht. Diese Schande! Das kann sich keiner vorstellen. Witwe zu sein ist schwer genug, aber wenn dein Mann sich umbringt, ist das die totale Zurückweisung, und alle glauben, du bist schuld.«

»Es war aber doch ein offenes Urteil«, sagte ich. »So steht’s auch in den Zeitungen.«

»Das ist gleich.«

»Ich dachte, es gab da Theater wegen eines Medikaments, das er nicht hätte bestellen sollen«, sagte ich. »Davon steht hier nichts.«

»Doch«, sagte Ken schwach. Er hatte mit offenem Mund eine der maschinegeschriebenen Seiten gelesen. »Sie werden es nicht für möglich halten. Und wer in aller Welt hat Ihnen das erzählt?«

»Weiß ich nicht mehr«, sagte ich ausweichend.

Er gab mir die Blätter, blaß und niedergeschmettert. »Ich verstehe das nicht.«

Ich las, was er mir zeigte. Es schien ein Gutachten zu sein, aber ohne Briefkopf und ohne Unterschrift. Es war erschreckend, es war eine Offenbarung, und in gewisser Weise war es unvermeidlich.

In nüchternen Worten stand da:

Kenneth McClure hatte kurz vor seinem Tod, angeblich zu Forschungszwecken, einen kleinen Vorrat des organischen Präparats Tetrodotoxin angefordert und erhalten. Bald darauf starb ein von ihm behandeltes Pferd plötzlich ohne erkennbare Ursache, wie dies auch bei einer Tetrodotoxinvergiftung der Fall gewesen wäre. Ohne ihm unterstellen zu wollen, daß er selbst diese äußerst gefährliche Substanz verabreicht hat, bleibt doch zu überlegen, ob der Erwerb oder die Weitergabe dieser Substanz sein Gewissen so stark belastet haben könnte, daß er deshalb Selbstmord begangen hat. Da wir darüber nichts wissen können, schlage ich vor, diese mögliche Erklärung, die wohl nur Unruhe stiften würde, zurückzuhalten.

Mit zitternder Stimme fragte Ken seine Mutter: »Weißt du etwas von diesem Tetrodotoxin?«

»Hieß das so?« fragte sie geistesabwesend zurück. »Es gab einen fürchterlichen Aufruhr deswegen, aber ich wollte nichts davon hören. Ich wollte nicht, daß alle wußten, daß Kenny unrecht getan hatte. Es war so schon schlimm genug, versteht ihr?«

Mir zumindest war jetzt klar, daß irgendwo in der alten Meute das Wissen von Tetrodotoxin und seiner tödlichen Wirkung all die Jahre über geschlummert hatte und daß irgend etwas - vielleicht die Porphyr-Park-Pleite - es in seiner ganzen Gefährlichkeit aktiviert hatte.

»Kenny!« hatte der alte Mackintosh fröhlich gesagt. »Haben Sie das Zeug mitgebracht?«

Kenny hatte, nahm ich an. Und dann hatte er es vermutlich bereut und sich erschossen - oder er hatte beschlossen zu plaudern und war zum Schweigen gebracht worden.

Scott, der Bote mit dem gestopften Mund. Travers, der Versicherungsagent, verbrannt bis auf die Zähne. Kenny, der Tierarzt, mit seinem Gehirn im Wasser und seinem Gewehr mit den weggewaschenen Fingerabdrücken. Tetrodotoxin war vielleicht für sie alle ein zu harter Brocken gewesen.

»O Gott«, sagte Ken unglücklich. »Deswegen also. Jetzt wünschte ich, ich wüßte es nicht.«

»Sie wissen, wo«, sagte ich, »aber nicht, ob.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, er hat keinen Brief hinterlassen. Die Frage ist also, hat er sich in dem Bach umgebracht, oder hat ihn jemand am Ufer erschossen, so daß er rückwärts ins Wasser gestürzt ist?« Mutter und Sohn waren entgeistert. »Wie hält man sich zum Beispiel ein Gewehr an den Kopf, wenn man knietief im Wasser steht? Man kommt nicht an den Abzug, außer man benutzt einen Stock. Ein aus nächster Nähe abgefeuertes Gewehr dagegen trifft mit einem furchtbaren Schlag, der einen ohne weiteres von den Beinen holt.«

Ken widersprach. »Das kann nicht sein. Warum hätte ihn jemand umbringen sollen?«

»Warum wurde Scott umgebracht?« fragte ich.

Er schwieg.

»Ich glaube ...«, Josephines Stimme bebte, »so entsetzlich es ist, ich würde mich nicht so furchtbar im Stich gelassen fühlen, wenn es nicht seine Schuld war. Wenn ihn einer umgebracht hat. Es ist so lange her ... aber wenn er umgebracht worden ist ... würde ich mich besser fühlen.«

Ken blickte drein, als könne er ihre Logik nicht nachvollziehen, aber ich wußte, es würde auch für meine eigene Mutter tröstlich sein.

Ken blieb bei Josephine, und ich verbrachte den Nachmittag damit, daß ich ziellos in der Landschaft herumfuhr und nachdachte. Eine Weile blieb ich auf Cleeve Hill oberhalb der Rennbahn von Cheltenham stehen und sah unter mir die weißen Rails, den grünen Rasen, den bergauf, bergab führenden Härtetest für Hindernispferde. Die Grand National war eine große, aufregende Lotterie, doch der Cheltenham Gold Cup brachte die wahren, die bleibenden Stars ans Licht.

Die Bahn, einst bis zum letzten Grashalm vertraut, hatte sich in ein fremdes Wesen verwandelt. Da waren riesige neue Zuschauertribünen, ein glattgewalztes, neu ausgerichtetes Geläuf, und der Führring hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht und sich total verändert. Auf der einen Seite wurde ein ganzes Dorf aus gestreiften, mittelalterlich anmutenden Zelten errichtet, zweifellos für Sponsoren und geschlossene Gesellschaften bei dem großen Meeting, das in knapp zwei Wochen abgehalten werden sollte. Ein eigenartiges Gefühl würde es sein, dachte ich, wieder durch dieses Tor zu treten. Die Bahn von einst und das Kind von einst waren wie Echos im Wind. Doch auch das Hier und Jetzt, die neue Welt, würden einmal Schatten von gestern sein.

Ich fuhr weiter. Ich fuhr an dem häßlichen roten Auswurf von Porphyr-Park mit seinen tausend Schildern vorbei und in das hübsche alte Tewkesbury hinein. Ich hielt am Ufer der Severn und dachte an Kennys weggeschwemmtes Gehirn, und ich versuchte aus allem klug zu werden, was ich gesehen, was ich gehört und woran ich mich erinnert hatte, seit ich zurückgekommen war.

Die Überzeugung, die sich nach und nach dabei herausfilterte, schien mir die ganze Zeit schon vor Augen gestanden und gesagt zu haben: »Hier bin ich. Sieh mich an.« Allerdings war es mehr eine Theorie als etwas Handfestes, so daß ich es zwar allemal glauben, aber noch keinesfalls beweisen konnte. Der Vergleich der Fohlenchromosomen würde vielleicht weiterhelfen. Vielleicht gab auch Porphyr-Park einen Namen her. Der schurkische alte Mackintosh wußte genau wie ich im Innersten Dinge, die ihm nicht immer präsent waren.

Eine Falle zu stellen schien die einzige Möglichkeit, den Täter zu entlarven, wenn mir auch bis jetzt keine taugliche einfallen wollte.

Ich fuhr im Dunkeln nach Thetford Cottage zurück und scheuchte Greg und Vicky zum Essen und Trinken hinaus in die schwindelnden Höhen von Cheltenham. Vicky meinte kokett, Belinda werde noch vor ihr in die reifen Jahre kommen. Greg lächelte liebenswürdig. Wir sprachen über die Hochzeitsvorbereitungen, die Ken Belinda und Belinda weitgehend ihrer Mutter überlassen hatte. Erstaunlich, was da offenbar alles organisiert werden mußte. Wenn ich Annabel heiratete, dachte ich, würden wir bestimmt nicht so viel brauchen.

Gütiger Himmel! Da hatte ich mich gerade selbst ertappt. Von wegen, wenn ich Annabel heiratete! Dafür war es doch viel, viel zu früh.

Kurz nachdem wir ins Cottage zurückgekommen waren, rief Ken an.

»Wo sind Sie gewesen?« fragte er.

»Habe mit Greg und Vicky die Stadt auf den Kopf gestellt.«

»Das möchte ich mal erleben. Hören Sie«, er klang verlegen, »meine Mutter hat sich fast die Augen ausgeweint. Sie haben eine Unmenge Kummer freigesetzt. Aber bei Gott, ich danke Ihnen. Ich weiß zwar nicht, woher Sie das alles wissen, was Sie wissen, aber soweit es mich betrifft, kann mein Vater jetzt in Frieden ruhen.«

»Das freut mich.«

»Als ich wieder zu Hause war«, sagte er, »hat Carey angerufen. Er klang ziemlich niedergeschlagen. Er wollte wissen, wie es in der Praxis läuft. Ich sagte ihm, wir brauchten ihn, aber ehrlich gesagt glaube ich, ihm ist das jetzt gleichgültig. Jedenfalls habe ich ihm von den Rechnungen erzählt und was wir unternommen haben.«

»Was meinte er dazu?«

»Nichts weiter. Nur, daß wir unsere Sache gut gemacht hätten. Kam mir nicht so vor, als ob es ihn interessiert. Ich glaube, Oliver hat doch recht. Wir müssen uns neu gruppieren und allein was auf die Beine stellen.«

»Das wird am besten sein.«

Seine Stimme klang entschlossen. »Ich werde die anderen zusammentrommeln, damit wir das bereden können.«

»Gute Idee.«

»Jedenfalls vielen Dank noch mal«, sagte er. »Wir sehen uns sicher morgen.«

Vielleicht, dachte ich, als er auflegte, aber morgen würde Annabel kommen, und da wollte ich ein Essen zu zweit, nicht im Familienkreis.

Sie kam mit dem letzten Vormittagszug, und wir küßten uns zur Begrüßung so vertraut, als wären die acht Tage, die wir einander kannten, achtzig auf einer einsamen Insel gewesen. Sie trug einen weiten Pullover mit weißen Sternen auf schwarzem Grund über einer engen schwarzen Stretchhose. Rosa Lippenstift. Riesengroße Augen.

»Ich habe zum Essen ein Superlokal entdeckt«, sagte ich, »aber wir müssen auf dem Weg dahin kurz anhalten. Kleine kriminalistische Einlage. Wird nicht lange dauern.«

»Schon gut«, sagte sie lächelnd. »Ich habe Ihnen auch was von Broses Freund Higgins mitgebracht, das Ihnen weiterhelfen soll.«

Sie zog einen Briefumschlag aus ihrer glänzend schwarzen Handtasche und gab ihn mir. Er enthielt, wie ich sah, eine Liste von drei Versicherungsgesellschaften, die im vergangenen Jahr für außerhalb der Rennbahn gestorbene Pferde gezahlt hatten. Neben jeder Agentur stand ein Name und eine Telefonnummer, an die ich mich wenden konnte, und darunter hatte Higgins geschrieben: »Berufen Sie sich auf mich, dann bekommen Sie genaueste Auskunft. Nächste Woche mehr.«

»Fabelhaft«, sagte ich erfreut. »Damit müßten wir bald am Ziel sein. Ich rufe die Leute morgen früh an. Es war öder Papierkram, der Al Capone ins Gefängnis gebracht hat, vergessen Sie das nicht. Papierkram kann vernichtend sein, wenn man sich Fehler leistet, das wissen wir im diplomatischen Dienst nur zu gut.«

»Man darf nur nichts unterschreiben«, meinte sie ironisch, »dann bekommt man auch keinen Ärger.«

Wir stiegen in meinen Wagen und fuhren los zur Pferdeklinik.

Ich sagte: »Vicky hat mir ausgerichtet, daß der Kommissar, der wegen Scotts Tod ermittelt, mich heute am späten Vormittag kurz sprechen will. Ken und ich haben uns in letzter Zeit jeden Tag mit ihm in der Klinik unterhalten. Es wird schon zur Gewohnheit.«

»Wie läuft’s so allgemein?«

»Sag ich Ihnen beim Essen, wenn Sie möchten, obwohl es bessere Gesprächsthemen gibt. Wie geht’s dem Bischof?«

»Er ist vorsichtig.«

Ich lächelte. Meine Vorsicht schwand mit jedem Mal, wo ich sie sah, mehr. Die Aussicht auf den kommenden Frühling und Sommer, das Gefühl, daß das Leben erst anfing, die Schauer der Erregung tief im Innern, all das verband sich zu prickelnder Hochstimmung. Laß es keinen Irrtum sein, dachte ich. In ein paar Monaten würden wir wissen, ob es von Dauer war, ob die Anziehung Bestand hatte. Ich hatte noch nie auch nur annähernd in solchen Begriffen gedacht. Vielleicht war es wirklich so, daß man sofort Bescheid wußte, wenn man die Richtige oder den Richtigen traf.

Vielleicht wußte sie es auch. Ich sah in ihren Augen die gleiche glitzernde Erkenntnis, aber ebenso die Gewißheit, daß sie sich zurückziehen würde, wenn es sich für sie als Irrtum erwies. Eine Mischung aus Spaß, Kompetenz und Zurückhaltung, das war Annabel. Ich machte mir schon Sorgen, sie könnte mich, wenn ich sie fragte, am Ende nicht haben wollen.

Ein einziger Wagen parkte am Vordereingang der Klinik, als wir hinkamen. Nicht Ramseys üblicher Wagen und auch keiner, den ich kannte.

»Ich glaube nicht, daß der Kommissar schon da ist, aber irgend jemand ist da«, sagte ich. »Haben Sie Lust, mit reinzukommen und sich mal umzusehen?«

»Ja, gern. Bis jetzt kenne ich nur die Räumlichkeiten in Newmarket.«

Wir gingen in die Eingangshalle und durch den langen Gang zum Büro, in dem sich nicht nur keine Polizisten, sondern gar niemand befand.

»Schauen wir mal, was offen ist«, schlug ich vor, und wir gingen weiter den Gang hinunter zur Tür des Chirurgie-Vorraums. Sie ließ sich öffnen, und wir traten ein, worauf ich Annabel die Umkleideräume und den Giftschrank zeigte und ihr sagte, zumindest brauchten wir uns nicht um Überschuhe, Sterilität und solches Zeug zu kümmern.

Wir betraten den Operationssaal und schauten uns um. Annabel war begeistert von dem Kran.

»In dem Laden in Newmarket, den ich gesehen habe, stellen sie das Pferd neben eine Art Tisch und schnallen es daran fest, solange es noch steht, sediert zwar, aber noch bei Bewußtsein. Wenn es dann betäubt ist, kippen sie den Tisch in die Waagerechte, und zack! fangen sie an zu schneiden.«

Die Schiebetür zu dem gepolsterten Narkose- und Ruheraum stand jedem daherkommenden Bazillus weit offen. Als wir hineingingen, staunte Annabel über den federnden Boden und hüpfte ein paarmal auf und ab.

»Wofür ist die Trennwand?« fragte sie und deutete mit dem Finger.

»Dahinter stellen sich die Ärzte, wenn das Pferd wieder aufwacht«, erklärte ich. »Anscheinend treten die Patienten manchmal um sich, und da ist man lieber aus der Schußlinie.«

»Wie in der Stierkampfarena«, sagte sie.

»Genau.«

Hier war offenbar niemand. Wir gingen auf den Flur hinaus und in die Aufnahme mit ihrem rollenden Gerät entlang den Wänden, alles still und einsatzbereit.

»Normalerweise achten sie peinlich darauf, daß alles abgeschlossen ist«, sagte ich. »Das gesamte System bricht zusammen.«

»Die Ärmsten.«

Ich probierte die Tür zur Außenwelt. Wenigstens die war verschlossen.

Irgendwie bekam ich ein ungutes Gefühl. Mit der ganzen

Chirurgie schien etwas nicht zu stimmen, wenn ich auch nicht sagen konnte, woran es lag.

Der Ort war mir vertraut geworden, und er sah aus wie immer. Der Unterschied war, daß ich jetzt ziemlich sicher wußte, wer Scott umgebracht hatte, und darauf brannte, es möglichst bald Ramsey zu sagen. Daß er noch nicht da war, sah ihm gar nicht ähnlich, obwohl der »späte Vormittag«, den er hatte ausrichten lassen, die Zeit nicht allzu genau festlegte.

Vielleicht hätte ich Ken Bescheid sagen sollen, dachte ich, aber jetzt war es schon passiert. Es war vielleicht gar nicht so gut, an einem Sonntagmorgen hier zu sein.

»Gehen wir zurück ins Büro«, sagte ich abrupt. »Ich rufe Ramsey an und frage, wie lange es noch dauert, bis er herkommt.«

»Okay.«

Ich machte kehrt und ging durch den gepolsterten Raum voran, auf den Gang zu. Ich ging in den OP mit all seiner lebensrettenden und nüchternen Technik und redete über meine Schulter hinweg.

»Waren Sie schon mal wegen etwas wirklich Ernstem im Krankenhaus?«

Annabel antwortete nicht.

Ich sah mich um und wurde von Entsetzen überflutet, fühlte Adrenalin heiß wie eine Arznei durch meine Adern schießen. Sie war auf den Knien, ihre Arme machten unkoordinierte Bewegungen, ihr Kopf hing herunter. Noch während ich zu ihr rannte, fiel sie bewußtlos vornüber auf den weichen Boden.

»Annabel!« Ich war außer mir, beugte mich über sie, kniete mich neben sie, drehte sie herum, wußte nicht, was ihr fehlte, wußte nicht, wie ich ihr helfen sollte, war verrückt vor Sorge.

Erst im letzten Moment hörte ich das Rascheln von Kleidung hinter mir und drehte den Kopf, zu spät, zu spät.

Eine Gestalt rückte aus knapp einem Meter heran, eine Gestalt in OP-Kittel, Gummihandschuhen, OP-Kappe und Mundschutz. Sie hielt eine Spritze in der Hand, die sie mir wie ein Messer in den Hals stieß.

Ich spürte das tiefe Eindringen der Nadel. Ich schnappte nach ihren Kleidern, und sie glitt einen Schritt zurück, die Augen wie graue Kiesel über dem Mundschutz.

Ich erkannte zu spät, daß der Mann sich hinter der Arenawand versteckt gehalten hatte, daß er hervorgeschossen war, um Annabel eine Spritze zu geben, sich dann wieder versteckt hatte und am anderen Ende herausgekommen war, um sich von hinten an mich heranzuschleichen, als ich mich über sie beugte.

Ich wußte, während die Wolken in meinem Gehirn aufzogen, während ich in einen unerbittlichen Schlaf sank, daß ich recht gehabt hatte. Schwacher Trost. Ich war auch dumm gewesen.

Der Mann in der OP-Kleidung hatte Scott ermordet.

Ein alter grauhaariger Mann mit dem ganzen tierärztlichen Wissen auf der Welt.

Carey Hewett.

Ich lag auf dem Fußboden, die Nase in die Polsterung gedrückt, und roch eine Mischung von Antiseptika und Pferd. Ich war noch halb bei Bewußtsein. Meine Augenlider wogen Zentner. Meine Glieder gehorchten mir nicht. Meine Stimme auch nicht.

Am Leben zu sein war an sich schon erstaunlich. Es war nicht, als ob ich aus dem Tod, es war, als ob ich aus der

Narkose erwachte. Ich wollte weiterschlafen.

Annabel!

Der Gedanke an sie rauschte durch mein halbwaches Bewußtsein und rief meinen schwerfälligen Geist zur Ordnung. Mit ungeheurer Mühe versuchte ich mich zu bewegen, aber wie mir schien, vergebens.

Ich mußte mich doch bewegt haben. Ein rascher Ausruf war über mir zu hören, mehr ein Keuchen als ein Wort. Ich begriff, daß mich jemand anfaßte, meine Hände bewegte, hastig und grob.

Instinktive Furcht überkam mich. Logische Furcht folgte ihr auf dem Fuß. Ketten rasselten, und dieses Geräusch kannte ich. Die Ketten des Krans.

Nein, protestierte ich dumpf. Das nicht. Nicht so wie Scott.

Die physische Wirkung des Schreckens war zuerst, daß meine Bewegungslosigkeit noch zunahm, aber danach kam ein Anfall von nützlichem Eigensinn, der aufbrannte wie Feuer und mich zum Kämpfen trieb.

Fliehen war unmöglich. Meine Glieder hatten noch immer keine Kraft. Gepolsterte Pferdemanschetten waren um meine Handgelenke geschnallt. Er befestigte die Ketten an den Manschetten.

Nein, dachte ich.

Mein Gehirn war ein einziger stummer Schrei.

Meine Augen öffneten sich.

Annabel lag wenige Schritte entfernt auf dem Fußboden in tiefem Schlaf. Zumindest sah sie aus, als ob sie schliefe. Friedlich. Ich durfte gar nicht daran denken. Ich hatte sie in furchtbare Gefahr gebracht. Ich hatte die

Telefonnachricht, daß Ramsey sich mit mir treffen wolle, für echt gehalten. Da ich wußte, daß Ken Carey erzählt hatte, wieviel wir herausbekommen hatten, hätte ich vorsichtiger sein müssen. Reue und Bedauern drangen auf mich ein wie Preßlufthämmer, unbarmherzig strafend.

Die Muskeln erholten sich jetzt schneller. Ich streckte die Finger der einen Hand nach den Schnallen am anderen Handgelenk. Die Ketten klirrten von der Bewegung.

Wieder ein Ausruf von der anderen Seite des Raums und ein Eindruck von Hast.

Der Kran quietschte, als er die Ketten einholte.

Ich bekam die Schnallen nicht auf. Eine schon, aber es waren zwei an jeder Manschette.

Die kürzer werdenden Ketten zerrten meine Handgelenke nach oben, hoben mir die Arme, zogen meinen Körper hoch, zogen mich auf die Füße, zogen mich weiter hoch, bis ich in der Luft hing. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, als sei das genug, um die bleierne Schwere in ihm loszuwerden und die restlichen Nebel zu vertreiben.

Carey stand im OP und drückte auf die Kran-Bedienung. Wütend und hilflos begann ich auf die Schiebetür zuzugleiten, dort hindurch und auf den riesigen Operationstisch zu. Ich stieß mit den Füßen nach Carey, aber er war außer Reichweite meiner nutzlosen Schlenker und kalt auf das konzentriert, was er machte.

Seine Gnadenlosigkeit und seine Ungerührtheit waren entnervend. Er frohlockte nicht, noch schimpfte er oder sagte mir, ich hätte mich nicht einmischen sollen. Er ging es an, als sei es eine Aufgabe wie jede andere.

»Carey«, sagte ich beschwörend, »um Himmels willen.«

Es war, als hätte er es nicht gehört.

»Ich habe Ramsey gesagt, daß Sie Scott umgebracht haben.«

Ich brüllte es, war plötzlich mit meiner Beherrschung am Ende, kopflos, krank vor Angst, glaubte mich verloren.

Er hörte nicht hin. Er konzentrierte sich auf die vorliegende Angelegenheit.

Er stoppte den Kran, als ich noch vor dem Tisch war, und legte nachdenklich den Kopf schräg. Es hat fast den Anschein, dachte ich, als wüßte er nicht weiter.

Mit einem Schlag wurde mir klar, daß er nicht vorgesehen oder damit gerechnet hatte, daß ich jetzt wach war; daß Scott ihm nicht zugesehen und ihn angebrüllt hatte; daß es für ihn nicht ganz nach Plan lief.

Das Zeug in der Spritze, ein einfaches Betäubungsmittel, wie ich verzweifelt hoffte, war zur Hälfte für Annabel draufgegangen, und er hatte mich nicht so lange ausschalten können, wie er gewollt hatte.

Daß ich nicht allein gekommen war, mußte ihn durcheinandergebracht haben. Ich nahm an, er hatte vorgehabt, mich vielleicht durch irgendein Geräusch in den OP zu locken und mir überraschend die Nadel zu verpassen. Vielleicht hatte er geglaubt, der Anblick eines Chirurgen würde mich hier nicht beunruhigen. Alles war möglich.

Er faßte einen Entschluß und ging zu einem der Wandtische, auf dem eine Nierenschale stand. Er ergriff eine Spritze, die darin lag, hielt sie ans Licht und drückte behutsam einen Tropfen durch die Kanüle.

Man brauchte mir nicht extra zu sagen, daß ich im Begriff war, mit dem Kugelfisch Bekanntschaft zu schließen.

Die Zeit war wirklich abgelaufen, wenn ich da einfach hilflos hängen blieb. Um mir zu schaden, mußte er mit der Nadel an mich herankommen. Ich brauchte ihn bloß daran zu hindern.

Die drohende Vernichtung verlieh mir Kräfte, die zu besitzen ich nicht für möglich gehalten hätte. Als er auf mich zukam, krümmte ich die Arme, um mich hochzuziehen, klappte meinen Körper wie ein Taschenmesser zusammen, zog die Knie unters Kinn und versuchte, indem ich mich dann plötzlich streckte, meine Füße links hinter mich auf den OP-Tisch zu bekommen. Ganz glückte das Manöver nicht, aber ich brachte die Füße auf die Tischkante, und das gab mir Halt genug, um auf Carey zuzuschwingen und zu versuchen, ihm die Spritze mit meinen Schuhen aus der Hand zu treten.

Er wich nach hinten aus, hielt die Spritze vorsichtshalber hoch. Ich schaukelte vergeblich durch die Luft, verzweifelt und wütend.

Nach einer Denkpause drückte er einen Bedienungsknopf für den Kran und hievte mich einen Meter weiter weg vom Tisch, zu sich hin, Richtung Schiebetür. Sofort wiederholte ich das Klappmesser, zielte aber diesmal direkt auf ihn. Er wich schnell zurück. Meine Füße trafen die Wand an der Stelle, wo er gestanden hatte, und ich stieß mich heftig von ihr ab, drehte mich in der Luft, säbelte mit den Beinen nach der Spritze.

Ich verfehlte den in die Höhe gehaltenen Tod, erwischte aber, wie es der Zufall wollte, Careys Kopf von links und rechts, mit beiden Füßen. Ich versuchte ihn fest in die Zange zu nehmen, schwang jedoch durch die Pendelwirkung wieder weg. Das einzige, was passierte, war, daß ihm die OP-Kappe und der Mundschutz herunterrutschten. Der Mundschutz blieb an seinem Hals hängen, doch die Kappe fiel auf den Boden.

Sonderbarerweise schien ihn das aus dem Konzept zu bringen. Er hielt sich die Hand mit der Spritze an den Kopf und zog sie hastig wieder weg. Er war verwirrt, sein Gesichtsausdruck nicht giftig oder böse, sondern doppelt so erschöpft wie in den letzten Tagen. Was sich da zeigte, war nicht einfach Müdigkeit, es war seelisches Zerbrechen durch zuviel Streß.

Noch immer wie perplex, daß nicht alles nach Plan ging, bückte er sich mit dem Rücken zu mir, um die heruntergefallene Kappe aufzuheben, und ich, noch immer hilflos baumelnd, zog die Arme und Knie an und stieß Carey mit totaler Verzweiflung meine Füße in den Hintern.

Die Wucht des Treffers wurde durch den Kittel ein wenig gemindert - Vickys meisterhafter Tritt nach dem Straßenräuber blieb ohnehin unerreicht -, war aber doch so groß, daß sie ihn aus dem Gleichgewicht brachte, so groß, daß sie ihn nach vorn taumeln ließ, und so groß, daß Carey, bevor er sich aufrichten konnte, mit der Stirn gegen die scharfe Metallkante eines Schrankes schlug.

Er brach bewußtlos zusammen.

Fieberhaft bemühte ich mich, die beengenden Manschetten aufzuschnallen. Ich schnallte erst die linke auf, ohne daran zu denken, daß ich mit ihr schon angefangen hatte. Es war nicht allzu schwer, aber danach hing ich dann ganz an meinem rechten Handgelenk, und diese Schnallen linkshändig und so hoch oben aufzubekommen kostete mich enorme körperliche Anstrengung. Die nackte Panik verlieh mir Bären-, um nicht zu sagen Wahnsinnskräfte.

Ich schwitzte. Stöhnte. Kämpfte. Zwang meine Finger, die Gegenkraft meines Gewichts zu überwinden.

Endlich kamen meine Hände frei, und ich fiel, landete ungeschickt, taumelte, fing mich, dachte sofort an eine Waffe, sah mich nach etwas um, was ich Carey über den Kopf schlagen konnte, falls er sich rührte, und nach etwas zum Fesseln, falls nicht.

Schnell jetzt. Schnell.

Die Lösung war passend und unglaublich einfach. Ich schaltete selbst den Kran ein und ließ die Ketten mit den noch daran befestigten Manschetten in voller Länge herunter. Dann, ganz vorsichtig, da das Tetrodotoxin noch immer nur einen Nadelstich entfernt war, zog ich Careys Arme unter ihm hervor, drehte sie ihm auf den Rücken und band die Manschetten um seine Handgelenke, schnallte sie jedoch über Kreuz fest, so daß sie miteinander verbunden waren und fast unmöglich zu öffnen. Ein Puls war noch vorhanden. In seinen Handgelenken pochte es. Besser, er wäre gestorben, dachte ich.

Ich ging zur Kransteuerung und ließ nach und nach die Ketten hoch, bis sie gerade soweit eingeholt waren, daß sie Careys latexbehandschuhte Hände sechs bis acht Zentimeter über seinem Rücken fixierten. Wenn er in dieser Stellung aufwachte, würde er kaum in der Lage sein, den Kopf vom Boden zu heben.

Für den Augenblick zufrieden, aber voll angestauter Sorge lief ich in den gepolsterten Raum und zu Annabel hinüber.

Sie schlief. Ich fühlte auch ihren Puls. Stark genug. Sie lebte.

»O Annabel.« Von Rührung überwältigt, streichelte ich ihr Haar.

Mir war zum Weinen. Helden, die sechs Schläge in den Solarplexus einstecken und lächelnd wieder aufstehen, ist nie zum Weinen.

Ich stolperte auf wackligen Beinen zum Büro und schickte Ramsey ein telefonisches SOS, er solle kommen und Verstärkung mitbringen. Ging wieder zu Annabel, setzte mich schwach neben sie, den Rücken gegen die Arenawand, und beobachtete durch die Schiebetür, ob Carey Anzeichen von mörderischem Bewußtsein zeigte.

Ich hielt Annabels Hand, ebensosehr um mich zu trösten wie um Trost zu spenden.

Sie lebte. Sie würde aufwachen wie ich. Sie mußte. Ich liebte sie innig.

Keine Falle, die ich mir hätte ausdenken können, hätte Carey so schlüssig überführt wie die, die er mir gestellt hatte.

Zwischen Intuition und Wahrscheinlichkeit war ich zu der Einsicht gekommen, daß Carey der sein mußte, den ich suchte, aber bis zu seinem Angriff auf mich hatte ich keine Möglichkeit gehabt, irgend jemand anders davon zu überzeugen. Carey war der große alte Mann, der Vater der Praxis, die Autoritätsfigur, derjenige, der vor allen anderen den Respekt und das Vertrauen der Kunden genoß.

All diese alten Männer. Seine Generation. Männer, die sich bereits ein halbes Leben lang kannten. Und die alle die Geheimnisse kannten.

Vor langer Zeit hatten Ronnie Upjohns Vater und Theo Travers’ Großvater als Versicherungsagenten überdurchschnittlichen Erfolg gehabt und ein Vermögen erworben.

Vor langer Zeit hatte Kenny McClure Tetrodotoxin bestellt, um es an den gewissenlosen Mackintosh weiterzugeben, der heute noch mit Carey Karten spielte. Es war Carey, nahm ich an, der Kenny - ein Kollege, aber nicht sein Partner - überredet hatte, das Gift zu besorgen, und als Kenny aufging, was er getan hatte, war er zum Dank dafür erschossen worden.

Vor langer Zeit hatte Wynn Lees einem Nebenbuhler die Hose an die Geschlechtsteile genietet, hatte seine Strafe abgesessen und war nach Australien gegangen.

Die jetzigen Probleme hatten nach Wynn Lees’ Rückkehr angefangen, und vielleicht war er der Auslöser gewesen, der den Motor wieder in Gang gesetzt hatte.

Carey mußte Geld gebraucht haben. Nicht auszuschließen, daß er bei der Porphyr-Pleite die Ersparnisse verloren hatte, die seine Altersversorgung sichern sollten. Nicht undenkbar, daß er versucht hatte, sie sich mit Hilfe seiner Fachkenntnisse wiederzuholen.

Nicht auszuschließen, daß er Travers, den Versicherungsmenschen der dritten Generation, irgendwie überredet hatte, mit ihm zusammen reich zu werden, auch nicht, daß Travers dann rausgewollt hatte wie Kenny und feststellen mußte, daß Aussteigen Sterben hieß.

Carey, dachte ich, hatte das Gebäude nicht nur angezündet, um Travers’ Identifizierung zu verzögern oder zu verhindern, sondern auch, um alle seine Fährten zu verwischen. Bestellungen, Rechnungen, der ganze verräterische Papierkram war praktischerweise in Rauch aufgegangen und vor allem - ich begriff es mit ehrfürchtigem Schaudern - die Blutproben, die an dem Tag genommen wurden, als das Röhrbein-Pferd auf dem OP-Tisch starb. Diese Proben hätten einen Überschuß an Kalium enthalten. Damit wären die unerklärlichen Todesfälle im Operationssaal auf einen Schlag geklärt gewesen, und die Jagd nach dem Schuldigen wäre angelaufen.

Natürlich hatte sich niemand je etwas dabei gedacht, daß Carey in dem Raum, wo die Infusionsflüssigkeit gelagert wurde, ein und aus ging. Natürlich hatte niemand je nachgeprüft, was für Chemikalien Carey bestellte. Niemand fand etwas dabei, daß er alte Freunde und ihre Pferde besuchte, und natürlich machte sich auch niemand Sorgen, wenn er eines Abends bei den Eaglewoods auftauchte und nach seinen Patienten sah, ihnen heimlich aber Insulin verabreichte.

Carey konnte hingehen, wo er wollte, tun, was er wollte, ohne es erklären oder rechtfertigen zu müssen, ohne Verdacht zu erregen. Schließlich würde es keinem halbwegs vernünftigen Chef einer Tierklinik einfallen, den Ruf seines besten Chirurgen zu zerstören oder eine Praxis zu ruinieren, deren Aufbau er sein Leben gewidmet hatte. Aber Carey, dachte ich, hatte seinen Schnitt machen und sich verabschieden wollen. Die Ereignisse hatten ihn zur Eile getrieben: Travers hatte den Brand heraufbeschworen. Ken hatte die kolikkranke Stute gerettet, die sterben sollte. Aus Careys Sicht war es nur nötig gewesen, die Stute zu erledigen und dem Mann, der das Gift besorgt hatte, den Mund zu stopfen. Danach hatte ihn nichts mehr halten können, und er hatte geschickt das Ende der Partnerschaft bekanntgegeben. Hätte Ken ihm nicht erzählt, wieviel wir herausgefunden hatten, wäre er in diesem Moment wahrscheinlich friedlich beim Packen gewesen, wieder zahlungskräftig und klar zum Auswandern, anstatt mit dem Gesicht mitten in einem Scherbenhaufen zu liegen.

Annabel bewegte sich.

Ich empfand eine ungeheure, herzerhebende Erleichterung und Dankbarkeit. Ich drückte ihre Hand, und wenn sie auch den Druck nicht erwiderte, nahm ich doch an, daß sie mich jetzt hören konnte.

»Sei unbesorgt«, sagte ich. »Ich bin hier bei dir. Es geht dir jetzt bald wieder gut. Ein Verrückter hat dir eine kleine Dosis Betäubungsmittel gespritzt, aber die Wirkung läßt schon nach, und alles ist in Ordnung. Laß dir Zeit. Es wird jetzt sehr schnell besser, das kann ich dir versprechen.«

Ich redete ihr weiter zu, und schließlich schlug sie die Augen auf und lächelte mich an.

Sie saß in meine Arme geschmiegt, zitterte aber vor Angst, daß die immer noch am Boden liegende Gestalt in dem OP-Kittel erwachen, aufspringen und uns etwas antun könnte. Er sei über die Trennwand hinweg auf sie losgegangen, sagte sie. Sie hatte ihn zu ihrem Schreck gerade noch gesehen, bevor er ihr die Nadel in den Hals gestochen hatte.

»Wenn er sich rührt«, sagte ich, »hole ich die Ketten ein, damit es ihm die Arme hinterm Rücken weiter hochzieht. Dann bleibt er unten.«

»Das gefällt mir alles nicht.«

Mir gefiel es auch nicht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der stämmige Kommissar neugierig vom Gang her durch die Tür trat und verblüfft auf die Gestalt am Boden starrte.

Ich stand auf und ging ihm entgegen.

»Was genau liegt an?« fragte er.

»Ich glaube«, sagte ich, »daß das Ihr Mörder ist. Und seien Sie vorsichtig, denn unter ihm oder dicht bei ihm liegt eine Spritze mit etwas, was Ihrer Gesundheit sehr schaden könnte.«

Eine Woche danach rief ich meine Mutter an und erzählte ihr das meiste, was geschehen war. Nichts von Russet Eaglewood, nicht zuviel von Scott, nichts von dem verzweifelten Kampf um mein Leben.

Am Ende rief sie aus: »Ich kann nicht glauben, daß ein Tierarzt Pferde umbringt!«

»Tierärzte töten andauernd Pferde.«

»Das ist etwas anderes.«

»So anders auch wieder nicht.«

»Er muß verdreht im Kopf gewesen sein!«

»Ja, schon«, sagte ich.

Ich dachte an Carey, wie ich ihn zuletzt noch kurz gesehen hatte, auf einer Tragbahre festgeschnallt, mit einer dicken Beule an der Stirn. Die Augen geschlossen.

Dem Anschein nach harmlos. Später hörte ich, er sei mit einer Gehirnerschütterung aufgewacht und seither verblüffend ruhig gewesen. »Er ist erleichtert, schätze ich«, meinte Ramsey in einem Anfall von ungewohnter Geschwätzigkeit. »Die sind oft erleichtert, wenn alles vorbei ist. Komisch.«

Eine Spritze mit Spuren eines Betäubungsmittels war hinter der Trennwand am Boden des Narkoseraums gefunden worden.

Die zweite Spritze, die mir Carey im OP hatte verpassen wollen, war unter einen nahen Tisch gerollt. Eine vorsichtige Analyse ergab, daß sie unzweifelhaft Tetrodotoxin enthielt. Die leere Ampulle mit dem Firmennamen Parkway und der Seriennummer in Schwarz sowie dem roten Aufdruck »Vorsicht! Gift!« lag in der Nierenschale, in der die Spritze gewesen war.

»In flagranti«, sagte Ramsey befriedigt.

Bei der Durchsuchung von Careys Wohnung fanden sie ein Buch über gefährliche Meerestiere, unter denen der Kugelfisch ganz vorn rangierte.

»Indizienbeweis«, sagte Ramsey.

In Ramseys Verzeichnis von den Porphyr-Park-Anlegern war Carey mit einem Betrag vertreten, der mich zusammenzucken ließ.

Higgins’ Freunde aus der Versicherungsbranche fanden jedes tote Pferd auf unserer Liste: Agent jeweils Theodore Travers; Zahlungsempfänger zumeist fiktiv, aber auch Wynn Lees, Fitzwalter und Nagrebb.

Der eilends angeforderte Bericht über den Chromosomenvergleich der Stute und des Fohlens mit Rainbow Quest war negativ: keinerlei Übereinstimmung, er war eindeutig nicht der Vater. Wynn Lees, den man mit Sicherheit wegen Betrugs belangt hätte, war schlauerweise ins Ausland geflohen.

Meine Mutter sagte: »Was ist mit Ken?«

»Ich mußte ihm sagen, daß ich als Junge hier gewohnt habe. Er hat sich die ganze Zeit gewundert, woher ich so viel wußte.«

»Du hast ihm aber doch nicht von mir und seinem Vater erzählt?« fragte sie besorgt.

»Kein Wort. Das wird besser nicht bekannt.«

»Diplomat wie eh und je«, sagte sie neckend, aber erleichtert.

Die Hochzeit von Ken und Belinda, sagte ich ihr, werde stattfinden wie geplant. »Und geplant ist genau das richtige Wort dafür. Die beiden gehen das so praktisch an. Kein verliebter Funke. Aber auch keine Bedenken, wie es scheint.«

»Du räumst ihnen also nicht viel Chancen ein?« fragte sie, hörbar enttäuscht.

»Fifty-fifty, würde ich sagen. Aber Belinda sagt zu ihrer Mutter jetzt Vicky statt Mutter. Das könnte alles ändern.«

Meine eigene Mutter lachte leise. »Du meintest, Vicky würde mir gefallen.«

»Sehr sogar.«

»Wir werden uns nie kennenlernen.«

»Doch. Dafür sorge ich schon.«

Ken selbst, erzählte ich ihr, werde mit weitgehend wiederhergestelltem Ruf aus der Geschichte hervorgehen.

»Es kann sein«, sagte ich, »daß manche behaupten werden, er hätte früher erkennen müssen, warum die Pferde bei der Operation gestorben sind. Da ich kein Tierarzt bin, kann ich das nicht beurteilen. Insgesamt sieht es aber ganz gut aus. Die Partner haben sich getroffen und beschlossen, ab sofort weiterzumachen und die rechtlichen

Fragen später zu klären, und die Praxis ist jetzt umbenannt in McClure Quincy Amhurst, was den bösen Zungen den Wind aus den Segeln nehmen dürfte.«

»Fabelhaft!«

»Und Mama«, sagte ich, »dein Kenny ...«

»Ja?«

»Ich habe herausgefunden, warum er gestorben ist.«

Es war still in der Leitung, dann sagte sie: »Erzähl es mir«, und ich erklärte ihr die Theorien und daß Josephine sie für wahr hielt und als tröstlich empfand.

»Stimmen deine Theorien?«

»Ja, ich glaube schon.«

Eine kurze Stille. Ein leises, gehauchtes: »Danke, Schatz.«

Ich lächelte. »Hättest du gern eine Schwiegertochter?« fragte ich.

»Ja! Das weißt du doch.«

»Sie heißt Annabel«, sagte ich.

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