Kapitel 6

»Wessen Leiche?« fragte ich automatisch.

»Das weiß niemand«, sagte Ken. »Carey ist auch erst kurz nach mir gekommen.«

Wir unterhielten uns über die Absperrung hinweg, da der Polizist erklärte, mich als Unbefugten dürfe er nicht hineinlassen.

»Ich gebe ihm die Befugnis«, sagte Ken überredend. »Ich arbeite hier und brauche ihn.«

Der Polizist wurde wankend, schaute sich erst rasch um, und als er ringsum keine Vorgesetzten und keine mißbilligenden Mienen entdeckte, ließ er mich durch, indem er mein Überwechseln auf die andere Seite der Absperrung geflissentlich übersah. Ich ging mit Ken zu der Gruppe um Carey Hewett hinüber, der mich mit leerem Blick ansah und meine Anwesenheit nicht in Frage stellte.

Er trug legere Freizeitbekleidung - kariertes Hemd, kastanienbrauner Pullover - statt wie üblich Schlips und Kragen unter einem weißen Laborkittel. Sein Auftreten verlor dadurch einiges an Autorität, und obendrein wirkte er verwirrt und bekümmert. Er hatte offenbar keine Zeit gefunden, sich zu rasieren, schloß ich aus seinem grauen Bartschatten, und auch nicht gefrühstückt, denn er sah spitz und hungrig aus. Dieser letzte Schlag nach all den erlittenen Verlusten hatte ihn merklich altern lassen.

»Ich verstehe nicht, wie am Donnerstag so spät noch jemand in dem Gebäude gewesen sein kann«, sagte er gerade. »Als wir raus sind, ist wie üblich alles abgeschlossen worden. Und wir vermissen ja niemand. Wenn jemand in dem Gebäude war, dann war es keiner von

unseren Leuten.«

»Es könnte der Brandstifter gewesen sein«, sagte einer von den Männern aus der Gruppe. »Ist schon vorgekommen, daß Leute von einem selbstgelegten Feuer eingeschlossen worden sind.«

Der Mann war ein Polizist in Zivil, wie ich nach und nach herausfand, obwohl nach meiner Ankunft niemand richtig miteinander bekannt gemacht wurde und ich nie seinen Namen erfuhr. Daß Carey meine Anwesenheit duldete, war wie eine Empfehlung, und später meinte er denn auch, er sei ganz froh, daß Ken einen Freund habe, der ihm zur Seite stehe, und fügte kläglich hinzu, er selbst hätte auch gern jemanden, auf den er sich stützen könnte.

Offenbar befand sich gerade ein Polizeiarzt in der ausgebrannten Ruine, doch die Außen- und Innenwände würden sehr bald auf das sorgfältigste abgestützt werden müssen, da man Teile des Gebäudes mit der bloßen Hand umstoßen konnte. Ich reimte mir nach und nach zusammen, daß man die Leiche ungefähr im Bereich der einstigen Apotheke gefunden hatte und daß sie zu sehr verkohlt war, um ohne weiteres identifiziert werden zu können. Nicht einmal ihr Geschlecht war bisher bestimmt worden.

»Anscheinend haben sie die Leiche gestern abend entdeckt«, raunte mir Ken zu, »aber es wurde schon dunkel, und da das Gemäuer so wacklig ist, haben sie beschlossen, die Sache ruhen zu lassen und bei Tageslicht weiterzumachen. Also haben sie Wachtposten aufgestellt und sind heute morgen wiedergekommen, kurz bevor ich eintrudelte. So ein elender Schlamassel!«

»Es könnte schlimmer sein«, sagte ich.

»Wie meinen Sie das?«

»Der da drin ist, könnte einer von Ihnen sein. Einer von

Ihnen hätte den Brandstifter stören und dafür umgebracht werden können.«

»Schon möglich.« Der Gedanke erschreckte ihn nicht besonders. »Wenn wir Patienten in den Boxen haben, ist abends oft jemand von uns hier. Scott kam gestern alle paar Stunden her, um nach der Stute zu sehen, und ich habe dreimal nach ihr geschaut. Belinda und ich sind auf der Rückfahrt von Stratford hier vorbei und noch einmal kurz vor dem Schlafengehen. Beide Male haben wir gesehen, daß die Polizei hier war, aber ich dachte, das wäre nur, weil der Bau einsturzgefährdet ist.« Er hielt kurz inne. »Scott müßte jeden Moment auch kommen.«

»Der Stute geht es also gut?«

»Drücken Sie uns die Daumen.«

Wir verließen die Gruppe und gingen zu den beiden Patienten hinüber, um sie uns anzusehen. Beide schienen halb zu schlafen, so still standen sie da, lebendig und auf dem Weg der Besserung.

»Was fehlt ihm?« erkundigte ich mich nach dem Pferd neben der Stute.

»Er hatte Atemschwierigkeiten. Wenn er gefordert war, kriegte er keine Luft in die Lunge, weil sein Kehlkopf halbseitig gelähmt ist. Das kommt bei großen Pferden oft vor. Ich habe diese Seite des Kehlkopfs durch eine Naht fixiert, um sie offenzuhalten, so daß er besser atmen kann, wenn es zur Sache geht. Er hätte gestern schon heim gekonnt, aber sein Trainer ist knapp an Personal und wollte, daß er bis morgen bei uns bleibt. Er war Gott sei Dank kein Problem.«

»Haben Sie ihn hier in der Klinik operiert?«

»Klar.«

»Vollnarkose?«

»Ja. Es ist ein längerer Eingriff, fünfzig Minuten oder so. Ich habe es Mittwoch früh gemacht. Er stand seit vierzehn Tagen auf dem Terminplan. Es war kein Notfall.«

»Waren alle Pferde, die gestorben sind, Notfälle?«

Er überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Einer ist hier draußen nach einer gelungenen Knieoperation an Herzversagen gestorben. Simple halbstündige Arthroskopie nach Schema F. Ich habe einen Knochensplitter aus seinem Kniegelenk entfernt.«

»Er ist hier gestorben?«

Ken nickte. »Es war ein wertvoller Junghengst. Wir haben ganz besonders aufgepaßt. Scott ist nach der OP die ganze Nacht hiergeblieben, hat regelmäßig nach ihm gesehen und den Monitor beobachtet. Alles war klar mit ihm. Dann war er plötzlich tot.«

»Dafür können Sie doch nichts.«

»Erzählen Sie das mal dem Besitzer. Das Pferd war hier. Das ist das Unangenehme.«

»Hat Scott selbst gesehen, wie es tot umgefallen ist?«

»Nein, ich glaube nicht. Ehrlich gesagt glaube ich, Scott ist eingeschlafen, obwohl er das bei allen Heiligen bestreitet. Aber es ist schwer, hier die ganze Nacht wach zu bleiben, wenn sich überhaupt nichts tut. Und er hatte auch den ganzen Tag gearbeitet. Er war wach, als ich hier weggefahren bin, und das war, nachdem ich das Pferd untersucht hatte, so gegen elf. Etwa um fünf rief Scott mich entsetzt an, aber ich schätze, da war der Hengst schon ungefähr eine Stunde tot. Wir haben eine Autopsie vorgenommen«, er zuckte die Achseln, »aber einen Fehler konnten wir nicht feststellen. Sein Herz war einfach stehengeblieben.«

»Kommt das oft vor?« »Eigentlich nicht. Höchstens nach einem schweren Rennen. Da stirbt manchmal eins hinterher im Rennbahnstall.«

»Haben Sie mir die Liste zusammengestellt?«

»Bin noch nicht dazu gekommen.« Er zog seine Aufmerksamkeit von dem nicht gestorbenen Patienten ab und schien sich im Hinblick auf die, die gestorben waren, so bedeckt zu halten wie eh und je.

»Was haben Sie falsch gemacht?« sagte ich.

Er öffnete bestürzt den Mund und schloß ihn wieder.

»Nichts«, sagte er wenig überzeugend.

»Irgend etwas muß falsch gelaufen sein.«

Er bewegte den Kopf wie zu einem Nicken und überlegte es sich dann anders.

Ich sagte: »Warum erzählen Sie es mir nicht einfach?«

Er warf mir einen langen gequälten Blick zu und zuckte mit den Schultern.

»Beim ersten«, begann er zögernd, und sein langes Gesicht war unglücklich, sein Entschluß noch nicht endgültig, »beim ersten dachte ich hinterher ... ich hätte vielleicht was übersehen ... aber es schien so unlogisch ... und so oder so hätte ihn das nicht umgebracht, die Wirkung hätte irgendwann wieder nachgelassen.«

»Was denn, Ken? Was für eine Wirkung?«

»Von Atropin«, sagte er.

Ich begriff, weshalb Belinda so sicher war, daß ich mich in dem Tierärztepuzzle nicht zurechtfinden würde. Atropin war für mich bloß ein Wort, das ich schon mal gehört und nie des Nachschlagens für wert gehalten hatte.

»Ist das ein Gift?« fragte ich.

Hatte ich an ihm gezweifelt, so zweifelte er umgekehrt jetzt an mir. Er sagte nachsichtig: »Es ist Gift. Es ist Belladonna. Aber es ist auch für etwas gut. Es wirkt beruhigend. Krampflösend.«

»Führt es zum Herzstillstand?«

Er schüttelte den Kopf. »In ausreichender Menge könnte es bei einem Pferd zu Ileus führen.«

Ich sah ihn an.

»Pardon. Es könnte die Darmbewegung zum Stillstand bringen. Das bedeutet >Ileus<. Bei einer genügend hohen Atropinzufuhr also würde der Darm aufhören zu arbeiten, er würde sich vor lauter Gasen und Flüssigkeit aufblähen und unerträglich weh tun, und dann bliebe nichts anderes übrig, als das Pferd zu operieren. Aber man würde keine Verwachsungen, Knickungen oder Verdrehungen vorfinden. Man könnte das Gas zu einem großen Teil ablassen ... den Darm so entleeren, wie ich es bei der Stute gemacht habe ... dann zunähen, und wenn die Atropinwirkung nachläßt, würde der Darm wieder normal arbeiten. Nur, daß es so nicht gelaufen ist. Sie sind beide in der Narkose gestorben.«

»Beide

»Aber ich bin mir nicht sicher -«

Ausgerechnet da rief Scott vom Tor herüber, Ken möchte den Polizisten bitten, ihn durch die Sperre zu lassen. Ken ging brav hinüber und kam nicht nur mit Scott, sondern mit noch zwei anderen Tierärzten wieder, Oliver Quincy und Lucy Amhurst, für mich der lebende Beweis dafür, daß schlechte Nachrichten selbst sonntags vor dem Frühstück mit Lichtgeschwindigkeit reisen.

»Peter kennt ihr doch, ja?« fragte Ken seine beiden Kollegen, als sie bei den Boxen anlangten, worauf sie mir beiläufig zunickten und ihre ganze Aufmerksamkeit dann wieder auf die Frage richteten, wer da in dem Feuer

umgekommen sein könnte.

Oliver Quincy war durch einen Bekannten bei der Polizei auf den Leichenfund hingewiesen worden. Er hatte sofort alle anderen aus der Praxis angerufen, und tatsächlich trafen, kaum daß er das erzählt hatte, noch zwei weitere Ärzte ein, Jay Jardine und Yvonne Floyd; gleich nach ihnen kam Belinda, die zu ihrem Ärger von Yvonne, nicht von Ken verständigt worden war.

Nachdem ich einmal ausgeknobelt hatte, wer wer war, fand ich mich gut zurecht: Die Tierärzte waren leicht auseinanderzuhalten, unverwechselbar, ganz im Gegensatz zu dem gesichtslosen Ronnie Upjohn am Vortag.

Gemeinsam gingen wir durch den Haupteingang ins Gebäude, Scott, Belinda und ich etwas hinterdrein, weil wir aus der Eingangshalle noch Stühle für die Konferenz im Büro mitnahmen. Nur Carey Hewett war noch draußen bei den Vertretern der Obrigkeit. Seine Partner meinten, das sei wohl nicht zu ändern, und hielten ihr Palaver ohne ihn ab.

Lucy Amhurst verlangte zu wissen, was vor sich ging, und das konnte ihr natürlich niemand sagen. »Wir haben tote Pferde genug für eine Leimfabrik, wir haben Brandstiftung und haben eine Leiche. Das ist überhaupt nicht lustig.«

Sie war eine selbstbewußte, nüchterne Person mittleren Alters, mit kräftigen sauberen Fingernägeln, dem stämmigen Körper einer Frau vom Land und Augen, aus denen viel Einsatz und Verständnis für Ponyclubs sprach.

Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl, als stünde der ihr zu, und wurde von den anderen offenbar, wenn nicht als Älteste, so doch als diejenige anerkannt, die am längsten dabei war. Dann heftete sie ihren etwas oberlehrerinnenhaften Blick auf mich und sagte: »Entschuldigen Sie, wir wissen, daß Sie ein Freund von Ken sind und ihm helfen, und ich weiß, daß Carey mit Ihnen einverstanden ist, aber ich finde, Sie könnten ein bißchen genauer erklären, wer Sie sind. Wir kennen Sie ja nicht, verstehen Sie? Wir möchten nicht unbedingt, daß Fremde mit anhören, was wir untereinander zu sagen haben.«

»Ich verstehe vollkommen«, gab ich harmlos zurück. »Selbstverständlich gehe ich, wenn Ihnen das lieber ist. Aber, ehm, ich könnte Ihnen vielleicht irgendwie helfen, ein paar Lösungen zu finden.«

»Sind Sie Privatdetektiv?« Sie runzelte die Stirn, der Gedanke behagte ihr gar nicht.

»Nein. Aber ich verrichte mehr oder weniger ständig Detektivarbeit. Ich bringe alles mögliche in Erfahrung.«

»Er ist im Staatsdienst«, sagte Belinda rundheraus. »Irgendeine Art Sekretär.«

Wie üblich hatten die Briten keine Ahnung von Beamtenrangstufen. Es soll vorgekommen sein, daß Staatskommissare nach ihrem Revier gefragt wurden und Ministerialdirigenten, ob es was von ihnen auf Schallplatte gab. Die Tierärzte fragten mich zwar nicht direkt, wie schnell ich stenografierte und auf der Maschine schrieb, steckten mich aber in die entsprechende Schublade.

»Ein Schnüffler«, meinte Jay Jardine mißbilligend.

Lucy Amhurst musterte mich abwägend. »Wir können uns momentan keine Sonderaufwendungen erlauben.«

Ich sagte: »Das wäre gratis für Ken und Belinda.«

Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. Sie blickte gebieterisch in die Runde. »Na, warum nehmen wir sein Angebot nicht an, wenn er ein guter Schnüffler ist? Wir brauchen doch weiß Gott ein paar Antworten. Falls er nichts rauskriegt, stehen wir auch nicht schlechter da.«

Achselzucken. Niemand hatte eine engagierte Meinung.

Ich blieb, hielt mich zurück, und das Thema war fürs erste erledigt.

Jay Jardine, der Rinderfachmann, war klein, dünn, noch nicht allzulange mit dem Studium fertig und spielte sich gern in den Vordergrund. Was er sagte, strotzte derart von futuristischer Technologie, daß einige seiner Kollegen ihn baten, es zu erläutern. Er war der jüngste in der Gruppe und, wie mir schien, der unbeliebteste.

»Carey läßt sich Zeit«, nörgelte er. »Wir brauchen Laborräume. Das wißt ihr doch. Ich habe ihn gestern abend angerufen, und er hat immer noch nichts organisiert. Ich sagte, ich würde es selbst machen, aber er sagt, ich soll’s ihm überlassen.«

»Er hat sehr viel am Hals«, sagte Lucy Amhurst.

»Mir fallen drei oder vier Möglichkeiten ein, wo wir uns einmieten könnten. Begreift er nicht, daß wir Kunden verlieren, wenn ich nicht bald ein Labor bekomme? Ich muß haufenweise Tests wiederholen, und keiner wartet gern. Carey ist zu alt, um mit all dem fertig zu werden, das ist doch offensichtlich.«

Die anderen widersprachen in allen Schattierungen der Gefühlsskala, von Entrüstung (Lucy) bis zu banger Sorge (Yvonne).

»Er ist sechzig, ja?« sagte Yvonne bedrückt.

Wie ich selbst war sie jung genug, um sechzig für unvorstellbar alt zu halten, doch meinen Vater trennten mit sechsundfünfzig nur vier Jahre von dem vorgeschriebenen Pensionierungsalter im auswärtigen Dienst, und ich wußte genau, daß er noch auf der Höhe seiner außerordentlichen Geisteskräfte war. Nicht das bloße Alter, dachte ich, lag Careys möglicher Unentschlossenheit zugrunde, sondern seelische Erschöpfung, nachdem er soviel verloren hatte. Meine Erfahrung war, zugegeben, begrenzt, doch ich hatte öfter erlebt, daß Leute unter dem Streß extremer Verluste krank oder haltlos wurden, als daß sie mit einem Fluch auf das Schicksal gleich wieder auf die Beine kamen.

Yvonne Floyd war um die Dreißig, trug einen Ehering und betonte ihre Weiblichkeit durch eine üppige Masse nahezu schwarzen Haars, das an ihren Wangen und ihrem Hals kunstvolle Ranken bildete. So früh es war und so beunruhigend der Grund für die Versammlung, hatte sie doch Lippenstift und Eyeliner aufgetragen, und man konnte ihren spitzenbesetzten schwarzen Unterrock sehen, wenn sie die Beine übereinanderschlug.

Oliver Quincy ließ diese Beine kaum einmal aus den Augen, wenn ich mir auch nicht ganz sicher war, ob aus Begehrlichkeit oder Zerstreutheit. Von allen im Raum war sein Verhalten in der Not das entspannteste. Obwohl man von ihm als dem anderen mit Pferden befaßten Arzt am ehesten hätte erwarten können, daß er Kens schwere Besorgnis teilte, war er der einzige, der versuchte, einen Witz anzubringen.

»Welche vier Tiere haben Frauen am liebsten?«

»Halten Sie den Mund, Oliver«, sagte Lucy. »Wir sind nicht in Stimmung.«

»Es ist lustig«, beharrte er. »Was zum Aufheitern.«

Er war ein braunhaariger, pummeliger Mann im beginnenden mittleren Alter, mit einer gemütlicheren Ausstrahlung als die anderen: fürsorglich, hätte man sagen können, was auf die Besitzer seiner Patienten bestimmt beruhigend wirkte.

»Die Lieblingstiere einer Frau«, sagte er gedehnt, »sind ein Nerz im Schrank, ein Jaguar in der Garage, ein Tiger im Bett - und ein Esel, der das Ganze bezahlt.«

Ich fand es urkomisch, aber niemand lachte.

»Den habe ich vorige Woche gehört«, sagte Lucy.

Belinda sagte verstimmt: »Wie können Sie Witze reißen, wenn irgendein armer Mensch tot da draußen liegt?«

»Dieser arme Mensch hat wahrscheinlich ein Eigentor geschossen.«

Belinda konnte Oliver offensichtlich nicht leiden, was ich ihrer gewohnheitsmäßigen Eifersucht auf jeden, der Zeit mit Ken verbrachte, anlastete.

Yvonne sagte besorgt: »Was wird denn, wenn die ganze Partnerschaft auseinanderfällt?«

Alle blickten zu ihr hin und dann schnell wieder weg, als hätten sie den gleichen Gedanken gehabt, ihn aber nicht äußern wollen.

Lucy sagte nach einer Weile beherzt: »Wir haben den Bürocontainer. Wir können neue Bestände kaufen. Das Gebäude ist versichert. Wir leben alle noch. Die Klinik steht ebenfalls noch. Carey hat das alles doch schon gesagt. Natürlich fällt die Partnerschaft nicht auseinander.«

»Wenn doch«, sagte Quincy leichthin, »stelle ich Leute ein.«

»Was soll das heißen?« fragte Lucy.

»Ich spreche von Quincy und Partnern«, erwiderte er. »Ich bin der Älteste von uns. Wir alle brauchen unsere Arbeit. Wir kennen unsere Kunden. Wenn Carey aussteigt, machen wir weiter wie bisher, aber ohne ihn. Mit mir als Seniorpartner.«

»Er steigt schon nicht aus«, sagte Lucy erregt.

Der smarte Jay Jardine sagte: »Wir können ihn zum Aussteigen bewegen. Ihm sagen, daß er zu alt ist, daß er unser Vertrauen verloren hat. Tolle Idee.«

»Die Idee ist lausig«, protestierte Ken. »Carey hat diese Praxis aufgebaut. Sie ist sein Werk.« »Ist doch normal«, sagte Oliver. »Die Jungtiere verstoßen immer den alten Bullen.«

»Das läßt der Alte sich nicht gefallen«, hielt Scott dagegen.

»Warten Sie’s ab.«

»Sie sind ein guter Pfleger«, sagte ihm Oliver. »Sie werden entscheiden müssen, ob Sie bleiben oder gehen.«

»Wir bleiben alle bei Carey«, versetzte Scott.

Olivers mild-herablassender Blick glitt von Scotts Gesicht zu dem von Ken. »Quincy und Partner«, sagte er, »können keinen in Verruf geratenen Arzt gebrauchen. Tut mir leid und alles.«

Völlige Stille trat ein, dann sagte Lucy nervös: »Soll das auch ein Witz sein?«

Oliver hätte jetzt schallend lachen und ihnen sagen können, er habe sie alle auf den Arm genommen, aber er tat es nicht.

»Wem gehört die Klinik?« fragte ich.

Alle drehten den Kopf nach mir, ebenso erstaunt darüber, daß ich etwas gesagt hatte, wie über die Frage selbst.

»Wem gehört das abgebrannte Gebäude?« setzte ich hinzu.

»Wer bekommt die Versicherungssumme?«

»Die Bank«, sagte Lucy unsicher. »Zum größten Teil.«

»Die Bank«, stimmte Ken zu. »Die hat das Geld für den Bau beider Blocks vorgeschossen. Sie ist der Hypothekengläubiger. Wir Ärzte zahlen die Hypothek in Monatsraten von unserem Gehalt ab.«

»Carey hat das alles vor Jahren organisiert«, sagte Lucy. »Damals war ich als einzige schon bei ihm. Als ich zu ihm gestoßen bin, hat er die Praxis noch von seinem Haus aus geführt, aber dann ist seine Frau gestorben, und er wollte

umziehen ... Warum fragen Sie?«

»Ich habe nur überlegt, ob vielleicht jemand besonders davon profitiert, wenn die ganze Geschichte abbrennt.«

Sie dachten darüber nach, doch man merkte, daß sie grundsätzlich an der Pflege kranker Tiere interessiert waren, nicht an finanziellem Gewinn. Selbst Oliver Quincy machte den Eindruck, als hätte er die Revolte nicht des Geldes wegen angezettelt.

Lucy schöpfte Mut aus seinem Schweigen. »Wir werden Carey fragen müssen«, sagte sie erleichtert. »Er hat immer noch die Leitung.«

Die Saat des Zweifelns war jedoch gesät: das

schließliche Ende von Careys Weg stand deutlich in den Gesichtern von Quincy und Jardine geschrieben, ansatzweise auch in dem von Yvonne Floyd, in dem ungläubigen Gesicht von Lucy Amhurst und in dem unglücklichen von Ken. Die Worte waren gesagt und ließen sich nicht mehr zurücknehmen, sie würden an ihnen zehren wie ein Krebsgeschwür und die Partnerschaft von innen her zerfressen.

Kens Aussichten waren erschreckend. Mir wurde klar, was er seit langem schon begriffen hatte. Carey konnte nicht immer und ewig zu ihm stehen, und die anderen würden ihn zwangsläufig fallenlassen. Nach einem so schmählichen Abgang würde ihn aber niemand von Rang und Namen mehr haben wollen.

Ich mußte an eine beim Auswärtigen Amt beliebte scherzhafte Formulierung denken, die auf völlig untragbare Leute gemünzt war, nämlich »abgelehnt von Lagos«. Jedes Land hatte das Recht, einen zu ihm entsandten Diplomaten abzulehnen. Kein Mensch ging freiwillig nach Lagos, denn es war der Karriere fast so unzuträglich wie Ulan Bator. Lagos mußte nehmen, was es kriegen konnte.

Für Lagos in Vorschlag gebracht und abgelehnt zu werden, das bedeutete totale Zurückweisung und endgültigen Gesichtsverlust. Berufsaussichten danach gleich Null.

Während seine fünf Partner noch schweigend ihre Zukunft überdachten, steckte Carey sein graues Haupt zur Tür herein.

»Ach, da seid ihr ja«, sagte er arglos. »Die Polizei möchte euch drüben im Container sprechen. Die haben da so eine Art Bereitschaftsraum eingerichtet, obwohl ich ihnen gesagt habe, daß wir den Platz morgen früh für die Sprechstunde brauchen.«

Seine Stimme klang müde. Er sah abgekämpft aus. Ich fragte mich, wie er sich wohl verhalten hätte, wenn er über die Unzufriedenheit unter seinen Mitarbeitern im Bild gewesen wäre - würde ihm das den Nacken gesteift haben, oder wäre er vollends zusammengebrochen? Ich sah keine vernünftige Möglichkeit, das herauszufinden.

Er, seine Partner und sein Pflegepersonal marschierten über den Asphalt, Ken als letzter. Ich ging neben Ken her und zügelte sein Tempo.

»Die Polizei wird mich wahrscheinlich rauswerfen«, sagte ich. »In dem Fall warte ich dann im Büro auf Sie. Die Sache wird langsam ernst. Sie müssen mich ohne Vorbehalte ins Bild setzen.«

»Die Sache war immer ernst«, wandte er ein.

»Dann eben todernst.«

Er schluckte, sein spitzer Adamsapfel hüpfte in dem langen blassen Hals auf und ab.

»In Ordnung«, sagte er.

Belinda blickte sich nach uns um, wartete und hakte sich bei Ken ein. Gerechterweise muß man sagen, daß sie ihr Schicksal immer noch entschlossen mit seinem verband;

sie glaubte bedingungslos und felsenfest an ihn.

Wir betraten den Container, wo ein Polizist sich die Namen geben ließ und alle bat, auf den Klappstühlen entlang den Wänden Platz zu nehmen. Ich nannte meinen Namen, setzte mich wie die anderen auch und verhielt mich so lange wie möglich still.

Der leitende Polizeibeamte, mittleren Alters, hiesiger Akzent, nüchtern-zuverlässiges Aussehen, für mich immer noch ohne Namen, sagte, er wüßte gern, wer das Hauptgebäude der Tierarztpraxis vor dem Brand am Donnerstag zuletzt verlassen habe.

Yvonne Floyd sagte, als sie um sieben gegangen sei, wäre nur Carey, der in seinem Büro gearbeitet habe, noch dagewesen.

»Um sieben?« fragte das Gesetz. »Ist das Ihre normale Zeit?«

»Wir haben montags und donnerstags von fünf bis sieben Kleintiersprechstunde. Meine ist donnerstags.«

Der Polizist sah auf den spitzengesäumten Unterrock und die langen übereinandergeschlagenen Beine und beschloß wahrscheinlich, sich einen Hund anzuschaffen. Widerstrebend wandte er den Blick ab und suchte Bestätigung bei Carey.

Ja, stimmte Carey müde zu. Donnerstag sei ein zermürbender Tag gewesen. Die Anstreicher hätten gestört. Ein Pferd sei während einer Operation gestorben. Er habe Yvonne bei der Sprechstunde geholfen, da ihnen ein Pfleger fehlte, und danach habe er noch eine Menge Anrufe und Schreibarbeit erledigen müssen. Erst nach acht sei er gegangen. Da habe er in allen Räumen nachgeschaut, um sich zu vergewissern, daß er der letzte war, sei dann hinaus und habe die Vordertür von außen abgeschlossen. Dann sei er noch in die Klinik hinübergegangen, die ebenfalls abgeschlossen gewesen sei, doch habe im Büro noch Licht gebrannt, und dann weiter zu den Stallboxen, wo er Scott angetroffen habe, der gerade nach den drei Insassen schaute. Er habe Scott gute Nacht gesagt und sei nach Hause gefahren.

»Und danach, Sir?«

Carey sah verdattert drein. »Meinen Sie, was ich zu Abend gegessen habe? So in der Art?«

»Nicht direkt, Sir. Ich meinte, wann haben Sie erfahren, daß es in Ihrer Praxis brennt?«

»Ach so. Die Leute, die über dem Schuhgeschäft auf der anderen Straßenseite wohnen, haben mich angerufen. Sie sagten, sie hätten schon die Feuerwehr verständigt.«

Der Polizist nickte, als hätte er das schon mal gehört, und fragte, wer von uns Scott sei.

Scott meldete sich, hager, breitschultrig, die Kraftmaschine. »Scott Sylvester, geprüfter Tierpfleger.«

»Große Tiere«, ergänzte Carey.

»Haben Sie hier noch irgend jemanden gesehen, Sir, nachdem Dr. Hewett gegangen war?«

Scott sagte, alles sei ruhig gewesen. Er habe seine Tiere für die Nacht versorgt und sei zum >Roten Löwen< weiter oben in der Straße gefahren, um ein paar Bier zu trinken. Es sei ein beschissener Tag gewesen wegen des gestorbenen Pferdes. Kurz vor Schluß sei jemand in die Kneipe gekommen und habe gesagt, bei den Tierärzten brenne es, worauf er gleich losgerast sei, um zu helfen, und festgestellt habe, daß die Feuerwehr bereits dort war.

Der Polizist fragte, wie viele Personen Schlüssel zu dem niedergebrannten Gebäude besäßen.

»Wir alle«, sagte Carey. »Außerdem noch die Chefsekretärin und natürlich auch die Putzleute.«

Der Polizist holte geduldig Atem. »Wann kommen die Putzleute?«

»Jeden Werktag um acht.«

»Und, ehm ... waren sie schon da, als Sie gegangen sind?«

»Bitte?« sagte Carey, einen Moment lang verwirrt. »Aber nein. Die kommen morgens um acht, nicht abends.«

Der Polizist notierte sich etwas, vermutlich daß die Putzleute befragt werden sollten, ob sie jemand aus ihren Reihen vermißten. In Veterinärapotheken gab es verkäufliche Arzneimittel: Es war ja immerhin möglich, daß ein diebischer Raumreiniger gar mit einem Einkaufszettel hierhergeschickt worden war. Aber ein Dieb, der es auf Medikamente abgesehen hatte, war noch kein Grund für den Brand.

Carey sagte: »Es läßt sich wohl unmöglich feststellen, ob jemand durch ein Fenster eingestiegen ist?«

Der Polizist nickte. »Können Sie mir sagen, ob die Innentüren verschlossen waren, Sir?«

»Nur die Apotheke und das Labor«, sagte Carey kopfschüttelnd. »Die anderen Türen wurden vielleicht zugemacht, aber sehr selten abgeschlossen. Als ich am Donnerstag weg bin, war nur die Apothekentür und die zum Labor abgesperrt.«

»Waren das Schnappschlösser, Sir, oder Einsteckschlösser?«

Carey blickte verständnislos. »Einsteckschlösser, glaube ich.«

»Haben Sie die Schlüssel jetzt bei sich, Sir?«

Carey nickte und zog ein ganzes Bund hervor, so stattlich wie das von Ken, wenn nicht noch dicker. Auch Careys Schlüssel waren etikettiert, und auf dessen Aufforderung hin zeigte er dem Polizisten die fraglichen

Schlüssel.

»Einsteckschlösser«, sagte der Polizist nickend.

»Was macht das für einen Unterschied?« fragte Carey.

»Nun, Sir«, kam die geduldige Erklärung, »wenn Türrahmen aus Holz verbrennen, bleibt das Schloß oft erhalten. Es fällt auf den Boden, und unter Umständen schmilzt es in der Hitze nicht, verstehen Sie?«

Alle nickten.

»Die Ermittler, die jetzt in Ihrem Gebäude sind, haben ein Schloß gefunden, das sie der Apothekentür zuordnen. Es ist ein Einsteckschloß, und es ist in geöffneter Stellung.«

Die Bedeutung dieser Information legte sich wie Blei auf das gemeinschaftliche Bewußtsein, auch wenn niemand etwas sagte.

»Wir würden uns Ihre Schlüssel gern einmal ausleihen, Sir, um zu sehen, ob wir auch das richtige Schloß haben.«

Carey reichte ihm stumm die Schlüssel. Der Einsatzleiter gab sie seinem Konstabler, zeigte ihm den fraglichen Schlüssel und bat ihn, damit zu den Spurensicherern zu gehen, dort zu warten und die Schlüssel dann wieder mitzubringen. Der Konstabler nahm das Bund und ging, und dann fragte der Einsatzleiter, wie viele Leute einen Schlüssel für die Apotheke hatten.

»Wir alle«, sagte Carey seufzend.

»Einschließlich der Chefsekretärin, Sir?«

Carey nickte.

»Und die Reinigungskolonne?«

Carey sagte entschuldigend: »Wir müssen auf makellose Sauberkeit achten. Und natürlich hat jeder Schrank noch ein Zusatzschloß. Dafür haben die Sekretärin und die Reiniger keine Schlüssel.« »Glasschränke, Sir?«

Carey nickte.

»Die Ermittler sagen, daß in dem Bereich sehr viel geschmolzenes Glas lag. Der Raum ist völlig ausgebrannt. Den Rest hat das eingestürzte Dach erledigt. Die Feuerwehr hat tonnenweise Wasser aus den Trümmern gepumpt. Anscheinend besteht keine Hoffnung, in der Apotheke noch irgend etwas zu identifizieren, das heißt, wir können nicht feststellen, ob etwas fehlt und was. Wir bitten Sie deshalb, gemeinsam eine Liste anzulegen von dem, was Ihres Wissens in der Apotheke war, so daß wir einen Ansatz für unsere Ermittlungen haben, falls etwas davon in anderen Händen auftaucht.«

»Das ist doch aussichtslos«, wandte Lucy ein.

»Bitte versuchen Sie es.«

Mir fiel ein, wie man auf die Schnelle zumindest ein paar von den Antworten bekommen könnte, doch ich beschloß, Carey ein andermal darauf hinzuweisen. Wenn ich jetzt die Aufmerksamkeit auf mich lenkte, konnte es passieren, daß man mich sehr rasch hinauswarf, und es war entschieden interessanter dabeizusein.

Lucy fragte: »Stimmt es, daß diese Leiche in der Apotheke lag?«

»In dem Bereich«, bestätigte der Polizist.

»Was heißt >Bereich

Der Polizist schien das Für und Wider einer Antwort abzuwägen, sagte aber schließlich, daß einige der Innenwände unter dem Gewicht des Daches eingestürzt seien. Die Apotheke als vierseitiger Raum existiere nicht mehr.

»O Gott«, sagte Lucy.

Jay Jardine fragte: »Wie verkohlt ist die Leiche?«

»Sie wird noch untersucht, Sir.« »Wie lange wird es dauern, bis Sie herausfinden, wer es ist?«

Wieder Jay Jardine.

»Läßt sich nicht sagen, Sir.« Eine kurze Pause. »Manche Toten werden nie identifiziert.«

»Und die Vermißtenkartei?« fragte Lucy.

»Landstreicher, Obdachlose, Ausreißer, Wanderarbeiter, Madam - solche Leute tauchen nie in der Vermißtenkartei auf.«

»Oh.«

»Und ich möchte Sie fragen«, sagte der Polizist, »ob Sie jemand kennen, der gegen einen von Ihnen oder gegen Sie alle einen Groll hegt. Haben Sie in letzter Zeit jemand entlassen? Haben Sie Schmähbriefe bekommen? Hat Sie jemand bedroht? Waren Sie in einen Rechtsstreit verwickelt? Ist Ihnen bei Ihrer Arbeit jemand untergekommen, der Sie für den Tod eines Tieres verantwortlich macht? Kennen Sie irgend jemand, den Sie vielleicht für gestört oder für krankhaft besessen halten?«

»Wow«, sagte Yvonne. »Das paßt auf die Hälfte der Menschheit.«

Oliver Quincy blickte auf Ken und sagte zu dem Polizisten: »Uns sind in der Klinik in letzter Zeit mehrere Pferde gestorben, und die Besitzer schreien zetermordio.«

Carey ergriff das Wort und erklärte, wie schwierig Pferde in der Narkose seien. Der Polizist machte sich Notizen.

»Hat irgendeiner von diesen Besitzern Sie bedroht, Sir?«

Carey schüttelte den Kopf. Ken sagte energisch: »Wenn es diese Besitzer gewesen wären, hätten sie das Klinikgebäude angezündet, und die Leiche darin wäre meine gewesen.«

Niemand lachte.

»Hat man Ihnen gedroht, Sir?« Der Polizist sah auf seine Liste.

»Kenneth McClure, Pferdechirurg?«

»Richtig. Und ich habe keine Drohungen erhalten. Jedenfalls nicht solche.«

»Was für welche denn, Sir?«

»Ach, nur daß sie mir nie wieder ein Pferd anvertrauen würden und so.«

Der Polizeibeamte schien diese Art Drohung für gefährlicher zu halten als Ken, aber andererseits hatte Ken sicher recht: Wäre er die Zielscheibe gewesen, hätte man ihn und die Klinik flambiert.

Der Polizist blätterte seine Notizen durch und fragte Carey nach einer Pause: »Als Sie die Praxis verlassen und die Apothekentür kontrolliert haben, Sir, war sie da schon abgeschlossen?«

»Ja«, antwortete Carey. »Das sagte ich Ihnen bereits.«

»Richtig, Sir. Aber ich meine, wer hat sie denn eigentlich abgeschlossen? Sie selbst?«

Carey schüttelte den Kopf.

»Das war ich«, sagte Yvonne. »Ich habe sie nach der Sprechstunde abgeschlossen, wie üblich.«

Der Polizist sah wehmütig auf ihre Beine, dann riß er sich zusammen, seufzte und fuhr sich mit den Fingern am Nasenrücken entlang.

»Und wer hat das Labor abgeschlossen?«

»Ich wahrscheinlich«, sagte Jay Jardine. »Ich hatte ein paar Proben da drin, die nicht angerührt werden sollten.« Er lachte fröhlich. »Von denen ist wohl auch nichts mehr übrig, was?«

»Sehr unwahrscheinlich, Sir.« Der Polizist räusperte sich. »Bis wann waren Sie in der Praxis?«

Jay Jardine starrte ihn beleidigt an. »Wollen Sie unterstellen, daß ich den Brand gelegt habe?«

»Ich versuche ein klares Bild zu bekommen, Sir.«

»Oh.« Jardine sah immer noch verärgert aus. »Ich habe abgeschlossen, als ich gegen vier gegangen bin. Ich mußte zu einer kranken Kuh. Sonst noch was?«

»Ich möchte gern festhalten, wo Sie alle an dem Abend waren.« Der Polizist schlug eine neue Seite in seinem Spiralblock auf. »Angefangen bei Mr. Hewett, bitte.«

»Ich sagte Ihnen doch, ich bin um acht gegangen und nach Haus gefahren.«

»Wie weit ist das, Sir?«

»Ist diese ganze Fragerei denn nötig?« protestierte Carey. »Sie können doch wohl nicht annehmen, daß einer von uns das Feuer gelegt hat?«

»Wir können nicht sagen, wer es gelegt hat, aber wir möchten gern möglichst viele Personen ausschließen.«

»Ah, verstehe. Nun, ich wohne fünf Minuten entfernt.«

»Mit dem Auto?«

»Natürlich mit dem Auto.«

»Und Sie haben den Abend mit Ihrer Frau verbracht?«

Der Polizist, nicht unsensibel, bemerkte das innerliche Zusammenzucken aller Anwesenden und war auf Careys Antwort gefaßt.

»Meine Frau ist tot.«

»Das tut mir sehr leid, Sir. Dann waren Sie also allein?«

»Schon. Ich habe mir was zu essen gemacht, ein wenig Musik gehört, die Zeitung gelesen. Ich betrachte das nicht als Alleinsein, aber wenn Sie meinen, ob noch jemand dort war - nein.«

Der Polizist nickte, machte sich eine Notiz und ging zum nächsten Namen auf seiner Liste über.

»Mrs. Amhurst?«

»Miss«, sagte Lucy.

Der Polizist sah sie mit einem ruhig sondierenden Blick an, als schaffe er eine Basis, auf der sich ihre Antworten beurteilen ließen. Ein guter Kriminalbeamter, dachte ich, und sehr erfahren.

»Donnerstag abend, Madam?« fragte er knapp.

Sie antwortete direkt, ohne Jardines Empörung. »Ich bin hier bald nach der Mittagspause weg, denn ich hatte am Nachmittag vier Hausbesuche. Als letztes mußte ich zu ein paar Schafen auf einem Berg oberhalb von Birdlip. Da bin ich bei Einbruch der Dunkelheit weg, so kurz vor sieben wohl, und hab dann noch nach einem Basset gesehen, den ich am Morgen operiert hatte. Es ging ihm gut. Ich hab mit den Eigentümern was getrunken und bin dann heim. Hab nicht auf die Uhr gesehen.«

»Leben Sie allein, Madam?«

»Meine Schwester wohnt bei mir, aber sie ist zur Zeit auf einer Kreuzfahrt.«

»An dem Abend also ...?«:

»Das gleiche wie Carey. Aber statt Musik zu hören, habe ich ferngesehen.« Sie kam der nächsten Frage mit Humor zuvor.

»Fragen Sie mich nicht, was für eine Sendung es war, denn ich habe keinen Schimmer. Leider pflege ich nach einem langen Tag in meinem Sessel einzuschlafen.«

»Wie weit wohnen Sie von hier entfernt, Madam?«

»Eineinviertel Meilen. In Riddlescombe.«

Ich sah sie interessiert an. Riddlescombe war das Dorf, wo ich mit meiner Mutter gewohnt hatte, wo die

Eaglewoods heute noch herrschten. Mir war nicht klar gewesen, daß es so nah am Stadtrand von Cheltenham lag. Kindern kamen Entfernungen wahrscheinlich größer vor.

Der Polizist befragte seine Liste.

»Mrs. Floyd?«

»Ja«, sagte Yvonne, nahm die atemberaubenden Beine auseinander und kreuzte sie andersherum. »Ich bin, wie schon gesagt, um sieben nach Hause gefahren.«

»Und das ist wo?«

»Painswick Road. Ungefähr zwei Meilen von hier. Mein Mann war geschäftlich unterwegs, aber die Kinder waren da.«

»Ehm ... wie alt sind Ihre Kinder?«

»Es sind nicht meine. Mein Mann hat sie mit in die Ehe gebracht. Fünfzehn und sechzehn. Jungs. Sie hören Popmusik und kauen Kaugummi, hey, Mann.« Ihre Imitation sorgte für die ersten lächelnden Gesichter in der Runde.

»Und könnten die für Sie bürgen, Madam?«

»Für mich bürgen?« Sie grinste ihn koboldhaft an. »Die haben ihre Hausaufgaben gemacht. Wie jemand Hausaufgaben machen kann, wenn ihm eine Million Dezibel aufs Trommelfell wummen, ist mir zu hoch, aber Stille macht sie zapplig. Jeder hat ein Zimmer für sich. Ein Glück. Ich gehe immer hoch und sage ihnen Bescheid, wenn ich heimkomme. Dann winken sie mir. Wir kommen ganz gut miteinander aus.«

»Sie sind also wieder nach unten gegangen, nehme ich an, Madam, haben etwas zu essen gekocht und den Abend mehr oder minder allein verbracht.«

»So ungefähr. Hab die Post durchgesehen und eine Illustrierte gelesen. Die Nachrichten angeschaut. Dann rief Oliver an und sagte, hier würde es brennen, also bin ich rauf und hab den Jungs gesagt, warum ich weg mußte. Obwohl sie inzwischen ihre Videos laufen hatten, wollten sie natürlich mitkommen, aber das habe ich nicht erlaubt, denn es war schon spät, und sie hatten am nächsten Tag Arbeiten zu schreiben. Ich sagte ihnen, sie sollten ins Bett gehen. Ich war ein Scheißweib.«

Der Polizist bemühte sich nicht, sein Lächeln zu unterdrücken, und machte sich nur ganz wenige Notizen.

»Oliver Quincy, große Tiere?« fragte er als nächstes.

»Das bin ich«, sagte Oliver.

Oliver wurde ebenso nachdenklich betrachtet wie Lucy.

»Ihr Abend, Sir?«

»Ach, na ja, ich war hundemüde. Das verdammte Pferd war uns gestorben, und wir haben es nach allen Regeln der Kunst seziert, immer wieder die Geräte überprüft, aber wir konnten keinen Fehler finden. Zum Schluß war ich gerädert, das waren wir alle. Ich hatte eine Einladung zum Jahresbankett des Rugby-Vereins, aber mir graute vor dem Smoking, den Reden und dem Krach, darum bin ich lieber in eine Kneipe gefahren und hab da ein paar Bier getrunken und einen Happen gegessen.«

»Haben Sie mit Kreditkarte bezahlt, Sir?«

»Nein. In bar.«

»Sind Sie verheiratet, Sir?«

»Meine Frau geht, wohin sie will, und ich, wohin ich will.«

In seiner Stimme lag etwas, was das gemütliche Äußere Lügen strafte und was eher zu der Skrupellosigkeit paßte, mit der er Carey zu verdrängen suchte.

»Wie haben Sie erfahren, daß das Gebäude brennt, Sir?«

»Ich habe ihn angerufen«, sagte Carey. »Es dauerte lange, bis er sich meldete, aber ich hab’s zuerst bei ihm versucht. Ich betrachte Oliver als meine rechte Hand. Es war ganz natürlich, ihn als ersten zu benachrichtigen und ihn zu bitten, daß er es weitergibt.«

Keiner sah irgendwem in die Augen. Ein echter Fall von Auch du, mein Brutus, was sich da anbahnte. Armer alter Carey.

»Das Telefon klingelte, als ich heimkam«, bestätigte Oliver, wobei er seinen Cäsar immer noch nicht ansah. »Ich habe Yvonne, Lucy und Jay angerufen und ihnen Bescheid gesagt, aber die anderen haben sich nicht gemeldet.«

»Ich war in der Kneipe«, sagte Scott.

Der Polizist nickte und sah auf seine Liste.

»Mr. McClure?« fragte er.

»Ich war mit meiner Verlobten - Belinda hier - und ihren Eltern auswärts essen. Peter war auch dabei.«

Der Polizist schaute erneut auf seiner Liste nach.

»Belinda Larch, Tierpflegerin? Peter Darwin, allgemeine Hilfskraft?«

Wir nickten stumm.

»Und Sie drei waren den ganzen Abend zusammen, mit den Eltern von Miss Larch? In einem Speiselokal?«

»Ganz recht«, sagte Ken. »Wir wollten gerade gehen, als Lucy mich dort anrief.«

Lucy nickte. »Als wir herkamen, vermißte ich Ken. Mir fiel ein, daß er Bereitschaft hatte, und so habe ich vom Klinikbüro aus seinen Funkanschluß angerufen. Ist das denn alles so wichtig?«

»Einiges ist wichtig, anderes nicht«, erwiderte unser philosophischer Polizist. »Das läßt sich noch nicht sagen.« Er blickte auf die Liste. »Mr. Jay Jardine?«

Jay nahm als einziger die Befragung übel. »Hab ich Ihnen doch gesagt.«

»Ja, Sir. Könnten Sie von der kranken Kuh aus weitergehen?«

Mit unverhohlener Gereiztheit und zusammengekniffenen Lippen stieß Jay hervor, er sei nach Hause gefahren und habe Streit mit seiner bei ihm wohnenden Freundin gehabt. Sie sei davongestürmt, um sich an der Schulter ihrer besten Freundin auszuweinen. Ja, und?

Ja, nichts anscheinend. Seine Antwort wurde kommentarlos aufgeschrieben, und damit war die Fragestunde offenbar zu Ende. In diesem Moment kam wie gerufen auch der Konstabler mit den Schlüsseln zurück und sagte seinem Vorgesetzten etwas ins Ohr, so leise, daß wahrscheinlich nur Carey, der am nächsten saß, es noch mitbekommen konnte.

Der Einsatzleiter nickte, drehte sich um und reichte das Schlüsselbund seinem Besitzer. Dann blickte er ringsum in unsere gespannten Gesichter und sagte nüchtern, der Apothekenschlüssel passe tatsächlich in das fragliche Schloß. Da niemand etwas anderes erwartet hatte, rief die Nachricht keine große Aufregung hervor. Carey sagte mit bekümmerter Miene, er meine kontrolliert zu haben, ob die Tür abgeschlossen war, doch er habe so viel anderes um die Ohren gehabt, daß er es jetzt nicht mehr beschwören könne ...

»Aber ich hab sie abgeschlossen«, sagte Yvonne. »Ganz bestimmt. Das tu ich immer.«

»Machen Sie sich darüber nicht zu viele Gedanken, Madam. Es ist ziemlich einfach, Nachschlüssel anfertigen zu lassen, und offen gesagt haben Sie hier schon so viele Schlüssel in Umlauf, daß es einem potentiellen Einbrecher nicht weiter schwerfallen dürfte, sich das ganze Bund auszuleihen und nachmachen zu lassen.«

In die einigermaßen verdutzte Stille hinein erteilte er einen fachlichen Rat. »Falls Sie daran denken, wiederaufzubauen, Sir, würde ich unbedingt elektronische Schlösser empfehlen. Solche Schlüssel kriegt man nicht in jeder Eisenwarenhandlung nachgemacht.«

Er und sein Konstabler mußten gehen. Carey stand auf und begleitete sie hinaus, während sich unter den im Raum Zurückgebliebenen tiefe Nachdenklichkeit breitmachte.

»Ich hatte abgeschlossen«, wiederholte Yvonne unsicher. »Das tu ich immer.«

»Klare Sache«, sagte Oliver. »Ist doch typisch für Carey, daß er nicht mehr weiß, ob er nachgeschaut hat oder nicht. Genau das meine ich. Er ist zu alt. Je eher wir’s ihm sagen, desto besser.« Er stand auf und streckte sich. »Zwecklos, hier herumzuhängen. Ich gehe Golf spielen. Wer hat Bereitschaft?«

»Carey«, teilte ihm Lucy mit, »und Ken.«

Oliver sagte: »Dann wollen wir hoffen, daß es ein ruhiger Sonntag wird.« Keine Spur von Humor diesmal.

Er ging zielbewußt aus dem Container, Jay, sein glühender Bewunderer, folgte ihm auf dem Fuß. Alle anderen standen auf und schickten sich in unterschiedlichen Graden der Verunsicherung ebenfalls zum Gehen an. Scott, dessen innere Dynamos nach der kurzen Untätigkeit wieder surrten, verkündete, er werde den Tag am See verbringen, denn er wolle die Maschinen seines Schnellboots auseinandernehmen, um sie für die Wasserskisaison klarzumachen, und marschierte in flottem Tempo über den hinteren Parkplatz nach draußen. Wir hörten donnernd einen Motor anspringen und sahen gleich darauf seine kräftige Gestalt auf einem Motorrad am Gatter vorbeifahren.

»Fährt er immer Motorrad?« fragte ich.

»Er hat kein Auto«, sagte Ken.

Lucy meinte tolerant: »Er pumpt Eisen, er hat Muskeln, daß man es kaum glauben kann, ein ungemein sportlicher Typ.«

»Er ist ein guter Pfleger«, sagte Ken zu mir. »Sie haben es gesehen.«

Ich nickte.

»Und er hält zu Carey«, fuhr Lucy anerkennend fort. »Ich könnte nicht so leben wie er, aber er ist anscheinend ganz zufrieden damit.«

»Wie lebt er denn?« hakte ich nach.

Yvonne antwortete. »Auf einem Campingplatz. Er sagt, Beständigkeit sei ihm verhaßt. Aber er ist nett. Vorigen Sommer sind wir mal einen Tag mit unseren Jungs bei ihm am See gewesen, und er hat ihnen stundenlang beigebracht, wie man Wasserski fährt.«

Lucy nickte. »Eine ganz eigene Mischung.«

»Unverheiratet?« fragte ich.

»Ein Chauvi«, bemerkte Belinda, und die beiden anderen Frauen nickten.

»Fahren wir doch alle nach Hause«, sagte Yvonne. »Oliver hat recht, hier können wir doch nichts mehr ausrichten.«

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Lucy widerwillig zu. »Das Ganze bringt einen furchtbar durcheinander.«

Die beiden Frauen gingen zusammen zum Tor. Belinda drängte Ken, mit ihr nach Thetford Cottage zu kommen, da sie ihrer Mutter, die eine miserable Köchin sei, versprochen habe, für alle das Sonntagsessen zu kochen.

»Fahr du schon vor, Liebling«, sagte Ken, »ich möchte mit Peter noch einiges bereden.«

Das gefiel ihr nicht, und sie ermahnte uns im Weggehen unwillig, wir sollten nicht zu spät kommen. Ken winkte ihr liebevoll und führte mich entschlossen ins Büro.

»Okay«, sagte er, setzte sich in den Schreibtischsessel und langte nach einem Notizblock. »Keine Geheimnisse, keine Vorbehalte, und Sie verwenden nicht gegen mich, was ich Ihnen erzähle.«

»Auf keinen Fall.«

Er mußte mehr Engagement in meiner Stimme gehört haben, als er erwartet hatte, denn er sah einen Augenblick erstaunt drein und sagte: »Sie kennen mich doch noch keine drei Tage.«

»Mhm«, stimmte ich zu und dachte an seinen Vater und meine Mutter und an das, was ich ihr versprochen hatte.

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