Achtes Kapitel



Will machte die Tür noch einmal auf und schloß sie wieder – diesmal leise.

"Schon besser", sagte seine Mutter.


Durch den Türrahmen erblickte Will das einzige Theater, an dem ihm etwas lag, die vertraute Bühne, auf der sein Vater mit einem Buch in der Hand saß und zwischen den Zeilen las. (Er war schon zu Hause! Sie mußten vorhin doch einen ziemlichen Umweg gemacht haben!) In dem Sessel neben dem Kamin saß seine Mutter, strickte und summte dabei wie ein Teekessel.

Er wollte ihnen nahe sein und doch fern, er sah sie aus der Nähe, und zwischen ihnen war ein gewaltiger Abstand. Plötzlich sahen sie schrecklich klein in einem viel zu großen Zimmer aus, in einer zu großen Stadt, in einer viel zu riesigen Welt. In diesem unverschlossenen Haus schienen sie allem ausgeliefert zu sein, was aus der Nacht draußen einbrechen konnte.

Das gilt auch für mich, dachte Will, auch für mich.


Plötzlich liebte er sie, weil sie so klein waren, noch viel mehr als zu Zeiten, wo sie ihm groß erschienen waren.

Die Finger seiner Mutter regten sich, ihre Lippen zählten lautlos Maschen – die zufriedenste Frau, die er je gesehen hatte. Er erinnerte sich, wie er an einem Wintertag in einem Gewächshaus ein Dickicht grüner Blätter beiseite geschoben hatte, um darunter eine einzelne, pastellfarbene Rose zu finden. Das war Mutter – sie roch nach frischer Milch, war sich in diesem Zimmer selbst genug, immer zufrieden.

Zufrieden? Wie nur? Warum? Gleich neben ihr saß der Hausmeister, der Mann aus der Bibliothek, der Fremde.

Seine Uniform hatte er abgelegt, doch sein Gesicht trug immer noch den Ausdruck des Mannes, der nachts in den marmornen Tiefen zugiger Korridore, allein mit seinen Besen, viel glücklicher ist.

Will betrachtete die beiden und fragte sich, warum diese Frau so zufrieden und dieser Mann so traurig war.

Sein Vater starrte tiefsinnig ins Feuer. In der einen Hand hielt er lose ein Papierknäuel.

Will blinzelte.


Das Plakat fiel ihm ein, das der Wind ihnen vor die Füße und davongeweht hatte. Das Papier hier hatte dieselbe Farbe, dieselben verschnörkelten Buchstaben.

"He!"


Will trat ein.


Auf Mutters Gesicht leuchtete sofort ein Lächeln auf, das warm wie ein zweites Kaminfeuer war.

Dad blickte erschrocken auf, als fühlte er sich bei etwas Verbotenem ertappt. Will wollte fragen: "He, was machst du mit dem Zettel?"

Aber Dad schob das zusammengeknüllte Papier tief in die Polsterung des Sessels.

Mutter blätterte die Bücher aus der Bibliothek durch.


"Hübsche Bücher, Will!"


Will stand da, schluckte Cooger & Dark wieder hinunter und sagte: "Junge, der Wind hat uns richtig heimgeweht! In den Straßen fliegt überall Papier herum!"

Dad zuckte nicht mit der Wimper.


"Gibt's was Neues, Dad?"


Dads Hand steckte immer noch in der Polsterung des Sessels. Er hob seinen grauen, etwas besorgten, sehr müden Blick zu seinem Sohn: "Hat einen steinernen Löwen vor der Bibliothek weggeweht. Der macht jetzt die Stadt unsicher und sucht nach Christen, die er fressen kann. Findet aber keine. Die einzige Christin der Stadt halte ich hier gefangen, und sie ist eine gute Köchin."

"Unsinn!" sagte Mom.


Als Will die Treppe hinaufging, hörte er, womit er halb gerechnet hatte.

Erst ein leises Zischen, als legte jemand einen neuen Holzklotz aufs Feuer. Er stellte sich Dad vor, wie er vor dem Kamin stand und zuschaute, wie das Papierknäuel verbrannte.

"Cooger... Dark... Zirkus... Hexe... Wunder..."


Er wäre am liebsten wieder hinuntergegangen und hätte sich neben Dad gestellt, die Hände zum wärmenden Feuer hin ausgestreckt.

Statt dessen ging er langsam hinauf und schloß die Tür zu seinem Zimmer.

An manchen Abenden preßte Will, wenn er schon im Bett lag, sein Ohr an die Wand und lauschte der Unterhaltung seiner Eltern. Sprachen sie von etwas Interessantem, hörte er zu, sonst schlief er ein. Wenn es um die Zeiten und die verstreichenden Jahre oder ihn selbst oder die Stadt ging, um die willkürliche Art und Weise, mit der Gott die Welt lenkte, dann hörte er gern und dankbar zu, mit einer warmen Freude im Herzen, denn dann redete meistens Dad. Mit Dad konnte er nicht oft reden, nicht in seiner Welt und nicht draußen, doch das war etwas anderes. In Dads Stimme lag etwas Beschwingtes, leicht wie eine Handbewegung in der Luft, wie ein weißer Vogel hoch droben am Himmel; das Ohr hörte gern zu, und die Gedanken folgten mühelos den Worten.

Das Seltsame an Dads Stimme war wohl, daß alles so wahr klang. Der Klang der Wahrheit inmitten einer Welt von Lügen fesselt einen Jungen immer. An vielen Abenden schlummerte Will so ein. Sein Verstand glich einer stehengebliebenen Uhr, lange bevor Dads halb singende Stimme verklang. Dads Stimme war eine Abendschule, in der tiefe, letzte Wahrheiten gelehrt wurden – Wahrheiten über das Leben.

So war es auch an diesem Abend. Mit geschlossenen Augen hielt Will sein Ohr an den Putz der Wand. Zuerst dröhnte Dads Stimme sanft wie eine Negertrommel im Urwald, viele Meilen entfernt. Mutter sang mit ihrem wasserhellen Sopran im Kirchenchor der Baptistengemeinde; sie sang ihre Antworten zurück. Will sah Dad auf dem Rücken liegen und zur Zimmerdecke hinaufreden.

"Will... komm mir immer so alt vor... Vater sollte mit seinem Sohn Ball spielen..."

"Nicht unbedingt", sagte die Frauenstimme freundlich.


"Du bist ein guter Mensch, ein guter Vater."

"... schlechte Zeit. Gott, ich war schon vierzig, als er zur Welt kam! Und du. Ist das Ihre Tochter? fragen die Leute. Gott, wenn man sich hinlegt, dann laufen einem die Gedanken fort."

Will hörte etwas knacken und knistern – Dad drehte sich um. Ein Streichholz wurde angerissen, die Pfeife angezündet. Der Wind rüttelte an den Fensterläden.

"... Mann mit Plakaten unterm Arm..."


"... Zirkus...", sagte die Stimme seiner Mutter. "So spät im Jahr?"

Will wollte sich abwenden, brachte es aber nicht fertig.


"Die schönste Frau der Welt", murmelte Dads Stimme.


Mutter lachte leise. "Du weißt genau, daß ich das nicht bin."

Nein, dachte Will. Das steht doch auf dem Plakat! Warum sagt Dad es ihr denn nicht?

Deshalb, gab er sich zur Antwort. Weil da etwas vor sich geht. Ja – irgendwas ging da vor sich...

Will sah das weiße Papier flatternd in den Bäumen verschwinden, mit den Worten: DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT. Seine Wangen glühten fiebrig. Er mußte denken: Jim, die Straße mit dem Theater, die Nackten im Fenster des Theaters, auf der Bühne, verrückt wie eine chinesische Oper, seltsam und total verrückt wie eine alte chinesische Oper, Judo, Jiu-Jitsu, indianische Geheimnisse, und nun Dads verträumte Stimme, traurig, trauriger, am traurigsten – zu viel, um das alles zu verstehen. Plötzlich bekam er Angst, weil Dad nicht über den Zettel reden wollte, den er gerade verbrannt hatte. Heimlich. Will starrte aus dem Fenster. Da! Wie Samen vom Löwenzahn tanzte weißes Papier durch die Luft.

"Nein", flüsterte er. "So spät kommt kein Zirkus mehr. Das ist unmöglich!" Er verkroch sich unter der Bettdecke, knipste die Taschenlampe an und schlug ein Buch auf. Das erste Bild, auf das sein Blick fiel, zeigte ein prähistorisches Reptil, das mit seinen weiten Schwingen durch eine Nacht flatterte, die seit Jahrmillionen vergessen und verloren war.

Teufel, dachte er. In der Eile haben wir die Bücher vertauscht. Das sind Jims Bücher, und er hat jetzt meine.

Aber es war doch ein recht hübsches Reptil.


Er sank schon in Schlummer, da glaubte er noch, unten seinen Vater rastlos auf und ab gehen zu hören. Die Haustür klappte zu. Dad ging also noch einmal zur Arbeit, spät, grundlos, mit seinen Besen, zurück zu seinen Büchern, in die Stadt, fort. Fort...

Und Mutter schlief friedlich. Sie wußte nicht, daß er noch einmal weggegangen war.



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