Zweiundfünfzigstes Kapitel


"Tot..."

Wills Vater fuhr ihm mit der Hand über das kalte Gesicht, die kalte Brust. "Ich fühle nichts..."

In der Ferne rief jemand um Hilfe.


Sie blickten beide auf.


Ein Junge kam den Mittelweg heruntergerannt, stieß hier gegen ein Kassenhäuschen, stolperte da über eine Spannschnur, warf gehetzt einen Blick über die Schulter.

"Hilfe! Er ist hinter mir her!" schrie der Junge. "Dieser schreckliche Kerl! Ich will nach Hause!"

Der Junge kam herangestürzt und klammerte sich an Wills Vater. "Hilfe, ich bin verloren, ich mag das nicht. Ich will nach Hause. Der Mann mit den Tätowierungen."

"Mr. Dark", keuchte Will.


"Ja!" wimmerte der Junge. "Er kommt da herunter! Bitte, haltet ihn auf!"

"Will, kümmere dich um Jim." Dad erhob sich. "Künstliche Atmung. So, mein Junge."

Der Junge lief davon. "Hier entlang!"


Charles Halloway folgte dem verwirrten Jungen und beobachtete ihn dabei – seinen Kopf, seinen Rumpf, die Art, wie sein Becken angewachsen war.

Als sie im Schatten des Karussells standen, zehn Schritte von Will und Jim entfernt, fragte er: "Wie heißt du denn, mein Junge?"

"Keine Zeit!" jammerte der Junge. "Jed. Schnell, schnell!"

Charles Halloway blieb stehen.


"Jed", sagte er. Der Junge rieb sich ungeduldig die Ellbogen. Er drehte sich um. "Wie alt bist du eigentlich, Jed?"

"Neun!" antwortete der Junge. "Herrgott, wir haben jetzt keine Zeit! Wir..."

"Wir haben genug Zeit, Jed", sagte Charles Halloway. "Erst neun? So jung. So jung war ich nie."

"Heiliger Strohsack!" schrie der Junge zornig.


"Vielleicht auch unheilig", sagte der Mann und streckte die Hand nach dem Jungen aus. Der Junge wich zurück. "Jed, du hast nur vor einem Angst, nämlich vor mir."

"Vor Ihnen?" Der Junge tat noch einen Schritt zurück.


"Hören Sie doch auf! Warum denn, warum?"

"Weil das Gute manchmal Waffen besitzt und das Böse nicht. Weil manchmal ein Trick danebengeht. Weil sich manchmal die Leute nicht irreführen und in die Falle locken lassen. Heute abend gibt's kein divide-et-impera, Jed! Wohin wolltest du mich führen, Jed? Zu irgendeinem Löwenkäfig, den du für mich vorbereitet hast? In irgendeine Trickbude wie das Spiegelkabinett? Zu jemandem wie der Hexe? Wohin, Jed, wohin? Weißt du was, Jed? Roll doch mal deinen rechten Hemdsärmel hoch."

Große Mondsteinaugen blitzten Charles Halloway an.


Dann sprang der Junge zurück, aber auch Charles Halloway setzte bereits zum Sprung an, packte ihn beimArm und am Hemdkragen und rollte ihm nicht den Ärmel hoch, sondern riß ihm den Ärmel einfach vom Leib.

"Na also, Jed", sagte Charles Halloway gelassen, fast heiter. "Genau so hab ich mir das gedacht."

"Sie, Sie, Sie!"


"Ja, Jed – ich. Aber jetzt geht's mehr um dich – sieh doch mal!"

Und er schaute.


Denn da, auf dem Rücken der kleinen Jungenhand, auf den Fingern und über das Handgelenk, ringelten sich blaue Schlangen, starrten giftig-blaue Schlangenaugen, wimmelten blaue Skorpione um Haifischrachen, die ewig-hungrig aufgesperrt waren, die Mißgeburten zu verschlingen, die Stich neben Stich, Haut neben Haut, Kopf neben Kopf über die Brust und den schmächtigen Leib verstreut waren, die sich auf dem kleinen, viel zu kleinen Körper zu verstecken suchten, an diesem kalten, jetzt angstbebenden Körper.

"Na, Jed, das ist aber ein feines Kunstwerk, muß ich schon sagen."

"Sie!" Der Junge schlug zu.


"Ja, immer noch ich." Charles Halloway bekam den Schlag ins Gesicht und nahm den Jungen in einen Klammergriff.

"Nein!"


"O doch!" sagte Charles Halloway. Er benutzte nur die gesunde rechte Hand, die Linke hing unbrauchbar an seiner Seite herab. "Los, Jed, dreh dich, winde dich ruhig. Es war eine großartige Idee. Mich loseisen, allein fertigmachen, dann hingehen und Will holen. Und wenn die Polizei kommt, nun, dann bist du nur ein Junge von neun oder zehn Jahren, und der Zirkus – nein, der Zirkus gehört dir nicht, mit dem hast du nichts zu tun.

Hiergeblieben, Jed! Warum willst du unter meinem Arm weg? Wenn die Polizei kommt, sind die Besitzer der Schau verschwunden. Stimmt's, Jed? Ein herrlicher Ausweg!"

"Sie können mir doch nicht wehtun!" schrie der Junge.


"Seltsam", murmelte Charles Halloway. "Ich glaube, ich kann's doch."

Er drückte den Jungen fast liebevoll an sich, enger und enger.

"Mörder!" winselte der Junge. "Mörder!"


"Ich will dich nicht umbringen, Jed, oder Mr. Dark, wer oder was du auch bist. Du wirst dich selbst umbringen, weil du's nicht ertragen kannst, Leuten wie mir so nahe zu sein. Jedenfalls nicht 50 nahe und nicht 50 lang!"

"Böse!" ächzte der Junge und wand sich. "Sie sind böse."

"Böse?" Wills Vater lachte. Bei dem Laut zuckte der Junge wie unter einem Wespenstich zusammen und wehrte sich um so heftiger. "Böse?" Die Männerhände klebten wie Fliegenpapier an dem zerbrechlichen Knochengerüst. "Von dir klingt das seltsam, Jed. So scheint's jedenfalls. Dem Bösen muß das Gute böse erscheinen. Also werde ich dir nur Gutes tun, Jed. Ich werde dich einfach festhalten und zusehen, wie du dich selbst vergiftest. Ich tu dir Gutes, Jed, Mr. Dark, Herr Zirkusbesitzer, mein Junge – bis du mir sagst, was mit Jim los ist. Weck ihn auf. Laß ihn frei. Laß ihn leben!"

"Ich kann nicht, ich kann nicht..." Die Stimme des Jungen klang wie von weither, aus den Tiefen seines kleinen Körpers. "Ich kann nicht..." Immer matter.

"Du meinst, du willst nicht?"


"Kann nicht."


"Gut, mein Junge, schon gut. Da und da – jetzt, jetzt..."


Aus der Ferne wirkten sie wie Vater und Sohn in liebevoller Umarmung, nur war die Umarmung noch enger. Der Mann hob die verletzte Hand und berührte das verzerrte Gesicht. Das Gewürm, die Illustrationen zitterten, huschten hierin und dorthin, bildeten mikroskopische Herden und gaben es bald wieder auf.

Der Junge rollte die Augen, starrte den Mann an. Er sah dort das seltsame, freundliche Lächeln, das zuvor als Segen auf die Hexe zuflog.

Er drückte den Jungen noch enger an sich und dachte: Das Böse hat nur so viel Macht, wie wir ihm zugestehen.

Ich gestehe dir nichts zu. Nichts. Ich nehme mir die Macht zurück. Verhungere!

Die beiden Streichholzflämmchen in den geängstigten Augen des Jungen verlöschten. Der Junge fiel mitsamt seiner geschlagenen Meute von Untieren zu Boden. Es hätte ein Getöse wie bei einem Erdrutsch geben müssen.

Aber es war nur ein Rascheln wie von japanischem Papier.

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