Neunundvierzigstes Kapitel
Eine Hand grub wie ein Maulwurf im Dunkeln.
Wills Hand.
Sie leerte seine Taschen, tauchte tief hinein, ließ ab, grub weiter. Denn er wußte, daß diese Million Männer im Dunkeln marschieren, schleichen, angreifen, anspringen, Dad mit ihrer Wirklichkeit zerschmettern konnten.
Eingeschlossen in der Nacht, mit nur vier Sekunden Zeit, an sie zu denken, konnten sie Dad alles antun. Wenn Will sich nicht beeilte, konnten diese Legionen künftiger Zeit, all diese Alarmzeichen des Kommenden, gemein und brutal und so wirklich, daß man es nicht abstreiten konnte – morgen, übermorgen, irgendwann wird Dad so aussehen –, wenn er sich nicht beeilte, dann würde diese wilde Jagd der Jahre über Dad hinwegfegen!
Rasch, rasch!
Wer besitzt mehr Taschen als ein Zauberer?
Ein Junge.
Wer hat mehr in seinen Taschen als ein Zauberer?
Ein Junge.
Will zog die Streichholzschachtel hervor.
"Herr im Himmel, Dad – hier!"
Er riß das Streichholz an.
Die wilde Jagd war schon ganz nahe!
Da kamen sie angestürmt. Dann wurden sie vom Licht gebannt, rissen die Augen genauso auf wie Dad, und der Mund blieb ihnen vor Staunen über die eigenen uralten Tricks und Maskeraden offenstehen. Halt! befahl ihnen das Streichholz. Und links wie rechts kamen die Reihen zum Stehen, sprungbereit, drohend, begierig wartend, bis das Streichholz verlöschte. Wenn sie dann zum nächsten Sprung losgelassen wurden, mußten sie diesen alten, noch älteren, schrecklich alten, uralten Mann in einem einzigen Augenblick im Meer seines Schicksals ertrinken lassen.
"Nein!" sagte Charles Halloway.
Nein. Eine Million toter Lippen bewegten sich.
Will hielt das Streichholz hoch. In den Spiegeln machten es ihm die vielfachen, affenartigen Jungen nach.
Sie überreichten einen Blütenstrauß von blaugelben Flammen.
"Nein!"
Jedes Stück Glas schleuderte Lichtspeere, die unsichtbar eindrangen, durchbohrten, Herz, Seele, Lungen trafen, Venen gefrieren ließen, Nerven zerschnitten und Will benutzten, das Herz zu zerstören, zu lähmen, wie einen Fußball zu treten. Betäubt sank der alte Mann auf die Knie. Seine gelehrigen Ebenbilder taten es ihm nach, diese Versammlung entsetzter Egos, eine Woche, einen Monat, zwei Jahre, zwanzig, fünfzig, siebzig, neunzig Jahre in der Zukunft! Jede Sekunde, Minute, Stunde – längst nach Mitternacht – dieses möglichen Hinüberschwebens in den Wahnsinn verfiel er, wurde grauer, fahler, da die Spiegel ihn hin und her schleuderten, ausbluten ließen, austrockneten, aussaugten und dann zu totem Staub zu zerblasen und seine Asche zu zerstreuen drohten.
"Nein!"
Charles Halloway schlug seinem Sohn das Streichholz aus der Hand.
"Nicht, Dad!"
Denn im erneut hereingebrochenen Dunkel taumelte die Herde erstarrter alter Männer wieder mit hämmernden Herzen voran.
"Dad, wir müssen doch sehen!"
Er riß sein zweites, sein letztes Streichholz, an.
Im aufblitzenden Licht sah er seinen Vater zusammengesunken, die Augen fest zugepreßt, die Fäuste geballt; er sah all die anderen Männer, die rutschen, kriechen, sich auf die Knie erheben mußten, sobald dieses letzte Licht ausgebrannt war. Will packte seinen Vater bei der Schulter und schüttelte ihn.
"Dad, lieber Dad! Mir ist es gleich, wie alt du bist, es wird mir immer gleich sein! Mir ist überhaupt alles gleich! Ach, Dad!" schrie er und weinte. "Ich hab dich so lieb."
Da schlug Charles Halloway die Augen auf. Er sah sich und die anderen seinesgleichen und seinen Sohn, der hinter ihm mit zitternder Hand das Streichholz hielt, während seine Tränen ihm über das Gesicht liefen. Und plötzlich sah er wieder das Bild der Hexe vor sich, die Bibliothek fiel ihm ein, erst die Niederlage, dann der Sieg. Die Bilder vermischten sich mit dem Krach eines Schusses, dem Flug der markierten Kugel, dem Drängen der fliehenden Menge.
Nur eine Sekunde noch starrte er seine Ebenbilder, seinen Sohn an, dann löste sich ein leiser Laut von seinen Lippen. Ein lauterer Ton folgte.
Und dann endlich gab er dem Irrgarten, den Spiegeln, der Zeit vor und um und über und hinter und unter ihm die einzig mögliche Antwort.
Er öffnete weit den Mund zu einem lauten, befreienden Gelächter. Wäre die Hexe noch am Leben gewesen, so hätte sie diesen Ton wiedererkannt; sie wäre noch einmal daran gestorben.