Dreiundfünfzigstes Kapitel



Charles Halloway stand lange Zeit da und betrachtete schwer atmend die Gestalt zu seinen Füßen. In all den Zeltgassen schwebten und schwankten die Schatten.

Seltsame Umrisse von Mißgeburten und Menschen, fleischgeworden in den eigenen Ängsten und Sünden, klammerten sich an die Pfosten und stöhnten ungläubig.

Irgendwo trat das Skelett hinaus ins Licht. An einer anderen Stelle wußte der Zwerg beinahe, wer er war. Er trippelte wie ein Krebs aus seiner Höhle und schaute blinzelnd zu, wie Will sich über Jim beugte und Wills Vater sich erschöpft über die Gestalt des anderen Jungen neigte, während das Karussell endlich stehenblieb, zögernd, schaukelnd wie ein angelegtes Fährboot.

Der Zirkus war ein großer dunkler Herd, in dem die gesammelten Kohlen brannten, während die Schatten näher kamen, starrten und mit ihren Blicken die Flammen entzündeten.

Da im Mondschein lag der Illustrierte Junge namens Dark.

Da lagen erschlagen die Drachen, die Türme zerbrochen, Ungeheuer aus dunklen Zeitaltern verblichen, Flugechsen abgestürzt wie Doppeldecker aus alten und ewig sinnlosen Kriegen, smaragdfarbene Krebse verlassen auf weißem Strand, wo die Gezeiten des Lebens hinausströmten und mit der Ebbe sich all die Gestalten wandelten, bewegten, einschrumpften, als das eingefallene Fleisch darunter erkaltete. Das Auge am Nabel blinzelte sich obszön selbst an, die Iris eines trompetenden Mastodons wurde blind und kämpfte wütend gegen die Blindheit an. Jedes der Bilder des großen Mr. Dark schrumpfte nun auf der Miniaturleinwand ein, die sich über die schmächtigen Knochen des Jungen spannte.

Immer mehr Mißgeburten tauchten aus den Schatten auf, die Gesichter bleich wie die Laken, in denen so viele die Kämpfe der Seele verloren hatten, und umtanzten in seltsamem Kreis Charles Halloway und seine zu Boden gestürzte Last.

Will hielt in seiner verzweifelten Arbeit inne – drücken und loslassen, drücken und loslassen, Jim wieder zum Leben erwecken –, ohne Angst vor den fremdartigen Zuschauern. Nein, dafür hatte er jetzt keine Zeit! Und er spürte, daß selbst die Mißgeburten die Nachtluft einsogen, als hätten sie seit Jahren keine so herrlichfrische Luft mehr zu kosten bekommen!

Während Charles Halloway beobachtete und die krebsfeuchten, gleichgültigen Fuchsaugen aus der Entfernung zuschauten, wurde der Junge, der einmal Mr. Dark gewesen war, immer kälter. Der Tod mähte die Alpträume dahin, und die Darstellungen, die rauchigen Blitze, die gleich schrecklichen Fahnen verlorener Kriege zuckten und krochen, verschwanden nacheinander von dem hingestreckten kleinen Körper.

Ein Dutzend der Mißgeburten sahen sich ängstlich um, als sei der Mond plötzlich voll und sie sehend geworden.

Sie massierten ihre Gelenke, als seien Fesseln von ihnen abgefallen, strichen sich über den Nacken, als hätte jemand eine schwere Last von ihren Schultern genommen. Sie stolperten aus langer Gefangenschaft, blinzelten fassungslos, als sie die Ursache ihres Elends ausgestreckt neben dem Karussell liegen sahen. Wenn sie es gewagt hätten, so hätten sie am liebsten mit zitternden Fingern diesen im Tode plötzlich lieblichen Mund, die marmorne Stirn, berührt. So sahen sie nur benommen zu, wie ihre Porträts, die Lebensessenz ihrer sterblichen Habgier, ihrer Boshaftigkeit, ihrer vergiftenden Sünde, die smaragdenen Abbilder ihrer selbst geblendeten Augen, selbst zerfleischten Lippen, selbst gefangenen Leiber nach und nach auf diesem bedeutungslos gewordenen Schneehaufen dahinschmolzen. Da schmolz das Skelett! Da der seitwärts krabbelnde Krebs, der Zwerg. Dann schlich sich der Lavaschlürfer vom herbstlich-welken Fleisch davon, gefolgt vom schwarzen Scharfrichter aus dem Tower von London, fort war die menschliche Montgolfiere, der Ballon-Mensch, Avoirdupois der Großartige – aufgelöst in Luft. Meuten und Herden flohen, während der Tod die Tafel ablöschte.

Dann lag nur noch ganz einfach ein toter Junge da, unberührt von Zeichnungen, und er starrte mit Mr. Darks toten Augen zum Himmel empor.

"Ahhh!"


Erleichtert stimmten all die seltsamen Wesen im Schatten in diesen Seufzer ein.

Vielleicht kam der letzte Befehl von der Zirkusorgel.

Vielleicht drehte sich oben in den Wolken ein Donner im Schlaf auf die andere Seite. Jedenfalls fuhren plötzlich alle herum. Die Mißgeburten jagten gehetzt davon. Nach Norden, Süden, Osten, Westen, weg von Zelten, Herren, finsteren Gesetzen, vor allen Dingen voneinander befreit, rannten sie dahin wie weiße Schweine, Eber ohne Hauer, geängstigte Faultiere vor dem Gewitter.

Anscheinend riß jeder bei der Flucht eine Zeltleine mit, löste einen Zelthaken.

Denn nun erschütterte ein mächtiger Atemzug die Luft, ein Einatmen, das Rasseln und Ächzen der zusammenbrechenden Dunkelheit, als die Zelte einstürzten.

Mit dem Zischen von Nattern, dem Fauchen einer Kobra zuckten wie verrückt die Leinen, fuhren hoch, peitschten das Gras.

Die Verspannung des großen Zeltes der Mißgeburten zuckte, Knochen wurden sortiert – kleine, mittlere und riesige –, alles schwankte vor dem drohenden Einsturz.

Das Tierzelt schoß hoch wie ein dunkler spanischer Fächer.

Vor dem Befehl des Windes fielen die anderen kleinen Zelte, dunkle Umrisse auf dem Rasen, in sich zusammen.

Dann, ganz zuletzt, sog das gewaltige Zelt der Mißgeburten wie ein großes, müdes Reptil in einem tosenden Sturmstoß die Luft ein, riß dreihundert Spannleinen los, zerrte an seinen Seitenstützen, daß sie wie Zähne aus einem Zyklopenkiefer fielen, peitschte die Luft mit weiten, muffigen Flügeln, als wollte es sich gleich einem Drachen aufschwingen, brach dann aber unter der einfachen Schwerkraft zusammen und wurde vom eigenen Gewicht begraben.

Dieses größte der Zelte atmete nun schale Luft aus, Konfetti, der schon uralt war, als die Kanäle Venedigs noch nicht entworfen waren, Wolken von rosa Zuckerwolle, die aussahen wie müde Federboas. Beim Zusammenstürzen häutete sich das Zelt. Es ächzte und stöhnte, bis die letzten drei Hauptmasten des inneren Gerippes mit drei donnernden Kanonenschlägen umstürzten.

Die Zirkusorgel wimmerte kläglich vor dem Windstoß.


Der Zug stand wie ein liegengelassenes Spielzeug auf der Wiese.

Die gemalten Zerrbilder hoch droben auf dem Mast klatschten noch einmal in die Hände und fielen herab.

Das Skelett, der einzige verbliebene Fremde, bückte sich, um den zerbrechlichen Körper dessen aufzuheben, der einst Mr. Dark war. Er ging hinaus auf die Wiesen.

Mit einem raschen Seitenblick sah Will den dürren Mann mit seiner Last den Spuren des übrigen Zirkus folgen und über einen Hügel verschwinden. Schatten huschten über Wills Gesicht, hervorgerufen von den Erschütterungen, dem Durcheinander, dem Tod, den davonfliegenden Seelen. Cooger, Dark, Skelett, Zwerg, der einmal ein Blitzableiterverkäufer war – nicht davonlaufen!

Kommt zurück! Miss Foley, wo stecken Sie nur?

Mr. Crosetti, es ist vorbei! Nur ruhig! Ruhig! Alles ist in Ordnung. Kommt zurück, kommt zurück!

Doch der Wind verwehte ihre Spuren im Gras.


Vielleicht liefen sie nun für ewige Zeiten dahin und versuchten sich selbst zu entfliehen. Will kniete wieder neben Jim nieder, drückte auf seine Brust, ließ los, drückte wieder, ließ wieder los. Dann berührte er mit zitternder Hand die Wange seines besten Freundes.

"Jim..."


Aber Jim war so kalt wie frisch aufgeworfene Erde.



Загрузка...