Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sie fühlte, wie die Spiegel in allen Zimmern auf sie warteten, genau wie man, ohne die Augen zu öffnen, spürt, daß draußen der erste Schnee des Winters gefallen ist.
Vor einigen Jahren hatte Miss Foley zum ersten Mal bemerkt, daß ihr Haus voll war von hellen Schatten ihrer selbst. Da war es am besten, die kalten Scheiben Dezembereis im Flur, über dem Toilettentisch, im Bad einfach zu ignorieren. Über dünnes Eis gleitet man am besten leicht dahin. Wenn man innehält, kann man mit seinem Gewicht, mit seiner Aufmerksamkeit die Schicht zum Springen bringen. Ist man erst einmal durch die dünne Kruste gebrochen, dann kann man in Tiefen stürzen, so tief, so kalt, so erdenfern, daß die ganze Vergangenheit dort unter marmornen Grabsteinen ruht.
Eiswasser kann einem durch die Adern rieseln. Dann hält man sich gebannt, erstarrt am Spiegelrahmen fest, für immer unfähig, den Blick vom Zeugnis der Zeit abzuwenden.
Doch an diesem Abend, wo sie draußen die Schritte der davonlaufenden Jungen verklingen hörte, spürte sie dauernd in allen Spiegeln ihres Hauses den Schnee fallen.
Sie wollte die Hand durch die Rahmen stoßen, nach dem Wetter fühlen. Aber gleichzeitig hatte sie Angst davor, daß sich die Spiegel dann in milliardenfacher Vervielfältigung ihrer selbst zusammentun könnten, eine Armee von Frauen auf dem Marsch fort in die Jungmädchenzeit, ein Heer junger Mädchen unterwegs in die fernste Kindheit. Wenn sich so viele Menschen in dem kleinen Haus drängten, mußten sie einfach ersticken.
Was sollte sie also mit den Spiegeln machen, mit Will Halloway, Jim Nightshade, mit – diesem Neffen?
Seltsam. Warum sage ich nicht meinem Neffen?
Weil er von dem Augenblick an, dachte sie, wo er das Haus betrat, irgendwie nicht hierhergehörte, weil er nicht echt war, weil sie immer auf – ja, auf was wartete?
Heute abend. Der Zirkus. Musik, so sagte der Neffe, die man einfach gehört haben muß, Karussells, auf denen man einfach gefahren sein muß. Halt dich fern von dem Irrgarten, in dem der Winter schlummert. Schwimm mit dem Karussell im Kreise, wo der Sommer ist, süß wie Klee, Ginster und wilde Minze, eine liebliche Zeit.
Sie blickte hinaus auf den nachtschwarzen Rasen, von dem sie ihren Schmuck immer noch nicht aufgelesen hatte. Unbewußt ging ihr auf, daß der Neffe sich auf diese Weise der beiden Jungen entledigt hatte, die sie vielleicht daran gehindert hatten, die Karte zu benutzen, die sie nun vom Kaminmantel nahm.
KARUSSELL. GÜLTIG FÜR EINE FAHRT.
Sie hatte auf die Rückkehr des Neffen gewartet. Die Zeit verging, sie mußte nun selbst handeln. Etwas tun, nicht um Schaden anzurichten, nein – nur um die Einmischungen von Jungen wie Will und Jim zurückzudrängen. Keiner durfte zwischen ihr und dem Neffen stehen, zwischen ihr und dem Karussell, ihr und dem lieblich gleitenden, kreiselnden Sommer.
Das hatte der Neffe ihr klargemacht, ohne ein Wort, nur indem er ihre Hand festhielt und ihr aus seinem kleinen rosa Mund den süßen Duft gedünsteter Äpfel ins Gesicht atmete.
Sie hob den Telefonhörer ab.
Am anderen Ende der Stadt sah sie Licht in der Bibliothek, dem steinernen Gebäude, ein Licht, das die ganze Stadt seit Jahren kannte. Sie wählte. Eine ruhige Stimme meldete sich.
"Ist dort die Bibliothek?" fragte sie. "Mr. Halloway?
Hier Miss Foley, Wills Lehrerin. Bitte, kommen Sie zum Polizeirevier. Wir treffen uns dort in zehn Minuten. – Mr. Halloway?"
Pause.
"Hallo, sind Sie noch da?"