Achtzehntes Kapitel



Auf dem Schild stand mit roten Lettern geschrieben: AUSSER BETRIEB! BETRETEN VERBOTEN!

"Das Schild hängt schon den ganzen Tag da. Ich glaub solchen Schildern nicht", sagte Jim.

Sie sahen sich das Karussell an, das versteckt unter einem knarrenden, rüttelnden Dach windzerzauster alter Eichen stand. Seine Pferde, Ziegen, Antilopen, Zebras, deren Rücken von Messingspeeren durchbohrt waren, verharrten in verkrampftem Sprung wie im Todeskampf. Ihre verängstigten Augen erflehten Gnade, ihre vor Entsetzen grellen Zähne verhießen blutige Rache.

"Sieht gar nicht kaputt aus."

Jim stieg über die klirrende Kette hinweg und sprang auf die Drehscheibe, die so groß war wie der Mond, mitten hinein zwischen die verängstigten, aber für immer erstarrten Tiere.

"Jim!"

"Will, das ist das einzige Karussell, das wir nicht ausprobiert haben. Also..."

Jim schwankte. Das verrückte Karussell wippte unter seinem geringen Gewicht. Er stolperte durch metallenes Unterholz und zwischen wilden Tieren dahin. Dann schwang er sich auf seinen pflaumendunklen Wallach.

"He, Junge, hau ab!"

Aus dem Dunkel des Maschinenhauses tauchte ein Mann auf.

"Jim!"

Der Mann reckte seine Arme aus dem Schatten zwischen Orgelpfeifen und mondsilbernen Trommeln und hob Jim hoch in die Luft. Jims Stimme wurde schrill.

"Hilfe! Will, hilf mir!"

Will sprang zwischen den Tieren hindurch.

Der Mann lächelte ein wenig, packte ihn, hob ihn hoch und setzte ihn neben Jim. Sie starrten hinab auf flammendrotes Haar, helle, flammendrote Augen, gewaltige Muskeln.

"Außer Betrieb", sagte der Mann. "Könnt ihr nicht lesen?"

"Setzen Sie die beiden runter", sagte eine sanfte Stimme.

Aus luftiger Höhe blickten Jim und Will auf einen zweiten Mann hinab, der groß und schlank vor der Kette stand.

"Runter!" befahl der Mann noch einmal.

Sie wurden durch den metallenen Wald wilder, doch regungsloser Tiere getragen und im Staub abgesetzt.

"Wir wollten nur...", sagte Will.

"Neugierig?" Der andere Mann war so groß wie ein Laternenpfahl. Sein blasses Gesicht, narbig wie die Mondscheibe, warf einen Schimmer auf jeden, der darunter stand. Seine Weste hatte die Farbe frischen Blutes. Seine Augenbrauen, sein Haar, sein Anzug – alles schwarz wie Lakritze. Der sonnengelbe Edelstein, der in seiner Krawattennadel blitzte, strahlte dasselbe harte, kalte Licht aus wie seine Augen. Doch in diesem einen Augenblick war Will alles klar – ihn faszinierte nur noch der Anzug. Er schien aus der harten, federnden Wolle eines Ebers gewebt zu sein, steif, leise zitternd, kratzend, ewig glitzernd. Das Licht spiegelte sich in dem Anzug und zitterte wie auf tausend schwarzen Tweedfasern, die immer kitzelten und den lang aufgeschossenen Körper des Fremden in ständiger Bewegung hielten, ihn quälten, bis es schien, daß er sich schreiend die Kleider vom Leib reißen müsse. Aber er stand da, ruhig und gelassen wie der Mond, in seinem kratzigen Tweedanzug und blickte mit seinen gelben Augen auf Jims Mund. Will beachtete er gar nicht.

"Ich heiße Dark."

Er zückte eine weiße Visitenkarte. Sie wurde blau.

Pswsws. Rot.

Psstwsst. Ein grüner Mann baumelte von einem Zweig und trat auf die Karte.

Fscht-sst.

"Dark. Und mein Freund hier mit den roten Haaren ist Mr. Cooger, von Cooger & Dark..."

Flpp-fscht-ssst.

Namen tauchten auf dem weißen Rechteck auf, verschwanden wieder.

"Kombinierte Schattenspiele..."

Tick-wssst.

Eine Waldhexe rührte in einem Topf dampfender Kräuterbrühe.

"...und internationale Grusel-Theater-Schau..."

Er reichte Jim die Karte. Jetzt stand darauf:


Unsere Spezialität:





Überprüfung, Reinigung und Ölen von



Todesuhr-Käfern.




Jim las es gelassen. Ebenso gelassen schob Jim eine Hand in seine geräumigen, unergründlichen Hosentaschen, suchte darin herum und hielt dem Mann die Hand hin.


Auf seiner Handfläche lag ein toter brauner Käfer.

"Da", sagte Jim. "Reparieren Sie das!"

Mr. Dark lachte schallend. "Großartig! Mach ich!" Er streckte die Hand aus. Sein Hemdsärmel rutschte hoch. Über sein Handgelenk krochen hellrote, schwarze, grüne und stahlblaue Egel, Würmer und Schnecken.

"Junge, Junge!" rief Will. "Dann müssen Sie der tätowierte Mann sein!"

"Nein."

Jim betrachtete den Fremden. "Der illustrierte Mann, das ist etwas anderes."

Mr. Dark nickte geschmeichelt. "Wie heißt du, mein Junge?"

Sag's ihm nicht, dachte Will. Dann faßte er sich und fragte Sich: Warum eigentlich nicht?

Jims Lippen bewegten sich kaum.

"Simon", sagte er.

Dabei lächelte er, um zu zeigen, daß es eine Lüge war.

Mr. Dark lächelte zurück. Er wußte Bescheid.

"Willst du noch mehr sehen, ›Simon‹?"

Jim gönnte ihm den Triumph nicht, ihn nicken zu sehen.

Langsam, mit vergnügtem Lächeln, schob Mr. Dark seinen Hemdsärmel bis zum Ellbogen hoch.

Jim riß die Augen auf. Der Arm war wie eine Kobra, die zuckt und sich wiegt, ehe sie zustößt. Mr. Dark ballte die Faust, wackelte mit den Fingern. Die Muskeln tanzten.

Will wollte näher treten, damit er auch etwas sehen konnte, aber er konnte immer nur beobachten und dabei denken: Jim, ach Jim!

Da stand Jim, und da stand der große Mann, und jeder musterte den anderen wie sein Spiegelbild in einem leeren Schaufenster am Abend. Von dem dunklen, groben Anzug des Mannes fielen Schatten auf Jims Gesicht, krochen in seine Augen und ließen sie gewitterdunkel erscheinen und nicht so lebhaft grün, wie sie sonst immer blickten. Jim stand da, als habe er einen langen Dauerlauf hinter sich, atmend, die Hand wie nach einem Geschenk ausgestreckt. Es war ein Geschenk aus zuckenden Bildern. Mr. Dark ließ seine Illustrationen, die kalthäutigen Tiere, über sein warm durchpulstes Handgelenk springen. Am Himmel traten die Sterne hervor, und Jim starrte nur. Will konnte nichts sehen. Weit in der Ferne kehrten die letzten Besucher in ihren Autos zur Stadt zurück.

"Donnerwetter!" sagte Jim schwach, und Mr. Darkrollte seinen Ärmel wieder herab.

"Vorstellung beendet. Essenszeit. Zirkus bleibt bis sieben geschlossen. Raus mit euch! Komm wieder, ›Simon‹. Du darfst auf dem Karussell fahren, sobald es repariert ist. Hier, eine Freikarte."

Jim starrte das nun bedeckte Handgelenk an und schob die Karte in seine Tasche.

"Wiedersehen!"

Jim rannte. Will rannte.

Jim fuhr herum, blickte zurück, machte einen Satz und war zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde verschwunden.




Will blickte hinauf in den Baum. Dort hockte Jim versteckt auf einem Ast. Er schaute zurück. Mr. Dark und Mr. Cooger kehrten ihnen die Rücken zu und arbeiteten an ihrem Karussell.


"Rasch, Will!"

"Jim..."

"Sie sehen dich sonst. Rauf!"

Will sprang hoch. Jim zog ihn auf den Ast. Der hohe Baum bebte. Am Himmel heulte der Wind. Will keuchte, und Jim hielt ihn zwischen den Zweigen fest.

"Jim, wir haben hier nichts zu suchen."

"Halt den Mund. Schau doch!" flüsterte Jim.

Irgendwo in der Maschinerie des Karussells klapperte Eisen. Es quietschte leise, dann pfiff der Dampf durch die Pfeifen der Zirkusorgel.

"Was war auf seinem Arm zu sehen, Jim?"

"Ein Bild."

"Was für ein Bild?"

"Es war..." Jim schloß die Augen. "Ein Bild. Von einer Schlange. Ja – eine Schlange." Aber als er die Augen wieder öffnete, konnte er Will nicht ansehen.

"Na schön, wenn du's mir nicht sagen willst."

"Ich hab's dir doch gesagt, Will. Eine Schlange. Ich sag ihm nachher, er soll's dir auch zeigen, wenn du willst. Ja?"

Nein, dachte Will. Ich will es nicht.

Er sah hinab auf die Millionen Fußspuren in den Sägespänen des verlassenen Weges. Plötzlich war Mitternacht viel näher als Mittag.

"Ich geh nach Hause..."

"Klar, Will, geh nur. Spiegelgewirr, alte Lehrerinnen, verlorene Blitzableitertaschen, ein Blitzableiterverkäufer verschwindet – aber du willst nach Hause gehen. Schlangenbilder zucken, die Karussells sind wieder in Ordnung – geh nur, Will, alter Freund. Geh nur!"

"Ich..." Will blickte hinab und erstarrte.

"Alles klar?" rief unten eine Stimme.

"Klar!" rief jemand vom anderen Ende des Mittelganges zurück.

Mr. Dark trat, keine zwanzig Schritte entfernt, an einen roten Schaltkasten neben der Kasse des Karussells. Er sah sich nach allen Seiten um. Er starrte in den Baum hinauf.

Will machte sich klein, Jim machte sich klein. Sie verschmolzen fast mit dem Ast.

"Einschalten!"

Das Karussell setzte sich knarrend und klappernd in Bewegung. Zügel strafften sich, es hob und senkte sich.

Aber – es ist doch kaputt! dachte Will. Es ist doch außer Betrieb! Er warf Jim einen raschen Blick zu. Der deutete heftig nach unten. Das Karussell drehte sich – jawohl...

Aber es drehte sich rückwärts!

Die kleine Zirkusorgel, die dazu gehörte, klapperte mit den Trommeln, die nach nervösen Hengsten klangen. Herbstliche Zymbeln gellten, Kastagnetten klapperten, dann krächzten heiser, halb erstickt, seufzend die Pfeifen und Flöten.

Auch die Musik läuft rückwärts, dachte Will.

Mr. Dark fuhr herum und blickte nach oben, als hätte er Wills Gedanken gehört. Ein Windstoß schüttelte die schwarz aufragenden Wipfel. Achselzuckend wandte sich Mr. Dark ab.

Das Karussell drehte sich schneller, kreischend, holpernd, immer rundherum – rückwärts!

Nun kam Mr. Cooger, der Mann mit dem feuerroten Haar und den leuchtendblauen Augen, den Mittelgang entlang und schaute sich um. Genau unter ihrem Baum blieb er stehen. Will hätte ihm leicht auf den Kopf spucken können. Dann stieß die Zirkusorgel einen durchdringenden Schrei aus, unheimlich, mörderisch, der die Hunde in fernen Ländern angstvoll aufheulen ließ. Mr. Cooger drehte sich um, rannte zurück und sprang auf das verkehrte Tierleben, zwischen die Kreaturen, die sich mit dem Schwanz voran in endlosen nächtlichen Kreisen einer unbekannten, ewig verborgenen Bestimmung entgegenbewegten. Seine Hand klatschte gegen metallene Stangen. Er schwang sich auf einen Sitz, dann blieb er mit seinem roten Stoppelhaar, seinem geröteten Gesicht und den unglaublich scharfen blauen Augen regungslos sitzen, rückwärts reitend, immer zurück. Und die Musik lief verkehrt ab wie lautes Atemholen.

Diese Musik, dachte Will, was ist das nur? Woher weiß ich, daß sie verkehrt herum abläuft? Er umklammerte den Ast, suchte nach der Melodie und bemühte sich, sie in seinem Kopf umzukehren. Doch die Messingbecken, die Trommeln hämmerten gegen seine Brust, zerrten an seinem Herzen, bis er spürte, wie sich sein Puls umkehrte, sein Blut verkehrt herum durch den Körper strömte. Fast stürzte er vom Baum. Er konnte sich nur festklammern. Bleich nahm er das Bild in sich auf: Das rückwärts laufende Karussell und Mr. Dark, der an den Hebeln und Schaltern arbeitete.

Jim bemerkte die Veränderung zuerst. Er versetzte Will einen Stoß. Will schaute zu ihm hinüber; da deutete Jim mit dem Kopf auf den Mann im Karussell, als er das nächste Mal im Kreis nach vorn kam.

Mr. Coogers Gesicht schmolz dahin wie rosa Wachs.

Seine Hände wurden zu Puppenhänden.






Seine Knochen sanken im Anzug zusammen, und der Anzug schrumpfte ein, bis er zu dem kleiner gewordenen Körper paßte.


Sein Gesicht blitzte als heller Fleck auf, und bei jeder Runde schmolz es mehr zusammen.

Will sah, wie Jims Kopf sich mit dem Karussell drehte.

Das Karussell kreiste, ein riesiger, verkehrtherum ablaufender Alptraum, die Pferde galoppierten rückwärts, die Musik war ein Einatmen, während Mr. Cooger – einfach wie der Schatten, einfach wie das Licht, einfach wie die Zeit – immer jünger wurde. Immer jünger und jünger.

Jedesmal wenn er auftauchte, bogen sich seine Knochen wie warm gewordene Kerzen, schmolzen dahin, der Jugend entgegen. Er starrte verzückt umher, in den Baum mit den Jungen, bis er sich wieder von ihnen entfernte. Seine Nase wurde kleiner, seine Ohren aus rosa Wachs nahmen die Formen zarter Kinderohren an.

Mr. Cooger hatte seine Rückwärtsfahrt mit vierzig begonnen. Jetzt war er nur noch neunzehn.

Immer im Kreise lief die verkehrte Parade von Pferd, Pfosten, Musik. Aus dem Mann wurde ein junger Mann, aus dem jungen Mann rasch ein Knabe...

Mr. Cooger war siebzehn. Sechzehn...

Noch eine Runde und noch eine unter dem Himmel und den Bäumen. Will flüsterte, und Jim zählte die Kreise, die das Karussell zog. Die Nachtluft erwärmte sich zu sommerlicher Hitze – das kam von der Reibung sonnengelben Metalls, der leidenschaftlichen Rückwärtsflucht der Tiere. Die Wachspuppe schmolz mehr und mehr zusammen, immer seltsamere Musik umspülte sie, bis alles aufhörte, zu absoluter Stille erstarb, bis die Orgel verstummte, die eisernen Eingeweide der Maschine zischend stehenblieben, bis das Karussell mit einem letzten leisen Singen wie von Wüstensand, der in arabischen Stundengläsern aufstieg, auf der Dünung von Wasser und Tang schwankte und schließlich stillstand.

Die Gestalt in dem weißen hölzernen Schlitten war sehr klein geworden.

Mr. Cooger war zwölf Jahre alt.

Nein. Wills Lippen formten das Wort. Jims Lippen sagten auch nein.

Die kleine Gestalt verließ die schweigende Welt. Das Gesicht lag im Schatten, doch die Hände, rosa und runzelig wie bei einem neugeborenen Baby, streckten sich dem grellen, bunten Licht der Zirkusbeleuchtung entgegen.

Der seltsame Mann-Junge warf einen Blick nach oben, nach unten. Er spürte irgendwo in der Nähe die Gefahr, den Schrecken. Will krümmte sich zusammen und schloß ganz fest die Augen. Er fühlte fast, wie die entsetzlichen Blicke wie Pfeile aus einem Blasrohr durch die Zweige schossen und dicht an ihm vorbeizischten. Dann sauste die kleine Gestalt hastig wie ein Hase den menschenleeren Mittelgang des Zirkus entlang.

Jim schob zuerst die Blätter beiseite.

Auch Mr. Dark war fort, verschwunden in der Dämmerung.

Der Sprung hinab zur Erde schien Jim eine Ewigkeit zu dauern. Will sprang ihm nach. Schockiert standen sie nebeneinander, erschüttert von lautlosen Gesten, hin und her gerissen von Ereignissen, die nur noch betäubender waren, weil sie sich in der Nacht, im Unbekannten verloren. Verwirrt und zitternd hielten sie sich aneinander fest und sahen den kleinen Schatten davonhuschen. Er wollte sie über die Wiesen locken. Jim fand zuerst die Sprache wieder.

"Will, wenn wir nur nach Hause gehen könnten! Wenn wir nur zum Essen gehen könnten! Aber jetzt ist's zu spät, jetzt haben wir's gesehen. Wir müssen noch mehr sehen! Oder nicht?"

"Herr im Himmel!" stöhnte Will verzweifelt. "Ich glaube schon."

Gemeinsam rannten sie los, hinter dem Unbekannten her, das wer weiß wohin führte.

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