Neununddreißigstes Kapitel





Alle nachtverhangenen Fenster der Bibliothek erzitterten vor Frost und Kälte.

Der Mann und die beiden Jungen warteten, bis der Sturm vorbei war.

Als es ruhiger wurde, sagte Will: "Dad, du hast uns immer geholfen."

"Danke, aber das stimmt nicht." Charles Halloway betrachtete seine leere Hand. "Ich bin ein Narr. Schau dir immer über die Schulter, um zu sehen, was kommen wird, nie ins Gesicht, um zu sehen, was da ist. Aber insofern kann ich mich beruhigen: Jeder ist ein Narr. Das heißt, du strengst dich dein Lebtag an, packst zu, holst andere heraus, machst die Leine fest, verputzt, streichelst Wangen, küßt Stirnen, lachst und weinst und tust alles mögliche für den einen Tag, wo du selber der allerdümmste Narr bist und laut ›Hilfe!‹ schreist. Alles was du dann brauchst, ist ein Mensch, der dir Antwort gibt. Ich sehe es so klar und deutlich. Im ganzen Land liegen heute abend Städte, Dörfer und winzige Flecke voller Narren. Der Zirkus fließt vorbei, rüttelt an jedem Baum. Es regnet Idioten. Jeder einzelne ein Trottel, möchte ich sagen, von denen sich jeder einzelne einbildet – manchmal stimmt's auch –, daß keiner da ist, der seinen Hilferuf hört.

Narren, die nichts miteinander zu tun haben – diese Ernte holt der Zirkus lächelnd ein, wenn er mit seiner stampfenden Maschine daherkommt."

"Mein Gott – wie hoffnungslos!" sagte Will.


"Nein. Allein die Tatsache, daß wir hier beisammen sind und uns über den Unterschied zwischen Sommer und Herbst den Kopf zerbrechen, beweist mir, daß es einen Ausweg geben muß. Man muß nicht dumm bleiben, und man muß nicht Böses, Falsches, Sündiges tun, wie du es auch immer nennen magst. Es gibt immer mehr als nur drei oder vier Möglichkeiten, unter denen man wählen kann. Sie, dieser Dark und seine Freunde, sie haben nicht alle Karten in der Hand, das habe ich heute vor dem Zigarrenladen bemerkt. Ich fürchte ihn, aber ich konnte deutlich merken, daß auch er mich fürchtet. Es ist also eine Angst auf Gegenseitigkeit. Wie können wir die zu unserem Vorteil ausnutzen?"

"Wie?"


"Immer schön der Reihe nach. Sehen wir uns in der Geschichte um. Wenn der Mensch hätte für alle Zeiten böse bleiben wollen, so konnte er das – einverstanden?

Gut. Sind wir tatsächlich draußen bei den Tieren des Waldes geblieben? Nein. Sind wir im Wasser bei den Haien geblieben? Nein. Irgendwann einmal haben wir die heiße Gorillapfote losgelassen. Irgendwann haben wir auf unsere Reißzähne verzichtet und angefangen, Gras zu essen. Pflanzenbrei spielt in unserer Geschichte eine ebenso große Rolle wie Blut, viele Generationen lang.

Seitdem betrachten wir uns auf der Stufenleiter den Affen überlegen, aber wir stehen nicht so hoch wie die Engel. Das war eine hübsche Idee, deshalb haben wir sie zu Papier gebracht und Häuser wie dieses hier drumherum gebaut. Wir gehen in diesen Häusern ein und aus und kauen immer noch drauf herum, auf diesem Grashalm, süß und neu, wir denken darüber nach und wollen herausfinden, wann wir den Schritt getan haben, wann wir uns entschlossen, anders zu sein. Ich denke, das war in irgendeiner Nacht, vor Hunderttausenden von Jahren, wo einer jener fellbekleideten Männer nachts am Feuer aufwachte und über die Glut hinweg seine Frau und seine Kinder betrachtete und daran dachte, daß sie kalt waren, kalt und tot für immer. Und da muß er wohl geweint haben. Er wird die Hand nach seiner Frau und nach den Kindern ausgestreckt haben, in dem Bewußtsein, daß sie eines Tages sterben müssen. Am nächsten Morgen behandelte er sie eine Zeitlang etwas besser, weil er erkannte, daß auch sie – genau wie er – die Saat der Nacht in sich trugen. Diese Saat fühlte er in seinen Adern, sie klopfte in seinem Puls, immer schmerzhafter, je weiter der Tag voranschritt, weil er wußte, daß sein Leib eines Tages in die Dunkelheit eingehen würde. Dieser Mensch, der allererste, wußte also, was wir heute wissen: Unsere Zeit ist kurz, und die Ewigkeit ist lang. Mit diesem Wissen kamen Mitleid und Gnade. Wir sparten die anderen für die späteren, verwickelteren, geheimnisvolleren Gnaden der Liebe auf.

Was sind wir also, alles in allem? Wir sind die wissenden Geschöpfe, und wir wissen zu viel. Wir tragen eine so schwere Last, daß wir wiederum vor der Wahl stehen, ob wir lachen oder weinen sollen. Kein anderes Tier kann lachen oder weinen. Wir tun beides, je nach Zeit und Laune. Irgendwie hab ich den Eindruck, die Zirkusleute beobachten uns, um zu sehen, ob wir weinen oder lachen, wann wir es tun und wie. Sie schlagen zu, wenn sie glauben, daß wir reif sind.

Charles Halloway hielt inne. Die beiden Jungen sahen ihn so gespannt an, daß er plötzlich errötete und sich abwenden mußte.

"Junge, Mr. Halloway!" rief Jim halblaut. "Das ist großartig! Weiter!"

"Dad", sagte Will verwundert. "Ich habe nie gewußt, daß du reden kannst!"

"Du solltest mich manchmal spät abends hören, da tu ich nichts anderes als nur reden!" Charles Halloway schüttelte den Kopf. "Ja, das solltest du wirklich hören. Ich hätte an jedem Tag der Vergangenheit mehr mit dir reden sollen. Teufel. Wo war ich nur? Auf dem Weg zur Liebe wahrscheinlich. Ja – Liebe."

Will machte ein gelangweiltes Gesicht, und Jim schien dieses Wort unangenehm zu sein.

Die Blicke der beiden machten Charles Halloway nachdenklich.

Wie sollte er sich ausdrücken, damit sie ihn verstanden? Konnte er sagen, Liebe sei vor allen Dingen gesunder Menschenverstand, gemeinsame Erfahrung? Das war doch der lebenswichtige Kitt, nicht wahr? Konnte er ihnen sagen, wie ihm ums Herz war, weil sie an diesem Abend hier beisammen waren, auf einer wilden Welt, die um eine große Sonne kreiste, die durch einen größeren Raum, durch noch unendlichere Weiten des Universums stürzte, vielleicht auf etwas zu, vielleicht von etwas weg? Sollte er ihnen sagen: Wir legen diese Milliarden Meilen in der Stunde gemeinsam zurück? Wir stehen gemeinsam gegen die Nacht? Warum liebt man den Jungen, der im März auf einer Wiese einen Drachen steigen läßt? Weil unsere Finger brennen, wenn uns heiß die Schnur durch die Hand gleitet. Mit solchen kleinen Dingen fängt es an. Warum liebt man irgendein Mädchen, das man vom Zug aus sieht, wie es sich zu einem Brunnen niederbeugt? Die Zunge erinnert sich an kühles, eisenhaltiges Wasser an einem längst vergangenen, heißen Mittag. Warum weint man über einen Fremden, der tot am Straßenrand liegt? Er sieht einem Freund ähnlich, den man seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Warum lachen wir, wenn ein Clown eine Torte ins Gesicht geworfen bekommt? Wir schmecken die Creme, wir schmecken das Leben. Warum liebt man die eigene Frau? Mit ihrer Nase atmet sie die Luft einer Welt ein, die wir kennen; darum liebe ich diese Nase. Ihr Ohr hört die Melodie, die ich vielleicht die halbe Nacht lang summe; darum liebe ich diese Ohren. Ihre Augen erfreuen sich am Wandel der Jahreszeiten in der Landschaft; deshalb liebe ich ihre Augen. Ihre Zunge kennt Quitten, Pfirsiche, Apfelbeeren, Minze und Zitrone; ich höre sie gern sprechen. Ihre Haut kennt Hitze und Kälte und Schmerz, ich kenne Feuer, Schnee, Schmerzen. Immer wieder sind es gemeinsame Erfahrungen. Milliarden prickelnder Empfindungen.

Schneide einen der Sinne ab, so schneidest du einen Teil des Lebens weg. Schneide zwei Sinne fort, und es fehlt die Hälfte des Lebens. Wir lieben, was wir wissen, wir lieben, was wir sind. Gemeinsame Sache. Gemeinsame Sache von Mund, Auge, Ohr, Zunge, Hand, Nase, Herz und Seele.

Aber... Wie sagt man das?


"Seht ihr", versuchte er es, "steckt zwei Männer in einen Eisenbahnwaggon. Einer ist Soldat, der andere Farmer. Der eine redet vom Krieg, der andere vom Weizen. Jeder langweilt den anderen, bis der einschläft.

Aber laß nur einen von ihnen Langlauf erwähnen, und der andere ist ein einziges Mal in seinem Leben die Meile gelaufen, so werden diese beiden Männer die ganze Nacht lang gemeinsam rennen. Ihre Freundschaft entzündet sich an der Erinnerung. So haben alle Männer ein gemeinsames Interesse: Frauen. Darüber können sie bis Sonnenaufgang und noch länger reden. Teufel."

Charles Halloway hielt wieder inne, wurde wieder rot.

Er wußte, da vorn war irgendwo das Ziel, aber er wußte nicht, wie er dahingelangen sollte. Er biß sich auf die Lippen.

Dad, hör nicht auf, dachte Will. Solange du redest, ist es herrlich hier drin. Du wirst uns retten. Rede nur weiter.

Der Mann las es in den Augen seines Sohnes. Er sah denselben Blick bei Jim. Er ging langsam um den Tisch herum, berührte hier ein Tier der Nacht, dort ein paar Hexen, einen Stern, den strahlenden Mond, eine uralte Sonne, ein Stundenglas, das die Zeit nicht mit feinem Sand, sondern mit dem Staub alter Gebeine maß.

"Hab ich schon gesagt, daß ich eigentlich über Güte reden wollte? Gott, ich weiß es nicht. Ein Fremder wird auf offener Straße niedergeschossen, und du rührst kaum einen Finger, ihm zu helfen. Aber hättest du nur eine halbe Stunde zuvor zehn Minuten mit dem Burschen verbracht und etwas über ihn und seine Familie erfahren, so würdest du dich dem Mörder in den Weg werfen und versuchen, das Verbrechen zu verhindern. Wirklich wissen ist gut. Nichtwissen, nicht wissen wollen, das ist schlecht, böse, zumindest unmoralisch. Man kann nicht handeln, wenn man nicht weiß. Wer etwas tut, ohne zu wissen, der fällt von der Klippe. Mein Gott, ihr müßt mich für verrückt halten, daß ich so rede! Ihr denkt vielleicht, wir sollten lieber auf die Entenjagd gehen oder Ballone abschießen, wie du es gemacht hast, Will, aber zuvor müssen wir alles über diese Mißgeburten und den Mann wissen, der sie beherrscht. Wir können nicht gut sein, wenn wir nicht wissen, was böse ist, und es ist nur schade, daß die Zeit gegen uns arbeitet. Am Sonntagabend macht der Zirkus schon früh zu, und die Leute gehen nach Hause. Ich habe das Gefühl, die Männer des Herbstes werden uns dann besuchen. Bis dahin haben wir vielleicht noch zwei Stunden Zeit."

Jim stand am Fenster und blickte hinaus über die Dächer der Stadt zu den fernen schwarzen Zelten und der Zirkusorgel, die nun vom Kreisen der Erdkugel in der Nacht angetrieben wurde.

"Ist das denn böse?" fragte er.


"Böse?" rief Will zornig. "Böse! Wie kannst du das nur fragen?"

"Ruhe!" sagte Wills Vater. "Das war eine gute Frage.


Ein Teil der Schau wirkt ganz großartig. Aber hier gilt wirklich das alte Sprichwort: Für nichts kriegt man nichts. Bei denen da ist es so, daß man nichts für etwas kriegt. Sie machen leere Versprechungen, du hältst den Kopf hin – bums!"

"Wo kommen sie her?" fragte Jim. "Wer sind sie eigentlich?"

Will trat mit seinem Vater ans Fenster. Gemeinsam blickten sie hinaus zu den schwarzen Zelten. Dann sagte Charles Halloway zu diesen Zelten:

"Früher einmal war es vielleicht nur ein einziger Mann, der durch Europa wanderte, mit klingenden Schellen an den Fußgelenken, eine Laute auf dem Buckel. Das war lange vor Kolumbus. Vielleicht lief vor einer Million Jahren ein Mann in einer Affenhaut herum, stopfte sich mit dem Unglück anderer voll, kaute den ganzen Tag ihre Leiden wie Kaugummi, saugte den süßen Geschmack heraus und lief dann schneller, belebt von menschlichem Leid. Sein Sohn hat dann vielleicht die Baumfallen, die Menschenfallen, die Knochenmühlen, die Kopfschrauben, die Zangen und Seelenmartern seines Vaters verfeinert. Sie legten den Schaum auf einsame Teiche, von dem die Mücken aufstiegen, in Nasen kletterten, Stechmücken in der Sommernacht, die Beulen stachen, aus denen die Zirkusleute so gern wahrsagen. Einer hier, einer da, rasch und aalglatt wie ihre Blicke, so wurden es Herden von Werwölfen, die um Gaben des Bösen bettelten, Unheil verbreiteten, unter den Teppichen nach den Spuren von Tausendfüßlern suchten, den Schweiß der Nacht beobachteten, an den Türen aller Schlafzimmer lauschten und hörten, wie die Menschen sich in Reue und heißen Träumen hin und her warfen.

Der Stoff, aus dem Alpträume gemacht werden, ist ihr täglich Brot. Die Butter darauf der Schmerz. Sie stellen ihre Uhren nach dem Totenwurm und gedeihen im Laufe der Jahrhunderte. Das waren die Männer mit den neunschwänzigen Peitschen, die aus Schweiß die Pyramiden errichteten und sie mit dem Salz und den gebrochenen Herzen anderer würzten. Sie hockten auf den Schimmeln der Pest als Fluch Europas. Sie flüsterten Cäsar zu, daß er sterblich sei, dann verkauften sie Dolche zum halben Preis. Einige von ihnen müssen träge Clowns, Hofnarren für Kaiser, Fürsten und epileptische Päpste gewesen sein. Dann lagen sie wieder auf der Straße, als Zigeuner, und ihre Zahl vermehrte sich mit der Bevölkerung der Welt, breitete sich aus. Es gab nun köstlichere Arten des Schmerzes, sich daran zu mästen.

Die Erfindung der Eisenbahn hat ihnen Räder gegeben, und auf Rädern rollten sie die lange Straße aus Gotik und Barock in die Neuzeit. Seht euch ihre Wagen an, die Schnitzereien wie auf mittelalterlichen Schreinen, alles Dinge, die früher einmal von Pferden, Mulis oder auch Menschen gezogen wurden."

"All die Jahre." Jim verschluckte sich. "Immer dieselben Leute? Glauben Sie, daß Mr. Cooger oder Mr. Dark ein paar hundert Jahre alt sind?"

"Wenn sie auf diesem Karussell fahren, so können sie doch ein oder zwei Jahre abschütteln, sooft sie nur wollen, oder nicht?"

"Aber dann..." Ein Abgrund tat sich vor Wills Füßen auf. "Dann könnten sie doch ewig leben!"

"Und den Menschen Böses antun." Jim dachte angestrengt nach. "Aber warum? Warum tun sie Böses?"

Mr. Halloway antwortete: "Weil sie doch Benzin, Treibstoff brauchen, irgend etwas, um den Zirkus am Laufen zu halten. Frauen leben vom Tratsch, und was ist Tratsch schon anderes als ein Schleim aus Kopfschmerzen, üblem Speichel, arthritischen Knochen, zerrissenem und geflicktem Fleisch, Indiskretionen, Gewittern des Wahnsinns, Ruhe nach dem Sturm? Wenn manche Leute nicht immer etwas Saftiges zum Durchkauen hätten, würden ihnen die Zähne auswachsen und ihre Seelen dazu. Vervielfacht ihr Vergnügen auf Beerdigungen, ihr Kichern, wenn sie beim Frühstück die Todesanzeigen lesen, rechnet all die Ehen hinzu, in denen es zugeht wie Katz und Hund, wo Menschen ein Leben lang nichts anderes tun, als sich gegenseitig die Haut in Fetzen vom Leib zu reißen und sie verkehrtrum wieder anzukleben, rechnet die Quacksalber hinzu, die Menschen aufschneiden und in ihren Gedärmen wie in Teeblättern lesen, sie dann wieder mit gezeichneten Fäden zunähen, multipliziert diese ganze Dynamitfabrik mit zehn Quatrillionen – dann habt ihr die magische schwarze Macht dieses einen Zirkus.

Alles Gemeine in uns entleihen sie sich vervielfacht.

Sie sind für Schmerz, Trauer und Krankheit milliardenmal empfänglicher als der durchschnittliche Mensch. Wir würzen unser Leben mit den Sünden anderer. Uns schmeckt unser Fleisch süß. Doch dem Zirkus ist es gleichgültig, wenn es im Mondschein stinkt, statt in der Sonne, solange es nur von Angst und Pein überquillt. Das ist der Treibstoff, der Dampf, der das Karussell im Kreise treibt, der Rohstoff des Schreckens, die unsagbare Qual der Schuld, der Schrei wegen echter oder eingebildeter Wunden. Der Zirkus saugt dieses Gas ein, zündet es, und weiter geht's!"

Charles Halloway holte tief Luft, schloß die Augen und sagte:

"Woher ich das weiß? Ich weiß es nicht! Ich fühle es!

Ich schmecke es. Vor zwei Tagen war es wie altes Laub, dessen Geruch der Wind herantreibt. Es war der Duft von Totenblumen. Ich höre diese Musik. Ich höre, was ihr mir erzählt und die Hälfte von dem, was ihr mir nicht erzählt.

Vielleicht hab ich immer schon von einem solchen Zirkus geträumt und nur darauf gewartet, bis mal einer kommt und ich nur nicken muß. Die Schau da draußen, diese Zelte, sie spielen auf meinen Knochen wie auf einer Marimba. Mein Skelett weiß es. Es sagt mir alles. Und ich sag's euch."

Загрузка...