Sechsundzwanzigstes Kapitel



Ich hätte schwören können, daß der Alte tot war, als wir hinkamen", sagte der eine Krankenträger.

Die Ambulanz und der Streifenwagen hielten auf dem Rückweg in die Stadt gleichzeitig an der Kreuzung. Der eine Krankenträger hatte es hinübergerufen. Nun rief einer der Polizisten zurück.

"Machen Sie keine Witze!"


Die Träger saßen stumm im Krankenwagen. Sie zuckten nur die Achseln.

"Na klar, nur ein Spaß."


Dann fuhren sie weiter. Ihre Gesichter waren so ausdruckslos und weiß wie ihre Kittel.

Der Streifenwagen fuhr hinterher. Jim und Will drängten sich auf dem Rücksitz aneinander und wollten noch mehr berichten, aber die Beamten begannen zu reden und zu lachen, sie erzählten einander umständlich alles noch einmal, was geschehen war. So begannen Jim und Will wieder zu lügen. Sie nannten falsche Namen und behaupteten, nahe beim Revier zu wohnen.

Sie ließen sich vor zwei dunklen Häusern in der Nähe des Reviers absetzen, liefen zur Haustür und blieben im Schatten stehen, die Hand an den Türklinken, bis der Streifenwagen um die Ecke in den Hof des Reviers eingebogen war; dann rannten sie weg, dem Wagen nach, und bestaunten die gelben Lichter am Revier, sonnenfarben mitten in der Nacht. Will wandte den Kopf und sah den ganzen Abend auf Jims Gesicht noch einmal kommen und gehen, und Jim starrte die Fenster des Reviers an, als könnte schon im nächsten Augenblick Dunkelheit jeden Raum ausfüllen und die Lichter für immer auslöschen.

Will dachte: Auf dem Rückweg in die Stadt, da hab ich meine Karten fortgeworfen. Aber, sieh mal...

Jim hält die seinen immer noch in der Hand. Will zitterte.

Was dachte Jim, was wollte er, was hatte er nur vor, jetzt, wo Tote lebten, nur durch das Feuer weißglühender elektrischer Stühle lebten? Liebte er den Zirkus immer noch so sehr? Will lauschte. Er forschte. Ein schwaches Echo – ja, es kam und ging in Jims Augen; denn Jim war immer noch Jim, selbst jetzt, wo er hier stand und das fahle Licht der Gerechtigkeit ihm auf die Backenknochen fiel.

"Der Polizeichef", sagte Will. "Der wird uns anhören..."

"Ja", sagte Jim gedehnt. "Der wacht gerade lange genug auf, um nach einem Schmetterlingsnetz zu schicken. Hölle, Will, zur Hölle damit! Nicht einmal ich glaub das, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist!"

"Aber wir müssen es doch wenigstens versuchen, jemanden suchen, der höher ist – jetzt, wo wir wissen, was auf dem Spiel steht."

"Okay, was steht denn auf dem Spiel? Was ist denn Böses an dem Zirkus? Weil eine Frau sich vor dem Spiegellabyrinth erschreckt hat? Selber schuld, wird die

Polizei sagen. Ein Haus beraubt? Okay, wo ist denn der Einbrecher? Versteckt er sich in der Haut eines alten Mannes? Wer glaubt uns das schon? Wer glaubt uns denn, daß ein alter Mann ein zwölfjähriger Junge war?

Ein Blitzableiterverkäufer ist verschwunden? Klar, er hat seine Tasche zurückgelassen. Aber er kann doch die Stadt nicht verlassen haben..."

"Der Zwerg in dem Zelt..."


"Den hab ich gesehen, und du hast ihn gesehen, und er sieht dem Blitzableiterverkäufer ein bißchen ähnlich, klar – aber kannst du denn beweisen, daß er einmal größer war? Nein! Genausowenig wie du beweisen kannst, daß Cooger einmal klein war. Damit sind wir genauso weit wie zuvor, wir stehen auf der Straße, haben keinen Beweis außer dem, was wir gesehen haben, sind nur zwei Kinder, und das Wort der Zirkusleute steht gegen das unsere. Außerdem hat die Polizei dort ne Menge Spaß gehabt. Herr im Himmel, ist das ein Durcheinander!

Wenn's nur irgendeine Möglichkeit gäbe, sich jetzt noch bei Mr. Cooger zu entschuldigen..."

"Entschuldigen?" schrie Will. "Bei einem menschenfressenden Krokodil? Herrjemine! Du willst immer noch nicht einsehen, daß man sich mit diesen Ulmers und Goffs auf nichts einlassen kann."

"Ulmers? Goffs?" Jim sah ihn nachdenklich an. Ulmers und Goffs, das waren die Namen, die sie selbst den Geschöpfen gegeben hatten, die durch ihre Jungenträume wankten und drehten und schwebten. In Wills bösen Träumen stöhnten die Ulmers, sie hatten keine Gesichter. In Jims bösen Träumen kamen die Goffs vor, sie wucherten wie riesige Giftpilze, die sich von Ratten nährten, die sich wiederum von Spinnen nährten und die, weil sie groß genug waren, von Katzen.

"Ulmers! Goffs!" sagte Will. "Muß dir denn erst ein Zehntonnenpanzerschrank auf den Kopf fallen? Denk doch, was bereits mit den zwei Menschen passiert ist, mit Mr. Elektriko und diesem schrecklichen verrückten Zwerg! In dieser vertrackten Maschine kann mit Menschen alles mögliche passieren. Wir wissen's, weil wir's gesehen haben. Vielleicht haben sie den Blitzableiterverkäufer absichtlich so zusammengequetscht, vielleicht ist auch etwas schiefgegangen. Tatsache ist, daß sie ihn durch die Mangel gezogen haben, daß er unter ein Dampfkarussell gekommen ist. Verrückt! Er erkennt uns ja nicht einmal mehr! Reicht das denn noch nicht, daß dir angst und bange wird? Vielleicht ist sogar Mr. Crosetti..."

"Mr. Crosetti macht Urlaub."

"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Da ist sein Laden. Da hängt das Schild WEGEN KRANKHEIT GESCHLOSSEN. Was für eine Krankheit ist das denn, Jim? Hat er auf der Festwiese zu viel süßes Zeug gegessen? Ist er seekrank geworden, weil er auf jedem Ding fahren wollte?"

"Hör auf, Will."


"Nichts da, ich hör nicht auf. Klar, die Sache mit dem Karussell klingt toll. Glaubst du vielleicht, ich will immer dreizehn bleiben? Ich nicht! Aber zum Teufel, Jim, denk doch mal vernünftig: Du willst doch nicht wirklich zwanzig sein!"

"Worüber haben wir denn sonst den ganzen Sommer geredet?"

"Geredet schon. Aber stürz dich kopfüber in die Teufelsmaschine und laß dir die Knochen langziehen, Jim, dann weißt du nachher nicht mehr, was du mit deinen Knochen anfangen sollst."

"Ich schon", sagte Jim in die Nacht hinein. "Ich schon."

"Klar. Du gehst einfach weg und läßt mich hier zurück, Jim."

"Aber nein!" protestierte der andere. "Ich laß dich doch nicht zurück, Will. Wir bleiben beisammen."

"Beisammen? Wenn du zwei Köpfe größer bist und vor lauter Kraft kaum laufen kannst? Wenn du auf mich herabschaust? Und worüber sollen wir dann reden, Jim, wenn ich die Taschen voller Bindfäden und Murmeln und Froschaugen habe und deine Taschen ordentlich, sauber und leer sind und du dich über mich lustig machst? Sollen wir darüber reden? Daß du schneller laufen kannst und daß du mich mit einer Hand..."

"Ich würde dich niemals verhauen, Will."


"In einer Minute schaffst du das! Geh nur, Jim, los, hau schon ab! Ich finde nichts dabei, wenn ich mit meinem Taschenmesser unter einem Baum sitze und Messerwerfen spiele, während du dich mit den herumrasenden Pferden verrückt machst. Aber Gott sei Dank rennen die ja nicht mehr..."

"Und daran bist du schuld!" schrie Jim. Er blieb stehen.

Will erstarrte und ballte die Fäuste. "Meinst du damit, ich hätte zusehen sollen, wie aus diesem kleinen gemeinen Hund ein großer, alter gemeiner Hund wird und uns die Köpfe abreißt? Ihn einfach rumsausen und uns anspucken lassen? Und vielleicht auch noch mit dir daneben, daß du mir zum Abschied zuwinkst, wieder rumsaust und mir Lebewohl sagst! Und ich soll dir dann einfach zurückwinken, wie? Meinst du das, Jim?"

"Psst!" machte Jim. "Wie du sagst, ist's ohnehin zu spät. Das Karussell ist kaputt..."

"Und wenn's wieder repariert ist, dann lassen sie den alten, schrecklichen Cooger rückwärts fahren, machen ihn wieder so jung, daß er reden kann und sich an unsere Namen erinnert, und dann sind sie wie die Menschenfresser hinter uns her. Oder zumindest hinter mir, wenn du dich bei denen einschmeicheln willst und ihnen meinen Namen und meine Adresse sagst..."

"Das tu ich niemals!" sagte Jim und faßte Will an.


"Ach, Jim! Jim, das siehst du doch ein, wie? Alles zu seiner Zeit, wie der Prediger erst vorigen Monat gesagt hat. Immer schön eins nach dem anderen, nicht zwei auf einmal. Denkst du dran?"

"Alles zu seiner Zeit", sagte Jim.


Dann hörten sie Stimmen aus dem Polizeirevier. In einem Raum, rechts vom Eingang, sagte eine Frauenstimme etwas, und Männerstimmen antworteten.

Will gab Jim mit einer Kopfbewegung ein Zeichen.


Leise drückten sie sich zwischen die Büsche, bis sie in den Raum hineinsehen konnten.

Da saß Miss Foley. Und da saß Wills Vater.


"Ich verstehe das nicht", sagte Miss Foley. "Wenn ich mir vorstelle, daß ausgerechnet Will und Jim in mein Haus einbrechen, mich bestehlen, davonlaufen..."

"Sie haben ihre Gesichter genau gesehen?" fragte Mr. Halloway.

"Als ich schrie, haben sie unten im Licht zu mir heraufgeschaut."

Von dem Neffen sagt sie nichts, dachte Will. Natürlich sagt sie nichts davon.

Da siehst du's, Jim, hätte er am liebsten geschrien. Es war eine Falle. Der Neffe hat nur darauf gewartet, daß wir ums Haus schleichen. Er wollte nur, daß wir so tief in der Patsche sitzen, daß wir zur Polizei, zu den Eltern, zu irgend jemandem sagen konnten, was wir wollten – keiner würde uns mehr glauben, nichts von Karussells, vom Zirkus, von späten Nachtstunden – unser Wort wäre keinen Pfifferling mehr wert!

"Ich will keine Anzeige erstatten", sagte Miss Foley.


"Aber wenn die Jungen unschuldig sind – wo sind sie dann?"

"Hier!" schrie jemand.


"Will!" sagte Jim. Zu spät.


Will war schon aufgesprungen und kletterte durchs Fenster. "Hier", sagte er einfach, als er mit beiden Beinen auf dem Boden stand.

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