Das Kind in der Kiste


Ihren Wagen stellte sie hinter dem Chevy von Dan Munoz ab, stieg aus und ging die Auffahrt hoch. Dan stand an der Tür. Er unterhielt sich mit einem verhutzelten alten Mann im Safarianzug.

»Hallo, Bonnie.«

»Hallo, Dan. Nette Krawatte.«

»Danke. Von Armani. Darf ich dir George Keighley vorstellen? Er ist der Vermieter und wird uns alles zeigen. Dann kannst du sagen, was das kosten wird. George, das ist Bonnie Winter, die beste Putzfrau der Stadt, die Königin der Reinemachefrauen.«

George Keighley nickte ihr zu und hustete keuchend. Seine Haut hatte die Farbe von Leberwurst, die zu lange an der Sonne gestanden hatte. Seine Ohren waren groß und haarig und erinnerten an einen Hobbit.

Das Haus am Ivanhoe Drive sah mit seinen gelben Wänden, grünen Fensterläden und dem roten Dach aus, als hätte man ein Kind mit den Malerarbeiten beauftragt. Der Vermieter führte Dan und Bonnie in den schmalen Flur. Er war schlecht gelüftet und merkwürdigerweise mit fünf Esszimmerstühlen zugestellt. Von dort aus betraten sie das L-förmige Wohnzimmer. Sessel und Sofa passten nicht zusammen, dazwischen stand ein Beistelltischchen aus den Sechzigern, das orangefarbene Holzkugeln statt Beine hatte.

»Haben Sie über den Fall was im Fernsehen gesehen?«, fragte Dan.

»Nein. Was ist passiert?«

»Mieter des Hauses ist ein David Hinsey, vierundzwanzig. Er wohnte hier mit seiner Freundin Maria Carranza, zweiundzwanzig, und dem gemeinsamen Sohn Dylan, zweieinhalb Jahre alt. Hinsey hat Fernseher repariert und Carranza war Kassierin bei Kwik-Mart. Weil sie sich keinen Babysitter leisten konnten, haben sie den kleinen Dylan jeden Morgen zusammen mit einem Becher Orangensaft und ein paar Keksen in eine große zugeklebte Kiste eingesperrt, Luftlöcher hineingemacht und den Fernseher angemacht, damit er sich nicht so allein fühlte.«

»Mein Gott«, sagte Bonnie. »Wie lange musste er da drin bleiben?«

»Sechs bis sieben Stunden. Wenn Hinsey Überstunden machen musste, auch schon mal länger. Die Nachbarn wussten nicht, dass Hinsey und Carranza überhaupt ein Kind hatten.«

»Hier lang«, sagte George Keighley und hustete wieder. Sie gingen an einem muffig riechenden Badezimmer vorbei. Bonnie sah, dass die gläserne Tür der Duschkabine einen langen Riss hatte. Sie kamen zum Schlafzimmer.

»Wegen der Plünderer musste ich die Fenster geschlossen halten, darum stinkt es hier ein bisschen.«

Er öffnete die Tür und in dieser Sekunde nahm Bonnie den scharfen Gestank von geronnenem Blut wahr. Sie trat ein und sah sich um. Orange Vorhänge verdüsterten das Zimmer, und es brauchte einige Augenblicke, bis Bonnie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte und etwas erkennen konnte. Die typische, niederschmetternde Atmosphäre eines Ortes, an dem etwas Furchtbares geschehen war, spürte sie jedoch sofort, und das stärker als je zuvor in ihrem Leben. Ein unaussprechliches Grauen lag in der Luft. Was sich hier abgespielt haben musste, war wie eine Szene direkt aus der Hölle.

An der einen Seite des Raumes standen zwei Betten mit den Kopfenden aneinander. Bettwäsche gab es nicht, nur zwei alte, durchgelegene blaue Matratzen. Die Matratzen waren voller Blutflecken. An der Wand hinter den Matratzen waren Blutspritzer, blutige Handabdrücke, verschmierte und getrocknete Exkremente.

»Hinsey und Carranza konnten sich deshalb keinen Babysitter leisten«, sagte Dan, »weil sie ihr gesamtes Geld für Speed und Crack brauchten. Was genau passiert ist, werden wir wohl nie erfahren, aber es sieht so aus, als hätte Carranza sich aus Hinseys Drogenvorrat bedient. Der kam von der Arbeit nach Hause und überraschte sie dabei. Es kam zum Streit, Hinsey stach Carranza mit einem Küchenmesser nieder. Nicht nur einmal, obwohl schon der erste Stich tödlich war. Er hat zweihundertundsiebenmal auf sie eingestochen. Überall. Sogar in ihr Gesicht.«

»Und dann?«, sagte Bonnie. Sie hatte sich auf den blassgrünen Teppich gekniet, um einen rechteckigen dunklen Fleck besser begutachten zu können.

»Wir vermuten, dass Hinsey sich selbst getötet hat, nachdem ihm klar geworden war, was er angerichtet hatte. Er hat sozusagen Seppuku begangen, sich entleibt, stach sich mit dem Messer in den Bauch und dann so und so zickzack, bis seine Eingeweide vor ihm aufs Bett gefallen sind. Der Gerichtsmediziner meinte, es hätte sicher drei Stunden gedauert, bis er tot war.«

»Was für eine Sauerei«, sagte Bonnie.

Sie strich mit dem Finger durch den Teppich um festzustellen, wie tief der Fleck eingedrungen war. Hoher Polyesteranteil, dachte sie.

Dan stellte sich neben sie. »Natürlich war das Kind noch in der Kiste, und es kam nicht heraus. Erst nach fast einer Woche ist es an Flüssigkeitsmangel gestorben. Er war so hungrig gewesen, dass er sogar begonnen hatte, die Kiste von innen anzunagen.«

Bonnie erhob sich. »Die Kiste stand hier?«, fragte sie und deutete auf den rechteckigen Fleck.

»Korrekt. Als Hinsey nicht mehr zur Arbeit erschien, interessierte das niemanden. Er war immer so unzuverlässig gewesen, dass sie froh waren, ihn los zu sein. Bei Carranzas Arbeitgeber war’s dasselbe. Irgendwann kam Mr Keighley, um die Miete zu kassieren. Erst da wurden sie gefunden. Der Gerichtsmediziner ist der Meinung, dass sie hier mindestens drei Wochen lagen. Die Leiche des Kindes war so aufgequollen, dass sie schon fast die Kiste sprengte.

Bonnie sah sich noch einmal in dem Zimmer um. »Das wird nicht sehr teuer, Mr Keighley. Ich entsorge für Sie die Matratzen, reinige die Wände und den Teppich. Dann noch desinfizieren… Ich würde sagen, das kostet Sie zirka sechshundert Dollar.«

»Sechshundert? Du meine Güte. Man hat mir schon gesagt, dass bei Ihnen nichts übrig bleibt, aber das hab ich wohl falsch verstanden.«

»Das ist mein Preis, Mr Keighley. Und für weniger macht es Ihnen keiner, das garantiere ich. Wahrscheinlich finden Sie überhaupt keinen, der das übernehmen würde.«

»Sie ist die Beste, Sir«, sagte Dan und legte Bonnie eine Hand auf die Schulter.

Mr Keighley blies die Backen auf. »Also schön. Dann geht’s wohl nicht anders. Bis wann können Sie das erledigt haben?«

George Keighley fuhr mit seinem auf Hochglanz polierten Cadillac davon, und Bonnie und Dan sahen ihm nach.

»Weißt du, wem der Wagen vorher gehört hat?«, fragte Dan. »Neil Reagan – Ronnies älterem Bruder.«

»Ronald Reagan hatte einen älteren Bruder?«

»Klar. Kann man sich kaum vorstellen, was?« Dan steckte sich eine seiner grünen Zigarren an. »Etwas an dir ist heute anders«, sagte er.

»Keine Ahnung, was du meinst.«

»Du siehst anders aus. Ich weiß auch nicht genau. Vielleicht liegt’s an deinen Haaren.«

Bonnie zuckte die Achseln. Aber sie wusste, was er meinte. Seit der Nacht in Pasadena hatte sich etwas verändert. Sie fühlte sich fast wie in einem Rausch.

»Da ist noch etwas, über das ich mit dir reden wollte«, sagte Bonnie. »Ich habe eine Art Falter im Haus der Familie Glass gesehen, und in der Wohnung der Goodmans habe ich seltsame Raupen gefunden. Eine davon habe ich Howard Jacobson von der UCLA gebracht. Er sagte, es sei eine sehr seltene Spezies.«

»Und?«

»Na ja, ich weiß selbst nicht… Aber er hat gesagt, dass genau diese Falterart in mexikanischen Legenden als Symbol für das Böse gilt. Man sagt dort, dass irgendeine grausame Göttin sich tagsüber in diesen Falter verwandelt, dass sie die Menschen in den Wahnsinn stürzt, sodass sie diejenigen töten, die diese Menschen eigentlich am meisten lieben.«

Dan paffte vor sich hin. »Und was willst du mir jetzt damit sagen? Dass Aaron Goodman besessen war? Der Typ hatte eine Reinigung. Menschen, die eine Reinigung haben, sind nicht besessen.«

»Natürlich nicht. Aber Howard sagt, dass diese Falterart noch nie außerhalb einer bestimmten Region von Mexiko gesehen wurde. Und vielleicht gibt’s da ja eine Verbindung. Schließlich hatte die Glass-Familie doch diesen mexikanischen Totenkopf aus Zucker, oder? Und bei den Marrins hing dieses Bild mit den Sombreros. Und die Goodmans hatten ein mexikanisches Hausmädchen.«

»Stimmt. So wie ungefähr eine Millionen andere Familien in Los Angeles.«

»Ich sag ja nicht, dass das was bedeuten muss, aber ich dachte, das interessiert dich vielleicht.«

»Die Krabbler und Maden überlass ich lieber dir, Süße. Kann ich dich zum Essen einladen?«


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