Tagesschicht


Ray kam in die Küche und gähnte. Er hatte eine Frisur wie Stan Laurel. Für gut eine halbe Minute starrte er in den geöffneten Kühlschrank. Dann schloss er ihn wieder.

Bonnie hatte ihre Liste abgeschlossen, faltete sie zusammen und schob sie in ihre Aktentasche. »Du bist früh dran.«

»Mmmmh. Muss noch Mathe machen.«

»Dein Vater hat dich heute Nacht aber nicht geweckt, oder?«

»Mich und halb Los Angeles.«

Er nahm das Brot aus dem Korb, schnitt sich drei Scheiben ab und bestrich sie dick mit Erdnussbutter. Dann schnitt er zwei Bananen klein, verteilte sie auf den Broten, legte die Brote zusammen und hockte sich vor den Fernseher. Jeden Morgen aß er das Gleiche. In irgendeinem Männer-Gesundheitsmagazin hatte er gelesen, dass Erdnussbutter und Bananen den Muskelaufbau förderten.

Die Küche war hellgelb gestrichen und hatte hellgelbe Vorhänge. In den Sechzigern hätte man Cornflakes-Werbung darin drehen können. Das Medium Sydney Omarr hatte Bonnie einst gesagt, Gelb würde ihr Glück bringen. Er hatte ihr außerdem prophezeit, dass sie in ihrem Leben dem Tod öfter begegnen würde als andere Menschen in dreizehn Leben. Das war vier Jahre bevor sie »Bonnies-Tatort-Reinigung« gründete. Damals hatte sie ihm nicht geglaubt.

»Dein Vater fängt sich schon wieder«, sagte sie. »Wart’s nur ab.«

»Klar doch«, sagte Ray, der wie gebannt Tom und Jerry verfolgte.

»Er ist eigentlich ein guter Kerl. Das Leben ist im Moment nur… so verwirrend für ihn.«

An die Spüle gelehnt, trank sie ihren koffeinfreien Kaffee. Sie hatte erwartet, dass Ray sich umdrehen und etwas sagen würde, aber das tat er nicht. Also kippte sie den Rest ihres Kaffees weg, spülte den Becher aus, ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf den verstrubbelten Kopf. »Also dann bis um sechs. Ich glaube nicht, dass es später wird. Heute gibt es Koteletts.«

»Okay, Mom.«

Für einige Augenblick verharrte Bonnie schweigend. Dann sagte sie: »Ray?«

Er reagierte nicht. Er wusste, was sie gleich sagen würde, und sie wusste, dass er es wusste.

Sie sagte es trotzdem. »Ich habe dich sehr lieb, Ray. Es wird alles wieder gut.«

Die Einfahrt ihres Hauses war gerade breit genug für ihre zwei Autos. Bonnies Dodge-Pick-up und Dukes elfjähriger Buick Electra. Beim Einzug hatte Bonnie noch geglaubt, dieses Haus sei nur eine vorübergehende Lösung für vielleicht zwei oder drei Jahre. Sie dachte, danach würden sie ein größeres Haus mit mehr Grund kaufen, denn sie wünschte sich einen Pool, in dem man nicht nach zwei Zügen mit dem Kopf an den Beton knallte, und sie wollte es nicht in der Küche riechen, wenn die Nachbarn grillten. Vier oder fünf Orangenbäume wollte sie pflanzen. Sie träumte von einem Whirlpool unter freiem Himmel. Vielleicht sogar mit Aussicht.

Das war inzwischen dreizehn Jahre her. Ray war damals vier gewesen. Längst dachte sie nicht mehr an vier oder fünf Orangenbäume, Whirlpools und schöne Aussichten. Aus dem Küchenfenster hatte sie einen Blick auf einen grau gestrichenen Zaun. Und sie verkaufte immer noch Glamorex-Kosmetika und sie schrubbte immer noch das Blut anderer Leute weg und sie wusste, dass diese Schufterei einen Sinn haben musste. Aber sie wagte es nicht, sich diesen Sinn vorzustellen.

Sie mochte Barbra Streisand. »Evergreen« war einer ihrer Lieblingssongs, und sie spielte ihn immer und immer wieder. Allerdings nur, wenn Duke nicht zu Hause war.

Sie nahm Dukes Electra für die Fahrt zum Venice Boulevard. Die Klimaanlage war kaputt, die Sitze mit Klebeband geflickt. Die Bluse klebte ihr am Körper, als sie Venice Boulevard erreichte. Nicht weit entfernt von Glamorex fand sie einen Parkplatz.

Als sie den Bürgersteig entlanghetzte, kam sie an einem altersgebeugten Mann mit weißer Golfmütze vorbei, der breit grinsend seine dritten Zähne zeigte und bestimmt über fünfundachtzig war. »Hallo auch! Hübsche Titten!«

Ihr Hirn brauchte einige Augenblicke, um zu verarbeiten, was er gesagt hatte. Dann blieb sie stehen, drehte sich um und rief: »Hey!« Aber der Bürgersteig war verlassen. Hatte sie sich die Begegnung nur eingebildet? Für einen Augenblick stand sie ratlos da, dann ging sie entschlossen weiter und schob sich, bei Glamorex angekommen, durch die Drehtür. Ihre Absätze hallten klackend über den Marmorfußboden in der von der Klimaanlage eisgekühlten Lobby.

Sie nahm den Fahrstuhl zum vierzehnten Stock. Hier residierte Glamorex of Hollywood Incorporated. Im Empfangsbereich stapelten sich Kartons entlang der Wände bis zu den Fluren. Die Vertriebsleiterin Joyce Bach stand inmitten des Chaos und sah mit ihrer wilden schwarzen Mähne noch verwirrter aus als sonst. Zwischen ihren leuchtend rot geschminkten Lippen (»Scarlet Siesta«) baumelte eine brennende Zigarette. Jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte, regnete Asche auf ihr königblaues Kostüm.

»Es ist nicht zu fassen! Von den Herbst-Colorierun-gen liefern sie kaum die Hälfte und die Packungen für die Millenium-Intensiv-Maske sind verdruckt. Wer führt diesen verdammten Laden eigentlich? Orang-Utans?«

Ein offensichtlich verärgerter Ralph Kosherick kam mit einem Clipboard unter dem Arm aus seinem Büro gestürmt. Er war groß gewachsen, hatte leicht hängende Schultern und ein breites, zerknittertes Gesicht, das an den alten Hollywood-Schauspieler Fred McMurray erinnerte. Jedes Mal, wenn Bonnie ihn traf, hatte sie das überwältigende Bedürfnis, ihre Nagelschere herauszuholen und ihm die dichten, schwarzen Augenbrauen zu stutzen. Ralph hatte die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Die lilafarbenen Hosenträger ließen die Aufschläge seiner Hosen zwei Zentimeter über dem Spann der schwarz-polierten Oxford-Schuhe schweben.

»Du bist zu spät, Bonnie«, sagte er, ohne auf seine Uhr zu schauen. »Aber weil du heute morgen wieder einfach hinreißend aussiehst, will ich dir noch einmal verzeihen.«

»Deiner Frau sagst du solche Sachen hoffentlich auch hin und wieder.«

»Meiner Frau sag ich so was ständig. Ich sorge nur dafür, dass sie’s nicht hört, damit es ihr nicht zu Kopf steigt.«

»Du bist ein unmöglicher Kerl, Ralph. Wo bin ich heute eingeteilt?«

Er blätterte durch Papiere auf seinem Clipboard. »Erst rufst du bei Marshall’s an und danach gehst du bei Hoffman Drugs vorbei und schaust, was die brauchen. Deine Millennium-Promotion hab ich auf drei geschoben.«

»Gut, das passt. Ich habe eine Verabredung zum Mittagessen um halb zwei.«

»Sag’s ab. Ich führe dich aus. Auf der Melrose gibt es einen Laden, die machen diese wahnsinnig guten gefüllten Weinblätter. Wir treffen uns hier, wenn du von Hoffman zurück bist.«

»Das ist wirklich sehr großzügig von dir, Ralph, aber ich habe es schon mal gesagt: Unsere Beziehungen sollte strikt professioneller Natur sein.«

»Strikt klingt gut, wenn du das sagst. Professionell allerdings weniger.«

»Schlägt dich deine Frau eigentlich manchmal?«

»Marjorie? Soll das ein Witz sein? Die schlägt mich nicht mal beim Scrabble.«

Bonnie suchte ihre Musterkartons zusammen und LeRoy von der Poststelle half ihr, das Zeug nach unten zu tragen. Er hatte Kopfhörer auf und tanzte förmlich zu Bonnies Auto. Nachdem sie den Kofferraumdeckel dreimal zugeknallt hatte, bis er richtig schloss, drehte sie sich um und fragte: »Was hören Sie da?«

LeRoy zupfte einen der Stöpsel aus seinem Ohr und sah Bonnie an, als wäre sie ihm völlig unbekannt. »Was?«

»Ich habe gefragt, was Sie da hören.«

Er reichte Bonnie den Kopfhörer, und sie hörte sich kurz die Musik an. Techno-Dance-Beats, endlos wiederholte Riffs und eine Stimme, die wieder und wieder sang: »Wake up the dayyudd… you kill me bruvva… wake up the dayyudd…«

Sie gab ihm den Kopfhörer wieder. »Ganz nett. Aber ich glaube, ich bleibe bei Billy Ray Cyrus.«

Die Einkäuferin bei Marshall’s war eine kleine Frau namens Doris Feinman. Sie trug Schwarz und war so stark geschminkt, als würde sie bei einem chinesischen Wanderzirkus auftreten wollen. Nachdem sie Bonnies Lippenstiftproben auf ihrer Theke verteilt hatte, nahm sie sämtliche Kappen ab und brachte alles durcheinander.

»Wie heißt dieser hier? Blood Orange? Interessanter Farbton, wirklich, aber meinen Sie nicht auch, das klingt ein wenig… menstrual?«

»Die Namen kann man selbstverständlich ändern. Gar kein Problem.«

»Na, das hört man gern. Auf Cranberry Climax stehe ich nämlich ehrlich gesagt auch nicht so. Wer denkt sich so was aus?«

Statt zu antworten hielt Bonnie ihr gefrorenes Beinahe-Lächeln fest. Es war immer das Gleiche, ein Ritual. Weil Glamorex zu den kleineren Lieferanten gehörte, gab Doris Feinman ätzende Kommentare von sich und brachte ihre Muster durcheinander.

»Diese Wimperntusche ist zu dickflüssig. Als ob die Frauen heutzutage noch wie Goldie Hawn aussehen wollten. Das hat doch so etwas Unterwürfiges, finden Sie nicht?«

Das Lächeln machte Bonnie inzwischen echte Schwierigkeiten. Meine Güte, dachte sie, unterwürfige Wimperntusche.

Nach anderthalb Stunden wusste Doris Feinman endlich, was sie wollte, und sie war bereit zu bestellen. Die 13.500 Dollar sollten Ralph halbwegs zufrieden stellen. Sie hatte allerdings nichts von der Millennium-Intensiv-Maske nehmen wollen. Sie hätte die Maske an einer ihrer Assistentinnen ausprobiert, sagte Doris Feinman, und die hätte danach wie eine Wasserleiche ausgesehen.


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