Ungewöhnliche Stille


Nachdem Bonnie am nächsten Morgen die Augen geöffnet hatte, fiel ihr als Erstes auf, wie still es im Haus war. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Der feine Riss, den sie dort sah, sah aus wie eine Hexe mit krummer Nase und spitzem Kinn. Sonnenstrahlen zuckten über die Decke, und die Hexe schien Bonnie zuzuzwinkern. Nach einer Weile setzte sie sich auf und schaute auf den Wecker. Es war zwanzig nach acht.

Sie erschrak. Duke würde zu spät zur Arbeit kommen, Ray zu spät zur Schule und sie musste…

Nein, wurde ihr plötzlich klar. Niemand kam zu spät. Duke hatte keine Arbeit, Ray ging nicht zur Schule, und sie hatte ihren Job verloren – wenn Ralph es sich nicht doch noch anders überlegt hatte.

Sie klopfte auf das Deckenknäuel neben sich. »Duke, es ist schon fast halb neun. Soll ich dir einen Kaffee machen?«

Sie wunderte sich nicht darüber, dass er keine Antwort gab. Duke hätte einen Flugzeugabsturz im Vorgarten verschlafen. »Also willst du Kaffee? Frühstück mache ich nämlich nicht, du sagst dann nur wieder, dass ich dich vergiften will.«

Immer noch keine Antwort. Sie wurde ungeduldig.

»Denk ja nicht, dass du heute den ganzen Tag im Bett liegen kannst, du wirst dir nämlich einen neuen Job suchen, Duke.«

Sie zog die Decke weg. Seine Seite war leer. Was Bonnie flüchtig für seinen Körper unter der Decke gehalten hatte, waren nur ein paar Kissen, die sie nachts von sich geschoben haben musste.

Verwirrt stand sie auf und schlurfte über den blauen Teppich in Richtung Bad. »Duke?« Aber Duke war nicht im Bad. Dafür war der Toilettensitz heruntergeklappt. Das erste Mal in der Geschichte ihrer Ehe überhaupt.

Sie ging ins Wohnzimmer, um zu sehen, ob Duke betrunken vor dem Fernseher eingeschlafen war. Aber da lag niemand. Die Sofakissen waren ordentlich ausgeklopft, der Fernseher war aus.

»Duke?«, sagte sie, aber diesmal so leise, dass er sie auch nicht gehört hätte, wenn er im Haus gewesen wäre.

Er war nicht in der Küche. Nicht in der Vorratskammer. Nicht im Garten. Und Gott sei Dank trieb er auch nicht im Pool.

Sie sah ihr Gesicht im Garderobenspiegel, als sie zu Rays Zimmer ging, um zu sehen, ob er aus irgendwelchen Gründen dort geschlafen hatte. Dabei wusste sie, dass er Rays Zimmer nie betrat. Er nannte es die »Pesthöhle«. Fast glaubte sie, seine Stimme zu hören: »Weißt du, warum die Kids heutzutage ständig furzen? Liegt am Essen, all dem verdammten Grünzeug. Möchte mal wissen, was an dem Fraß gesund sein soll, wenn andere wegen der Furzerei fast ersticken.«

Sie klopfte. »Ray? Ist dein Vater bei dir?«

Weil sie keine Antwort bekam, klopfte sie noch einmal und öffnete dann vorsichtig die Tür. Duke lag nicht auf dem Teppich. Und Ray nicht in seinem Bett. Es war unberührt, die Tagesdecke lag sogar noch darauf.

Erst in diesem Moment begann Bonnie, sich Sorgen zu machen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie am Abend zuvor ins Bett gegangen war. Nach der Dusche hatte sie ihr Nachthemd angezogen und war ins Schlafzimmer gegangen. Sie wusste noch, dass sie wach gelegen und sich gefragt hatte, wann Duke wohl ins Bett käme. Normalerweise weckte er sie dabei auf, weil er immer über seine Füße oder etwas anderes stolperte und Radau machte. Aber er gab ihr auch immer einen Gutenachtkuss. Und an den konnte sie sich nicht erinnern.

Sie lief zur Haustür: von innen verschlossen, die Kette vorgelegt. Sie prüfte die Fenster: alle geschlossen. Das bedeutete, dass Duke und Ray das Haus verlassen haben mussten, bevor Bonnie nach Hause gekommen war. Sie hatte hinter ihnen abgeschlossen. Aber sie konnte sich nicht erinnern, das getan zu haben, und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wo die beiden hingegangen sein konnten. Ein Hotel war ausgeschlossen, weil Duke kein Geld hatte. Und Freunde, bei denen sie übernachtet haben konnten, hatte Duke auch nicht. Vielleicht waren sie über Nacht bei einem von Rays Freunden geblieben.

Aber warum sollten sie? Hatten sie sich gestritten? Duke hatte sie wegen seinem Job belogen und sie hatte heftig reagiert. Und Ray hatte irgendetwas von Mexikanern erzählt, die Amerikanern Jobs wegnehmen und Drogen verkaufen. Aber das war am Nachmittag gewesen. Und danach?

Richtig. Sie hatte sich umgezogen, war zu Esmeralda gefahren und hatte Juan Maderas getroffen. Und danach war sie direkt zurückgefahren. Waren Ray und Duke da noch zu Hause gewesen? Weit konnten sie jedenfalls nicht gewesen sein, denn Dukes Wagen, den sie gestern benutzt hatte, stand vor der Tür neben ihrem Pick-up.

Sie kam sich vor wie jemand, der auf einer Party zu viel getrunken und am Morgen danach einen Blackout hatte.

Zurück in der Küche trank sie ein Glas Orangensaft. Danach setzte sie die Packung direkt an den Mund und trank sie leer. Ihr fiel auf, dass die Wohnung wie aus dem Ei gepellt war. Hatte sie gestaubsaugt? Aufgeräumt? Nichts war zerbrochen oder beschädigt, das sprach gegen einen heftigen Streit.

Sie ging zurück in Rays Zimmer und nahm sein Bart-Simpson-Adressbuch zur Hand. Die meisten Seiten waren mit kleinen Zeichnungen beschmiert und voll gekritzelt, trotzdem fand sie die Nummer seines besten Freundes Kendal.

»Mrs Rakusen? Hier ist Bonnie Winter. Bitte entschuldigen Sie die Störung, ich wollte fragen, ob Sie Ray gesehen haben? – Nicht? Er hat nicht bei Kendal übernachtet, oder so? – Ah ja. – Könnten Sie denn zur Sicherheit einfach Kendal noch mal fragen? – Ach so. -Na ja, wenn Sie ihn doch sehen sollten, soll er mich bitte anrufen, wenn Sie ihm das sagen würden? – Das wäre nett. Er ist nämlich letzte Nacht nicht nach Hause gekommen und ich mache mir etwas Sorgen. Vor allem nach dem, was passiert ist. – Genau. Vielen Dank.«

Sie wählte noch zwei weitere Nummern aus dem Buch, sogar Rays Exfreundin Cherry-Jo rief sie an. Niemand hatte etwas von Ray gehört oder gesehen.

Danach saß sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, was sie nun tun sollte.

Schließlich rief sie Ruth an.

»Ruth… etwas ist passiert – etwas sehr Seltsames.«

»Sag mir nicht, dass du dich endlich von Duke… du weißt schon…«

»Ich mach keine Witze, Ruth. Duke und Ray sind weg.«

»He, gratuliere! Wie hast du denn das geschafft?«

»Sie sind weg, Ruth, verschwunden, ich weiß nicht wann und ich weiß nicht wohin.«

»Du meinst es wirklich ernst, was? Verschwunden, sagst du? Was soll das heißen?«

Bonnie erzählte ihr alles, von ihrem Streit mit Duke, den unbenutzten Betten, dem Klodeckel und der von innen verschlossenen Haustür. »Sie sind weg, also müssen sie gegangen sein, aber ich weiß nichts mehr. In meiner Erinnerung klafft ein Loch. Es ist, als ob es sie nie gegeben hätte.«

»Unsinn«, sagte Ruth, »die ziehen bestimmt nur eine dumme Show ab. Duke war beleidigt, weil er sich von einer Frau nichts sagen lassen will, vor allem nicht, dass er den Arsch hochkriegen soll. Wenn die Hunger kriegen, stehen sie plötzlich wieder vor der Tür. Wart’s ab.«

Für einen Moment war Bonnie versucht, Ruth von dem Besuch bei Esmeralda zu erzählen, von Juan Maderas und Itzpapalotl. Aber weil sie nicht wollte, dass Ruth sie für völlig hysterisch hielt, ließ sie es bleiben.


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