Leben ohne Duke


Die nächsten vier Tage verliefen wie in einem Stummfilm.

Am Morgen erwachte sie in einem stummen Haus. Zum Frühstück aß sie einen Joghurt und starrte auf den laufenden, tonlosen Fernseher. Danach stellte sie sich an das Wohnzimmerfenster und sah hinaus, hoffte, jeden Moment Duke und Ray zu sehen, die lachend und winkend über die Straße auf sie zukamen. Aber sie kamen nicht.

Wenn am Nachmittag die Sonne um das Haus gewandert war, setzte sie sich mit ein paar Zeitschriften in den Garten, aber mit einem Ohr lauschte sie immer nach dem Telefon. Wenn es klingelte, sprang sie auf und spürte unweigerlich einen brennend salzigen Geschmack im Mund.

Am fünften Tag rief Lieutenant Munoz an, gerade als Bonnie ihren Joghurt gegessen hatte. »Also wir haben da einen Auftrag im Benedict Canyon für dich. Wir könnten uns da so gegen zehn treffen, wenn du interessiert bist.«

»Ich weiß nicht, Dan.«

»Das ist eine knifflige Angelegenheit, Bonnie, die möchte ich niemand anderem anvertrauen. Technisch gesehen macht Ken Kessler wahrscheinlich auch gute Arbeit und er würde es machen, aber für diese Sache muss man schon das richtige Händchen haben. Wenn du herkommst, siehst du schon, was ich meine.«

»Na gut… Zu Hause herumsitzen tut mir sowieso nicht gut.«

»Na also. Bis später.«

Noch nie in ihrem Leben hatte Bonnie so viel Blut gesehen. Konnte ein einzelner Mensch eine solche Menge Blut verlieren und kriechend im ganzen Haus verteilen?

Dieses Haus stand am Ende einer scharfen Kurve auf der Ostseite des Canyons. Ein modernes einstöckiges, weiß gestrichenes Gebäude mit Bougainvillea-Sträuchern vor der Veranda. Auch innen war das Haus vollkommen weiß. Die Wände, die Teppiche, die Vorhänge, die Möbel, sogar die von der Klimaanlage stark heruntergekühlte Luft schien weiß. Man hatte den Eindruck, in einem Iglo zu sein.

Umso größer war der Effekt des Blutes. Es gab Blutpfützen, Blutspuren, Blutspritzer, die wie die Kreationen eines Aktionskünstlers aussahen. Das Blut klebte an den Wänden, auf den Möbeln und an der Kühlschranktür. Die ganzen sechs Liter Blut, die ein Mensch hatte.

Zuerst führte Dan Bonnie in das Wohnzimmer. »Folgendes ist passiert«, sagte er. »Mrs Chloris Neighbor ging wie jeden Donnerstag Nachmittag in ihre Tanzstunde. Ihr Mann Anthony Neighbor war freier Architekt und hatte sein Büro zu Hause, also hatte er donnerstags immer sturmfreie Bude. Letzten Donnerstag nutzte er den freien Nachmittag, indem er sich nackt ein Pornovideo ansah. Während er sich so amüsierte, muss Anthony Neighbor irgendwann beschlossen haben, den erotischen Genuss noch dadurch zu steigern, dass er sich eine Leuchtstoffröhre in den Hintern schob. Offenbar hatte er so viel Freude daran, dass er schließlich so weit ging, die Leuchtstoffröhre auch noch anzuschalten. Sie explodierte und verursachte schwere innere Verletzungen. Wir können nur vermuten, dass es ihm zu peinlich war, einen Notarzt anzurufen. Jedenfalls krabbelte er so lange von Zimmer zu Zimmer, bis er einfach verblutet war. Und entsprechend sah es aus, als Mrs Neighbor nach Hause kam.«

Bonnie rieb mit der Schuhspitze über den Teppich. »Das wird aber teuer.«

»Mrs Neighbor ist draußen. Rede mit ihr.«

»Okay.«

Sie traten aus dem Haus. Mrs Neighbor stand unter einem Baum im Garten. Ihr Gesicht wurde von den Sonnenstrahlen beleuchtet, die durch die Blätter brachen. Sie war klein, sehr dünn, hatte einen aschblonden Pagenschnitt und einen gehetzten Blick. Sie trug einen chinesischen Cheongsam aus schwarzer Seide und sah darin weniger wie eine Frau als vielmehr wie ein ängstliches kleines Tier aus.

»Mrs Neighbor? Mein Name ist Bonnie Winter, und ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.«

»Vielen Dank. Ich kann immer noch nicht begreifen, warum ich meinen Mann auf diese Art verlieren musste.«

»Ja, das ist schwer.«

»Ich komme mir so… so unzulänglich vor. Das ist glaube ich das richtige Wort. Verstehen Sie? Sonst hätte er doch nie…«

»Sie dürfen nicht sich die Schuld geben, Mrs Neighbor. Wer weiß schon, was in Männern vorgeht.« Sie warf Dan einen schnellen Blick zu.

»Ich kann das Blut nicht selbst beseitigen. Es bedeutet mir zu viel. Er bedeutete mir zu viel. Ich habe ihn angebetet. Ich habe jedes Haar auf seinem Kopf angebetet. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich eines Tages sein Blut wegwischen müsste. Es ist, als würde man ein Leben wegwischen, das gemeinsame Leben wegwischen.«

»Sind Sie für solche Fälle versichert?«

Mrs Neighbor starrte sie an. »Wie bitte?«

»Für Schäden durch Gewalt dieser Art gibt es Versicherungen, Mrs Neighbor. Ihr Mann hat eine extrem teure Sauerei hinterlassen.«

»Sie sprechen von seinem Blut, seinem Lebenselixier, Sie sprechen von meinem Mann!«

»Das ist mir klar, Mrs Neighbor, und ich verspreche, dass ich Ihren Mann nur mit dem größten Respekt wegwische.« Und mit viel Lysol, dachte sie.

Dan war noch vor Bonnie am Wagen und öffnete für sie dir Tür.

»Heute Morgen habe ich den Laborbericht bekommen.«

»Ja und?«

»Dein Haus wurde gründlich untersucht. Und weißt du was? Die Gerichtsmediziner sagen, sie hatten noch nie das Pech, ein so sauberes Haus untersuchen zu müssen. Lupenrein.«

»Überhaupt kein Hinweis auf das Schicksal von Duke und Ray?«

»Absolut nichts. Sogar die Griffe der Küchenmesser haben sie überprüft.«

»Warum denn das?«

»Weil keine Waffe bei Familientragödien so häufig benutzt wird wie ein Küchenmesser. Meist wäscht der Täter nach der Tat die Messer, aber er ahnt nicht, dass mikroskopisch kleine Blutreste in der Naht zwischen Klinge und Griff hängen bleiben können, besonders dann, wenn man sehr heftig zugestochen hat. Diese Blutreste bleiben, und wenn man noch so gut abwäscht. Mit Käse- und Fleischresten ist das nicht anders. Gegen mikroskopisch kleine Teile hilft keine Spülmaschine.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Ich will dir damit sagen, dass wir in deiner Küche ein altes Messer gefunden haben, das so sauber war, als wäre es noch nie benutzt worden. Es wies nicht einmal die geringsten Spuren von Lebensmittelresten auf. So sauber wird ein benutztes Messer nur, wenn man es in eine spezielle Lauge legt, die ein Enzym enthält, das Milch, Eiweiß, Joghurt, Eiskrem, Käse und Blut lösen kann.«

»Ich versteh nicht.«

»Wir stellen hier keine Vermutungen an und sprechen schon gar keine Verdächtigungen aus, Bonnie. Wir sagen nur, dass eines deiner Küchenmesser ungewöhnlich sauber war. Ich gebe zu, als Beweis ist das nichts, aber es ist ein sehr interessantes Nichts.«

»Und mehr haben sie nicht gefunden?«

»Sie würden sich gern noch einmal etwas genauer umsehen, wenn du nichts dagegen hast. Aber ich gebe dir einen freundschaftlichen Rat: Bevor du die Gerichtsmediziner wieder in dein Haus lässt, würde ich mir an deiner Stelle einen Anwalt nehmen.«

»Was soll denn diese Sache mit dem Messer, Dan? Soll das heißen, ich hätte Ray und Duke mit einem Küchenmesser umgebracht, oder was?«

»Bonnie, Süße, niemand behauptet irgendetwas.«

»Aber du willst mich doch warnen. Du glaubst, dass sie tot sind und dass ich verdächtigt werde, stimmt’s? Bitte, Dan, sag’s mir.«

»Es gibt zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise darauf, dass Duke und Ray tot sein könnten. Dass sie verschwunden sind, ohne irgendwelche Kleidung oder persönliche Gegenstände mitzunehmen, ist sehr merkwürdig, aber sehr merkwürdige Dinge passieren nun einmal. Und Menschen verschwinden jeden Tag. Manche sogar ohne Schuhe.«

Bonnie setzte sich hinter das Steuer und drehte den Zündschlüssel. »Ich sage dir, Dan, in meinem Haus muss etwas sehr Seltsames geschehen sein. Ich weiß, dass du diese Faltergeschichten für Unsinn hältst, aber da machst du einen großen Fehler. Diese Falter sind… sind der Schlüssel zu allem.«

Dan schlug die Wagentür zu. »Also: machst du den Job?« Er nickte mit dem Kinn in Richtung des Neighbor-Hauses.

»Ach so! Klar. Ich habe ja jede Menge Enzymlauge, um das Blut zu beseitigen.«

»Bonnie…«

»Was noch? Willst du dich etwa mit mir zum Essen verabreden?«

»Nein«, sagte Dan und schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur… ach, ist nicht so wichtig.« Er klopfte auf das Autodach, trat einen Schritt zurück und sah dem in einer bläulichen Ölrauchwolke davonfahrenden Wagen nach.


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