Schon wieder putzen


Am Montag rissen sie als Erstes die orangefarbenen Vorhänge herunter und öffneten die Fenster weit, um den Blutgeruch loszuwerden. Bonnie und Esmeralda trugen ihre gelben Schutzanzüge. Sie schleppten gemeinsam die Matratzen hinaus und warfen sie auf die Ladefläche des Pick-ups. Bonnie deckte sie mit den Vorhängen zu.

Als sie die Betten von der Wand wegzogen, sahen sie, dass die grässlichen Schlieren bis runter zum Boden gingen. Eine undefinierbare Masse hatte sich in der Ecke gesammelt und wucherte vor fetten Maden.

Esmeralda holte den Spezialstaubsauger. Die Maden machten ein sanft klopfendes Geräusch, als sie durch das Staubsaugerrohr in den Beutel gesogen wurden. Es klang fast wie Sommerregen auf einer Fensterbank.

»Wie war’s in Pasadena?«, fragte Esmeralda.

»Gut. War ganz gut.«

Auf Händen und Knien besprühte Bonnie den rechteckigen Fleck auf dem Teppich. Sie versuchte den Gedanken daran, was sie da gerade zu entfernen versuchte, zu verdrängen, aber das Grauen kam plötzlich über sie wie eine eiskalte Dusche. Sie stand auf. Sie musste. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen.

»Was ist los, Bonnie?«

»Dan Munoz hat gesagt…«

»Was hat Dan Munoz gesagt?«

»Dan Munoz hat gesagt, dass er die Kiste angenagt hat.«

»Wer? Wovon redest du?«

»Der kleine Junge in der Kiste. Bevor er verhungert ist, hat er versucht, die Kiste zu essen.«

»He, du siehst wirklich nicht besonders gut aus. Geh doch ein bisschen an die frische Luft.«

»Nein, Ich… Es geht schon.«

»Nein, es geht nicht. Du bist ja weiß wie ein Laken. Geh schon, ich sauge hier noch fertig.«

Bonnie atmete zwei-, dreimal tief ein und aus, aber sie schwankte immer noch und wäre beinahe umgefallen. Außerdem schwitzte sie. Sie schwitzte immer, wenn sie kurz vor ihrer Periode war.

»Es geht bestimmt gleich wieder. Nur ein paar Minuten. Wahrscheinlich liegt’s daran, dass ich kein Frühstück hatte.«

»Soll ich dir helfen?«

»Alles klar. Alles klar. Mach du ruhig weiter.«

Sie ging nach draußen. Es war heiß, aber eine Brise kam vom Meer und trocknete den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie stieg in ihren Wagen, öffnete die 7-up-Kühlbox und holte eine Cola-Light heraus. Sie nahm einen großen Schluck, der sofort durch ihre Nase wieder zurückkam.

Nie zuvor hatte sie sich so schlecht bei ihrer Arbeit gefühlt. Nicht einmal, als sie damals die Krippe reinigen musste, in der zwei Monate lang tote Babys gelegen hatten. Ihre Hände zitterten. Sie sah ihre bleichen, blutleeren Lippen im Rückspiegel. »Ganz ruhig«, sagte sie laut. »Zähl einfach langsam bis zehn und denk an gar nichts.«

Fünf Minuten später ging es ihr schon etwas besser. Sie stieg aus dem Wagen und ging zurück zum Haus. Ein kleiner Junge mit rosa gestreiftem T-Shirt und hellbraunen Haaren kam auf Bonnie zugelaufen und blinzelte sie gegen die Sonne an.

»Ist das ein Astronautenanzug?«

»Nein… der Anzug schützt mich vor Bazillen und so.«

»Da drin sind Leute gestorben.«

»Ich weiß.«

»Auch ein kleiner Junge.«

»Ja. Das ist sehr traurig.«

»Ist er noch da drin?«

»Nein. Jetzt ist er im Himmel.«

»Man betet, wenn Leute sterben.«

»Ja. Du kannst doch sicher beten, oder?«

»Da war ein Geräusch in dem Haus.«

»Es ist alles vorbei. Denk am besten gar nicht dran.«

Der Junge formte seine Hände zu Krallen und riss die Augen auf wie ein böser Kobold. »Das klang wie Grraaarrrhhhhl«

»Das war sicher ziemlich gruselig.«

»Ich hab noch nie so was Gruseliges gehört«, sagte der Junge. »So GrrraaaaaarrrrrhhhhhM«

Aus dem Nachbarhaus trat eine junge rothaarige Frau und rief: »Tyler! Was machst du denn da? Komm jetzt bitte sofort rein!«

Sie sah Bonnie misstrauisch an und blieb demonstrativ so lange in der Tür stehen, bis der Junge hinter ihr im Haus verschwunden war. Bonnie kannte die Reaktion. Niemand wollte etwas mit dem Tod zu tun haben, nicht einmal mit denen, die seine Spuren beseitigten.

Esmeralda war mit dem Staubsaugen fertig und begann gerade damit, die Wände zu reinigen. Der weiche und poröse Gips machte es schwer, die Blutspuren ganz zu entfernen. Ein Blutspritzer ging quer über einen Sessel, also nahm Bonnie einen Speziaireiniger auf Enzymbasis, befeuchtete ein Baumwolltuch damit und tupfte damit vorsichtig auf den Fleck. Sie nahm auch das Sitzkissen vom Sessel und legte es zur Seite. Und unter dem Kissen waren die glänzenden braunen Körper, die gleichen Kokons, die sie schon im Haus der Familie Glass gesehen hatte. Sie nahm einen in die Hand und hielt ihn gegen das Licht. Der Körper war durchsichtig. Sie konnte die Umrisse des Insekts im Innern erkennen.

In der dunklen Ritze des Sessels bewegte sich etwas. Instinktiv schlug sie mit dem Tuch danach, sodass es zuckend auf den Teppich fiel und sich zusammenkrümmte. Es war die Raupe des Apollofalters, ein Exemplar der Art, die sie zu Howard Jacobson ins Labor gebracht hatte.

In diesem Raum war doch Maria Carranza getötet worden. Ein eindeutig mexikanischer Name, dachte Bonnie.

Sie steckte drei der Kokons und die Raupe in eine kleine Plastiktüte und verschloss sie.

»Was hast du da?«, fragte Esmeralda.

»Eine Art Raupe. Dieselbe haben wir bei den Goodmans gefunden, erinnerst du dich?«

»Was machst du mit denen? Willst du die behalten, oder was?«

»Ich hab ein Exemplar zu Professor Jacobson ins Universitätslabor gebracht. Er hat gesagt, die kämen aus Mexiko.«

Esmeralda machte einen Schritt rückwärts und bekreuzigte sich zweimal.

»Wovor hast du Angst?«

»Das ist nicht gut. Du solltest sie töten. Ich hole schnell das Spray.«

»Du weißt, was das für welche sind, stimmt’s? Professor Jacobson hat gesagt, es sei eine Art, die man Apollofalter nennt.«

»Du solltest sie töten.«

»Warum?«

»Einfach weil’s Ungeziefer ist.«

»Ich weiß nichts von Ungeziefer. Ich weiß nur, dass Professor Jacobson erzählt hat, dass man in Mexiko an eine Göttin namens Opsapopalottel oder so ähnlich glaubt, die sich in einen solchen Falter verwandelt.«

»Sprich den Namen nicht aus«, sagte Esmeralda und bekreuzigte sich wieder und wieder.

»Esmeralda, wir haben diese Viecher jetzt an drei verschiedenen Tatorten gefunden. Du fürchtest dich vor ihnen und ich möchte wissen, warum.«

»Sprich den Namen nicht aus«, schrie Esmeralda. »Ich arbeite nicht mehr für dich! Du darfst den Namen nicht aussprechen!«

»Jetzt beruhige dich doch, Esmeralda. Um Himmels willen! Das sind nur ein paar Raupen. Ich will nur wissen, wo die Verbindung ist.«

Esmeralda hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und stand stumm und regungslos da.

Bonnie starrte auf den rechteckigen Fleck auf dem Teppich und hatte das erste Mal das Gefühl, seinem Anblick gewachsen zu sein. Sie musste herausfinden, warum David Hinsey seine Freundin Maria Carranza umgebracht hatte, warum Aaron Goodman seine Kinder erschossen hatte, warum das Leben der Glasses in einem Blutbad geendet hatte. Wenn sie das alles verstand, wenn sie all diese schrecklichen Dinge um sich herum verstand, konnte sie vielleicht auch ihr eigenes Leben verstehen.

Esmeralda ließ die Hände sinken. »Sprich mit Juan Maderas.«

»Wer ist Juan Maderas?«

»Ein Freund meines Vaters. Er kennt die ganzen alten Geschichten. Und er weiß alles über die Falter.«

»Und wie finde ich diesen Juan Maderas?«

»Ruf mich um drei zu Hause an. Ich spreche mit meinem Vater, und der arrangiert ein Treffen für dich.«

»Und dieser Juan Maderas weiß also alles über diese… Opsapopalottel oder wie die heißt?«

»Sprich den Namen nicht aus! Niemals! Auch nicht im Spaß!«

Bonnie nahm Esmeralda in den Arm und drückte sie an sich, »‘tschuldige Es, ich wollte dir keine Angst machen. Du bist doch meine Freundin, das weißt du doch. Komm schon, ist alles wieder gut? Wir finden schon noch heraus, was das mit diesen Raupen bedeutet.

Wahrscheinlich gar nichts, aber wir finden’s heraus. Komm schon, Kleine, hab keine Angst.«

»Ich sollte das Spray holen und sie töten.«

»Das sind doch nur Raupen«, sagte Bonnie.

So standen sie lange. Bonnie hörte den Verkehr rauschen und Flugzeuge vom nahen Flughafen LAX starten. Esmeraldas Kopf lehnte an Bonnies Wange, das Haar war fettig, sie roch nach Schweiß und Küche, aber Bonnie hielt sie so lange, wie Esmeralda Halt brauchte.


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