Kapitel 11

Es war ein verrückter Anblick, der sich Dr. Mohr bot, als er von der Kirche hinüber zu dem Hospital ging. Die Guaqueros bildeten eine Gasse und klatschten in die Hände, als sei Dr. Mohr ein berühmter Star, der soeben die große Bühne betreten würde.

Nicht anders war es aber auch. Ein makabres Stück, eine rührende Komödie, eine beklemmende Vision: Da standen in dem halbfertigen Bau, an dem noch die Türen und die Fensterscheiben fehlten, zwei Frauen in Schwesterntracht. Mit blauen langen Röcken, weißen, gestärkten Schürzen und kleinen Häubchen auf den schwarzen Haaren. Sie warteten an der Tür des Hospitals, Blumen in den Händen, und alle bewunderten Maria Dolores und Margarita ob ihrer Veränderung. Sie sahen direkt respektheischend aus.

Im OP, dem großen Zimmer, das die ganze Breite des Hauses einnahm, stand in der Mitte, einsam, aber dadurch besonders eindrucksvoll, der gerade montierte Operationstisch. Daneben hatte sich gleich einer Ehrenwache, ebenfalls in einem weißen Kittel, Dr. Aldous Simpson aufgebaut. Aus seiner Manteltasche baumelten die Gummischläuche eines Membranstethoskopes. Während Dr. Mohr langsam durch das Spalier der Schürfer schritt, überholte ihn der massige Miguel im Laufschritt, verschwand im Hospital und tauchte kurz darauf, breit grinsend, an der Seite Dr. Simpsons auf. Bekleidet mit einer bodenlangen Gummischürze, als wolle er im Blut rühren und mit amputierten Gliedern jonglieren.

«Ihr seid verrückt«, sagte Mohr mit zugeschnürter Kehle.»Ihr seid total verrückt!«Er nahm die Blumensträuße von Maria Dolores und Margarita entgegen, küßte beide auf die Wange und betrat dann unter dem Jubel der Guaqueros das Hospital. Vor dem OP hing an der Wand ein Schild, mit dicken Nägeln an das Holz gehämmert. Mit Kreide hatte Dr. Simpson darauf geschrieben:

Operations-Plan: Freitag

1) Septische Schußverletzung linker Oberarm

2) Carbunculi Nacken und linke Rückenhälfte

3) Luxation Schultergelenk links

4) chirurgische Ambulanz

Dr. Mohr blieb stehen. Miguel grinste noch breiter und streichelte seine rotbraune Gummischürze.»Guten Tag, Chef!«sagte Dr. Simpson fröhlich.

«Aldi, das ist Ihre Inszenierung?«

«Gemeinschaftsarbeit, Kollege. Das Leben hier draußen ist, wie Sie wissen, so beschissen, daß man glücklich über jede Feier ist. Und wenn das kein Anlaß ist, ein neues Hospital, das erste in dieser Gegend, solange die Welt besteht, dann gibt es überhaupt keinen Grund mehr zu feiern!«

Rührung überkam Dr. Mohr. Er sah sich im OP um. Die Kisten standen zwar geöffnet, aber noch unausgepackt an den Wänden. Vier Blechschränke mit weißer Emaillelackierung lehnten, noch nicht zusammengesetzt, daneben: die Instrumenten- und Medikamen-tenschränke. Im Nebenraum stapelten sich die schweren Kisten des Röntgengerätes. Das Narkosegerät, besonders empfindlich, war mit einer Plane abgedeckt.

Dr. Novarra, der draußen auf dem Vorplatz geblieben war, hob die Hand. Im gleichen Augenblick ratterte der Motor des Generators los. Eine armselige Glühbirne an der Decke des OPs begann zu flackern und zu zucken, dann brannte sie, hell leuchtend und eine neue Zeit verkündend.

Die Menschenmenge vor dem Hospital klatschte wieder in die Hände. Dr. Simpson wischte sich ergriffen über das Gesicht.

«Das ist wie eine zweite Schöpfung, Kollege. Licht! Elektrisches Licht! Man möchte sich darunter stellen und sich bestrahlen lassen, als sei's eine Dusche! Und Sie stehen da und sagen kein Wort.«

«Fangen wir an!«Dr. Mohr atmete tief auf. Miguel rannte los, riß einen weißen Arztkittel aus einem Karton, entfaltete ihn und hielt ihn auf. Dr. Mohr zog ihn an und hörte, wie hinter ihm ein Rollwagen hereingefahren wurde.

Margarita kam mit einem Arsenal von Instrumenten, alle noch steril in Plastikhüllen verschweißt. So, wie sie verpackt gewesen waren. Sie blieb neben dem OP-Tisch stehen und lächelte madonnenhaft.

«Ich weiß nicht, was du brauchst«, sagte sie.»Ich habe einfach von allem ein Stück genommen. War das falsch?«

Er schüttelte den Kopf. Die geschäftige Hilflosigkeit um sich herum fand er rührend. Ein Chaos von Kartons und Kisten umgab ihn, immer neue wurden von draußen hereingeschleppt, aufgeschnitten, Holzdeckel aufgestemmt… und zwischen diesen Materialbergen saßen geduldig die Patienten auf Kistenrändern oder Säcken und warteten auf ihren Medico.

«Aldi, wir ziehen die Luxation vor!«sagte Dr. Mohr.»Ich sehe gerade da hinten einen Karton mit elastischen Binden und Schienen. Her damit! Kümmern Sie sich um die Herrichtung des Instrumentariums für die Schußverletzung. Die Luxation richte ich mit Miguel allein. Wo der festhält, rührt sich kein Bulle mehr.«

Spät in der Nacht saß Dr. Mohr dann auf einem Hocker neben dem Operationstisch und sah mit hohlen Augen zu, wie Miguel mit einem einfachen Reisigbesen, der aller Hygiene und Sterilität Hohn sprach, den OP ausfegte. Er war todmüde. Maria Dolores hatte ihm einen starken Tee gekocht, aber auch der Schnaps, den sie dazwischenmischte, konnte ihn nicht mehr aufmuntern. Margarita stand hinter ihm und massierte ihm die Nackenmuskeln, ein altes Hausmittel, das sonst immer half. In diesem Stadium der Erschöpfung war es nur wie ein dumpfes Streicheln.

Dr. Simpson, der begonnen hatte, neben der Patientenkartei auch noch eine Operationskartei anzulegen, hockte vor einem kleinen Tisch mit emaillierter Blechplatte und reckte sich mit einem langgezogenen Seufzen.

«Das waren heute in der chirurgischen Ambulanz 49 Fälle. Morgen werden es 80 sein, übermorgen 100 und mehr. Chef, dabei gehen wir vor die Hunde. Das ist zeitlich nicht zu schaffen, medizinisch überhaupt nicht! In ein paar Tagen werden wahre Wanderungen stattfinden. Da schleppen sie die Kranken auf Mulis oder auf dem Rücken zu uns und legen sie uns vor die Tür, wenn wir sagen: Schluß! Es geht nicht mehr! Wir können hier zehn Ärzte gebrauchen.«

«Dann wird es eben Wartezeiten geben. «Dr. Mohr hielt Marga-ritas Hände fest. Ruhe. jetzt brauche ich Ruhe, dachte er. Schlafen möchte ich. rund um die Uhr. Die Ohren und die Augen verkleben, nichts mehr hören und sehen. nur schlafen.»Nur die wirklich dringenden Fälle werden angenommen.«

«Jeder, der hierher kommt, betrachtet seine Krankheit als dringend behandlungsbedürftig. Sagen Sie denen mal: Jungs, geht wieder nach Hause. Ihr seid nicht so krank, um behandelt zu werden. Gießt euch kaltes Wasser über den Leib, das hilft auch! Wissen Sie, was dann passiert?«

«Ein großes Geschrei.«

«Wenn's nur das wäre!«Simpson wischte sich mit beiden Händen über das zerknitterte Gesicht.»Je nach Temperament werden die einen Sie bespucken, andere Ihnen in den Hintern treten, ganz Rabiate stürmen das Hospital und zwingen Sie mit gezogener Pistole, sie zu untersuchen, und wenn das alles nicht hilft, schlagen sie hier alles kurz und klein, damit auch den anderen nicht geholfen werden kann. Hier reagiert niemand wie ein vernünftiger Mensch! Der Berg, die kleinen grünen Steine haben das Gehirn aufgefressen! Das glaubt keiner, aber es ist so! Wer monatelang oder gar jahrelang in den Minen gelegen hat und sich in den Fels wühlte, der hat die Mentalität eines Hammers und eines Meißels. mehr nicht!«

«Dann geben wir Nummern aus.«

«O Himmel, das ist ja noch schlimmer!«Dr. Simpson schlug die Hände zusammen.»Stellen Sie sich vor: Da bekommt einer die Nummer 378 und weiß, daß er fünf Tage warten muß. Fünf Tage fallen aus. In diesen fünf Tagen könnte er vielleicht auf eine Smaragdader stoßen und Millionär werden. Daran glauben sie ja alle! Und da ist jemand vor einem, der hat die Nummer 27 und kommt schon morgen dran. Ein mickriger Bursche, der sich die Schwindsucht aushustet. Was wird passieren, Chef? Die Nummer 378 wird die Nummer 27 ohne ein Wimpernzucken umbringen, um das Zettelchen 27 zu erben! Das wird jeder mit jedem machen, der vor ihm steht! Ein Massenmorden wird das werden, vor unserer Tür, und jeder wird sich im Recht fühlen! Moral? Skrupel? Was ist das? Sind das neue Tabakmarken?!«

«Haben Sie eine Lösung parat, Simpson?«

«Es müssen noch Kollegen her!«

«Woher nehmen?«

«Sprechen Sie mal mit Ihrem Gönner Don Camargo. Er hat einen Idioten wie Sie gefunden, möglich, daß es auch noch andere Idioten gibt!«

«Danke. «Dr. Mohr erhob sich und legte den Arm um Margari-tas Schulter.»Ich werde jetzt schlafen. Ich bin für nichts mehr aufnahmefähig, selbst nicht für Massenmorde! Was machen Sie noch, Aldi?«

«Ich packe weiter aus. Morgen haben wir eine tolle Phlegmone des linken Oberschenkels. Da müssen wir weit ausschälen. Eine konservative Behandlung ist da nicht mehr möglich. Der Knabe liegt um 9 Uhr auf dem Tisch.«

«Simpson, ich bin ein durchtrainierter Kerl und habe heute gestrichen die Schnauze voll. Sie sind ein Wrack und sind nicht kleinzukriegen. Wie schaffen Sie das?«

«Es sind zwölf Kisten mit Whisky angekommen«, sagte Dr. Simpson fröhlich.

«Aldi!«Dr. Mohr starrte den ausgelaugten Arzt an.»Wieviel haben Sie bereits gesoffen?«

«Genau eine halbe Flasche! Chef. meckern Sie nicht! Kein Motor läuft ohne Sprit und Öl! Betrachten Sie mich als einen Motor, dann hat alles seine Richtigkeit!«

«Wenn bei der Operation Ihre Hände zittern, jage ich Sie zum Teufel!«

«Sie werden zittern, wenn ich nicht saufe!«Dr. Simpson gähnte mit weit offenem Mund.»Da haben Sie's! Ihr verdammtes Antialkohol-Geschwätz erzeugt bei mir Müdigkeit! Sie werden sehen: Morgen früh jongliere ich mit dem chirurgischen Besteck wie Rastelli! Der konnte es mit sieben Bällen, ich kann es mit zehn Venenklemmen.«

Dr. Mohr war zu erschöpft, um mit Dr. Simpson wieder in eine Auseinandersetzung zu geraten. Er winkte nur ab und verließ, auf Margarita gestützt, den OP.

Sein Wohntrakt war noch nicht fertig. Er schlief nach wie vor bei den Pebas in einer Nebenhöhle, aber ab heute lag Margarita neben ihm, nicht als Geliebte, sondern von ihm getrennt, in eine Decke gewickelt. Aber sie lag an seiner Seite, sie demonstrierte, daß sie zu ihm gehörte. Wenn sie die Hand ausstreckte, konnte sie ihn berühren, und das genügte ihr. Viel Trotz war dabei. Der Wille, erwachsen zu sein. Eine Frau.

Irgendwann in dieser Nacht stand Adolfo Pebas vor ihnen und blickte auf die beiden Schlafenden hinunter. Er schlug ein Kreuz über seine Tochter, seufzte verhalten und tappte zurück in seine große Wohnhöhle.

Zwei Tage lang geschah genau das, was Dr. Simpson prophezeit hatte: Eine wahre Völkerwanderung setzte ein, nachdem sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, daß das Hospital geöffnet sei.

Was an Krankheiten zu Dr. Mohr gebracht wurde, war unvorstellbar.»Davon kann eine Universitätsklinik leben«, sagte er zu Simpson.»Wir müssen sehen, daß wir so schnell wie möglich voll fankti-onstüchtig werden.«

Die Männer von der >Burg< packten weiter die Kisten aus, stellten die Betten auf, bauten Regale und Schränke zusammen, zogen Leitungen von dem Generator in den Raum, wo das Röntgengerät stehen sollte, und montierten nach der beiliegenden Anleitung das Narkosegerät zusammen, während die beiden Ärzte untersuchten, injizierten, verbanden oder gar operierten. Das geschah noch mit Äther. Der süßliche, widerliche Geruch wälzte sich über das ganze Felsplateau und über die Menge der vor dem Hospital Wartenden.

Es zeigte sich, daß Novarra nicht übertrieben hatte: Die Männer aus der >Burg< setzten sich aus vielen Fachleuten zusammen. Elektriker waren dabei, Monteure, sogar zwei Ingenieure, die sich um das Röntgengerät kümmerten, als hätten sie nichts anderes getan, Schreiner und Klempner und sogar ein ehemaliger Radiotechniker, der sich mit dem Narkosegerät auseinandersetzte und es tatsächlich einsatzbereit machte.

In den wenigen Pausen kümmerte sich Dr. Mohr um die Einrichtung der Apotheke und des Ambulanzzimmers, packte die Medikamente aus und sortierte sie nach Gruppen. Ab und zu kam auch Pater Cristobal herüber und machte sich nützlich. Er räumte die Schränke ein, trug die Matratzen herum und half beim Einsetzen der Fenster.

«Noch eine Woche, Pete«, sagte er und rieb sich die Hände,»dann ist beides fertig: das Hospital und die Kirche.«

«Und ich auch!«Dr. Mohr rauchte nervös eine Zigarette. Er stand in seinem Ordinationszimmer, in dem man bereits die wachstuchbezogene Liege, einen Schreibtisch, zwei Schränke, eine Waage, eine Meßlatte und einen ganz modernen Blutdruckmesser aufgebaut hatte. Dafür fehlten noch die Türen und die Fenster. Die Wände stanken nach Holzbeize.»Du mußt mir helfen, Cris.«

«Sag, was ich tun soll.«

«Ab morgen muß ich Nummern ausgeben. Simpson behauptet, das gäbe dann einen Massenmord, weil jeder die niedrigeren Nummern haben will. Aber anders geht es nicht mehr. Sie streiten sich schon jetzt, wer zuerst da war, und schlagen aufeinander ein. Du mußt Ordnung in die Wartenden bringen. Ich kann mich darum nicht auch noch kümmern.«

«Ich werde die Kirche zum Wartesaal machen«, sagte Pater Cristobal ernst.»Vor dem Kreuz wird keiner morden.«

«Warten wir es ab. «Dr. Mohr zertrat seine Zigarette.»Thomas Bek-kett ist vor dem Altar erschlagen worden.«

Am dritten Tag war plötzlich Stille. Das Plateau war wie leergefegt. Kein Kranker, keine Wartenden, keine Verwundeten. Auch die Männer aus der >Burg< fehlten. Dafür erschien auf einem schweißnassen Muli ein Guaquero und trommelte Dr. Mohr aus dem Schlaf.

«Sie kommen!«schrie der Schürfer.»In vier Stunden müssen sie hier sein! Wir können sie nicht aufhalten, unmöglich. Es ist ein ganzes Bataillon.«

Dr. Mohr schnellte aus den Decken empor.»Wer kommt?«rief er.

«Militär! Aus Muzo! Mit Kanonen und schweren Maschinengewehren! Sie gehen vor wie im Krieg: Spähtrupps, dann eine starke Spitze, dann die Masse. Ein Mist ist das! Das haben wir nur Ihnen zu verdanken! Jetzt können wir uns wie Ratten verkriechen.«

Er spuckte auf den Boden, warf sich herum und rannte davon. Wenig später hörte Dr. Mohr, wie sein Muli weggaloppierte.

Dr. Simpson war in vollem Aufbruch, als Mohr, halbangezogen, nach draußen stürzte. Auf drei Mulis verlud Simpson sein Zelt und vor allem seinen Minenwerfer.

«Was soll das, Aldi?«rief Mohr.»Ihnen tut doch keiner etwas!«

«Und das hier?«Simpson klopfte auf das Rohr des Werfers.»Und mein Name? Gäbe das einen Jubel, wenn die Uniformröcke den alten Simpson an die Leine nehmen könnten! Ich stehe auf allen Listen, Chef!«

«Wo wollen Sie denn hin?«

«In die >Burg<. Dort haben sie bereits den Kriegszustand ausgerufen.«

«Das ist ja idiotisch! Es gibt doch gar keine Chance.«

«Richtig! Das Militär wird sich die Zähne ausbeißen! Wenn sie die >Burg< stürmen wollen. Prost, ihr Heiligen! Sie werden sich vorkommen wie auf einem Schlachthof.«

Er verschnürte weiter seine Habe auf Mulis und zeigte auf Dr. Novarra, der mit zwei düster blickenden Männern gerade um die Felsenecke bog. Dr. Mohr strich sich die Haare aus der Stirn und ging ihnen entgegen. Der frühe Tag war noch bleich. Ein Himmel, den die Sonne noch nicht färbte. Das Licht glitt wie hinter dicken, grauen Scheiben über das Gebirge.

«Was ich befürchtet habe«, sagte Dr. Novarra dunkel.»Ein friedlicher Aufbau… es wäre zu schön gewesen. Jetzt kommt das Militär, um Ihnen zu helfen und uns zu jagen! Viel Blut wird fließen.«

«Ich werde es verhindern!«

«Sie, Doctor? Dann kennen Sie nicht den Ehrgeiz der Offiziere. Da spielt jetzt zweierlei eine große Rolle: Erstens der Ruhm, möglichst viele Vogelfreie eingefangen oder getötet zu haben, und zweitens die Beute an Smaragden, die natürlich in keinem Bericht erwähnt werden wird und die in die eigene Tasche fließt! Das ist ein Doppelanreiz: Plünderung unter staatlichem Schutz! — Da können Sie gar nichts erreichen mit Ihrem ärztlichen Edelmut! Sie werden eine Ohrfeige bekommen und in eine Ecke gesetzt werden. Oder haben Sie schon gehört, daß einmal in Marschtritt gesetzte Offiziere sich von einem Zivilisten aufhalten lassen?! Das gibt's in keiner Armee — wie sollte das hier in den Kordilleren möglich sein?«Dr. Novarra reichte Dr. Mohr die Hand hin.»Schade, Doctor. Wir hatten beide nur das Beste im Sinn, jetzt wird wieder alles vernichtet. Leben Sie wohl.«

«Ramon, das klingt wie ein Abschied.«

«Er ist es auch! Wie die Sache auch ausläuft, Sie müssen mit dem Militär zurückziehen nach Muzo. Hier können Sie nicht mehr bleiben. Jeden vergossenen Blutstropfen wird man Ihnen anlasten! Sie haben das Militär hierher gelockt. Nicht bewußt, aber doch, indem Sie hierher gekommen sind! Wir werden uns nicht wiedersehen. Und wenn Sie wirklich den Irrsinn begehen und hier bleiben, dann kann ich Sie auch nicht mehr schützen!«

«Ich schlage in Ihre Hand nicht ein, Novarra«, sagte Dr. Mohr heiser.»Wir sind doch Freunde geworden! Was hätte ich ohne Sie erreicht? Von diesem Hospital stände vielleicht erst eine Wand.«

«Vielleicht wäre das besser gewesen. Glauben Sie mir, Doctor, es ist klüger, sich an das Militär anzuschließen. Das ist auch die Ansicht von Jose Bandilla.«

«Unmöglich.«

«Wenn er ehrlich sein sollte, das hatte ich vergessen, hinzuzusetzen. Sie haben ihn ja hochgepäppelt. Sie werden ihn auch heilen. Und dann? Bandilla weiß genau, was Sie mit ihm vorhaben… er wird Sie deshalb sofort liquidieren, wenn Sie ihm sagen: Jetzt sind Sie gesund! Dankbarkeit? Mit welchen Utopien rechnen Sie eigentlich?«Novarra hielt wieder seine Hand hin.»Von Ihrem medizinischen Ethos aus betrachtet, ist Ihre Hilfe eine gottgewollte Tat. In Wirklichkeit heilen Sie Ihre Mörder! Ich weiß, daß Sie das nie begreifen werden. Daß das alles nicht in Ihr Menschenbild paßt. Darum: Wenn das Militär hier seine blutige Spur hinterlassen hat, ziehen Sie mit den Soldaten weg!«

«Und Sie?«

«Wir haben die >Burg< in den Verteidigungsstand gesetzt. Sie ist uneinnehmbar, man könnte uns nur aushungern. Aber dazu haben die Soldaten keine Zeit. Wir werden überleben. Aber die anderen Guaqueros, die armen Hunde, die in ihren Hütten und Höhlen hausen. Man wird Sie verfluchen, Doctor — «

«Ich habe das Militär nicht gerufen!«schrie Dr. Mohr.

«Das wissen wir alle! Aber es kommt Ihretwegen. Wo ist da ein Unterschied? Die Wirkung ist die gleiche. «Novarra machte eine weite Armbewegung.»Wo sind Ihre Patienten? Leergefegt alles! Brauchen Sie noch mehr Überzeugung? — Also, leben Sie wohl!«

«Auf Wiedersehen, Novarra.«

«Hoffentlich nicht.«

Dr. Novarra wandte sich ab und ging zu den abseits wartenden zwei Männern zurück. Kurz vorher drehte er sich noch einmal um. Dr. Mohr stand noch da, wo er ihn verlassen hatte. In Hemd und Hose, mit zerwühlten Haaren, einsames Denkmal verfluchter Menschenliebe. Die jetzt rotgold am Himmel schwimmende Morgensonne umgab ihn mit einem unwirklichen Glanz.

«Vergessen Sie uns nicht!«sagte Novarra gepreßt.»Ich war jedenfalls froh, einem Menschen wie Ihnen begegnet zu sein.«

Dr. Mohr erwartete das Militär in seinem halbfertigen Hospital. Er war von Bett zu Bett gegangen und hatte die Kranken und Frischoperierten, die nicht weglaufen konnten, mit Beteuerungen zu beschwichtigen versucht. Die Gehfähigen waren schon verschwunden, kaum daß die Nachricht vom Anrücken des Bataillons sie erreicht hatte.

«Niemand wird euch etwas tun!«sagte er zu den Bettlägerigen.»Ich verbürge mich dafür. Keiner wird euch anfassen. Ich stehe euch bei.«

«Man wird Sie einfach umhauen, Doctor«, sagte ein alter Mann mit einem offenen Magengeschwür.»Und uns werden sie in den Betten erschießen.«

Pater Cristobal, von Miguel alarmiert, der sich verabschiedete und mit seinem Muli wegritt, versuchte ebenfalls, Hoffnung und Glauben an das Gute zu verbreiten. Um dem Nachdruck zu verleihen, hatte er seine Maschinenpistole um den Hals gehängt. Es war ein seltener Anblick: Ein Mann in Soutane, das Birett auf dem Kopf, um die Schulter die Stola gelegt, betete an den Betten und hatte dabei die Hände über einer MPi gefaltet.

Im OP standen Margarita und Maria Dolores in ihrer Schwesterntracht. Adolfo Pebas hatte sich die Gummischürze von Miguel umgebunden.»Versuch es!«hatte Miguel zu ihm gesagt.»Vielleicht hilft sie dir. Bei mir ist das ausgeschlossen. Ich bin zu bekannt, du weißt ja. Ich komme wieder, wenn alles vorbei ist.«

Zwei Stunden später hörten sie auf dem Plateau von weitem die ersten Schüsse. Dann knatterte es in der Luft. Ein Hubschrauber überflog die Gegend, drehte ab, kam zurück und kreiste über dem Hospital und der Kirche. Pater Cristobal sah deutlich, wie der Pilot in der Glaskanzel in sein Mikrofon sprach und die Soldaten zu dem Plateau lenkte.

Mit dem Spähtrupp, also als erster, erreichte Major Luis Gomez die einsame Schlucht und stieg den Hohlweg hinauf. Er sah die Herde der über 170 Mulis in der Niederung weiden und atmete auf. Der Transport ist also angekommen, dachte er. Meine Befürchtungen waren umsonst. Ein Glück haben die Kerle! Wäre der Transport nicht angekommen, ich hätte jeden, bei dem ich auch nur eine Spritze gefunden hätte, an die Wand gestellt.

Dr. Mohr und Pater Cristobal standen in dem Bettensaal, als Major Gomez das Hospital betrat. Daß um ihn herum alles still war, wie ausgestorben, wunderte ihn nicht. Wohin er bisher gekommen, war es nicht anders gewesen. Sein Ruf, entgegen seiner Vorgänger unbestechlich zu sein, weder mit Smaragden noch mit Mädchen, fegte die Plätze leer.

Gomez ließ das Plateau absichern, brachte zwei MGs in Stellung und betrat dann mit ausgestreckten Händen und breitem Grinsen das Ziel seiner militärischen Aktion.

«Freunde!«rief er begeistert, als er Dr. Mohr und den Pater sah.»Welch ein Wiedersehen! Nach so langer Zeit! Madonna, was ist alles passiert in diesen Wochen! Das werden wir feiern!«

Er rannte auf die beiden zu, umarmte die beiden, drückte ihnen Küsse auf die Wangen und klopfte ihnen die Schultern. Dann drehte er sich um, überblickte die lange Bettenreihe und klatschte in die Hände.»Welch eine Galerie von Halunken! Mindestens 500 Jahre Gefängnis vereint! So etwas sieht man selten! Pater, wie sehen Sie denn aus? Muß man hier das Wort Gottes mit der MPi predigen? Solche Kerle sind das? Ich bewundere Sie beide.«

«Das sind Patienten, Major!«sagte Dr. Mohr. Die freudige Begrüßung ließ ihn aufatmen und neue Hoffnung sehen.»Sie sind unantastbar.«

Major Gomez zog das Kinn an. Der berühmte Feldherrnblick sprang in seine Augen.»Verhören muß ich sie! Sind Kerle aus der >Burg< darunter?«

«Ich unterstehe der Schweigepflicht, Major.«

«Darum bin ich jetzt hier! Ich werde die >Burg< stürmen und endlich diese Pestbeule ausbrennen!«Draußen hörte man, wie das Gros des Bataillons heranmarschierte. Hunderte Stiefel knirschten über den Boden. Kommandos ertönten. Mulis schrien.

«Ich betrachte Sie als meinen Gast, Major«, sagte Dr. Mohr ruhig.»Wir alle stehen hier, einen alten Freund zu empfangen, keinen Feind, der vernichten will. Ich bitte Sie um Frieden.«

In Dr. Mohrs Ordinationszimmer war der Tisch gedeckt. Adolfo Pebas hatte drei Metalltische zusammengeschoben, ein Bettuch darüber gebreitet und das Geschirr aufgestellt, das Don Camargo mitgeschickt hatte: Steingutschüsseln, flache Teller und Becher. Über einem offenen Feuer, vor dem noch fehlenden Fenster, bruzzelte ein Lamm. Der Duft zog aufreizend durch das ganze Hospital, als Dr. Mohr die Tür, die gerade einen Tag alt war, aufstieß.

Major Gomez blieb verblüfft stehen. Sein Blick fiel auf die beiden Frauen in Schwesterntracht. Pebas, mit seiner OP-Gummischürze, begoß aus dem Fenster heraus den Braten.

«Träume ich?«fragte Gomez.»Freunde, wo bin ich denn hier? Schwestern! Richtige Schwestern! Das gibt's doch gar nicht! Schwester Maria Dolores und Schwester Margarita.«

Gomez, als galanter Spanienabkömmling, begrüßte die beiden Frauen mit einem Handkuß, ahnungslos, wem er diese Ehre zuteil werden ließ. Pebas, der am Fenster stand, beobachtete die Szene und vergaß vor Entgeisterung, daß er so wenig wie möglich auffallen sollte. Ein Offizier küßt Maria Dolores Pebas die Hand. Das gilt als das unverschämteste Märchen, wenn man es später jemandem erzählt. Für solch dickaufgetragene Lügen kann man Prügel bekommen. Aber es war Tatsache! Maria Dolores lächelte sogar dabei, als habe man ihr zeit ihres Lebens nur die Hände geküßt.

«Auch von Don Camargo exportiert?«fragte Gomez.

«Nein, selbst angelernt, Major«, sagte Dr. Mohr.

«Und das alles in so kurzer Zeit? Doctor, pfuschen Sie Gott nicht ins Handwerk und spielen Sie Schöpfer! Lassen Sie dem Pater auch noch etwas übrig!«Er lachte dröhnend, setzte sich an den Tisch und schwieg, weil der Hubschrauber wieder sehr tief über sie hinwegknatterte.

Ein junger Leutnant kam herein und knallte die Hacken zusammen.»Das Bataillon ist vollzählig eingetroffen!«meldete er.

Gomez winkte ab.»Lassen Sie biwakieren! Wachen im Umkreis. Spähtrupps nach allen Seiten. Absicherung. In einer Stunde Offiziersbesprechung.«

Der Leutnant wiederholte die Befehle und ging hinaus. Major Gomez sah zu Dr. Mohr hinauf. Er erwartete eine Anerkennung.

«Zufrieden? Ich hätte auch den Weitermarsch zur >Burg< befehlen können.«

«Ohne die Männer aus der >Burg< wäre ich gescheitert, Major. Das weiß ich jetzt. Man kann mit schönen Worten keine Bäume fällen oder Steine zerklopfen. Hospital und Kirche sind ihr Werk.«

«Das hat sich sogar bis Muzo herumgesprochen. Wir haben alle die Maulsperre vor Staunen bekommen. Hospital, na gut, davon profitieren auch diese Kerle. Aber die Kirche! Was wollen die Halunken mit Gottes Wort?«

«Sich erholen«, sagte Pater Cristobal.»Ich habe nie eine gläubigere Gemeinde gehabt als hier in den Bergen.«

Pebas beugte sich aus dem Fenster, schnitt das Lamm an, probierte und meldete mit verstellter Stimme, als kenne man seine richtige Stimme und sie gehöre zu seinem Steckbrief:»Das Lämmchen ist gar.«

Pater Cristobal setzte sich. Er legte die Maschinenpistole neben sich auf den Tisch, als gehöre sie zum Besteck. Gomez schielte zu ihr hinüber und sah, daß sie schußbereit war.

«Pater, Sie trauen den Lämmern aber nicht besonders«, sagte er säuerlich.»Sind sie wirklich so zäh, daß man sie auseinanderschießen muß? Oder wird aus dem Weihwasserwedeln in den Bergen eine MPi?«

«So ist es, Major. «Der Pater lächelte freundlich.»Es gibt Situationen, in denen Gott sich daran erinnert, die Mauern von Jericho umgeblasen zu haben.«

«Der hatte es gut. «Gomez betrachtete mit kauendem Unterkiefer das Stück Lamm, das ihm Margarita servierte.»Er stieß ins Horn, und schon hatte er gesiegt. Ich wünschte, auf diese Art könnte man an die >Burg< heran!«Er schnitt ein Stück Braten ab, kaute genußvoll und nickte zufrieden, als Pebas ihm Wein einschenkte.»Doctor, stimmt es, was man munkelt? In der >Burg< soll sich Jose Ban-dilla verborgen halten?«

«Ich kenne keinen Bandilla. «Dr. Mohr bekam seinen Braten und schnitt ihn an. Woher weiß er das, grübelte er dabei. Wie konnte das nach außen dringen? Wer wurde hier zum Verräter? Novarra selbst? Aus Angst vor einem gesunden Bandilla? Das war unlogisch, denn damit lockte der ja seinen eigenen Untergang herbei. Wo also war hier eine Lücke in der >Burg

Gomez kaute mit vollen Backen.»Sie kennen Bandilla nicht? Sie auch nicht, Pater? Haben Sie die Politik der letzten Jahre verschlafen?«

«Ich war im Ausland«, gab Dr. Mohr zu bedenken.

«Ach ja. Vergaß ich, Doctor. Und Sie, Pater, hören im Kloster nur die Glocken läuten, was? — Bandilla ist momentan Staatsfeind Nummer eins! War plötzlich spurlos verschwunden. «Er sah Dr. Mohr forschend an.»Sie wissen wirklich nichts, Pete?«

«Die Männer aus der >Burg< haben mein Hospital gebaut, aber keine Politik mit mir getrieben.«

«Sie waren nicht in der >Burg

«Nein!! Soweit geht unsere Freundschaft nicht. Die Männer kamen am Morgen und gingen am Abend. Ich kenne nicht einmal einen einzigen Namen von ihnen.«

«Eine Bande, sage ich Ihnen, eine Bande! Ich habe die Berichte meiner Vorgänger gelesen. Haarsträubend! Es sollte mich nicht wundern, wenn Bandilla wirklich bei ihnen untergekrochen ist. Ein besseres Versteck kann er sich nicht suchen.«

Am Abend loderten die Lagerfeuer auf dem Plateau, in der Schlucht und im Hohlweg. Pater Cristobal gab einen Militärgottesdienst. Zwei Sanitätsgefreite sprangen als Meßdiener ein, der fast blinde alte Pepe Garcia hockte hinter dem Altar und spielte auf einer alten Mund-harmonika die Kirchenlieder, so wie er sie noch im Gedächtnis hatte. Es war nicht mehr viel Erinnerung, die Lieder klangen mehr nach einem Tänzchen.

In der Nacht schlich Pebas zur >Burg<. Er umging die Wachen und Patrouillen. Auf halber Höhe, an den Felsen entlang, auf einem Pfad, der kaum einen halben Meter breit war, kroch er ins Nebental. Dort stieß er auf die Posten der >Burg<.

«Wenn das stimmt«, sagte Novarra und blickte Pebas böse an. Er war aus dem ersten Verteidigungsring herausgekommen und saß mit Pebas auf einem Steinhaufen.»Wenn das wirklich stimmt.«

«Du kannst mich zerhacken.«

«Man sagt über seine Schwiegersöhne oft nur Gutes, selbst wenn es nach Dreck stinkt!«

«Warum sollte ich? Wäre das ein Grund, unter Lebensgefahr hierher zu kommen?«

«Das ist logisch. «Dr. Novarra strich mit gespreizten Fingern durch seinen Bart.»Fassen wir zusammen: Major Gomez wird uns nicht angreifen. Er wird morgen wieder abziehen und die 170 Mulis nach Penasblancas zurückbringen. Dort wird er sich Christus Revaila und seine Privatarmee kaufen. Er wird auch >Mamas< Etablissement ausräuchern, den Laden auflösen und die Mädchen entweder nach Bogota transportieren oder nach Muzo. Perdita Pebas soll zu dir geschafft werden.«

«So ist es. «Pebas nickte.»Ich werde sie erschlagen, wenn sie ankommt.«

«Du wirst weinen vor Freude und Glück, du sturer Bock! Weiter: Das Militär wird die Straße offen halten und Transporte ungehindert in die Berge lassen. Die überall lauernden Aufkäufer der Smaragdhändler werden kassiert. Die Macht von Don Camargo wird so an der Wurzel gebrochen. Pebas, das sind Phantastereien! Das ist nie durchführbar! Weißt du, was geschieht? Camargo wird einen Minister zum Abendessen einladen. Dann wird man Major Gomez zum Oberstleutnant befördern und zum Kommandanten irgendeines Militärstützpunktes ernennen. Weg ist der unbequeme Mann aus Muzo. Sein Nachfolger wird wieder hinter dem Rücken die Hand offen halten, und alles bleibt beim alten! Solange es grüne Steine gibt, so lange sind die verflucht, die sie ausgraben!«

«Warten wir es ab. Wenn Gomez die >Burg< nicht angreift.«

«.dann wird der Doctor zu einem Heiligen«, unterbrach Novarra.»Er wird der mächtigste Mann in den Bergen werden. Eine Sagengestalt.«

«Bis Bandilla gesund wird«, sagte Pebas dunkel.»Und der Doctor macht ihn gesund. So dämlich ist er!«

«So ehrgeizig. «Dr. Novarra erhob sich und gab Pebas die Hand.

«Wir werden uns bald entscheiden müssen, wer wichtiger für uns ist: Bandilla oder Dr. Morero.«

«Das ist keine Frage mehr. «Pebas zog wie frierend die Schultern nach vorn.»Bandilla war ja bereits für alle tot.«

Novarra nickte. Man hatte die gleichen Gedanken. Es wäre Selbstmord, wenn hier die Menschlichkeit über die kalte Vernunft siegte.

Gomez griff die >Burg< nicht an.

Aber er ließ es sich nicht nehmen, sie zu besichtigen. Allein mit Dr. Mohr ritt er auf einem Muli in das Nebental und stand dann vor dem hohen Steinwall, der das geheimnisvolle Felsenlabyrinth umgab. Dr. Novarra hatte alle Posten zurückgezogen. Er ließ Major Gomez die Freude, ein unerreichbares Ziel zu betrachten.

«Man könnte mit Artillerie die Bude sturmreif schießen«, sagte Gomez leise, als halle in der Stille um sie herum seine Stimme wie durch einen Lautsprecher.»Mit Raketen ist das kein Problem. Und Raketenwerfer bekomme ich bis hier herauf.«

«Major. «Dr. Mohr lächelte mahnend.»Wir wollten uns nur den Naturschönheiten hingeben.«

«Tue ich ja. «Gomez grinste.»Meine Liebe gehört der Gartenarchitektur. Ich gestalte gern um. Mich stört zum Beispiel der Steinwall da. Er ist nicht natürlich gewachsen wie der Fels. Wenn man ihn wegsprengt, ist die Natur wieder sauber.«

«Was hätten Sie in Muzo davon?«

«Da haben Sie wieder recht, Doctor. «Gomez lehnte sich an sein Muli, das geduldig und reglos hinter ihm stand und wartete.»Sie verlangen viel, wissen Sie das?«

«Wieso?«

«Jeden Offizier reizt die Einnahme einer angeblich uneinnehmbaren Festung. Militärisch gesehen gibt es keine uneinnehmbaren Stellungen. Dafür gibt es aus dem letzten Weltkrieg massenhaft Beispiele. Die Maginot-Linie, der Westwall, der Atlantikwall, die Alpenfestung. lauter legendäre Stellungen, die butterweich wurden, als man sie richtig nahm.«

«Vergessen Sie die >Burg<, Gomez. Sie und ihr Bataillon sind weit weg in Muzo, aber diese Männer sind neben mir. Ich brauche sie. Sie schützen mich. Das können Sie nicht, Major.«

«Zugegeben, das ist auch der einzige Grund, warum ich plötzlich unmilitärisch denke. Eine verrückte Lage: Gesuchte Halunken bauen ein Hospital und bekommen dafür einen Strafaufschub! Das darf man gar nicht laut sagen! Aber mehr ist es nicht, Pete, das muß ich Ihnen ganz klar sagen: Nur ein Aufschub! Keine Generalamnestie! Heute bin ich nur gekommen, um zu sehen, ob der Krankenhaustransport bei Ihnen gelandet ist. Er ist es — also rücke ich morgen wieder ab und schnappe mir auf dem Rückweg einige kleine Gauner! Als billigen Ersatz. Aber ich komme wieder, muß wiederkommen, denn ich habe meinen Auftrag!«

«Melden Sie sich bitte frühzeitig an, Major. Ja?«

«Sie verdammter Seelenmasseur!«

«Nur wegen des Bratens. Das nächstemal braten wir einen jungen Ochsen am Spieß. Diesmal mußte alles so schnell gehen.«

«Hätte ich Sie doch nie getroffen, Doctor!«Major Gomez kletterte auf sein Muli und blickte zur >Burg< zurück. Er wußte, daß viele Augen ihn beobachteten.»Was passiert, wenn ich näher heranreite?«fragte er.

«Nichts! Sie sind ja allein.«

«Das da vorn sieht aus wie ein Todesstreifen.«

«Es ist auch einer. Wenn mehr als drei Mann ihn betreten, gibt es drei Gräber mehr.«

«Und keinen sieht man! Eine phantastische Tarnung. Wer führt die Bande an?«

«Keine Ahnung«, sagte Dr. Mohr. Es kam ihm glatt von den Lippen.»Ich habe ja schon erwähnt: Namen nennt keiner. Die Männer arbeiten stumm, wie Roboter. Manchmal ist es unheimlich.«

Gomez konnte das nachfühlen. Er gab seinem Muli einen Hak-kentritt und ritt langsam an. Dr. Mohr folgte ihm. Irgendwo in den zerklüfteten Felsen hockte Dr. Novarra und blickte ihnen nach. Ganz fern, vom Plateau her, ertönten Trompetensignale. Das Bataillon sammelte sich zum Abmarsch.

«Er hat es tatsächlich erreicht«, sagte Dr. Novarra und atmete auf.»Jetzt haben wir bei ihm eine Schuld, die wir nie bezahlen können. «Er räusperte sich und blickte sich um.»Was wird nun aus Jose Bandilla?«

Drei Wochen dauerte es noch, bis das Hospital auch nach Ansicht Dr. Mohrs voll funktionsfähig war. Die Türen und Fenster waren eingesetzt, die einzelnen Abteilungen eingerichtet. Im Laborraum glänzten auf zwei langen Tischen die Glaskolben, Reagenzgläser, zwei Mikroskope und andere technische Geräte; im Röntgenraum war der Apparat endlich aufgebaut, im abgedunkelten Entwicklungsraum war alles zum Einsatz bereit. Der OP hatte jetzt alle Einrichtungen, die man für mittelgroße Operationen brauchte, aber wie man Dr. Mohr jetzt kannte, genügte das für ihn vollauf, um auch große Chirurgie zu betreiben. Das Narkosegerät arbeitete ebenfalls. Der erste Patient war ein Hund, dem Simpson eine Kugel aus dem Rücken operierte. Ein Nachbar, der sich von dem Gebell belästigt fühlte, hatte dem Kläffer drei Schüsse zugedacht, von denen einer traf. Der vierte Schuß erfolgte vom Hundebesitzer, und den überlebte der Nachbar nicht.

Alltag in den Bergen oberhalb Penasblancas.

Der Hund überstand die Narkose ausgezeichnet. Dr. Simpson meldete das sofort Dr. Mohr, der nebenan in der Ambulanz die Patienten wie auf einem Fließband an sich vorbeiziehen ließ. Viele wurden sofort in einen anderen Raum umgeleitet, wo Margarita selbständig intramuskuläre Injektionen verabreichte. Dr. Mohr hatte mit ihr geübt, und zwar nach Guaquero-Art. Vor 14 Tagen war ein Mann eingeliefert worden, der genau zwölf Schüsse im Körper hatte. Drei davon waren unbehandelbar, und nach sieben Stunden starb der Mann, der natürlich wie alle keinen Namen hatte. An diesem Toten, der später nackt auf einer Trage lag, übte Margarita das Setzen von Spritzen.

Sie lernte schnell. Ihre Hand zitterte nicht, als sie die erste Injektion in den Oberschenkel machte. Den Anblick von Toten war sie von Kind an gewöhnt. Tage später spritzte sie unter Aufsicht von Dr. Simpson, der begeistert war.»Sie ist die geborene Krankenschwester!«sagte er zu Dr. Mohr.»Seit zwei Tagen übe ich mit ihr intravenöse Injektionen.«

«Sind Sie verrückt, Aldi? An wem denn?«

«Da liegen ein paar Burschen, denen ein paar Hämatome mehr oder weniger nichts ausmachen! Und wenn sie eine Luftembolie kriegen… schade ist's auch nicht um sie.«

«Dr. Simpson, ich hätte große Lust, Sie rauszuschmeißen. Zünftig, mit einem Tritt in den Hintern! Auch um Sie ist es nicht schade!«

Simpson nickte schwer, war beleidigt und trollte sich.»Da will man der Menschheit helfen, und was erntet man statt Dank: Drohungen! Nicht einmal aus Kummer einen saufen darf man!«

Der erste Röntgenpatient war ein komplizierter Unterschenkelbruch, ein Splitterbruch. Da es ein Mann aus der >Burg< war, kam Dr. Novarra mit. Begeistert hielt er die Röntgenaufnahme in den Händen und hielt sie gegen das Licht. Deutlich war der zersplitterte Knochen zu sehen.

«So etwas mitten in der Wildnis!«sagte Novarra und gab die Röntgenplatte zurück.»Und keiner weiß etwas davon! Für jeden Politi-kerfarz gibt es Orden und Auszeichnungen, aber ein Mensch wie Sie, Dr. Morero, bleibt unbekannt. Ihr Name müßte sichtbar für alle Welt an den Himmel geschrieben werden. Übrigens: Bandilla geht es saumäßig.«

Dr. Mohr warf die Platte auf den Tisch.»Aber wieso denn? Vor drei Tagen lief er doch herum, noch sehr wacklig, aber er ging aufrecht und war bester Laune.«

«Er kotzt Galle und Blut.«

«Seit wann?«

«Seit drei Tagen. Am Abend nach Ihrem letzten Besuch fing es an.«

«Und das sagen Sie mir erst heute? Sofort zu mir mit Bandilla! Da kann ein Magengeschwür durchgebrochen sein.«

«Bandilla ist nicht mehr transportfähig«, sagte Novarra verschlossen.

«Das können Sie beurteilen?«

«Ja!«Novarras Gesicht war hart geworden.»Bandilla ist vielleicht jetzt schon tot.«

«Novarra, Sie.«

«Er wollte keinen Arzt mehr.«

«Das ist nicht wahr! Er freute sich immer, wenn ich kam!«

«Aber vorgestern, als ich Sie rufen wollte, resignierte er. >Keine Qualen mehr<, sagte er. >Ich fühle es… es ist umsonst.< Und wie er aussah, was er alles ausbrach — man mußte ihm recht geben! Medizin sollte helfen und heilen, aber nicht unnötig quälen, wo keine Hoffnung mehr ist!«

«Novarra, was sind Sie für ein Mensch!«Dr. Mohr setzte sich auf die Schreibtischkante. Der Bärtige ging zum Fenster, drehte Mohr den breiten Rücken zu und starrte hinaus. An der Kirche wurde noch gearbeitet. Die letzten Stellen des Daches wurden mit Holzbrettern und flachen, ziegelartigen Steinen gedeckt.»Sie entscheiden über ein Leben ohne jegliche medizinische Kenntnis.«

Ich brauche keine Kenntnis der Medizin, dachte Novarra. Ich weiß, daß es für Bandilla keine Rettung mehr gibt. Seit er wieder feste Nahrung zu sich nimmt, mischt man ihm fein zerstoßenes Glas unter das Gemüse. Das reißt die Magenwände auf. In diesem Stadium ist nichts mehr zu machen, Dr. Morero. Auch Sie können keinen ganzen Magen herausnehmen und die Speiseröhre direkt mit dem Darm verbinden. Im Prinzip ist das natürlich schon möglich, aber nicht hier, in den Felsen zwischen Penasblancas und Muzo. Doch das brauchen Sie nicht zu wissen, Dr. Morero! Sie würden nur wieder sagen: Das ist Mord! Und man hätte große Mühe, Sie davon zu überzeugen, daß wir eben gerade damit einen Mord verhindern wollen. Den Mord an Ihnen. Bandillas Dank! Es hat keinen Sinn, einem Mann gegenüber ein Gewissen zu haben, wenn dieser gar nicht weiß, was Gewissen ist! Natürlich, Doctor, mir ist bekannt, daß Sie eine andere Moral haben! — Aber wir leben nicht in einer geordneten Welt, sondern am Rande der Hölle. Wir haben hier unsere eigene Moral. Ich sage es Ihnen immer wieder, Doctor, aber Sie wehren sich gegen diese schaurige Wahrheit! Also müssen wir handeln ohne ihren Ehrenkodex.

«Ich warte darauf, daß die Nachricht von Bandillas Tod kommt«, sagte Dr. Novarra laut gegen das Fenster.

«Ich bestehe darauf, ihn zu obduzieren!«rief Dr. Mohr.

«Abgelehnt.«

«Ich muß die Todesursache wissen!«

«Herzversagen. Das stimmt immer. Der Tod ist ein Herzversagen. Können Sie das widerlegen?«

«Sie haben Bandilla umbringen lassen, Novarra!«

«Ich gestatte Ihnen, den Körper nach Schußverletzungen zu untersuchen.«

«Vergiftet!«

«Sind wir Weiber? Giftmorde sind Frauenprivilegien!«

«Aber irgend etwas stimmt doch da nicht! Bandilla stirbt nicht eines natürlichen Todes.«

«Er liegt brav im Bett! Auch erhängen tun wir ihn nicht! Oder erdrosseln. Oder ersäufen. Er stirbt als braver Mann unter der Bettdecke. Doctor, Sie haben alles getan, was möglich war. Aber die Medizin hat ihre Grenzen, das wissen Sie genau. Bandilla liegt hinter dieser Grenze. Tröstet Sie das?«

«Nein!«Dr. Mohr nahm das Röntgenbild. Im OP wartete der Splitterbruch auf die Behandlung. Dr. Simpson verkürzte die Wartezeit, indem er dem Schürfer eine Reihe ungeheuer säuischer Witze erzählte. Der Mann lachte dröhnend und hatte kaum noch Schmerzen.»Aber ich muß mich damit abfinden. Vergessen ist die Sache trotzdem nicht, Novarra!«

«Jeder von uns schuldet dem anderen eine Menge Dank. Werfen wir das in einen Topf..«

«Ein Menschenleben?«

«Was ist hier ein Menschenleben?«

«Ist Ihnen Chica und Ihr kleiner Sohn so wenig wert?«

«Es geht beiden übrigens ausgezeichnet, Doctor.«

«Danke! Doch meine Frage.«

«Chica ist nicht Bandilla. Wie behandeln Sie einen tollwütigen Hund?«

«Ich erschieße ihn. Aber Bandilla.«

«Gut!«Dr. Novarra hob die rechte Hand.»Doctor, begreifen Sie endlich, daß ein tollwütiger Hund ein Kuscheltierchen gegen den gesunden Bandilla ist! Für mich ist das Thema erledigt.«

Am Abend brachte ein Bote aus der >Burg< die Nachricht zum Hospital, daß Jose Bandilla gestorben sei. Nach einem Blutsturz habe sein Herz versagt.

«Da haben Sie Ihre Diagnose!«sagte Dr. Novarra zu Dr. Mohr.»Wollen Sie noch mehr?«

Загрузка...