Kapitel 3

Am Sonnabendabend stand die Kirche.

Aus Kunststoffplanen, alten Kistendeckeln und Felssteinen, geklauten Brettern und Wellblech, das Miguel organisiert hatte, baute Pater Cristobal so etwas wie ein Zelt, in dessen Mitte er ein großes Holzkreuz aufstellte.

Am Sonntag läutete er die >Glocke<: Mit einem Hammer schlug er auf eine eiserne Bratpfanne. Kommt herbei, ihr Kinder Gottes, auch wenn ihr alle Verfluchte seid!

Um 11 Uhr war die Kirche voll.

Der erste Gottesdienst von Pater Cristobal war ein Ereignis.

In der ersten Reihe standen Senora Mercedes und Christus Re-vaila, durch je vier Leibwächter voneinander getrennt. Portier Miguel, als lebende Orgel, begann den ersten Sologesang. Kopfan Kopf drängten sich die wilden Gestalten rund um das Kreuz. Aber nicht allein die Tatsache, daß der als unüberwindbar geltende Miguel, >Ma-mas< Hinausschmeißer, mit röhrender Stimme die Kirchenlieder anstimmte, als habe er nie etwas anderes getan, war so sensationell, nein, auch Dona Mercedes Ordaz holte tief Luft, ließ ihren fulminanten Busen noch mehr schwellen und fiel mit einer gewaltigen Altstimme in das Lied ein. Die Männer und Frauen, bisher sehr zurückhaltend und zu >Mama< schielend, gafften sprachlos das Duett an, das diese nun einträchtig mit Miguel sang.

Neben >Mama<, hinter der Mauer seiner Leibwächter, kaute Chri-stus Revaila an der Unterlippe. Sein Blick war finster. Ein raffiniertes Luder, dachte er. Glaubt an Gott so wenig wie ein Panther an die Gesundheit vegetarischer Kost, aber sie weiß genau, daß viele dieser gottverdammten Halunken hier in einem Winkel ihrer Herzen noch ihre kindliche Gläubigkeit bewahrt haben. Zum Teufel noch mal, sie sammelt Stimmen und Sympathie! Sie kämpft um die Herrschaft in Penasblancas sogar mit Hilfe eines Pfaffen!

Christus Revaila spreizte die Beine, klammerte die Hände in seinen Hosenbund und blökte los. Das Lied kannte er noch aus seinen Kindertagen. Keinen Text natürlich, aber die Melodie. Das war ein neuer Minuspunkt, denn >Mama< donnerte zusammen mit Miguel fehlerlos das Lob des Herrn in die improvisierte Kirche. Daß Miguel zwei Tage vorher den Text von Pater Cristobal bekommen und ihn dann mit Senora Mercedes auswendig gelernt hatte, konnte niemand ahnen.

Revaila glich den Mangel an Text durch Lautstärke der Melodie aus. Er sang nicht schön, das konnte keiner behaupten, es war mehr ein stierhaftes Gebrüll, welches irgendwie nach verschieden hohen Tönen klang; aber daß Christus Revaila sang, war an sich schon so ungeheuerlich, daß alle in der Kirche schlagartig einfielen. Es war, als habe man eine Schleuse geöffnet: Plötzlich schallte ein Gesang in den stillen Sonntagvormittag, wie ihn Penasblancas wohl noch nie gehört hatte.

Pater Cristobal kniete vor dem Altar aus Felssteinen, gebogenem Wellblech und lackierten Holzlatten. Vor dem einfachen, großen Balkenkreuz hatte er seinen silbernen Reisekelch aufgebaut, ein kleines silbernes Kruzifix und eine Schale mit Hostien. Als das Lied beendet war, erhob er sich und drehte sich mit Schwung herum. Seine Stimme hallte laut durch die armselige Kirche und über die Köpfe der Versammelten.

«Das war gesungen wie am Rande der Hölle!«sagte er.»So war es richtig! Wir leben hier ja am Rande der Hölle, und der Satan ist grün, durchsichtig und hängt später an Ohren, Hälsen und Fingern.«

Da haben wir's, dachte Revaila. Das ist der Dank, daß wir ihm seine Mistkirche nicht schon gestern nacht angezündet haben. Wir wollen ihm Gutes, und er tritt uns gleich mit den ersten Worten in den Hintern! Man sollte einmal mit ihm sprechen, ganz freundlich, und ihm mitteilen, daß er mit dieser Art keine Chancen hat, lange in Penasblancas zu überleben. Unruhen haben wir hier genug. Wir brauchen keinen Priester, um neue Wirbel entstehen zu lassen.

Dr. Mohr stand neben Revaila und beglückwünschte innerlich Pater Cristobal.

Er hatte es geschafft.

Und dann sah er sie. Sie stand in der vierten Reihe hinter dem Kreuz, ein weißes Spitzentüchlein über dem schwarzen Haar. Neben ihr ein gedrungener, ernster Mann. das mußte ihr Vater sein. Auf ihrer anderen Seite eine Frau, die ältere, verhärmte Ausgabe ihrer Schönheit: die Mutter. Sie alle hatten die Hände gefaltet und blickten auf das Kreuz. Dr. Mohr atmete tief auf. Margarita.

Penasblancas verlor für Dr. Mohr alle Häßlichkeit und alles Grauen. Er hörte nicht mehr auf die Predigt von Pater Cristobal. Langsam schob er sich durch die Menge, ging zur anderen Seite und drängte sich dort wieder in die erste Reihe. Ein paarmal stieß man ihn kräftig zur Seite, aber als man erkannte, daß es der neue Doktor war, gab man den Weg frei.

Während Pater Cristobal verkündete, jeder könne zu ihm kommen, um sich auszusprechen, denn nichts löse mehr die Qualen der Seele als ein gutes Gespräch, und selbst der Verworfenste sei immer noch ein Kind Gottes, schob sich Dr. Mohr neben Margarita. Sie blickte nicht zur Seite, mit großen leuchtenden Augen hörte sie dem Priester zu. Erst, als Cristobal» Amen «sagte und Miguel mit einem dröhnenden Halleluja einsetzte, in das sofort, sehr zum Ärger Re-vailas, sowohl Mercedes Ordaz als auch alle Versammelten einfielen, berührte Dr. Mohr leicht Margaritas Arm. Sie zuckte zusammen wie unter einem Schlag, ihr Kopf flog herum, die herrlichen Augen sprühten ein wildes Feuer. Dann, als sie Dr. Mohr erkannte, wandte sie sich wortlos wieder dem Altar zu.

Bis zum Ende des Gottesdienstes standen sie stumm nebenein-ander. Erst nach dem Segen, bei dem sie mit gesenktem Haupt niederkniete, und nach dem >Glockenläuten<, das dieses Mal Miguel übernahm und die Eisenpfanne bearbeitete, als müsse er sie in Stücke zerhämmern, schob sich ihr Vater zwischen Margarita und Dr. Mohr und blickte den Doktor mißtrauisch an.

«Gehen Sie, Senor!«sagte er rauh.»Sie passen nicht zu uns.«

«Nur, weil ich glattere Hände habe als ihr?«Er warf einen Blick zu Margarita. Nun hatte sich auch die Mutter dazwischen geschoben. Verschlossen, im Gesicht das Leid ihres Lebens, bildete sie mit dem Vater eine Mauer: Laß unsere Tochter in Ruhe. Du gehörst nicht hierher. Und wer nicht aus unserem Stand ist, bringt nur Unglück. Wir kennen sie, die erbarmungslosen Jäger unserer hübschen Töchter.

«Was wollen Sie?«fragte der Vater.

«Ich habe Ihre Tochter im Polizeigefängnis kennengelernt.«

«Sie hat es erzählt!«Der Vater wurde unsicher. Da stand ein feiner Herr und redete ihn mit >Sie< an. Das war nicht nur ungewöhnlich und völlig ungewohnt, das war ein Benehmen, das man nicht einordnen konnte. Ein Guaquero ist eine Handvoll Dreck, das war selbstverständlich. Und nicht anders als Dreck wurde man auch behandelt — bis man mit seinem verknoteten Taschentuch kam und es, den Revolver neben sich auf der Tischplatte, ausbreitete und den Fund mühseliger, die Gesundheit zerfressender Wochen zeigte: kleine, grüne Steine. Dann war man für eine Stunde ein Mensch, wurde höflich behandelt, bekam einen Schnaps spendiert. Sogar Christus Revaila klopfte einem auf die Schulter und nannte den drek-kigsten Burschen seinen Camarada. So ist das Leben eben — ein Gua-quero ist nur ein Mensch, wenn er die kleinen grünen Sonnen mitbringt. Aber selbst dann wird es niemandem einfallen, >Sie< zu einem zu sagen und so zu tun, als sei er ein feiner Herr.

«Laß uns gehen, Adolfo«, sagte die Mutter.

«Ich fresse Sie nicht. «Dr. Mohr sah sich um. Die Kirche hatte sich so schnell geleert, als wären alle vor der Entdeckung ihrer geheimsten Sehnsüchte geflüchtet. Nur Pater Cristobal lehnte noch am Altar und tat so, als putze er den versilberten Hostienteller mit einem Handtuch.

«Ich bin Pedro Morero.«

«Wir wissen es. Ich bin Adolfo Pebas, das ist meine Frau Maria Dolores und meine Tochter Margarita.«

«Sie haben noch eine Tochter, Senor Pebas?«

Die etwas verbindlicher gewordenen Gesichtszüge versteinerten sich wieder.»Reden wir nicht von ihr, Senor!«sagte Pebas hart.»Wir fallen schon auf. Lassen Sie uns endlich gehen.«

«Ich möchte Ihnen helfen.«

«Wie?! Helfen!«Pebas lachte rauh.»Wenn Sie uns helfen wollen, dann lassen Sie uns in Ruhe. Das ist die beste Hilfe! Vielleicht können Sie mir mal eine Kugel aus dem Körper holen oder meinen Tod feststellen wie bei Pablo Ramirez. Dafür danke ich Ihnen hiermit im voraus. später kann ich's ja nicht mehr.«

Er lachte wieder mit einer galligen Bitterkeit, drehte sich weg, griff seiner Frau und seiner Tochter unter den Arm und verließ mit ihnen die Kirche. Dr. Mohr zögerte. Dann lief er ihnen nach, holte sie draußen auf der Straße ein und ging neben ihnen her.

Die Pebas blickten starr geradeaus, als gäbe es keinen Begleiter. Erst, als sie bei ihren beiden Mauleseln angelangt waren, die an der Schmalseite des Platzes an einen armseligen, verstaubten und vertrockneten Baum gebunden waren, ließ Adolfo Pebas die Arme seiner Frau und seiner Tochter los und vertrat Dr. Mohr den Weg.

«Sie haben Glück, ein leidlich sympathischer Mensch zu sein!«sagte er dumpf.»Jedem anderen, der sich so benehmen würde, hätte ich schon längst die Nase eingeschlagen. Wir brauchen Sie nicht!«

«Das ist mir klar.«

«Warum haben Sie gelogen?«Es war das erstemal, daß Margarita sprach. Sie war auf eines der Mulis gestiegen und ordnete jetzt ihren Rock über ihre schönen Beine.»Es hieß, ein Geologe käme nach Penasblancas. Sie sind aber Arzt.«

«Ich mußte meine Absicht ändern. «Dr. Mohr empfand so etwas wie eine Erlösung. Die starre Mauer der Pebas begann zu bröckeln.

Die Abwehr wurde schwächer. Man hörte ihm zu, kritisch zwar, auf dem Sprung wie ein Raubtier, das man anlockte und das nun vorsichtig und abwartend in der Deckung lag.»Ich wollte zu euch, den Guaqueros, kommen, um einige Zeit mit euch zu leben und eure Sorgen und Nöte, eure Probleme und eure Hoffnungen kennenzulernen. Ich wollte einer von euch sein, um später dort helfen zu können, wo es wirklich nötig ist.«

«Dazu wären Sie nie gekommen!«sagte Pebas.

«Sehe ich wie aus Zucker gebrannt aus?«

«Die da draußen — «, Pebas zeigte mit dem Daumen in die Berge —»hätten Sie nicht atmen lassen! Sie wollten schürfen?«

«Natürlich.«

«O Maria! Wo denn? In den Gruben und Stollen, Höhlen und Flußufern wimmeln sie herum wie Ameisen. Wollten Sie einen Stollen für sich freischießen?«

«Ich hätte mich einem Team angeschlossen. Vielleicht Ihnen. Zwei Hände mehr bedeuten eine doppelte Chance. Eine echte Partnerschaft.«

«Die sofort endet, wenn der eine etwas findet. Dann bringen sich die Freunde gegenseitig um. Wer überlebt, ist der Glückliche. «Pe-bas winkte ab.»Sie haben keine Ahnung, Senor, wo Sie hier gelandet sind. Das einzige, was gilt, sind die grünen Steine. Wir sind doch alle Idioten, die wir an den großen Fund glauben. Ich auch! Uns ist nicht mehr zu helfen. Unseren Verstand haben wir in die Berge gewühlt.«

«Versuchen wir es«, sagte Dr. Mohr.

«Was?«

«Nehmen Sie mich mit.«

«Wohin?«

«Zu Ihnen.«

«In die Berge?«

«Ja.«

«Verrückt.«

«Wenn Sie einen Platz haben, wo ich mich hinlegen kann, genügt das.«

«Sie wollen zu uns in die Berghütte kommen?«

«Ich möchte bei Ihnen leben. Ich will, wie ihr alle, ein Guaque-ro sein.«

«Können Sie schießen?«

«Ja.«

«Haben Sie Kraft?«Pebas trat an sein Muli, schnallte ein Bohlenbrett vom Gepäcksattel und nahm es in beide Hände.»Eigentlich brauchte ich es für eine Tür«, sagte er.»Aber auch hierfür ist es gut! Halten Sie es fest, mit beiden Händen. Ganz fest.«

Dr. Mohr nahm die Bohle und streckte sie Pebas entgegen. Er wußte genau, was kommen würde, und grub seine Finger in das Holz. Pebas fixierte das Brett, hob blitzschnell die rechte Faust und ließ sie ebenso schnell heruntersausen. Es krachte, und das Holz zersplitterte. Dr. Mohr hielt die beiden Stücke fest in den Händen.

«Gut!«sagte Pebas hart.»Und Sie, Doctor?!«

«Legen Sie es auf zwei Steine.«

«Bin ich ein Schwächling?«schrie Pebas.

«Ich möchte nicht, daß Sie sich die Arme brechen.«

«Ha! Das will ich sehen.«

Pebas suchte in der Umgebung, brachte zwei Ziegelsteine heran und baute sie auf. Über die Steine legte er das Brett.»Das schaffen Sie nie! Nie! Sie sind aus Fleisch und Blut, aber nicht aus Eisen! Lassen Sie den Unsinn, Doctor. Wenn wir etwas von Ihnen brauchen, dann sind es Ihre Hände.«

Dr. Mohr kniete vor dem Brett und konzentrierte sich. Vor zwei Jahren, dachte er. In Hamburg, Lee-en-Lai, der Karatelehrer, der Bretter und Ziegelsteine, dicker als diese hier, mit einem Handkantenschlag mitten durchtrennte wie ein schneidender Blitz. Lee-en-Lai war vorher sein Patient gewesen. Eine komplikationslose Blinddarmoperation, aber für Lai war tiefe Dankbarkeit selbstverständlich. Er stattete sie ab in Form eines Privatlehrgangs in Karate. Was sonst nie gelehrt wurde, hatte Dr. Mohr mit Lai an Brettern und Steinen, ja sogar an gußeisernen Platten geübt: den Todesschlag. Der fürchterliche Hieb, der das Skelett eines Menschen völlig deformieren kann.

Dr. Mohr starrte auf das Brett. Er atmete tief auf, dachte an Lee-en-Lai und streckte die Hand. Dann zuckte sein Arm empor, die Mobilisierung der geheimnisvollen Kräfte entlud sich in einem dumpfen Stöhnen, die Handkante sauste auf die Bohle und zerschnitt sie, als habe sie ein rasiermesserscharfes Beil getroffen.

Wortlos starrte Pebas auf die Bohle. Dr. Mohr erhob sich von den Knien und trat an das Maultier heran, auf dem Margarita saß. Ihre großen schwarzen Augen glänzten. Mit beiden Händen hielt sie das über dem Haar liegende Spitzentüchlein unter dem Kinn zusammen.

«Danke — «, sagte Dr. Mohr.

«Wofür?«fragte sie leise.

«Als ich zuschlug, habe ich gedacht: Wenn es gelingt, habe ich Margaritas Vater überzeugt. Dann nimmt er mich mit in die Berge… in seine Hütte.«

«Tu es nicht, Adolfo!«sagte hinter Mohrs Rücken Maria Dolores, die Mutter.»Es wird ein Unglück geben! Tu es nicht.«

«Wann wollen Sie kommen, Doctor?«fragte Pebas leise.

«Sofort. Wenn Sie hier warten können, bin ich in einer halben Stunde zurück. Ich packe nur meinen Jeep.«

«Wo wir wohnen, kommt kein Auto hin. Auch nicht Ihr Jeep. Kaufen Sie sich zwei Mulis und lassen Sie den Wagen hier stehen. Gut, wir warten!«

«Bestimmt?«

«Doctor, ich bin nicht nur ein Guaquero, ich bin auch ein Spanier! Meine Vorfahren kamen vor 130 Jahren nach Kolumbien. Aus Murcia. Unser Wort gilt.«

«In einer halben Stunde.«

Dr. Mohr wandte sich ab und lief den Platz hinunter. Verstohlen rieb er seine rechte Handkante. Sie brannte, als habe er sie in Feuer gelegt. Am Eingang der Kirche stand Pater Cristobal und drohte ihm mit dem Zeigefinger.

«Komm einmal her, Pete!«sagte er und grinste verhalten.»Los, berichte deinem Beichtvater, was du erreicht hast. Welch ein Zufall: Sie war in der Kirche.«

«In einer halben Stunde ziehe ich mit ihnen in die Berge. Ich hole nur meine Sachen von Revaila.«

«Das ist schlecht. «Cristobal Montero faltete die Hände. Er trug noch immer sein Meßgewand.»Ich habe gedacht, wir arbeiten eng zusammen: du die Klinik, ich die Kirche. Zwei Ks, die sie hier brauchen wie Luft, Wasser und Brot.«

«In den Bergen werde ich meine Kranken suchen. Ich will nicht warten, bis sie zu mir kommen… ich gehe in ihre Hütten und Höhlen.«

«Das ist ein gutes Wort. «Pater Cristobal blickte auf seine improvisierte Kirche.»Ich komme nach.«

«Cris, das ist Wahnsinn!«

«Gott in den letzten Winkel der Menschheit zu tragen, ist genau mein Ziel. Wir treffen uns bald wieder, Pete.«

Dr. Mohr sah ein, daß Diskussionen jetzt keinen Sinn hatten. Er klopfte Cristobal auf die Schulter und lief weiter. Am Eingang ihrer >Bar< stand >Mama< Mercedes und winkte mit beiden Händen. Sie trug noch ihr >Kirchenkleid< und ihre Spitzenmantilla.

«Kommen Sie herein, Doctor!«rief sie.»Trinken wir einen guten Wein zusammen. Ich muß etwas mit Ihnen besprechen. Es wird Sie freuen. Ich will etwas für die Klinik stiften.«

«Bringen Sie es in die Berge, Senora!«rief er zurück.»Ab übermorgen Sprechstunde jeden Vormittag!«

Mit wortlosem Staunen starrte ihm Mercedes Ordaz nach.

Christus Revaila war schlechtester Laune. Der Kirchgang hatte ihn angestrengt. Nicht, daß jetzt ein Stachel christlichen Gewissens in ihm stak, so sehr Pater Cristobal auch vom Gewissen gepredigt hatte, es war vielmehr die Erkenntnis, daß die Kirche plötzlich, innerhalb weniger Tage zu einer neuen Macht in Penasblancas geworden war.

Die Auswirkung dieser Neuerung konnte man nicht absehen. Am meisten erschütterte Revaila, daß Juan de Lupa, ein ganz übler Bursche, der nur mit blankem Messer und entsichertem Revolver herumspazierte und den nur >Mama< beherrschen konnte, als einer der ersten an den Altar getreten war, um die Kommunion zu empfangen. Kniend, mit geschlossenen Augen, ein Bild frommer Gläubigkeit. Ein ungeheuerlicher Anblick.

«Ah! Da sind Sie ja, Senor Medico!«rief Revaila, als Dr. Mohr ins Haus kam.»Ich platze! Ich zerspringe! Haben Sie ein Mittel gegen Zerplatzen?«

«Trinken Sie einen doppelten Schnaps, Christus.«

«Für so ein Rezept muß man jahrelang studieren?«Revaila legte die Füße vor sich auf den Korbtisch.»Haben Sie das verdammte Luder von Mercedes gesehen? Singt sich die Lunge aus dem Leib! Bekreuzigt sich, geht mit aller Wucht in die Knie, verdreht die Augen wie eine gedeckte Kuh… hach!.. ich platze! Und alle Lieder kennt sie auswendig! Ich frage mich, woher? Doctor, ich kenne diese >Dame<, seit sie in Penasblancas aufgetaucht ist. Vor einigen Jahren, mit drei Huren im Gefolge. Das war der Grundstock der >Dancing-BarMama< — wurde alles geschleust, was Pesos oder Smaragde hatte. Nach einiger Zeit baute sie das Haus in die >Bar< um und wurde vornehm. Jeder, der zu den Weibern will, muß sich erst waschen. Heiß waschen! Und desinfizieren! Vor vier Jahren tauchte ein Pfarrer auf, geschickt vom Erzbischof von Bogota. Wie reagierte Mercedes Ordaz? Betete sie? Sang sie wie heute mit wogenden Brüsten? Scheiße! Sie schickte ihm zwei ihrer Weiber ins Haus, ließ sie nackt durch das Pfarrhaus tanzen und aus den Fenstern jubeln: Ha, wie kann er's gut! Der Kerl macht uns alle verrückt! Der arme Pfaffe raufte sich die Haare und beteuerte seine Unschuld, er lief herum und wollte alles klarstellen, er predigte mit Verzweiflung. aber alle lachten ihn nur aus! Da flüchtete er aus der Stadt. Seitdem kamen nur noch dreimal Priester nach Penasblancas, betrachteten die in ein Magazin umfunktionierte Kirche, riefen die Behörden zu Hil-fe, wurden nachts von Unbekannten verprügelt und flüchteten wieder in die Arme ihres Erzbischofs. Das waren normale Zustände. Und jetzt? Kniet sich hin und schluckt eine Hostie! Diese verdammte Aas! Stimmen will sie sammeln, Stimmen gegen mich! Den Handel will sie an sich reißen, mit Hilfe der Kirche, und der Pfaffe ist auch noch so blöd und merkt das nicht!«

«Pater Cristobal ist ein anderer Gegner! An ihm wird Mercedes noch Freude haben!«Dr. Mohr ging in sein Zimmer und holte seinen Koffer vom Schrank. Revaila, der ihm gefolgt war, stieß ihm die Faust in den Rücken.

«Doctor, was soll das?«

«Ich ziehe um.«

«Aha! Und wohin?«

«In die Berge. Zu den Guaqueros.«

«Warum dieser Umweg? Wenn Sie unbedingt erschossen werden wollen. ich kann das auch! Im übrigen habe ich von Don Alfonso den Auftrag, auf Sie aufzupassen. Das kann ich nur hier.«

«Weil Sie sich in den Bergen nicht blicken lassen dürfen.«

«Halleluja! Wenigstens das haben Sie begriffen.«

«Hier liegt der Unterschied zwischen Ihnen und mir: Ich kann mich in den Bergen sehen lassen. Deshalb ziehe ich um.«

«Nicht ohne Don Alfonsos Erlaubnis. Und Sonntag kann ich ihn nicht erreichen. Sie müssen bis morgen warten.«

«In einer halben Stunde reite ich los.«

«Doctor, wollen wir uns streiten?«Revaila ergriff den Koffer Dr. Mohrs und warf ihn wieder auf den Schrank.»Das bringt nichts ein.«

Dr. Mohr lehnte sich gegen die Wand und betrachtete den bulligen, vor Kraft strotzenden Christus Revaila. Ein Muskelpaket wie ein Stier.

«Eine Stadt voller Wunder, dieses Penasblancas«, sagte er ruhig.»Da fliegen Koffer von selbst durch die Luft. Revaila, lassen Sie ihn wieder runterkommen.«

«Vielleicht am Montag.«

«In einer Minute.«

«Wir werden Ihr Rezept von vorhin einlösen, Doctor. Trinken wir einen Schnaps zusammen!«

«Revaila, ganz kurz: Wenn Sie Don Alfonso sprechen, sagen Sie ihm, daß ich ihn an unsere Abmachung erinnere: Völlig freie Hand! Ich mache hier das, was ich für gut erachte, nicht Sie und schon gar nicht Don Alfonso, weit weg in Bogota. Wenn er anderer Ansicht ist, betrachte ich unser Abkommen für erledigt.«

Revaila sah ihn entgeistert an und schüttelte den Kopf.»Vergessen Sie das, Medico«, sagte er.»Sie machen sich lächerlich.«

«Es ist schade. Eigentlich hat alles so gut begonnen. «Dr. Mohr betrachtete seinen Koffer auf dem Kleiderschrank. Ich muß beweisen, daß ich hierhin gehöre, dachte er. Immer und immer wieder. Vor jedem, der es nicht glauben will, muß ich demonstrieren, daß ich kein weiches Kerlchen aus der großen Stadt bin. Hier sind Menschen, die nur durch Sehen begreifen, nicht durch Reden. Ein einziges Zeichen von Schwäche, und man ist abgeschrieben, der Lächerlichkeit preisgegeben, ein Hase, den man hetzen und schließlich erlegen darf. Was ich jetzt tue, Christus Revaila, hat nichts mit Arztsein zu tun — aber tue ich es nicht, werde ich nie euer Arzt sein können.

«Der Koffer«, sagte Dr. Mohr hart.

«Ein schöner Koffer, Doctor«, grinste Revaila.

Es war der letzte vernünftige Satz, den Revaila in den nächsten Stunden sagte. Wie ein Blitz traf Mohrs Faust den verdutzten >Kö-nig von Penasblancas< und schmetterte ihn gegen den Schrank. Revaila wollte zu seinem Revolver greifen, aber ein in seiner Schnelligkeit fast unsichtbarer Karatetritt traf seinen Unterarm. Der Knochen knirschte deutlich. Revaila stieß einen dumpfen Schrei aus, breitete dann die Arme und warf sich mit dem Kopf zuerst auf Dr. Mohr. Er raste direkt in die vorgestreckte Faust, wurde zurückgeworfen und taumelte wie blind um die eigene Achse. Der dritte Schlag machte der Demonstration ein Ende. Revaila fiel in die Knie und legte sich dann auf die Dielen. Dr. Mohr kreuzte die Hände auf Re-vailas Rücken und opferte eine ganze Rolle Leukoplast. Mit dem Klebeband umwickelte er die Gelenke. Eine unlösbare Fessel, die

selbst ein Stier wie Revaila nicht zerreißen konnte.

In aller Ruhe packte er daraufhin seinen Koffer und stellte die Reisekisten zusammen, trug alles in den Innenhof hinunter, wo sein Jeep parkte, lud ihn voll und kehrte dann in das Zimmer zurück.

Revaila rollte über den Boden, versuchte mit hochrotem Kopf, die Fesseln zu zerreißen, und schob sich an der Wand empor. Es war offensichtlich: Er wollte zum Fenster, um nach Hilfe zu schreien. Dr. Mohr riß ihn zurück und warf ihn wieder auf den Boden. Der Haß, der ihm aus Revailas Augen entgegenschlug, war tödlich.

«Ich würde das nicht tun«, sagte Dr. Mohr ruhig.»Der Herr von Penasblancas ruft jämmerlich um Hilfe?! Das ist kein Stil für einen Herrscher, Revaila. So etwas spricht sich herum: Der Unbesiegbare ist mit Leukoplast gefesselt worden! Diese Blamage! Ein Vorschlag: Ich schicke Ihnen in zwei Stunden Cristobal hinauf. Er wird Sie wieder auswickeln.«

«Ich bringe dich um, du Saukerl!«stöhnte Revaila.»Ich bringe dich um! Du gottverfluchte Sau!«

«Wenn Sie meinen ärztlichen Rat brauchen, ich eröffne meine Praxis in den Bergen.«

«Und wenn du in der Hölle bist, ich kriege dich noch einmal!«

«Sicherlich. Ich werde sogar nach Penasblancas kommen, um einzukaufen. Grüßen Sie Don Alfonso. Ich habe die große Hoffnung, daß er besser überblickt, was ich plane, als Sie. Revaila, Sie mögen ein großer Mann in Penasblancas sein, aber Muskeln und Skrupellosigkeit haben noch nie das Gehirn ersetzt. Und dort ist bei Ihnen viel, viel Hohlraum.«

«Scheißkerl!«stöhnte Revaila. Er zitterte vor Wut.»Scheißkerl! Scheißkerl!!«

«In zwei Stunden können Sie nachkommen. «Dr. Mohr verabschiedete sich mit einem Nicken, schloß die Tür und verließ das für die Verhältnisse in Penasblancas geradezu prunkvolle Haus.

Als er an der >Kirche< vorbeifuhr, stand Cristobal Montero davor und winkte mit beiden Armen. Dr. Mohr schwenkte ab und bremste.

«Ich wäre bestimmt zurückgekommen«, sagte er.»Cris, ich wäre doch nicht ohne Abschied gegangen. Ich muß erst noch zwei Mulis kaufen.«

«Komm mit und sieh dir das an. «Der Pater ging voraus. In der Kirche, vor dem Altar, standen zwei kräftige, braungraue Mulis und glotzten Dr. Mohr an. Das eine trug einen Sattel, das andere ein weit ausladendes Gestell, auf dem man eine Menge Gepäck verstauen konnte.

«Pater, das in der Kirche?«Dr. Mohr lachte und legte den Arm um Cristobals Schulter.»Kannst du Gedanken lesen?«

«Ich habe mit den Pebas gesprochen. Und was heißt: Das in einer Kirche? Jesus ritt auf einem Maultier in Jerusalem ein.«

«Was kosten sie?«

«Eine Leihgebühr. Du überläßt mir deinen Jeep.«

«Das hätte ich ohnehin getan. Aber ich garantiere dir nicht, daß die Mulis überleben.«

«Dein klappriger Jeep auch nicht.«

«Du willst tatsächlich nachkommen?«

«Die Kirche läßt sich doch nicht von einem Arzt vormachen, was Menschenliebe ist. «Cristobal Montero griff nach den Zügeln des Mulis mit dem Sattel und zog es an sich heran.»Kannst du überhaupt ein Maultier reiten?«

«Natürlich kann ich reiten.«

«Ein Muli! Das ist etwas anderes als ein Pferd! Ein Muli hat die Seele eines Pferdes, aber den Dickschädel eines Esels. Setz dich drauf, Pete.«

«In der Kirche?«

«Die Wohnung Gottes war immer ein Raum der Lehre. Ob das Wort oder das Mulireiten, wo ist da ein Unterschied?«

«Ihr Pfaffen habt wohl für alles eine Erklärung, was?«

«Wir wären verloren, wenn wir nur eine Sekunde lang sprachlos wären. Pete, red nicht so viel! Die Zeit drängt. Sitz auf.«

Zehnmal ritt Dr. Mohr auf seinem Muli kreuz und quer durch die Kirche, umkreiste den Altar und trabte unter dem von dem Dek-kenbalken hängenden großen Holzkreuz hindurch.»Bravo!«rief Pater Cristobal ein paarmal.»Sehr gut! Vorzüglich! Es ist erstaunlich, was du als medizinischer Klempner alles kannst! Wann hast du das alles gelernt? Ich denke, ihr Kliniker arbeitet am Tag 36 Stunden?«

«40, Cris! In den verbleibenden 4 Stunden pro Tag erfreuen wir uns am Leben. «Dr. Mohr hielt sein Muli an und stieg ab. Das Tier rieb den Kopf an seiner Schulter und schnupperte mit den Nüstern über sein Haar.»Es liebt mich schon.«

«Kunststück! Es ist eine Stute!«

«Danke, Pater.«

«Du gehst doch nur in die Berge, um bei Margarita zu sein!«

«Nicht allein deswegen. Ich will >vor Ort<, wie man bei uns sagt. An die vorderste Front dieses Leides, das keiner kennt, keiner wahrhaben will, jeder verschweigt. Man kann einen Sumpf nur trok-kenlegen, wenn man ihn kennt. Eine Landkarte allein genügt nicht.«

«Margarita ist kein Blümchen, das am Wege wächst und man sich einfach ins Knopfloch stecken kann.«

«Ihre Belehrung, Beichtvater, war unnötig.«

«Die Eltern haben Angst. Eine Tochter haben sie schon verloren.«

«Das wußte ich nicht. Aber eine Schwester von Margarita.«

«Um die handelt es sich. «Pater Cristobal lehnte sich gegen das Packmuli.»Für Alfonso und Maria Dolores ist sie tot. Perdita — so heißt das Mädchen — arbeitet seit einem Jahr bei Senora Mercedes in der >Bar<. Sie hatte das furchtbare Leben in den Bergen, in der Hütte und den Höhlen satt. >Mama< bot ihr einen guten Vertrag als Serviererin mit 5 % Anteil am Verzehr.«

«Das ist mies! In St. Pauli bekommen sie 10 %.«

«Für Penasblancas ist das ein Traumvertrag! Denn: Was nach der Arbeitszeit passiert, ist absolute Privatsache. Bis auf eine Kleinigkeit: 25 % kassiert >Mama<. «Pater Cristobal räusperte sich.»Für die Mädchen bedeutet das trotzdem viel Geld! Ihre Stundendienste lassen die Pesos regnen. Perdita kann in zwei Jahren reich sein, aber sie wird nie mehr eine Ehre haben. Für ihre Familie ist sie tot. Nur noch Margarita hält zu ihr. Als sie im Gefängnis saß — bei ihrer An-kunft —, wollte sie gerade heimlich Perdita besuchen. Adolfo Pebas hat später getobt.«

«Woher weißt du das alles?«

«Sie haben es mir erzählt. Ich habe ihnen die Beichte abgenommen.«

«Auf dem Marktplatz?«

«Gott ist überall.«

«Ich weiß. Ihr Priester könnt hemmungslos sein.«

«Deshalb werde ich auch Perdita aus dem Haus von >Mama< herausholen!«Pater Cristobal strich sich seinen struppigen Bart.»Ich habe herausgefunden, daß sie auf der gleichen Etage wie ich wohnt und >arbeitet<.«

«Mein Gott!«

«Was rufst du, mein Sohn?«

«Du willst bei >Mama< wohnen bleiben?!«

«Ich habe nie an etwas anderes gedacht. Es ist der beste Platz für mich!«Cristobal Montero packte die beiden Mulis an den Zügeln und führte sie aus der >Kirche<. Dr. Mohr folgte ihm, ging zu seinem Jeep und begann die Gepäckstücke auszuladen.

«Du willst es mit >Mama< aufnehmen? Krieg von Etage zu Etage? Du wirst verlieren, Cris.«

«Solange sie den Gottesdienst besucht.«

«Sie wird vor dir knien und voller Dankbarkeit eine Hostie aus deiner Hand nehmen, an der Ecke allerdings wartet der von ihr bezahlte Mörder. Du vergibst ihr im voraus die Sünde, dich umzubringen.«

«Das ist Christentum.«

«Da passe ich!«

Sie beluden das Muli und verteilten die Last so, daß das Tier nicht überladen wurde. Seinen Medizinkoffer und die geheimnisvolle Aktentasche, das Geschenk von Alfonso Camargo, lud Dr. Mohr auf sein Reittier. Dann gab Pater Cristobal ihm stumm die Hand, zog ihn plötzlich an sich und küßte ihn auf beide Wangen.

«Gott mit dir!«sagte er mit belegter Stimme.»Wir sehen uns bald wieder.«

«Überleg es dir, Cris. Die Menschen hier in der Stadt brauchen dich auch.«

«Wenn auf 30.000 Guaqueros ein Arzt kommt, kann es auch ein Priester schaffen! Wir werden schuften müssen, Pete.«

«Es wird sich lohnen, Cris. «Dr. Mohr kletterte auf sein Reitmuli.»Nimm dich in acht vor Mercedes Ordaz. >Mama< ist gefährlicher als Revaila. Übrigens: Ich habe Christus mit Leukoplast gefesselt — Himmel, wie das klingt! — Er liegt in seinem Haus auf der Erde. Ich habe ihm versprochen, daß du in zwei Stunden kommst und ihn auswickelst.«

«Er kann bis zum Abend warten. Etwas Ruhe und Besinnung tun ihm gut.«

«Ich habe in ihm einen neuen Todfeind.«

«Siehst du, jetzt sind wir wieder gleich: Du hast deinen Revaila, ich meine Mercedes Ordaz. Pete, noch einmal: Gott mit dir! Paß auf dich auf.«

«Und du auf dich.«

Dr. Mohr trieb sein Muli an. Es trabte los, das Packtier an einem Strick hinterherziehend. Als der Doktor sich umblickte, sah er gerade noch, wie Pater Cristobal den Jeep in die Kirche fuhr. Er ist von einer beneidenswerten Gläubigkeit, dachte er. Für ihn ist Gottes Haus immer noch der sicherste Platz. Ein Glück, daß ich ihm im Jeep eine Maschinenpistole mit vier Reservemagazinen zurückgelassen habe.

Auf dem Marktplatz wartete noch die Familie Pebas. Adolfo half Maria Dolores in den Sattel, als er Dr. Mohr von weitem anreiten sah.

Margarita hatte das Spitzentuch vom Haar genommen und ein Kopftuch mit langen Fransen umgebunden. Sie lächelte zaghaft, als Dr. Mohr bei der Familie eintraf.

«Endlich!«sagte Pebas.»Fast zwei Stunden hat es gedauert! Wir müssen uns beeilen.«

«Es war schwer, Revaila zu überzeugen.«»Hat es Krach gegeben?«Adolfo blickte Dr. Mohr ängstlich an.»Wir sind nicht einen Peso mehr wert, wenn Revaila unser Feind ist.«

«Er hat die Notwendigkeit eingesehen. «Dr. Mohr sah sich um.»Worauf reiten Sie, Adolfo?«

«Ich nehme meine Füße! Drei Mulis kann ich mir noch nicht leisten. Ab und zu setze ich mich hinter Margarita.«

«Wie weit ist es bis zu Ihrer Hütte?«

«Fünf Stunden, wenn es gut geht.«

«Zum Teufel, warum haben Sie das nicht gesagt. Ich hätte ein Muli für Sie angeschafft!«

«Ich will nichts geschenkt haben, Senor!«Pebas tätschelte Dr. Mohrs Muli die Nüstern.»Das ist auch wichtig, Doctor: Wir nehmen nichts, was wir nicht bezahlen können. Auch meine Frau und meine Tochter nicht. Eher krepieren wir!«

«Sind sie alle so da draußen?«

«Nein!«Pebas schnalzte mit der Zunge, die Muli zockelten los.»Deshalb nennen sie mich auch den >verrückten Dolfo<. «Er ging neben Dr. Mohr her und hielt sich an einer Sattelschlaufe fest.»Das ist ein guter Name. Man nimmt mir nichts mehr übel.«

Fast sieben Stunden ritten sie durch Schluchten mit üppigen Riesenfarnen und verfilzten Büschen, über schmale Trampelpfade an schroffen Berghängen entlang, über schwankende Holzbrücken, die sich über reißende Gebirgsbäche spannten. Sie kletterten immer höher, kamen an Siedlungen vorbei, die mehr Vogelnestern glichen, an Wohnhöhlen und mit geflochtenen Matten bedeckten Hütten. Überall, wo hier Menschen lebten, gab es Einstiege in die Berge, aus dem Stein gehauene Röhren in die Tiefe, Stollen, mit Knüppelholz notdürftig abgestützt — Eingänge zu dem erträumten Paradies, das grün und glitzernd war.

Das Haus der Pebas lag in einem Gebiet, das vor vier Jahren die staatlichen Minen als unrentabel aufgegeben hatten. Überall war der

Berg mit Stolleneingängen angebohrt, die Schutthalden waren längst überwuchert, der Urwald rückte wieder vor. Es war ein trostloses Land, ausgebeutet und deshalb nutzlos. Selbst erfahrene Guaque-ros hatten hier nur zwei Jahre ausgehalten, dann waren sie weitergezogen. Zurück blieben zehn Familien, darunter der >verrückte Dol-fo<, die fest daran glaubten, daß irgendwo in der Tiefe der Mine eine Smaragdader liegen müsse, die noch keiner gefunden hatte. Die staatlichen Geologen hatten nur mit dem Kopf geschüttelt. Was man hier mit einem ungeheuren technischen Aufwand gefunden hatte, war nicht einmal der hundertste Teil dessen wert, was die Mine jährlich gekostet hatte. Als dann bei Cosques ein neues Smaragdlager entdeckt wurde, ließ man diese Mine liegen, räumte sie und überließ es den Spinnern, die wenigen kleinen grünen Steinchen ans Licht zu buddeln, die man übersehen hatte.

Pebas' Hütte sah wie alle Behausungen hier aus: eine Höhle, vor die man als Verlängerung des Wohnraumes ein großes Dach gebaut hatte. Was noch zwei weitere Zimmer ergab. Zehn Hühner und ein Hahn empfingen die Zurückkehrenden mit wildem Gegacker, in einem Knüppelholzstall rumorten zwei Schweine. Eine Milchziege lief frei herum und senkte die Hörner, als sie die Mulis sah. Hinter dem Haus erhob sich die Steilwand des Berges. Mitten in dieser Wand gähnten die Einstiege von drei Stollen. Vom oberen Abbruch pendelte eine Strickleiter herunter.

«Stehenbleiben!«brüllte eine Stimme von oben. Über einen Stein vor dem mittleren Stollen schob sich der Lauf eines Gewehres.»Die Hände hoch, ihr Halunken! Eure Namen! Keinen Schritt weiter!«

Dr. Mohr hob beide Arme. Entsetzt sah er, wie Adolfo Pebas ruhig hinter Maria Dolores aus dem Sattel glitt und zu seinem Haus ging. Auch Margarita saß ab und folgte ihrem Vater.

«Zurück!«schrie Dr. Mohr.»Er zielt auf euch! Margarita, bleib stehen!«

Er griff nach hinten, riß Don Alfonsos >Aktentasche< an sich und steckte die Hand in das Loch der Rückwand. Der kalte Griff der Maschinenpistole fühlte sich klebrig an.

Über dem Stein am Stollen erschien jetzt ein struppiger Kopf. Dann die Schulter, in die der Gewehrkolben gepreßt war.

Dr. Mohr atmete tief durch. Er richtete das Ausschußloch der >Ak-tentasche< nach oben und krümmte den Finger bis zum Druckpunkt.

Zwei, drei Sekunden lang setzte bei ihm der Herzschlag aus. Nun stieg auch Maria Dolores von ihrem Muli und ging mit ruhigen Schritten ihrem Mann und Margarita nach. Der Mann oben im Stollen zielte noch immer, aber er drückte nicht ab. An der >Veranda< des armseligen Hauses, einem Vordach aus Knüppelholz, Brettern, geflochtenem Reisig und Strohmatten, blieb Adolfo Pebas stehen und winkte Dr. Mohr zu.

«Kommen Sie, Doctor. Wir sind zu Hause. Oder bereuen Sie Ihre Entscheidung schon? Zurück können Sie jetzt nicht mehr. Unsere Wachen haben Sie hineingelassen, aber heraus kommen Sie nicht mehr allein. «Er lachte laut, als er Dr. Mohr zu dem Stollen starren sah, und brüllte:»Es ist gut, Pepe! Alles in Ordnung.«

Der Mann hinter dem Stein verschwand. Das Gewehr wurde zurückgezogen. Mit steifen Beinen rutschte Mohr von seinem Muli und ging auf das Haus zu. Margarita und ihre Mutter waren bereits in der großen Wohnhöhle verschwunden. Pebas lud das Packtier ab.

«Ich habe mich dämlich benommen, was?«fragte Dr. Mohr.

«Wegen Pepe? Woher sollten Sie Bescheid wissen? Pepe Garcia ist unser Nachbar. Er paßt auf unser Haus auf, wenn wir in die Stadt gehen. Aber das ist mehr symbolisch. Pepe ist halb blind. Dafür sieht er doppelt gefährlich aus. Er ist — glaube ich — der älteste Guaque-ro im Minengebiet. Als die staatlichen Gruben noch funktionierten und Penasblancas eines der armseligsten Dörfer war, bewohnt von ein paar Chibcha-Indianern, schürfte er schon heimlich nach Smaragden. Dann fand man auch in diesem Gebiet zwar Smaragde, was Pepe zwar längst wußte, aber er hatte keine Werkzeuge, um an die Adern heranzukommen. 20 Jahre wühlte er sich durch den Berg, nur mit einer Hacke und einer Schaufel. Er schob Petroleumlampen vor sich her, später eine Taschenlampe. Der ständige Wechsel von Dunkelheit im Stollen und Sonne hier draußen fraß sein Augenlicht weg. «Pebas hob einen Sack mit Konserven von seinem Muli.»Wir alle krepieren einmal an diesen grünen Steinen. Pepe hatte einmal seinen großen Fund gemacht! Vor sechs Jahren. Ein Rohsmaragdblock, der — ausgeschlachtet — vielleicht 15.000 Dollar eingebracht hätte. Man stelle sich das vor: 15.000 Dollar! Bar auf die Hand! Pepe zog mit seinem Glücksfand los, kam sogar glücklich bis nach Bogota und zur Emerald-Street. Zwei Tage später fand man ihn im Spital wieder, mit einem Loch im Kopfund einem im Rücken. Er hat's überlebt, ist zurückgekehrt zu seinem Stollen und gräbt seitdem weiter. Gefunden hat er so viel, daß er nicht zu verhungern braucht. Aber er hat seinen Berg nie mehr verlassen. Was er braucht, bringen wir ihm mit. Er wird oben in seinem Stollen sterben.«

Dr. Mohr bekam als Gast den besten Platz im Haus: eine Ecke in der Höhle, die mit Hundefellen ausgelegt war. Maria Dolores kochte eine Suppe aus Dosenfleisch und Maiskörnern; Margarita sammelte die Eier ein, die Pebas Hühner gelegt hatten.

Am Abend bekamen sie Besuch. Ein riesenhafter Mann, schwarzhaarig, mit einem scharfkantigen Gesicht, das seine indianischen Vorfahren verriet, tauchte aus der Dunkelheit auf. Niemand hatte ihn kommen gehört. Das Prasseln des offenen Feuers vor der Veranda verschluckte alle anderen Laute. Der Mann blieb im Schein des Feuers stehen und starrte Dr. Mohr stumm an. Dann sagte er zu Pe-bas:

«Ist das der Doctor?«

«Er ist es. «Pebas rauchte eine selbstgedrehte dicke Zigarre. Seinem Gast zu Ehren hatte er sogar eine Korbflasche mit Wein geholt, aber um nicht zu üppig zu sein, streckte er den Wein mit Wasser. Maria Dolores und Margarita arbeiteten im hinteren Teil der Höhle, der >Küche<. Dr. Mohr hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Margarita ein einziges Wort allein zu sprechen.

«Hat es sich schon herumgesprochen?«fragte Pebas.

«Das läuft wie ein Grasbrand. «Der große, dunkle Mann schob seine schwarzen Haare aus der Stirn.

«Das ist Juan Zapiga«, sagte Pebas.

«Ich kann mich allein vorstellen!«knurrte Zapiga.

«Dann tu's und glotz den Doctor nicht so dumm an.«

«Ich bin also Juan Zapiga — «, sagte er.»Ich habe eine Frau und zehn Kinder. Und alle sind krank. Die Frau hat's im Leib, drei Kinder husten nur noch, vier haben Geschwüre am ganzen Körper, der älteste Junge kann den rechten Arm kaum bewegen und schreit vor Schmerzen, wenn man ihn nur anfaßt, zwei werden immer weniger und sehen aus, als hätten sie statt Blut nur noch Milch in den Adern. Kann man da etwas tun?«

«Ich müßte deine Familie sehen und untersuchen, Juan. Aus der Ferne geht das nicht.«

«Sie ist hier.«

Er pfiff durch die Zähne und winkte. Aus der Dunkelheit lösten sich kleine und größere Schatten. Es sah aus, als würden Gestalten aus den Felsritzen quellen. Dann standen sie im Schein des offenen Feuers: eine zarte, kleine Frau mit langen, bis zu den Kniekehlen reichenden Haaren und indianischen Augen, zehn Kinder von 14 bis zwei Jahren, in zusammengenähten Lumpen gehüllt. 22 Augen, im flackernden Feuer übergroß und glänzend, sahen Dr. Mohr an. Das kleinste Kind hielt sich am Rock der Mutter fest und steckte den Daumen in den Mund. Ein Skelett, mit blasser, fast olivfarben schimmernder Haut überzogen.

«Sie sind alle sauber und gewaschen!«sagte Zapiga.»Ich weiß, was sich gehört, wenn man zu einem Medico geht. «Er pfiff wieder. Der älteste Junge trat an seine Seite.»Das ist er, der den Arm nicht hochheben kann. Aber ich brauche ihn. Er ist kräftig genug, um im Berg mit mir zu graben. Was kostet es?«

«Was?«fragte Dr. Mohr etwas verwirrt. Er blickte die Familie der Reihe nach an. Da haben wir alles, dachte er. Tuberkulose, Anämie, Skorbut, Furunkulose, Eiweißmangel, Eisenmangel, Kalziummangel, sämtliche Formen der Hungerdystrophie, wahrscheinlich auch schon Veränderungen der Knochen.

«Die Untersuchung.«

«Nichts.«

Juan Zapiga schien nicht zu begreifen. Daß man etwas tat, ohne Lohn dafür zu verlangen, war jenseits seines Begriffsvermögens. Er griff in seinen Gürtel, holte das berühmte, verknotete Taschentuch der Guaqueros hervor und knüpfte es auf. Der Junge neben ihm zog mit der linken Hand einen Revolver aus dem Gürtel und trat zur Seite. Auch der zweite Sohn, vielleicht zehn Jahre alt, hatte plötzlich eine Waffe in der Hand. Die kleine, zarte Frau, vom Kindbett ausgelaugt, drückte ihr Jüngstes an sich und umklammerte mit der Rechten eine Pistole. Sie hatte sie unter dem weiten Rock hervorgezogen.

Dr. Mohr sah sich betroffen um. Im Eingang der Höhle standen Margarita und Maria Dolores. Auch sie hielten Waffen in den Händen, langläufige Gewehre, und es war, das sah er, nicht das erstemal, daß sie so, zu allem bereit, vor ihrem Haus standen. Pebas selbst hatte sich nach vorn gebeugt. Zwischen seinen Beinen lag, griffbereit, sein schwerer Revolver.

«Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er.»Juan packt seine Smaragde aus. Weiß man, ob man beobachtet wird? Überall sind Augen. Kein Guaquero knüpft sein Taschentuch auf, ohne sich nicht nach allen Seiten zu sichern. Aus den besten Freunden wurden schon Mörder — der Anblick der grünen Steine läßt Ehrgefühl und Freundschaft vergessen.«

Zapiga wartete. Er hockte sich, vorsichtig wie ein Tier, das sich an einer Tränke niederläßt und ständig die Gefahr ahnt, näher ans Feuer und breitete sein Taschentuch aus. Ein kleines Häufchen Smaragde glitzerte im Feuerschein, bizarre Formen grünen Kristalls, rund, mehreckig, lanzettenhaft, zwei wie winzige Säulchen.

«Das ist alles, was ich habe«, sagte Zapiga.»Dafür habe ich drei Jahre gearbeitet. Nicht genug, um aufzuhören und mit Frau und zehn Kindern in die Stadt zu ziehen. Nicht genug, um ein Stück Land zu kaufen und eine Finca aufzumachen. Aber ich weiß, wir alle hier wissen es: In unserem Berg liegt der ganz große Stein! Ich träume von ihm, jeden zweiten Tag träume ich von ihm. In einem dieser Träume stand sogar einmal ein Engel vor mir. Begreifen Sie das, Doctor? Ein richtiger Engel mit Flügeln. Er sagte zu mir: Juan! Habe Geduld! Ich kann nicht für dich die Felsen sprengen, aber du kannst dich hineinwühlen. Glaube an dein Glück! — Verdammt ja, Doctor, ich glaube daran. Aber bis ich es habe, das Glück, sterben sie mir alle weg. Die Frau, die Kinder. Nehmen Sie sich, was Sie wollen. Vielleicht den da? Den länglichen? Der bringt geschliffen einen Karat. Beste, reinste Qualität. Nicht einmal eine Wolke darin.«

«Ich nehme nichts«, sagte Dr. Mohr leise.»Juan, pack die Dinger wieder weg.«

«Sie wollen uns wegschicken? Krank und elend?«

«Ich behandele euch umsonst.«

«Umsonst? Und wovon leben Sie?«

«Ich habe Geld genug.«

Zapiga schlug das Taschentuch um seine Smaragde und verknotete es wieder.»Er ist ja gar kein Medico — «, sagte er dabei zu Pe-bas.»Er ist ein Verrückter!«

«Das sage ich auch. Aber was will ich machen? Besser, er wohnt bei mir als bei den anderen.«

«Fangen wir also an. «Dr. Mohr kniete sich auf den felsigen Boden. Meine erste Ordination unter 30.000 Gesetzlosen, dachte er. Die Erde ist der Untersuchungstisch, das flackernde Holzfeuer ersetzt den Deckenstrahler, statt die Hände zu waschen, reibt man sie an der Hose ab. Nächste Woche wird das schon anders aussehen. Da wird hier neben den Pebas eine große Arzthütte gebaut, und die Kranken werden wenigstens auf einem Holztisch liegen und in eine Lampe blicken. Morgen, mein lieber Adolfo, beginnen wir mit dem Aufbau.

«Ich brauche meinen Koffer, den aus Metall«, sagte er.

«Ich hole ihn!«sagte Margarita.

«Er ist viel zu schwer.«

«Hol ihn!«rief Pebas befehlend.»Doctor, gewöhnen Sie sich ab, die Frauen der Pebas als zerbrechliche Luxusweibchen zu betrach-ten. Hier wird angepackt! Wenn ein großer Felsstein im Weg liegt, wird er weggeräumt! Unsere Bagger sind unsere Hände! Margarita wird doch wohl noch einen Koffer tragen können.«

Sie kam aus der Höhle, schleppte den schweren Metallkasten heran, und keiner half ihr. Als Dr. Mohr aufspringen wollte, hielt Pe-bas ihn fest.

«Sie hebt sich einen Bruch!«schnaufte Mohr.

«Es sieht nur so aus.«

«Ich will nicht, daß sie so schwere Sachen hebt! Pebas, wenn ich Ihnen die möglichen Spätschäden aufzähle.«

«Wer denkt hier an später? Was ist später? Ein krummer Rücken? Ein kaputter Unterleib? Morsche Knochen? Was soll's? Margarita hat nicht vor, Miß Kolumbien zu werden.«

Sie hatte den Feuerkreis erreicht und stellte die schwere Metallkiste ab. Ihre Arme zitterten, Schweiß rann über ihr madonnenhaftes Gesicht. Sie lächelte etwas verzerrt und wischte sich mit dem Unterarm über die Augen.

«Da ist er. Alles Medizin?«

«Auch viele Geräte. Margarita, du faßt den vollen Koffer nicht mehr an.«

«Sie wird ihn zurücktragen«, sagte Pebas ruhig.

«Ich bringe ihn zurück!«

«Warum streiten wir, Doctor?«Pebas beugte sich vor und steckte den auf seinen Knien schaukelnden Revolver wieder hinter den Gürtel.»Sie sind mein Gast. Zu Gästen soll man höflich sein, das hat man mir gesagt. Aber ein Gast hat nicht in das Familienleben seiner Gastgeber einzugreifen. Oder ist das bei den feineren Leuten neuerdings üblich? Hier, in meinem Haus, bestimme ich! Und wenn ich sage, Margarita trägt den Koffer zurück, dann tut sie das! Ist das klar?«

«Klar ist, daß der Koffer hier bleibt und ich ihn wegtrage.«

«Wir wollen sehen. Es geht um Grundsätzliches, Doctor. Warum begreifen Sie das nicht?«

«Die Frau ist keine Sklavin mehr wie vor ein paar hundert Jahren.«

«Ein paar hundert Jahre!«Pebas lachte rauh.»Doctor, hier leben wir wie am Anfang der Schöpfung. Das ändern Sie allein auch nicht!«

Dr. Mohr klappte die Metallschließen aufund öffnete den Deckel. Aus einem Sterilkasten — er mußte dabei sarkastisch lächeln — nahm er das Membranstethoskop und den Blutdruckmesser. Er entrollte die Manschette und legte sie über seine Knie.

«Wie heißt Ihre Frau, Zapiga?«fragte er dabei.

«Nuria.«

«Ein sehr schöner Name. Nuria, kommen Sie bitte zu mir.«

«Erst der Junge, Doctor. «Zapiga schob den 10jährigen vor.»Sein Arm.«

«Ich habe >Nuria< gesagt.«

«Ich brauche seinen Arm!«

«Und Nuria hat Ihnen 10 Kinder geboren.«

«Es hat ihr Spaß gemacht. Vor allem vorher. «Zapiga grinste schief und schielte zu Pebas. Was soll man tun, Camarada? Kann man den Medico verärgern? Du bist gesund, du kannst die Schnauze aufreißen, aber ich habe elf Kranke in der Hütte.»Zehn Kinder sind genug. Ihre Schmerzen im Bauch sind der beste Schutz«, sagte Zapiga.

«So kann man es auch sehen. «Dr. Mohr klemmte den Bügel des Stethoskops um seinen Hals.»Seid ihr überhaupt noch Menschen?«

«Das fragen wir uns selbst. «Pebas warf seine halbgerauchte dicke Zigarre ins Feuer.»Streiten Sie mit uns nicht weiter, Doctor. Was bringt es ein?«

Der große Junge stand vor Dr. Mohr und hatte mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Hemd ausgezogen. Er konnte den rechten Arm kaum heben.

«Er sagt, die Schmerzen seien ein Gefühl, als wenn ihn hunderttausend Nadeln innerlich stechen«, erklärte Zapiga.»Das geht schon seit Monaten so. Plötzlich war es da. Über Nacht.«

«Fieber?«

«Ich weiß nicht«, knurrte Zapiga.»Wir haben anderes zu tun, als Hände auf die Stirnen zu legen.«

«Er hat Fieber. «Nurias Stimme war scheu und voller Duldsamkeit.»Er hat immer Fieber, mal hoch, mal niedrig.«

«Die Mutter weiß es!«sagte Dr. Mohr.»Mein Gott, das tröstet mich. Wenigstens die Mütter sind hier noch Menschen. Komm her. Wie heißt du?«

«Pablo«, sagte der Junge. Er kniete sich vor Dr. Mohr auf den Boden. Schon der erste Blick bestätigte Mohrs gedankliche Diagnose: Das Schultergelenk war geschwollen, glasig die Haut, die Armkugel kaum beweglich. Als er den Arm packte und ganz vorsichtig drehte, knirschte der Junge tapfer mit den Zähnen. Zapiga stieß ihn mit der Faust in die Seite. Beherrsch dich, Pablo!

«Da haben wir eine schöne Scheiße beisammen!«sagte Dr. Mohr grob.»Das ist ein Gelenkempyem, und zwar eine ausgewachsene Kapsel-Phlegmone. Das brauchte nicht zu sein. Das ist verschleppt worden! Bei den ersten Anzeichen hättet ihr zum Arzt gemußt!«

«Aufstehen!«sagte Zapiga hart.»Pablo, steh auf. Das ist kein Medico, das ist ein Idiot!«Zögernd erhob sich der Junge. Seine Augen glänzten noch mehr. Tränen. Lautlos weinte Pablo, aber sein Gesicht blieb dabei starr.

«Zum Arzt! Wo ist hier ein Arzt?! Wer von uns kann sich einen Arzt leisten. Jetzt soll ich schuld sein! Adolfo, wen hast du da mitgebracht? Tritt ihn in den Hintern! Jag ihn weg!«Zapiga trat einen Schritt an Dr. Mohr heran, massig und doch nur ein Skelett mit pergamentener Haut.»Was hat Pablo?«

«In seinem Gelenk ist eine eitrige Ansammlung von Flüssigkeit, ganz grob gesagt. Entstanden durch eine Entzündung. Die Gelenkhöhle ist damit gefüllt. Die Sache ist so weit fortgeschritten, daß auch die ganze Gelenkkapsel an der Entzündung beteiligt ist.«

«Kann man daran sterben?«

«Man kann an jeder Krankheit sterben, auch an einem Schnupfen. Pablo wird an einer Sepsis — einer Blutvergiftung — sterben, aber die Schmerzen vorher werden unerträglich sein. So unerträglich, daß Sie ihn lieber vorher totschlagen, als ihn so krepieren zu lassen. Ist das deutlich gesagt?«»Ja!«knirschte Zapiga.

«Aha! Dann habe ich endlich eure Sprache getroffen. Sie wollen Pablo also in ein paar Wochen totschlagen?«

«Nein!«keuchte Zapiga.

«Ich soll ihn behandeln?«

«Ja.«

«Dann haltet endlich die Schnauze und tut, was ich sage! Ich muß Pablo punktieren.«

«Was ist das?«

«Ruhe!«Dr. Mohr hieb mit der Faust und mit voller Wucht auf Zapigas Stiefel, die vor ihm standen. Verblüfft trat Zapiga einen Schritt zurück und kratzte sich den Kopf. Das war ein neuer Ton und eine ungewohnte Behandlung. Man konnte zurückschlagen, diesen Medico mit einem Hieb ins Feuer schleudern, aber dann würden Pablo und die neun anderen Kinder sowie Nuria nie mehr gesund werden.

«Ich bin ganz still, Doctor«, sagte Zapiga, schwer atmend.

«Nach der Punktion will ich versuchen, mit Antibiotika an die Entzündung heranzugehen. In einer Klinik würde ich das Gelenk ausspülen, aber das kann ich hier nicht.«

«Warum?«

«Mir fehlen die Geräte, ein antiseptischer OP, ein keimfreies Krankenzimmer zur Nachbehandlung. Wollen Sie noch mehr wissen?«

«Ich denke, ein guter Arzt kann alles?«sagte Zapiga einfach.

Dr. Mohr senkte den Kopf. Die Ohrfeige saß, dachte er. Juan Za-piga, du hast ja so recht! Wir sind durch unsere technische Perfektion schon gelähmt, wenn wir außerhalb unserer klinischen Wunderwerke, nur mit einem Messer in der Hand, vor einem aufgetriebenen Bauch stehen. Die Blinddarmoperation mit einem Taschenmesser, die Schädeltrepanation mit Hammer und Meißel, die Nähte mit Schusterzwirn und Fäden aus einem Seidenschal… darüber hat man Bücher geschrieben. Das Hohelied der Ärzte in Ausnahmesituationen. Aber, liebe Kollegen, wer kann eine Kapsel-Phlegmone ausräumen, wenn er nichts zur Verfügung hat als eine Berghöhle in den kolumbia-

nischen Kordilleren, ein chirurgisches Notbesteck und zwei Kästen mit Antibiotika-Ampullen?!

«Ich werde es versuchen!«sagte er.

«Das habe ich gewußt, Doctor. «Zapiga lächelte schwach.»Sie geben nicht auf. So sehen Sie nicht aus!«

«Ich verspreche gar nichts. Es kann danebengehen, Juan.«

«Und ohne Ihre Behandlung, Doctor?«

«Bestimmt.«

«Dann tun Sie, was Sie für richtig halten!«Zapiga steckte die Hände in seinen Hosenbund, sie waren ihm im Weg.»Ich habe in meinem Bergloch keine so große Chance.«

«Ich überlege es mir.«

Dr. Mohr untersuchte alle zehn Kinder. Seine Vermutungen erwiesen sich als richtig. Furunkulose, Tbc, Unterernährung, einseitige Ernährung, Vitaminmangel, Dystrophie. Juan Zapigas Blick hing an seinen Lippen.

«Eine Katastrophe!«sagte Dr. Mohr.»Es gibt auf die Dauer nur ein Mittel.«

«Ich weiß: Weg von hier.«

«Ja.«

«Unmöglich.«

«Warum?«

«Mein Traum. Der Engel, Doctor. Ich muß meinen großen Stein finden. Und er ist da unten im Berg. Ich fühle es! Wie kann ich da wegziehen? Was soll ich in der Stadt? Die Straßen fegen? Mit zwölf Personen in zwei stinkigen Zimmern wohnen? Jeden Abend die Mülltonnen der Reichen plündern? In der Stadt bleibt mir nur eins: ein Verbrecher zu werden! Doctor, ich kann hier nicht weg, ohne reich zu sein.«

Dr. Mohr nickte. Er sah hinüber zu Nuria, die still wartete. Als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie verhalten.

«Deine Kinder — bis auf Pablo — mache ich gesund«, sagte Mohr.»Ich habe genug Medikamente bei mir. Was mir fehlt, wird aus Bogota kommen.«

«Hierhin? Nie!«

«Ich garantiere dafür. Aber Pablo? Ich will jedenfalls alles versuchen.«

«Bitte, Doctor.«

«Jetzt Nuria.«

Die Frau trat in den Feuerkreis und legte sich unaufgefordert vor Dr. Mohr auf die Erde. Sie öffnete die Bluse und streifte den Rock über die Hüften. Ihr Körper mußte einmal sehr schön gewesen sein. Glatt, trotz aller Zierlichkeit wohlgeformt. Jetzt waren die Brüste erschlafft, die Hüften knochig, die Schenkel dürr, das Brustbein stach spitz durch die Haut. Nur der Leib war glatt und rund, von alarmierender Glatt- und Weichheit dem übrigen ausgelaugten Körper gegenüber.

Dr. Mohr blickte hoch. Sein Zögern stieß bei Zapiga auf Unverstand. Mit seinen Kindern stand er um Nuria herum.

«Ich möchte allein sein!«sagte Dr. Mohr laut.

«Warum?«

«Ich will Nuria untersuchen!«

«Bitte.«

«Verdammt noch mal! Ich muß sie gründlich untersuchen. An den Intimstellen.«

«Fangen Sie an.«

«Die Kinder, Juan.«

«Was ist mit den Kindern? Sie hat sie geboren, sie sind aus ihr gekommen. Wo gibt es da Geheimnisse?«

«Es gibt ein Schamgefühl, Zapiga!«

«Bei uns nicht, Doctor. Bei uns ist alles natürlich. Vom Lebensanfang bis zum Lebensende. Wir werden nicht umfallen, wenn Sie in Nuria hineingreifen.«

Dr. Mohr beugte sich über die nackt vor ihm liegende Frau. Vorsichtig tastete er den Unterbauch ab, drückte an bestimmten Stellen und fragte, ob es weh täte. Nuria schüttelte den Kopf, nickte dann ein paarmal und sagte:

«Es tut nicht immer weh. Aber manchmal ist es ein Gefühl, als ob ich ein Kind bekomme. Etwas da drinnen ist rund und schwer, es drängt nach draußen, aber es kommt nicht. Es ist kein Kind.«

Dr. Mohr nickte. Das fehlte mir noch, dachte er. Hier in dieser Wildnis. Zapiga, du hast vielleicht ein Pech mit deiner großen Familie.

Er holte aus dem Metallkoffer ein gynäkologisches Spekulum und sah sich um.»Jemand muß Nuria hochhalten!«sagte er heiser.

«Sie brauchen es nur zu sagen, Doctor. «Zapiga kniete nieder und hob mit beiden Händen Nurias Unterleib hoch. Von der anderen Seite kam Margarita und stützte mit ihren Unterarmen das freischwebende Gesäß.

«Es kann weh tun. Schreien Sie ruhig, Nuria. «Dr. Mohr führte vorsichtig das Spekulum ein.

Zapiga schüttelte den Kopf.

«Sie wird nicht schreien, Doctor. Sie ist eine tapfere Frau.«

Der Blick durch das Spekulum war undeutlich. Aber trotzdem sah Dr. Mohr, was er vermutet hatte. Interessiert beobachtete Zapiga ihn. Daß es so etwas gibt, dachte er. Da kann ein Arzt in den Leib meiner Frau hineinblicken! Sind schon tolle Kerle, diese Medicos.

Dr. Mohr zog das Spekulum zurück und nickte. Zapiga und Margarita ließen Nurias Unterleib wieder auf die Erde hinunter. Nurias Haut überzog ein leichter Schweißfilm, nicht aus Schmerzen oder Angst, sondern als Ausdruck einer zurückgedrängten Scham.

«Ein Myom!«sagte Mohr.»Ein gestieltes submuköses Myom. Da hilft nur eins: Operation. In Bogota.«

«Hier nicht?«

«Unmöglich!«

«Wir kommen nie nach Bogota.«

«Ich bringe Nuria hin.«

«Und wer bezahlt das alles?«

«Ich.«

«Sie sind ein guter Mensch, Doctor, aber in unsere Welt passen Sie nicht. Überlegen Sie doch einmal. Wenn ich Nuria in Bogota operieren lasse, werden alle glauben, ich hätte genug gefunden und verstecke die Smaragde nur. Sie werden Nuria auflauern, entführen und mich erpressen. Wie die Jaguare sind sie. Grausam und gnadenlos. Sie und Nuria würden Bogota nie erreichen.«

«Dann hole ich Militärschutz.«

«Militär?«Zapiga lachte laut.»Einer Frau wegen? Versuchen Sie es! Und wenn die Soldaten wirklich kommen, dann nicht wegen Nuria, sondern um unsere Smaragde zu beschlagnahmen. Die Soldaten ziehen wieder ab, aber Sie bleiben. Wissen Sie, was man dann mit Ihnen macht? Das, was man schon einmal mit einem gemacht hat, der uns die Soldaten auf den Hals hetzte. Man kann das nicht erzählen…«

«Gibt es hier irgendwo ein Telefon?«fragte Dr. Mohr.

«Ein Telefon? Sie sind wohl verrückt!«

«Wer hat ein Funkgerät?«

«Einige, am großen Stollen.«

«Kennen Sie jemand von diesen Leuten?«

«Ich kenne sie alle.«

«Dann gehen Sie hin, Juan, und sagen Sie ihnen: Sie sollen Verbindung mit Christus Revaila aufnehmen.«

Zapiga senkte den Kopf und zog das Kinn an.»Was wollen Sie von Revaila? Was haben Sie mit Revaila zu tun?«

«Er ist mein Verbindungsmann nach draußen.«

«Ausgerechnet Revaila?«Es klang drohend.

«Ich konnte ihn mir nicht aussuchen. Sie mögen Revaila nicht? Ich auch nicht.«

«Revaila ist der Kerl, der mir auflauert. Seit zwei Jahren. In die Berge wagt er sich nicht. Aber wenn ich herauskomme, gibt es nur einen Überlebenden.«

«Trotzdem brauchen wir ihn jetzt. Nur mit seiner Hilfe kann ich Pablo und Nuria operieren. Don Alfonso muß mir die gesamte Ausrüstung schicken.«

«Don Alfonso?«Zapiga trat zwei Schritte zurück, als ströme Dr. Mohr ein giftiges Gas aus.»Sie kommen von Don Alfonso?«

«Nein. Ich habe mit ihm einen Vertrag.«

«Steh auf!«sagte Juan hart. Nuria erhob sich, streifte schnell Bluse und Rock über und ging zu ihren Kindern.»Wir danken Ihnen, Doctor. Adios.«

Dr. Mohr kniete vor seiner Metallkiste und suchte nach Medikamenten.»Wo wollen Sie hin, Juan?«

«In mein Haus! Ich habe mir doch gleich gedacht, daß hier etwas nicht stimmt. Plötzlich ist ein Arzt da! Freiwillig! Aber das stimmt ja gar nicht, er ist nicht freiwillig da. Don Alfonso schickt ihn. Über unsere Krankheiten will Camargo an unsere Smaragde. Welch ein hinterlistiger Hund. Und Sie sind sein Lockvogel.«

Zapiga spuckte vor Dr. Mohr aus und faßte seinen Sohn Pablo am Arm. Seine Verachtung war grenzenlos, aber auch seine Enttäuschung. Nur eines wußte er jetzt ganz sicher: Seine Familie würde wegsterben wie Fliegen unter einer Giftwolke.

«Ich bin hierher gekommen, um zu helfen«, sagte Dr. Mohr.»Von wem das Geld kommt, ist mir gleichgültig. Hauptsache, daß ich alles bekomme, was ich brauche. Einer Herzspritze sieht man nicht an, wer sie gekauft hat — aber sie hilft! Und ein OP-Tisch, auf dem ich Nuria operieren kann, ist mir wichtiger als alle Don Alfonsos der Welt.«

«Sie haben ja keine Ahnung, Doctor. «Zapiga blieb stehen. Die Familie umkreiste ihn. Sechs Söhne und vier Töchter, alle von diesem gnadenlosen Land gezeichnet.

«Heute liefert er Medikamente, morgen einen ganzen Operationssaal, übermorgen kommt er mit einer eigenen Armee und raubt uns aus. Das hat er schon einmal gemacht: vor zwei Jahren bei Muzo. Es gab neunundfünfzig Tote. Das zumindest ist die Zahl derjenigen, die man gefunden hat. Niemand sprach darüber, nicht einmal das Militär bei Muzo. Einen Guaquero darf man töten, das ist sogar eine gute Tat. Es entlastet die Soldaten. Doctor, Sie sind nur der Spähtrupp! Die Vernichtung kommt hinter Ihnen her.«

«Nicht bei mir. Da hat sich Don Alfonso aber geirrt. «Dr. Mohr setzte sich auf die Metallkiste. Die ausgesuchten Medikamente lagen verstreut auf dem Felsboden um ihn herum.»Komm her, Pa-blo.«

Zapiga hielt ihn fest.»Was soll er?«

«Er bekommt eine Schmerzspritze und Antibiotika.«

«Hilft das etwas?«

«Für den Anfang ja. Auch die anderen Kinder werden wieder gesund. Juan, warum glaubt ihr mir nicht, daß ich jetzt zu euch gehöre?«

«Wie kann ein Mensch, der >Sie< zu uns sagt, zu uns gehören? Das ist eine andere Welt, Doctor.«

«Deswegen bin ich hier. Damit ihr wieder an Menschlichkeit glaubt. Vielleicht kommt auch noch ein Priester zu euch.«

«Den schlagen wir tot.«

«Mit ihm werdet ihr es schwerer haben als mit mir. Der läßt sich nicht totschlagen. Eher schlägt er zurück. Wenn's sein muß, erhebt er sogar als erster die Hand. Vielleicht sollte ich das auch? Dich erst zu Boden schlagen und dann sagen: >So, jetzt steh auf und bring mir deine Kinder her!<«

«Versuch es, Doctor.«

«Danke.«

Zapiga glotzte Dr. Mohr an.»Wofür?«

«Du hast >du< zu mir gesagt.«

«Du auch!«

«Geh zu ihm, Pablo!«sagte Zapiga rauh.»Laß dich behandeln. Der Doctor ist ein verdammtes Aas.«

Dr. Mohr injizierte Vitamine und Antibiotika, bestrich die Furunkel der Kleinen mit Salben und desinfizierte die offenen Geschwüre. Er verteilte Tabletten und Dragees gegen Mangelerscheinungen und ließ die ganze Familie vor seinen Augen in Wasser gelöstes Kalzium trinken. Zapiga stand abseits und schaute dem Treiben finster zu. Als jeder seine Medikamente bekommen hatte, pfiff er wieder. Die Familie rannte wie eine Herde, die der Leitbulle rief, zu ihm.

«Morgen wiederkommen!«sagte Dr. Mohr.

«Das weiß ich noch nicht.«

«Juan, ein letztes Wort: Wenn morgen vormittag um 11 Uhr deine Familie nicht hier vor mir steht, komme ich zu dir und hole sie mir.«

«Ich würde auf ihn hören, Juan«, sagte Pebas. Zum erstenmal mischte er sich ein.»Er zerschlägt mit der Hand eine dicke Bohle. Ich habe es gesehen. Er kann dir jeden Knochen brechen, ehe du zweimal geatmet hast. Deinen Körper dann wieder zusammenzuflicken dauert länger.«

Zapiga knurrte etwas Unverständliches und verschwand mit seiner Familie lautlos in der Dunkelheit. Das ganze Geschehen mutete an wie ein Spuk. Die zerbrochenen Ampullen auf der Erde bewiesen allerdings, daß alles Wirklichkeit gewesen war. Adolfo Pebas warf neue Scheite in das aufflackernde Feuer.

«Mach deine Liste fertig, Doctor«, sagte er.»Ich gehe noch heute zu dem nächsten Mann, der ein Funkgerät hat. Ich kenne sie alle. Aber ich glaube nicht, daß die Sachen jemals hier ankommen werden.«

«Warten wir es ab, Adolfo. «Dr. Mohr setzte sich auf seine Metallkiste und nahm sein Notizbuch aus der Tasche.»Aber wenn sie ankommen, beginnt hier eine neue Zeit.«

«Man wird es dir nie danken, Doctor. Dein Weg zurück führt immer über Christus Revaila.«

«Wer sagt, daß ich zurück will, Adolfo?«

«Du lieber Himmel, du willst für immer bei uns bleiben?«

«Wenn ihr mich haben wollt. Ein Arzt hat überall seine Heimat, wo es Kranke gibt, die nach ihm rufen.«

«Warum lügst du, Doctor?«

«Adolfo, ich lüge nicht.«

«Du bleibst doch nur wegen Margarita.«

«Nicht nur.«

«Aber auch.«

Dr. Mohr spürte ein Prickeln unter der Kopfhaut. Er machte sich an der Kiste zu schaffen, aber er spürte Pebas' Blick in seinem Nacken.

«Margarita ist ein sauberes Mädchen«, sagte Pebas stumpf.»Unschuldig und voll der Hoffnung auf ein bißchen Glück. Ich hatte noch eine Tochter. Perdita. Auch sie war hübsch, sauber und unberührt. Dann kam ein Mann; er konnte sprechen wie ein Lexikon, sang zur Gitarre schöne Lieder und redete von Liebe. Er nahm sie mit nach Penasblancas. 2.000 Pesos gab er mir, damit ich die Hochzeit vorbereite. Er hat Perdita nie geheiratet. Erst später erkannte ich, daß er sie mir abgekauft hatte. Für 2.000 Pesos. Wo hat er sie hingebracht? In ein Hurenhaus. Er wird für sie 30.000 Pesos bekommen haben. >Mama< zahlt nicht schlecht für jungen Nachwuchs. So habe ich eine Tochter verloren. «Pebas beugte sich weit zu Dr. Mohr vor. Seine Wange streifte Mohrs Nacken.»Ich bringe dich um, Doctor«, sagte er leise,»wenn du Margarita verführst. Bei Gott und allen Engeln. Ich bringe dich um! Und jetzt schreib die Liste.«

Dr. Mohr notierte sich, was er brauchte: einen klappbaren OPTisch. Einen starken Batteriescheinwerfer. Einen Stromerzeuger, mit Benzin getrieben. Chirurgische Bestecke für die wichtigsten Operationen. Infusionsflaschen und Blutersatz. Verband- und Nahtmaterial in großen Mengen. Narkosemittel. Sterilisationskästen. OP-Hand-schuhe. Antiseptische Lösungen. Desinfektions-Sprays. Und eine lange Liste mit Medikamenten.

«Das wäre es vorerst«, sagte er und gab den Zettel an Pebas. Er hatte über eine Stunden für die Zusammenstellung gebraucht.»Damit kann ich arbeiten.«

Pebas überflog die Liste und steckte sie ein.»Du bist doch verrückt, Doctor. Aber wie du willst. Ich lasse alles an Christus Revaila durchgeben. Du wirst jedoch nie wieder etwas davon hören. Ich gehe jetzt.«

«Viel Glück, Adolfo.«

Nach ein paar Schritten blieb Pebas stehen, überlegte etwas und kam zurück.

Sein Gesicht war sehr ernst.

«Ich weiß es«, sagte er.»Wenn ich weg bin, wird Margarita herauskommen. Sie wird mit dir sprechen. Was wirst du ihr sagen?«

«Wie soll ich das im voraus wissen?«

«Willst du ihr sagen, daß du sie liebst? Doctor, ich sehe es dir an: Du bist verrückt nach meiner Tochter! Das wird ein Unglück ge-

ben! Ich spüre es genau: Du wirst wie ein Engel für die Kranken sein, aber für uns, die Pebas, das große Unglück bedeuten. Es war ein Fehler, daß ich dich mitgenommen habe.«

«Ich wäre auch so gekommen.«

«Aber nicht zu uns!«

«Zu euch! Ich hätte euch überall gesucht und auch gefunden!«

«Margarita!«

«Ich habe in Penasblancas immer an sie gedacht.«

«Warum hast du das nicht vorher gesagt?«preßte Pebas leise durch die Lippen.»Doctor, ich hätte dich schon auf dem Marktplatz erschlagen sollen.«

Nachdenklich blieb Dr. Mohr draußen am Feuer sitzen, nachdem Pebas in der Dunkelheit untergetaucht war. Er wagte nicht, jetzt ins Haus zu gehen, da er wußte, daß Margarita auf ihn wartete. Es war die erste Gelegenheit, mit ihr allein zu reden. Maria Dolores war kein Hindernis. Sie hatte gelernt zu dulden. Adolfo und Perdita hatten immer getan, was sie wollten, sie hatten nie gefragt. Nun war Margarita herangewachsen. Warum sollte sie anders als Vater und Schwester sein?

Dr. Mohr drehte sich nicht um, als er hinter sich das Rascheln eines Kleides hörte. Angespannt wartete er. Sie steht hinter mir, dachte er. Sie blickt auf mich herunter. Ich spüre ihren Blick auf meiner Haut. Als ob ein warmer Wind über mich hinwegstreicht. Verrückt ist dieses Gefühl! Wer mir gesagt hätte, daß die Nähe einer schönen Frau bei einem gestandenen Mann wie mir noch Atemschwierigkeiten bereitet, den hätte ich für verrückt erklärt. Und jedem Patienten, der zu mir gesagt hätte:»Herr Doktor, mir ist, als ob meine Haut brennt, wenn sie mich ansieht!«hätte ich als Therapie verordnet:»Stecken Sie jedesmal bei solchen Anfällen den Kopf in einen Eimer eiskalten Wassers!«

Wo ist hier ein Eimer mit kaltem Wasser.

«Ich habe gehört, was er gesagt hat. «Margaritas Stimme klang trau-rig. Er rührte sich nicht, starrte in die Flammen und schob mit dem Fuß einen Holzscheit tiefer in die Glut.»Er meint es ernst, Doc-tor.«

«Ich nehme es auch ernst, Margarita.«

«Warum gehst du dann nicht nach Bogota zurück?«

«Auch wenn ich es wollte, jetzt kann ich es nicht mehr. Nicht, nachdem ich die Familie Zapiga gesehen habe.«

«Es gibt noch Hunderte solcher Familien. Tausende.«

«Genau daran habe ich gedacht. Warum kümmert sich keiner darum?«

«Weil es uns nicht gibt. Alle Gruben sind stillgelegt, heißt es. Das Gebiet ist vom Militär abgeriegelt. Es ist totes Land. Wenn in diesem toten Land heimlich Menschen leben, wen geht das etwas an? Keiner schert sich darum. Und wenn einmal jemand kommt, der sich um dieses Elend kümmern will, dann wird er verhaftet und weggeschafft. Vor einem Jahr war ein Mann hier, ein Deutscher.«

«Ach!«Dr. Mohr faltete die Hände über den angezogenen Knien.

«Er sprach spanisch wie wir, sagte aber, er käme aus Deutschland. Kennst du Deutschland, Doctor?«

Mohr zögerte. Dies war eine entscheidende Minute, in der man die Wahrheit sagen konnte oder sich das >zweite Ich< für lange Zeit, vielleicht für immer, überstreifen mußte. Er entschloß sich, auszuweichen.

«Ein kleines Land, weit weg.«

«Aber ein reiches Land, nicht wahr?«

«Wie man's nimmt. Die Menschen sollen dort von Arbeit und Geldverdienen sogar träumen.«

«Der Mann hat viel über Deutschland erzählt. Er wollte uns Gua-queros nach deutschem Muster leiten.«

«Du lieber Himmel! Es war wirklich ein echter Deutscher!«

«Er wollte — ich habe es mir gemerkt — eine Gewerkschaft mit uns gründen.«

«Prost! Und wo ist der Reformer?«

«Wir wissen es nicht. Zuerst bekam er Streit mit dem Militär. Sie haben ihn verhaftet und nach Muzo mitgenommen. Dort hat man ihn nach zwei Monaten wieder laufen lassen. Zuletzt hat man ihn in Penasblancas gesehen, bei Mercedes Ordaz. Dann war er plötzlich weg. Aber er ist nie nach Bogota gekommen, das wissen wir.«

«Warum erzählst du mir das, Margarita?«

«Es ist gefährlich, sich um uns zu kümmern, Doctor.«

«Ich bin kein Gründer einer Guaquero-Gewerkschaft. Ich bin Arzt.«

«Du willst etwas verändern, das genügt.«

«Ich will helfen!«

«Aber ich habe Angst um dich. «Dr. Mohr fühlte, wie sich ihre Hand ganz leicht auf seine Schulter legte. Sein Atem wurde schwer. Er preßte die Lippen aufeinander und unterdrückte das Verlangen, nach ihrer Hand zu greifen.

«Bis jetzt sieht alles friedlicher aus, als ich geglaubt hatte.«

«Du bist noch keinen ganzen Tag bei uns. Noch hast du nichts gesehen. Hier gibt es keinen Tag ohne Schlägerei, ohne Messerstecherei, ohne einen Toten. Man spricht nicht einmal mehr darüber. Das gehört hier zu unserem täglichen Leben.«

Sie schwieg abrupt. Durch die Dunkelheit drang der Klang eines harten Schrittes zu ihnen. Jemand in schweren Stiefeln näherte sich der Höhle über den Felsboden. Margaritas Hand zuckte zurück, der Druck ihrer Finger, der einzige zage Ausdruck ihrer Zärtlichkeit, verschwand. Dr. Mohr drehte sich herum. Margarita lief ins Haus. Aus einer Felsspalte, die eine enge Gasse sein mußte, erschien ein Mann mit einem gewaltigen Schlapphut. Er stützte sich auf sein langläufiges Gewehr wie auf einen Spazierstock und ließ den Kolben bei jedem Schritt auf die Erde donnern. Erst im Umkreis des Feuers schien er sich wohler zu fühlen. Sein Gang, vorher etwas unsicher, wurde forscher und schneller. Vor Dr. Mohr blieb er stehen, musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen und setzte sich dann neben ihn an das Feuer. Das Gewehr klemmte er zwischen seine Beine.

«Ich bin Pepe Garcia«, sagte er.

«Der Nachbar aus dem Stollen oben. So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht.«

«Du bist also der Doctor.«

«Ja, das bin ich.«

«Morgen wird es noch still sein. «Pepe holte aus seiner Tasche ein Kästchen mit Tabak und drehte sich aus altem Zeitungspapier eine Zigarette.»Du auch?«fragte er.

«Natürlich.«

Pepe drehte die zweite Zigarette und blickte Dr. Mohr über das Röllchen hinweg an.»Soll ich sie auch belecken?«

«Warum nicht?«

«Sie sagen alle, ich hätte Spucke wie Leim. Bei mir geht keine Zigarette auf. «Er beleckte die Papierenden, drückte die Naht zusammen und reichte Dr. Mohr die fertige Zigarette.

«Aus bestem Papier. Abgelagerte Zeitung. Die frischen schmecken zu sehr nach Druckerschwärze. «Garcia nahm einen glühenden Ast aus dem Feuer, hielt ihn Dr. Mohr hin, und sie steckten sich ihre Zigaretten an. Es war ein höllisches Kraut. Der erste Zug verätzte fast die Luftröhre. Dr. Mohr holte tief Luft und empfand die warme Nachtluft wie einen eisigen Hauch.

«Adolfo hat dir gesagt, daß ich bald blind bin?«fragte Pepe Garcia.

«Das wundert mich nicht. Wer solch einen Tabak raucht. Das schlägt sich selbst auf die Sehnerven nieder.«

«Kleiner Witz, was?«Pepe lächelte säuerlich. Wie alle, die Mohr bisher gesehen hatte in dieser Gegend, war auch Garcia das Opfer der grünen Steine. Der Berg, der Stollen, die Knochenarbeit unter Tage, der Luftmangel in der Grube hatten ihn zu einem ledernen Menschen gemacht. Wer jung hierher kam, hatte noch Chancen, nach einigen glücklichen Funden wieder in die Stadt zurückzukehren. Die alten Guaqueros dagegen mumifizierten bei lebendigem Leib.

«Ich darf nicht blind werden.«

«Das sagt sich so leicht, Pepe.«

«Ich muß noch ein Jahr sehen können, Doctor. In einem Jahr bin ich am Ziel. Smaragde, so groß wie eine Kinderfaust. «Er zeigte mit dem Gewehr aufden hohen, dunklen Felsen, der sich vor ihnen erhob. Eine Steilwand, an vielen Stellen angebohrt und aufgeschlitzt.»Da sind sie drin, Doctor. Glauben will es keiner, aber ich finde sie!«

«Das gleiche sagen Zapiga und Pebas.«

«Auch die beiden haben das komische Gefühl. Wir sind Freunde und bringen uns nicht gleich um. Das ist unser Berg! Wir werden ihn verteidigen. Dafür brauche ich meine Augen.«

«Bis jetzt wollte euch der Berg doch keiner wegnehmen.«

«Das ändert sich schnell, Doctor. Der erste größere Fund, und wir werden belagert und sturmreif geschossen. Da gibt es kein Halten mehr. Von allen Seiten werden sie kommen. Hat dir Adolfo nichts von Juanito erzählt? Nein? Das war ein junger Bursche, zart wie ein Mädchen. Keiner nahm ihn ernst. Wenn er eine Stunde im Stollen war, kroch er wieder heraus, legte sich wie ein geplatzter Frosch in den Schatten und mußte zwei Stunden Luft tanken. So kann man keinen Reichtum aus dem Berg holen. Aber sie haben ihn gelassen, weil er so jung und dämlich war. Er grub in einem alten Seitenstollen der staatlichen Miene. Ein zusammenfallendes Loch, das selbst die Geologen aufgegeben hatten. Hier wächst kein Grüner, das wußten alle. Aber Juanito bohrte weiter. Eines Nachts war er weg. Hatte alles liegen gelassen. Sein Werkzeug, seinen Kleidersack, seine Holzbude. Sogar seinen geliebten Hund hatte er nicht mitgenommen. Er lag jaulend und angebunden vor der Hütte. Ha, das hättest du sehen sollen! Da wurde Alarm gegeben. Wenn einer so abhaut, konnte das nur eins bedeuten: Er hat seine Grüne Sonne gefunden. Ausgerechnet Juanito! Was dann begann, war eine Jagd, gegen die eine Hetze von einem Jaguar fast ein Vergnügen ist. Juanito liefnur nachts. Tagsüber versteckte er sich oben in den riesigen Bäumen oder in flachen Höhlen, benutzte keinen öffentlichen Weg, sondern wan-derte quer durchs Land, durch Felsschluchten und an Berghängen entlang, schlug Haken von Kilometerlänge und wartete einen Monat lang in einem einsamen Tal mit einer Quelle. Sie werden mich vergessen, dachte er. Aber vergißt man einen Jungen, der einen großen Grünen aus dem Berg geholt hat? Nach über zwei Monaten tauchte Juanito, unkenntlich durch einen Bart, in Penasblancas auf, um weiter nach Bogota zu ziehen. Eine Nacht wohnte er bei >Mama<, leistete sich eines von >Mamas< Mädchen und bezahlte mit einem kleinen Smaragd. Wie immer Vorkasse. Da ist >Mama< vorsichtig. Aber dieser Smaragd! Solch eine Farbe, so etwas von Reinheit. >Mama< geriet ganz aus dem Häuschen. Und sie dachte richtig: Wo einer von dieser Sorte ist, liegen auch noch andere. Juanito bekam das schönste Mädchen, und das größte Aas dazu! Das Unglück der meisten von uns ist: Wir zerbrechen an zwei Dingen, dem Berg und den Weibern! — Gegen Morgen kapitulierte Juanito vor so viel unersättlichem Temperament und schlief erschöpft ein. >Mama< untersuchte ihn. Sie entdeckte ein Beutelchen mit weiteren herrlichen Steinchen, aber nicht die großen Grünen. Dafür fand sie eine Notiz: >Ca. 22 k.< Nur diese drei Worte, aber sie ließen alle Glocken läuten. Juanito mußte irgendwo einen Stein haben, der geschliffen 22 Karat brachte. Je nachdem, wer ihn aufkauft, bedeutete das einige Millionen Pesos! Juanito brauchte nie mehr zu arbeiten! >Mama< ließ ihn beobachten, aber sie war nicht schnell genug.«

Pepe warf seinen Zigarettenstummel in das Feuer und spuckte in hohem Bogen hinterher.

«Juanito wurde umgebracht«, sagte Dr. Mohr langsam.

«Hätte man das nur getan! Nein, er wurde geschlachtet. Verstehst du, was ich meine, Doctor? Menschen, schlimmer als Raubtiere, erwischten Juanito auf dem Weg nach Muzo, wo er anscheinend unter militärischem Schutz nach Bogota wollte. Sie spannten ihn, wie eine Tierhaut zum Trocknen, zwischen zwei Bäumen auf und >frag-ten< ihn. Er muß lange und tapfer geschwiegen haben. Der Bataillonsarzt in Muzo zählte 32 Messerstiche, über den ganzen Körper verteilt, die letzten mit einer glühend gemachten Klinge. Außerdem aufgeschlitzte Arm- und Brustmuskeln, Kastration. Willst du noch mehr hören, Doctor?«

«Nein!«sagte Mohr leise. Seine Stimme war heiser.

«Er starb durch einen Stich in die Kehle. Als sei er ein Schwein. Aber vorher muß er gesprochen haben. Vier Tage später reisten zehn

Burschen und Christus Revaila nach Bogota. Die Jungs mauerten ihn förmlich ein! Warum wohl?«Pepe wedelte mit der Hand.»Ich will nichts angedeutet haben! Beweisen kann man überhaupt nichts. Und von Juanito spricht auch keiner mehr.«

«Dann müßte jetzt Don Alfonso Camargo Besitzer des großen Steines sein.«

«Sprich es nie laut aus, Doctor. «Pepe Garcia lehnte sich zurück, hielt sein Gesicht hoch, stützte sich auf die Arme und riß die Augen auf.»Sieh dir das an, Doctor. Muß ich blind werden?«

«Ich bin kein Augenarzt, Pepe. Aber wenn der Sehnerv beschädigt ist.«

«Kann man das operieren?«

«Kaum.«

«Wenn ich den großen Fund mache, will ich noch etwas von der Welt sehen. Doctor, ich möchte, bevor ich für immer unter der Erde liege, noch einmal eine Frau im Arm halten. Ich habe mein halbes Leben im Berg gelebt. Dieser Berg war meine einzige Geliebte. Ihr Ärzte seid doch so klug! Ihr könnt sogar Herzen verpflanzen! Was ist da schon ein Auge?!«

«Ein Nerv, Pepe! Es ist noch keinem gelungen, einen kranken Sehnerv auszuwechseln. Man wird auch Gehirne nie austauschen können. Ein Herz ist dagegen kein Problem, technisch gesehen. Es ist ein pumpender Muskel, weiter nichts.«

«Weiter nichts! Aber mein Sehnerv.«

«Das ist das Feinste und Faszinierendste, was der Mensch in sich trägt.«

«Ha! Macht mich das stolz!«sagte Pepe sarkastisch.»Wenn ich blind bin, kann ich allen sagen: Mein Sehnerv war so zart und fein, der machte die Hölle von Penasblancas nicht mehr mit!«Pepe kehrte in seine normale Sitzhaltung zurück und spuckte wieder in das Feuer. Dann griff er in die Tasche und drehte sich erneut eine seiner menschenzerfressenden Zigaretten.»Du willst hier bleiben, Doc-tor?«

«Ja, Pepe.«

«Und auch blind werden?«

«Ich werde nicht im Stollen schürfen.«

«Du wirst! Jeder, der hier lebt, wird von der Sucht nach grünen Steinen gepackt. Soll ich dir sagen, wie es mit dir weitergehen wird? Am Tage wirst du Arzt sein und allen, die zu dir kommen, helfen. In der Nacht liegst du mit deinem Scheinwerfer im Berg und kratzt dich durch die Steinschichten. Und dann findest du deinen ersten Stein! Diese Freude! Du wirst ihn im Licht drehen und mehr empfinden als in den Armen der schönsten Frau. Von diesem Augenblick an bist du verloren! Du kannst nicht mehr zurück. Der Stein hat dich verzaubert, verwandelt, du bist nicht mehr der vom vergangenen Tag! Von dem Arzt in dir wird man immer weniger sehen, von dem Guaquero um so mehr hören. Solange du noch eine Hacke halten kannst, wirst du sie niedersausen lassen. Irgendwo da drinnen im Berg liegt das Paradies.«

«Ich brauche kein Geld, Pepe. Das ist der Unterschied zwischen mir und euch.«

«Geld!«Garcia lachte rauh.»Natürlich spielt bei dir das Geld keine Rolle, aber um so schlimmer wird es sein. Du wirst geil werden auf die grünen Steine. Es ist eine furchtbare Geilheit, Doctor. Und du wirst jeden hassen, der mehr grüne Steine aus dem Berg holt als du! So ist das. Geh lieber zurück nach Bogota.«

«Aha! Endlich haben wir es. «Dr. Mohr stand vom Feuer auf.»Warum wollt ihr mich alle weghaben? Jeder redet nur davon, daß ich gehen soll! Dabei bin ich noch gar nicht richtig da! Wovor habt ihr Angst?!«

Pepe Garcia räusperte sich. Er stützte sich auf sein Gewehr und stand auf.»Wir wollen nicht, daß sich Christus Revaila mehr um uns kümmert als bisher.«

«Revaila also!«

«Adolfo hat dir einiges verschwiegen, Doctor. Wir wissen hier bereits, was du mit Revaila getan hast. Der Nachrichtendienst funktioniert so gut wie unsere Revolver. Für Revaila bist du jetzt der Mann, der zu viel auf der Welt ist, und keiner hier wird dir helfen, wenn

Revaila kommt, um dieses Konto auszugleichen. Auch diejenigen, denen du vorher als Arzt geholfen hast, werden dir nicht beistehen.«

«Vor einem einzigen Mann liegt ihr alle ängstlich zitternd auf der Erde? Pepe, ich schäme mich jetzt schon für euch.«

«Das sind große Reden, Doctor. Du merkst es noch nicht, aber du wirst es bald spüren: Du sitzt in einem Käfig und bist ein Tier, das man anstaunt, weil es so zahm ist…«

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