Am nächsten Morgen erschienen wieder, in drei Kolonnen anrückend, fast mit militärischer Ordnung, die Männer aus der >Burg<. Sie bauten sich am Rande des Plateaus auf und blickten finster auf das Zelt von Dr. Simpson. Der Steinwall war in der Nacht hoch genug geworden, und hinter dem Wall saß Dr. Simpson neben seinem Minenwerfer und hatte das Rohr geladen. Auf der anderen Seite, halb fertig, stand das Wohngebilde des Priesters. Pater
Cristobal kroch aus seinem Schlafsack. Miguel war bei Sichtung der wild aussehenden Männer sofort hinter dem Haus in Deckung gegangen. Dr. Mohr, der auf die Männer gewartet hatte, kam dem Anführer, dem Bärtigen, mit ausgestreckten Armen entgegen.
«Neue Freunde sind gekommen«, sagte er.
«Das sehe ich!«Der Bärtige übersah Dr. Mohrs Hände.»Ob es Freunde sind, wird sich erst noch herausstellen. Die Wachen haben gemeldet, daß hier in der Nacht einiges los war. Stimmt es? Simpson soll hier sein?«
«Dort drüben am Zelt steht er.«
«Das ist Simpson? Der Kerl mit dem Minenwerfer? Wissen Sie, Doctor, wen sie da hierbehalten haben?«
«Einen Arzt. Ich kann ihn gut gebrauchen, ein einzelner für 30.000 Menschen, das ist ein bißchen wenig! Meine Kollegen, die Krankenscheinsammler, würden zwar über eine solche Praxis jubeln, aber ich habe, ganz ehrlich, Angst davor.«
«Jeder Dritte von uns ist irgendwie krank.«
«Das wären also 10.000! Für einen allein! Unmöglich!«
«Sie haben sich ja diesen Blödsinn in den Kopf gesetzt, nicht ich! Und nun glauben Sie, dieser Simpson, dieses Loch, das man nur mit Schnaps auffüllen kann, könnte Ihnen helfen? Der säuft Ihnen Ihren Desinfektionsalkohol weg!«
Der Bärtige hatte laut genug gesprochen. Dr. Simpson zuckte neben seinem Minenwerfer hoch und kam an die Steinmauer.»Moment mal!«rief er.»Ich kenne Sie nicht! Sie waren noch nie bei mir in Behandlung! Aber gehört habe ich genug von Ihnen, Herr Rechtsanwalt! Wo bleibt Ihr juristisches Gewissen? Wer predigt denn in den Gerichtssälen immer von der Gewährung einer Chance? Ich habe jetzt eine, und Sie machen Sie mir streitig? Mein Lieber, ich ziehe vor Ihre >Burg< und äschere sie ein mit meinem Werfer!«
«Ich sage es ja: ein Idiot, der sein Gehirn weggesoffen hat! Simpson, bepinkeln Sie Ihren Minenwerfer, wir haben in der >Burg< drei 7,5-Geschütze!«
«Du lieber Himmel! Die Artillerieabteilung, die aufdem Weg von
Muzo nach Cosques spurlos verschwunden ist…«
«Sie sagen es!«
«Alles niedergemacht?«
«Die Kanoniere sind bei uns. Ein Teil steht da!«Er zeigte mit dem Daumen nach rückwärts auf die drei Kanonen.»Sie hatten die Wahl, und sie wählten das Leben. In ein paar Jahren sind sie reich. Simpson, wir sprechen uns noch. Sie sind momentan nicht interessant genug.«
«Oho! Dieser Strohkopf!«schrie Simpson und wurde rot im Gesicht.»Ein verkrachter Advokat, der sich beim Gerichtsdiener die Rechtsauskünfte holte!«
Der Bärtige stutzte, starrte wild auf die Steinmauer vor dem Zelt und wandte sich dann ab. Er ging auf Pater Cristobal zu, der ihm entgegenkam.
«Haben Sie das gehört, Pater?«fragte der Bärtige.
«Sie haben ihn auch gereizt! Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
«Können Sie mehr als Ihre Sprüche?«
«Es kommt darauf an, was Sie erwarten!«
Der Bärtige kratzte sich am Kopf.»Von der ersten Sperre an wußte ich, daß Sie der Priester sind, der in Penasblancas eine Notkirche errichtet hat und es fertigbrachte, >Mama< und Christus Revaila zu einem Gottesdienst unter einem Dach zu versammeln. Und das ohne einen einzigen Toten! Sie werden in die Geschichte von Penasblancas eingehen. Als ich erfuhr, daß Sie in die Berge kommen, habe ich befohlen: Durchlassen.«
«Zu gütig«, sagte Pater Cristobal ruhig und lächelte dabei milde.
Der Bärtige wischte sich ungelenk über die Augen.»Ich habe einen Mann, der nicht sterben kann, ohne gebeichtet zu haben.«
«So etwas gibt es.«
«Wollen Sie mitkommen, Pater?«
«In Ihre berühmte >Burg Die noch kein Fremder betreten hat?«
«Ein Priester und ein Arzt sind keine Fremden. Sie gehören immer zu uns, sind mit uns verwachsen, auch wenn wir es noch so zu leugnen versuchen. «Er wandte sich an Dr. Mohr und kaute an der Unterlippe.»Doctor, auch Sie kommen mit. Ich mache mir seit einer Stunde Sorgen. um meine Frau.«
«Ihre Frau? Sie haben eine Frau? Ich denke, in der >Burg< lebt eine reine Männergesellschaft?«
«Sie lebt in einem Camp in der Nebenschlucht. Wir sind nicht verheiratet, aber ich nenne sie meine Frau. Sie bekommt ein Kind, doch es scheint Komplikationen zu geben. Ich verstehe davon wenig, aber ich glaube, das Becken ist zu eng. Das Kind kann gar nicht heraus.«
Dr. Mohr schluckte.»Wissen Sie, was das bedeutet?«fragte er heiser.»Was das hier bedeutet?«
«Ich vertraue Ihnen, Doctor.«
«Da hilft kein Vertrauen! Mein Gott, wie soll ich denn hier einen Kaiserschnitt machen?«
«Sie haben Instrumente bei sich.«
«Aber nicht die richtigen! Keine gynäkologischen.«
«Was ist mit Gynäkologie?«rief Dr. Simpson, der das Wort aufgeschnappt hatte.
«Halten Sie das Maul, Simpson!«brüllte der Bärtige.
«Sie sollten froh sein, daß auch er jetzt hier ist. Er kommt mit.«
«Soll meine Frau durch seinen Anblick sterben?«
«Wo ist Ihr nüchterner Verstand geblieben?«
Der Bärtige nickte schwer.»Also gut. Gehen wir. Zwei Ärzte und ein Priester, Skalpell und Gottes Wort, das müßte gut gehen. Wo fangen wir an? Bei dem Sterbenden oder bei der Gebärenden?«
«Beim Leben!«sagte Dr. Mohr.»Was meinst du, Cris?«
Pater Cristobal faltete die Hände.»Ich werde nach zwei Seiten beten«, sagte er.»Da Gott ja doch alles sieht, wird er auch beide Ohren offen haben.«
«Dr. Simpson!«rief Dr. Mohr zum Zelt hinüber.»Kommen Sie von Ihrem Minenwerfer weg. Wir müssen zu einem Kaiserschnitt!«
«Du meine Güte!«Simpson tauchte hinter seinem Steinwall auf.»Meine letzte sectio caesarea habe ich vor neun Jahren gemacht!«
Er ging auf den Bärtigen zu, der ihn mißtrauisch musterte, und hob beide Hände.»Aber keine Angst, Rechtsverdreher, zur Assistenz reicht es noch!«
«Ich hole meinen Koffer«, sagte Dr. Mohr.
«Und ich mein Abendmahl. «Pater Cristobal wandte sich ab.
Allein standen sich nun der Bärtige und Dr. Simpson gegenüber. Sie sahen sich an, eine ganze Weile, wortlos, sich mit Blicken bekämpfend. Dann lächelten sie und steckten die Hände in die Hosentaschen.
«Pißpottschwenker!«sagte der Bärtige gefühlvoll.
«Paragraphenscheißer!«
«Kann man… ich meine… könnte man im Notfall hier eine Kaiserschnittoperation machen.?«
«Man kann… mit allen Risiken«, sagte Dr. Simpson.»Wie ich Pete kenne, würde er es wagen.«
«Sie nicht?«
«Nein.«
«Sie würden meine Frau krepieren lassen.«
«Ich würde eher das Kind opfern. «Dr. Simpson hob hilflos beide Arme.»Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«
«Bei mir?«Der Bärtige wischte sich wieder über das Gesicht.»Wieso denn?«
«Sie müssen entscheiden, was Ihnen lieber ist: die Frau oder das Kind! Nur einer kommt durch. «Dr. Simpson hob wie frierend die Schultern. Aus der Pebas-Wohnung trat Dr. Mohr heraus, in der Hand seinen schweren, metallenen Arztkoffer.»Hier ist alles verflucht! Belügen wir uns doch nicht selbst«, sagte er seufzend.
Nach längerem Fußmarsch durch eine steinige Schlucht, in der man mühsam einen engen Trampelpfad durch das Pflanzendickicht errichtet hatte, erreichten der Bärtige, Dr. Mohr, Dr. Simpson und als Schlußlicht Pater Cristobal ein Seitental, das sich, eng wie ein Schlauch, durch die Felswände preßte. Man hatte in den dichten
Bergwald eine große Rodung geschlagen und aus dem so gewonnenen Holz, den Ästen und den Blättern Behausungen gebaut. Sieben Hütten standen im Kreis, wie eine Wagenburg, und waren gegen Angriffe zusätzlich noch mit einer Steinmauer und zugespitzten Palisaden gesichert. Die meisten Bewohner waren Frauen und Kinder. Die Männer wühlten sich die ganze Woche über durch die Minen, trieben Stollen in den Berg, siebten, wuschen, zerkleinerten die Steine und sortierten die Funde, meist armselige, trübe, in der Farbe nur schlechte Smaragde, die auf dem Markt keinen hohen Preis erzielten. Nur die Edelsteinschleifer verdienten später daran. Sie spalteten die Steine in hauchdünne Plättchen und klebten diese dann aufherrlich grüne und saubere Synthetiks, nannten das wirklich attraktive Werk >Smaragd-Doubletten< und verkauften die Steine, in kunstvollen Fassungen, zu einem sehr gewinnträchtigen Preis.
Aber davon hatten die Guaqueros in den Bergen von Muzo keine Ahnung. Sie krochen in die niedrigen Stollen, zogen ihre Atemschläuche hinter sich her, hämmerten sich zentimeterweise weiter und lagen nach vier oder fünf Stunden unter Tage wie tot vor den Minengängen, pumpten die Luft in sich hinein, zitterten am ganzen Körper und waren sogar zu schwach, über ihr Leben zu fluchen. Die Beute des Tages: Nichts. Höchstens ein paar winzige grüne Körner, die wie Schimmel im Gestein geklebt hatten. Aber das genügte. Die Hoffnung wuchs mit jedem Fund. Wo es in dem Strahl der vor den Kopf gebundenen Batterielampen grün aufleuchtete, da mußte es, irgendwo tief drinnen in dem verfluchten Felsen, noch mehr von diesen grünen Steinen geben. Größere Steine, wasserklares Kristall. und damit Geld, Geld, Geld!
Das Camp wurde von vier Greisen bewacht, die nicht mehr in die Minengänge kriechen konnten und die man miternährte, weil sie Holz hackten, Ausbesserungsarbeiten an den Häusern ausführten, Schweine und Ziegen schlachteten, Wurst herstellten, auf die Jagd gingen oder einmal im Monat mit ein paar Mulis nach Penasblancas zogen, um dort im Magazin einzukaufen: Dynamit zum Sprengen,
Munition, Salz und andere Gewürze, Kleidung, Werkzeuge, Batterien, Mehl, Mais, Zucker, Trockenfrüchte, Bohnen, Erbsen, Seife und Schnaps. Auch die aktuellsten Nachrichten brachten sie mit. Die seit langem sensationellste Meldung war, daß ein Arzt und ein Priester in die Berge gezogen waren. Man lachte darüber ausgiebig, mehr über den Pfaffen als über den Medico. Einen Medizinmann konnte man noch gebrauchen, aber was wollte jemand bei den Smaragdminen, der nur heilige Sprüche klopfte, von Gottes Liebe erzählte und vom Paradies sprach, wo man doch schon längst in der Hölle wohnte.
Wie überall bei den Guaqueros klappte auch hier im Camp das Informationssystem. Der kleine Trupp der vier Männer war längst avisiert worden. Am Eingang der Mauer und Palisaden standen vier Greise mit Gewehren. Im Camp selbst war es so still, als sei es verlassen. Alle Frauen und Kinder waren in den Häusern, lediglich ein paar Hühner und Enten liefen herum, Schweine grunzten und eine Hundemeute tobte in einem Zwinger. Es waren große, stämmige, fast weißfellige Hunde mit starken Gebissen. Sie heulten und bellten wütend, sprangen an dem Drahtgitter empor und benahmen sich so mordlustig, als witterten sie frisches Blut. Ein Junge in zerlumpten Kleidern, vielleicht sieben Jahre alt, stand neben dem Zwingertor und hatte die Hand auf das Schloß gelegt. Ein Zuruf nur, und er schob den Riegel zurück. Dann würde die Meute herausstürzen und über alles herfallen, was sich ihr in den Weg stellte. Vor diesen fletschenden Zähnen gab es keine Rettung mehr.
Pater Cristobal blieb stehen und blickte über das Camp.»Ein freundlicher Empfang«, sagte er sarkastisch.
«Vorsicht und Mißtrauen sind hier das halbe Überleben, Pater. «Der Bärtige zeigte auf die Hütten.»Dort, die vierte vom Eingang, das ist sie. Dort wohnt meine Frau. Erschrecken Sie nicht.«
«Warum?«Dr. Mohr stellte seinen schweren Metallkoffer ab.»Noch eine Überraschung?«
«Meine Frau ist ein Kind.«
«Was?«
«Nach zivilisierten Begriffen. «Der Bärtige zerrte wütend an seinem offenen Hemd.»Jetzt glotzen Sie mich nicht wie einen Lustmörder an, Doctor! Meine Frau ist 15 Jahre alt. Sie kommt aus dem Stamm der Chibcha-Indianer. Da gelten andere Gesetze. Dort ist ein Mädchen mit 12 Jahren schon heiratsfähig! Fragen Sie mich jetzt nur noch, warum ich so eine Junge genommen habe! Was hier an Weibern herumwieselt, ist entweder schon verheiratet oder Großmutter. Die anderen sind verdammte Huren, die in den Bergen herumziehen und mit gespreizten Beinen Smaragde sammeln. Ein gutes Geschäft, sage ich Ihnen! Diese fliegenden Puffs werden, wo sie auch hinkommen, gefeiert, als brächten sie die kostbarsten Geschenke mit! Ich weiß, das tut weh, Pater, aber es ist die Wahrheit. Sollte ich mir so eine nehmen? So ein Pflanzbecken? Da lernte ich Chica kennen. Ihre Familie war auf der Flucht. Ihren Vater hatten sie gerade erschlagen, weil er nicht wußte, wo es Smaragdadern gibt. Denn seit der Zeit der Konquistadoren gelten die Chibcha-Indianer als die besten Kenner der Smaragdvorkommen. Damals wurden Tausende zu Tode gefoltert, übrigens, Pater, das ist interessant, mit Billigung der Kirche und zum Wohle Spaniens. So kamen die Eroberer in die Kenntnis der Minen. Und das spukt auch heute noch in den Gehirnen herum: Wenn man einen Chibcha erwischt, heißt es immer: Wo liegen die Adern? Die grünen Adern? Mistkerl, du weißt es ganz genau! Oft endet es wie bei Chicas Vater. man erschlägt ihn, obwohl er wirklich nichts weiß. Also, Chicas Mutter und eine noch jüngere Schwester waren auf der Flucht. Sie lebten, als ich sie bei einer Jagd aufstöberte, wie Tiere in Erdhöhlen. Sie schrien nicht, sondern neigten ihre Köpfe vor, stumm und ergeben: Komm, weißer Mann, schlag uns endlich tot! Ich habe sie in dieses Camp mitgenommen und ihnen die Hütte gebaut. Als sie fertig war, kroch Chica in der Nacht zu mir. Sie wollte mir danken. Und das einzige, was sie mir als Dank geben konnte, war ihr herrlicher Körper. Hätten Sie nein gesagt? Wenn Sie das jetzt bejahen, sind Sie ein erbärmlicher Heuchler! Und noch eins: Ich bin glücklich!«
«Gehen wir!«sagte Dr. Mohr stockend.»Sonst lassen die da drü-ben wirklich noch die Hunde los, weil sie nicht wissen, wer da zwischen den Bäumen steht.«
«Das haben wir gleich!«Der Bärtige legte die Hände vor den Mund und stieß einen röhrenden Schrei aus. Einer der Greise am Eingang des Camps antwortete ihm und winkte mit dem Arm. Alles klar! Der Junge ließ den Zwingerriegel los und rannte zur nächsten Hütte, wo er hinter einem Holzstapel verschwand. Die Hunde gebärdeten sich noch wie toll, aber einige Türen öffneten sich, Frauen und Kinder liefen ins Freie und nahmen ihre Arbeiten dort wieder auf, wo sie unterbrochen wurden. Die meisten verschwanden in den Ställen, die an die Hütten angebaut worden waren, um die Schweine zu versorgen.
Im Camp wurden sie von den vier Greisen begrüßt. Man gab sich die Hand, musterte sich und blieb kritisch.
«Wie geht es Chica?«fragte der Bärtige hastig.
«Unverändert. «Einer der Greise hob die Schultern.»Die Wehen werden schwächer, aber das hat nichts zu sagen, meint meine Alte. Plötzlich können sie wiederkommen, und dann zerreißt es sie.«
«Sehen wir uns das sofort an!«Dr. Mohr ging auf die Hütte zu, in der Chica wohnte. Der Bärtige hielt ihn am Ärmel zurück.
«Wenn es nicht geht, seien sie ehrlich zu mir, Doctor! Bitte!«
«Wir finden immer eine Möglichkeit!«
«So, wie es Simpson sagte: Mutter oder Kind. Einer von beiden muß geopfert werden.«
«Im äußersten Notfall! — Simpson, was haben Sie da gequatscht.«
«Die Wahrheit, großer Meister. «Simpson hob beide Hände.»Hier darf man alles sagen, muß man alles sagen. Jeder von uns ist abgebrüht genug, auch das Mistigste zu ertragen!«
«Wen würden Sie retten, Doctor: Mutter oder Kind?«fragte der Bärtige leise. Alles Klobige war von ihm abgefallen. Wie alle werdenden Väter war er nur noch voll Sorge.
«Immer die Mutter.«
Der Bärtige seufzte tief.»Das beruhigt mich. Doctor, wenn Sie Chica retten, sind Sie bis zu meinem Lebensende mein Freund! Das
ist wie eine Lebensversicherung für Sie.«
In der Hütte auf einem Eisenbett lag ein junges Mädchen. Der Kopfeines Kindes, große, braune Augen, schwarze Haare, zu dicken Zöpfen geflochten, ein zarter Körper, aus dem sich jetzt wie ein überdehnter Ballon der Bauch wölbte. Sie sah nicht aus wie eine Indianerin, ihr Gesicht war ebenmäßig und wirkte wie eine Miniaturmalerei aus vergangenen Jahrhunderten. Die Haut glänzte schweißnaß… eine hellbraune, ganz glatte Haut. Die Brüste waren klein und spitz, gegen den hohen Leib wirkten sie erschütternd kindlich.
Die Mutter hockte neben dem Bett auf einem Schemel. Demütig grüßte sie mit vor der Brust gekreuzten Armen. Sie war eine alte, von gegerbter Haut überzogene Gestalt mit schütterem Haar und den breiten Backenknochen der Indianer. Sie ist kaum älter als ich, dachte Dr. Mohr erschüttert, und ist schon eine Greisin. Das Elend ihres Daseins hat sie völlig zerstört.
Der Bärtige rannte sofort zu dem Bett, beugte sich über Chica und küßte sie auf die zusammengepreßten Lippen. Sie wollte ihn umarmen, hob schwach die Arme, aber sie fielen kraftlos auf ihren schweren Leib zurück.
«Gleich wird es besser«, sagte der Bärtige. Es war erstaunlich, wie zärtlich und weich er sprechen konnte. Mit seiner großen Hand wischte er Chica den Schweiß vom Gesicht und drehte sich dann zu Dr. Mohr herum.»Sie ist tapfer«, sagte er gepreßt.»So tapfer! Es… es wäre mein erstes Kind. Können Sie es nicht auch retten?«
«Wie kann ich das wissen, wenn Sie dauernd im Weg stehen? Ich komme ja gar nicht an die junge Mutter heran.«
«Sie sind ein grober Klotz, Doctor! Bitte, ich gehe ja schon. «Er beugte sich wieder über Chica und streichelte ihr Gesicht.»Das ist ein großer Arzt, mein Liebling. Er wird dir helfen. Du mußt keine Angst mehr haben.«
Sie nickte, preßte die Lippen fest zusammen und bäumte sich auf. Die Wehen setzten wieder ein. Ihre Mutter legte beide Hände auf den hohen Leib und drückte ihn.
Dr. Mohr setzte sich auf die Bettkante und lächelte Chica ermutigend an. Sie versuchte zurückzulächeln, aber es mißlang kläglich. Ihr schönes Gesicht wurde zu einer verzerrten Fratze. Ihr Körper schüttelte sich in den Wehen.
«Schrei, Mädchen«, sagte Dr. Mohr.»Schrei, was die Lunge hergibt! Das befreit. Nicht unterdrücken, dann wird's unerträglich. -Simpson?«
«Chef?«
«Lassen Sie den Blödsinn! Ist heißes Wasser da?«
«Da hinten blubbert etwas im Kessel.«
«Dann wollen wir mal. «Dr. Mohr klappte seinen Koffer auf, holte eine Sprühflasche mit einem Desinfektionsmittel heraus und winkte Dr. Simpson zu.»Geben Sie Ihre Flossen her. Ich mache sie jetzt steril!«
«Steril! Aber bitte nur die Hände. Nicht tiefer sprühen.«
Simpson grinste. Dr. Mohr sprühte Simpsons und seine Hände bis zu den Unterarmen ein und holte dann aus der runden Sterildose die dünnen Gummihandschuhe. Simpson ließ sie sich überstreifen und stand dann mit gespreizten Händen da. Sein Gesicht glänzte hektisch.
«Mein Gott«, stammelte er.»Gummihandschuhe. Richtige Gummihandschuhe! Wissen Sie, wann ich die zum letzten Mal getragen habe? Vor zehn Jahren! Und ausgerechnet hier bekomme ich sie wieder. Am Arsch der Welt!«
Dr. Mohr hatte sich über Chicas Unterkörper gebeugt und untersuchte manuell die Lage des Kindes. Ein Blick auf das Becken Chicas ließ ihn nachdenklich werden. Er hatte schon zarter gebaute Mütter gesehen, die ihre Kinder problemlos bekamen. Daß sich Chi-cas Becken nicht dehnen konnte, wie der Bärtige vermutete, glaubte er nicht mehr.
Die neue Wehe preßte Mohrs Hand in Chicas Leib fest. Er wartete ab, bis die Verkrampfung nachließ, und zog dann die Hand zurück.
«Eine schöne Scheiße!«sagte er laut.»Nicht das Becken ist zu eng, das Kind liegt falsch! Wir müssen es drehen.«
«O Himmel! Eine Hicksche Wendung?!«Dr. Simpson starrte den Bärtigen an.
«Was glotzen Sie mich an?«brüllte der Koloß.»Bin ich daran schuld?! Können Sie diesen Kicks?«
«Hicks!«
«Das frage ich Sie auch!«sagte Dr. Mohr.
«Ich will's versuchen. «Dr. Simpson blickte unsicher auf Chicas gewölbten Leib.»Verdammt, ich war mal ein guter Gynäkologe. Aber wie lange ist das her.«
«Er faßt meine Frau nicht an!«keuchte der Bärtige. Schweiß, Angstschweiß, tropfte in seinen zerzausten Bart. »Er nicht. Dieses Saufloch.«
«Ich helfe Ihnen, Simpson«, sagte Dr. Mohr.
«Wie denn? Das muß ich allein tun. Ich allein kann fühlen, wie ich auf der Bauchdecke nachdrücken muß. Oder haben Sie Röntgenaugen? Na also! Aber wenn ich nicht darf..«
«Los! Fangen Sie an!«brüllte der Bärtige.»Aber wenn es mißlingt, du Schnapsflasche. «Er stellte sich neben das Bett, zog seine Pistole und blickte Dr. Simpson finster an.
Simpson kniete sich vor das Bett und nickte.»Beine anwinkeln«, sagte er.»Chef, halten Sie die Beine fest.«
«Sie sollen das dämliche Chef weglassen!«
Dr. Simpson untersuchte und blickte dann hoch. Die Pistole war genau vor seinem Kopf in der Hand des Bärtigen.
«Total falsche Lage«, sagte er gepreßt.»Und durch die Preßwehen wird das Kind noch mehr festgeklemmt. Verdammt, ich kann nicht arbeiten, wenn immer jemand auf meinen Kopf zielt!«
«Gehen Sie hinaus!«sagte Dr. Mohr laut.
«Nein!«Der Bärtige lehnte sich gegen die Hüttenwand.»Ich will sehen, was ihr mit meiner Frau anstellt!«
«Wie Sie wollen! Simpson, brechen Sie ab! Die Handschuhe aus. «Verwirrt blieb Dr. Simpson hocken und rührte sich nicht. Der Bärtige fuhr wie nach einem Stich zu Dr. Mohr herum.
«Auch Sie sind nicht unsterblich!«schrie er.
«Bitte. «Dr. Mohr zeigte auf Chica.»Vielleicht können Sie mehr! Schießen Sie das Baby aus dem Leib. Aber wenn Sie das nicht können, dann verschwinden Sie sofort aus dem Haus und warten draußen, bis alles vorbei ist. Weder ich noch Dr. Simpson rühren eine Hand, solange Sie hier mit der dämlichen Pistole herumfuchteln. Also.«
Der Bärtige steckte die Waffe in die Hosentasche zurück.»Ich bin ganz friedlich, Doctor«, sagte er leise.
«Raus!«
«Bitte.«
«Raus! Simpson, stehen Sie auf.«
«Ich gehe ja schon. «Der schwere Mann tappte zur Tür, blickte noch einmal zurück auf Chica und wischte sich über das schweißnasse Gesicht.»Ich liebe dich«, sagte er heiser.»Draußen steht ein Priester, mein Kleines. Ich werde mit ihm für dich beten.«
Die Tür schlug zu. Chica bäumte sich auf, und jetzt schrie sie, hell, kindhaft, durchdringend. Sofort flog die Tür wieder auf. Der Bärtige stürzte in die Hütte.
«Raus!«brüllte Dr. Mohr.»Das nächste Mal trete ich Sie in den Unterleib. Vielleicht verstehen Sie das dann endlich!«
Der Bärtige zögerte, starrte auf seine junge Frau, sah ihr verzerrtes Gesicht und wankte wieder hinaus. Im gleichen Augenblick erhob sich die Mutter, schob ihren Schemel vor die Tür und setzte sich darauf wie ein Erzengel.
«Er kommt nicht mehr herein«, sagte sie in einem gutturalen Spanisch.»Ich spucke ihn an.«
«Das ist die schlimmste, die tödlichste Beleidigung der Indianer«, flüsterte Dr. Simpson. Er kniete zwischen Chicas Beinen und wartete auf den kleinen Handscheinwerfer, den Dr. Mohr gerade aus dem Koffer holte und auf ein Stativ schraubte.»Ich glaube, jetzt haben wir Ruhe. Im Vertrauen, ich habe Bammel vor der Hickschen Wendung.«
«Schneiden können wir immer noch, Simpson.«
«Du lieber Himmel, Sie wollen es tatsächlich wagen… einen Kaiserschnitt… hier… in dieser Drecksbude? Hier schwirren Milliarden Bazillen und Viren durch die Luft! Wenn das keine Sepsis gibt, bin ich bereit, mich entmannen zu lassen! Das ist das feudalste Angebot, was ich machen kann!«
«Man hat Kaiserschnitte unter ganz anderen Umständen gemacht, Simpson!«
«Wer hat überlebt? Na also, Sie schweigen! Wenn Chica das Atmen vergißt, sind Sie und ich in den Augen des Vollbarts da draußen nur noch Mörder. Dann gnade uns Gott! Wie heißt der Kerl eigentlich?«
«Keine Ahnung. Er hat es bisher immer vermieden, seinen Namen zu nennen.«
«Es hält sich seit langem ein Gerücht in den Bergen, daß er nicht nur Rechtsanwalt gewesen ist, sondern auch der Führer einer Partei. Eine der niedergeschlagenen Revolutionen geht auf sein Konto. Er ist in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Deshalb seine >Burg< und seine kleine Privatarmee. Keiner weiß aber, ob das nicht doch nur Gerüchte sind.«
«Ich werde ihn fragen.«
«Das sieht Ihnen ähnlich. «Simpson wedelte mit seinen gummibehandschuhten Händen.»Aber von mir wissen Sie nichts, verstanden? Ich habe nichts gesagt. Licht bitte tiefer! So ist gut! Haha, jetzt sehe ich voll ins Auge. Machen wir jetzt also den berühmten Salto! Und aufpassen, Kollege, nach solch einer Wendung kommt es oft zu einer Spontanausstoßung. Sie muß sogar kommen, wenn die Wendung gelingt. Achtung! Hallihallo! Der kleine Turner geht in Stellung.«
«Simpson, ich möchte Ihnen in den Hintern treten!«knirschte Dr. Mohr.»Sie haben vorhin heimlich gesoffen! Stimmt's?«
«Nur geschnuppert, Kollege!«
«Das gewöhne ich Ihnen auch noch ab!«
Die Hicksche Wendung gelang. Aber die Spontangeburt blieb aus.
Chica verkrampfte sich, der Kopf des Kindes trat nicht aus. Dr. Simpson richtete sich stöhnend auf und streifte die Gummihandschuhe ab.
«Meine Bandscheibe! Mein Rückgrat muß nur noch eine Ruine sein! Pete, wir müssen Chica eins auf die Nase geben. So klemmt sie mit jeder Wehe das Kind nur noch fester ein. Da sagt man immer, die jungen Weiber bekommen ihre Kinder beim Dauerlauf.«
Dr. Mohr bereitete eine Injektion vor und suchte in seinem Koffer nach einer geeigneten Ampulle.»Alles habe ich aus Bogota mitgebracht«, sagte er.»Alles, was man so braucht in der Wildnis. Aber wer denkt an Geburten? Wenn ich jetzt etwas Krampflösendes und gleichzeitig Treibendes hätte.«
Nach einer Stunde endlich kam das Kind. Es war gesund, kräftig und hatte dichte schwarze Haare. Gleich nach dem Abnabeln krähte es, der winzige Brustkorb spannte sich, die Lungen entfalteten sich. Das Leben wurde begrüßt.
Dr. Mohr ging an der alten Indianerin vorbei und stieß die Tür auf. Draußen stand der Bärtige neben Pater Cristobal und raufte sich die Haare. Er wirbelte herum, als mit dem Öffnen der Tür auch der Kinderschrei nach draußen kam.
«Es. es schreit. «stammelte er. Mit vorgestrecktem Kopf starrte er Dr. Mohr an, der ihm zuwinkte:»Es schreit.«
«Alles vorbei!«rief ihm Dr. Mohr zu.»Guten Tag, Papa! Es ist ein Junge.«
«Ein Junge. «Die Schultern des Bärtigen fielen zusammen.»Hören Sie, Pater. ein Junge. Ich. ich habe einen Sohn.«
Er wandte sich ab, legte Pater Cristobal die Hände auf die Schulter und drückte sein Gesicht an die Brust des Priesters. Ein leichtes Schütteln durchzog seinen Körper. Der bullige, sonst durch nichts zu erschütternde Mann weinte.
Nach zwei Stunden, während denen der Bärtige seinen neugeborenen Sohn aufden Armen herumtrug, die Glückwünsche der Frauen und
Greise des Camps entgegennahm und sich überhaupt so tapsig benahm wie alle jungen Väter, die erschöpfte Chica dauernd mit der Frage belästigte, ob es ihr gut gehe, und sie immer wieder streichelte, sprach Dr. Mohr ein Machtwort.
«Raus mit allen!«
«Schon wieder?«Der Bärtige saß auf der Bettkante und spreizte kampfeslustig die Beine.»Das Kind ist da und gesund, Chica hat alles gut überstanden, was ist denn nun schon wieder?«
«Die junge Mutter muß Ruhe haben und schlafen.«
«Wer hindert sie daran?«
«Sie mit Ihren dämlichen Fragen: Geht's dir gut? Hast du Schmerzen? Ach, mein Vögelchen, ich bin ja so glücklich. Das hält keiner aus!«
«Sie tragen ihr Herz wohl unter der Schuhsohle, was? Können Sie sich nicht vorstellen, wie glücklich ich bin?«
«Das können Sie jetzt den Bäumen und den Felsen da draußen erzählen. Chica aber braucht absolute Ruhe! Fast 20 Stunden hat sie in den Wehen gelegen, das überlegen Sie sich nicht, was? Sie verdammter Egoist!«
Der Bärtige erhob sich, ging zur Tür und blieb vor Simpson stehen, der auf dem Metallkoffer saß und mit saurer Miene ein Glas Milch trank. Ziegenmilch, gelblich und fett.
«Habe ich schon danke gesagt?«fragte er.
«Nee. «Dr. Simpson winkte ab.»Nicht nötig. Erwartet man von Ihnen gar nicht.«
«Ersticken Sie an Ihrer Ziegenmilch!«
«Ich bin kurz davor!«
«Dieser Arzt macht uns alle fertig, wissen Sie das?«Der Bärtige nickte nach hinten.»Ein raffinierter Hund! Erst die sanfte Tour, dann tritt er um sich. Wer hat eigentlich meinen Sohn geholt?«
«Das war Team-Arbeit. Allein jedenfalls hätte ich das nicht mehr geschafft. Ich bin doch verdammt aus der Übung gekommen. Aber das hole ich wieder auf!Baut nur schnell das Hospital auf.«
Dr. Mohr kam an die Tür und stieß sie auf. Der Bärtige nickte mehrmals.»Ich gehe ja schon!«brummte er.»Bäuche aufschneiden und Gliedmaßen amputieren, das können Sie. Aber von Psychologie haben Sie keine Ahnung! Wissen Sie, wie alt ich bin?«
«Das erzählen Sie mir später.«
«Nein. Jetzt und hier! 56 Jahre. Und das ist mein erste Kind.«
«Da haben Sie bisher sicherlich unverschämtes Glück gehabt.«
«Man könnte ihn ohrfeigen!«sagte der Bärtige dumpf.»Man könnte ihn dauernd ohrfeigen! Rechts und links und von oben und von unten! Halten Sie den Mund, Doctor. Ich verschwinde ja schon.«
Das war vor zwei Stunden gewesen. Jetzt standen sie vor dem ersten Steinwall der >Burg<, genau in der Mitte des Schußfeldes, das jeder durchlaufen mußte. Ein Todesstreifen, den niemand ungesehen passieren konnte. Zum ersten Mal betraten nun Fremde die >Burg<.
«Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich vorstelle«, sagte der Bärtige.»Ich bin Dr. Ramon Novarra.«
«Also doch!«entfuhr es Simpson.
«Jawohl, ich bin's!«Novarra wartete auf eine Reaktion, aber bis aufSimpson hinterließ sein Name keine Zeichen von Erstaunen oder Betroffenheit.»Stört Sie das?«
«Ich wüßte nicht, warum. «Dr. Mohr war der Name kein Begriff.»Sie hätten auch Bambilla sagen können.«
«Ramon Novarra war der meistgesuchte Mann in Kolumbien«, sagte Pater Cristobal.»Mit seinem Kopfkönnte man reich werden, wenn man ihn abliefert.«
«Ich war jahrelang im Ausland. Dort habe ich mich um die Kranken gekümmert — ausschließlich — und nie um Politik. Einem Nie-ren-Ca ist es gleichgültig, ob in Kolumbien eine Revolution stattfindet, und ein Ventrikel-septum-Defekt schließt sich nicht von allein, wenn man ihm den Namen Novarra zuruft. Ich bitte also um Verzeihung, wenn ich die hohe Politik hier nicht kenne.«
«Ich bin zum Tode verurteilt«, sagte Novarra.
«Soll ich jetzt vor Ehrfurcht strammstehen?«
«Sie sind der größte Ignorant von Tatsachen, Doctor! Sie kommen hier in die Hölle von Penasblancas und Muzo, ohne eine Ahnung zu haben, was Sie erwartet. Sie hauen Christus Revaila um und wissen nicht, daß sie damit eigentlich schon gestorben sind. Sie ziehen in die Berge, zeigen auf einen Fleck und bestimmen: Hier baue ich ein Hospital! Als ob das selbstverständlich wäre! Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll. «Novarra hob den Arm. Aus einer Steinbastion löste sich ein Mann und kam langsam näher. Vor der Brust trug er ein Schnellfeuergewehr, über dem Arm ein paar Stoffstreifen.»Ich muß Ihnen die Augen verbinden, Senores. Nicht, weil ich mißtrauisch bin, sondern weil ich Sie nicht in Gefahr bringen möchte. Kein Außenstehender kennt den Eingang. Er findet ihn auch nicht, weil er gar nicht erst bis an den ersten Wall kommt. Und will man tatsächlich einmal mit überlegenen Kräften das Vorfeld stürmen, so hat man nur eine Mauer erobert. Dahinter geht's erst richtig los! Es besteht nun die Möglichkeit, daß das Militär mich doch einmal entdeckt. Dann werden alle Personen in der Umgebung verhört. Soll ich Ihnen erklären, wie hier >verhört< wird?!«
«Wir wissen es«, sagte Pater Cristobal bedrückt.
«Hier wird auch vor einem Priesterrock nicht haltgemacht. Meine Männer lassen sich die Haut abziehen und schweigen, aber ob Sie die Stärke haben, Senores? Geben Sie mir recht, wenn ich Sie einen Risikofaktor nenne? Um das auszuschalten und damit Sie später sagen können, Sie hätten wirklich nichts gesehen, muß ich Ihnen die Augen verbinden.«
Der Wachtposten trat hinter die beiden Ärzte und den Pater und legte jedem eine stramme Binde um. Novarra kontrollierte, ob sie auch wirklich nichts mehr sahen, indem er ein Messer zog und hintereinander nach Dr. Mohr, Pater Cristobal und Dr. Simpson stieß. Kurz vor ihrem Gesicht bremste er den Stoß ab.
Keiner reagierte.
«Gehen wir«, sagte Novarra zufrieden.»Fassen Sie sich an die Hände, als wollten Sie Ringelreihen spielen. Ich führe Sie.«
Sie gingen los, überquerten das Schußfeld und fühlten unter ihren Sohlen, wie der Boden steiniger wurde. Erst ging es etwas hinauf, dann ziemlich steil hinab. Dr. Mohr tastete mit der linken Hand zur Seite und strich über eine bucklige Felswand.
Aha, dachte er, ein unterirdischer Gang. Ein Stollen. Wenn das der einzige Zugang ist, konnte man die >Burg< wirklich als uneinnehmbar bezeichnen. Novarra brauchte bloß diesen Stollen zu verschütten, zu sprengen oder unter Wasser zu setzen, dann blieb nur der Sturm die Felsen hinauf; und das war ein aussichtsloses Unternehmen. Der Gang schien sich zu verbreitern. Die Schritte der Männer hallten jetzt, als beträten sie einen weiten Raum. Dr. Mohr, der an der Hand Novarras ging, prallte gegen den massigen Körper, als Novarra stehenblieb.
«Ich glaube, hier können wir Sie wieder sehend machen!«sagte er.»Willkommen bei mir.«
Sie rissen sich die Binden von den Augen und schwiegen dann. Eine riesige Felsenhalle wölbte sich über ihnen, nicht von Menschenhand herausgeschlagen, sondern von der Natur gestaltet. Ein unterirdischer Fluß mußte hier in Jahrmillionen diesen Saal aus dem Stein gefressen haben, bis er einen anderen Ausgang fand und verschwand. Zurück blieb ein Felsendom mit bizarren Steinformen. Aus verschiedenen Winkeln fiel Licht in den weiten Raum. Elektrisches Licht. Glühbirnen mit Reflektoren.
«Das ist toll!«sagte Dr. Simpson als erster.»Wo haben Sie den Strom her?«
«Ich habe ein eigenes Aggregat. «Novarra machte eine weite Handbewegung.»Wir stehen hier im Festsaal. Auch das gibt es bei uns: Geselligkeit. Hier haben wir schon Theater gespielt. Da drüben, da ist die Bühne. «Er weidete sich an der Sprachlosigkeit seiner Besucher und klopfte Dr. Mohr aufden Rücken.»Zweifeln Sie nun noch daran, daß es uns auch gelingen wird, Ihr Hospital zu bauen?«
«Ich habe nie daran gezweifelt«, sagte Dr. Mohr. Seine Stimme hallte in der domähnlichen Höhle.»Ich ahnte, daß Überraschungen Ihre Spezialität sind.«
Dr. Ramon Novarra lächelte geschmeichelt. Auch er besaß eine Eigenschaft, die man oft bei politischen Führern und extravagan-ten Geistern findet: Er war eitel. Das machte ihn menschlicher, aber gleichzeitig gefährlicher. Verletzte Eitelkeit hat Völkern schon Millionen Tote gekostet. Durch die ganze Weltgeschichte hindurch zieht sich wie ein roter, nämlich blutiger Faden die Elendsspur gekränkten Stolzes. Novarra bildete da keine Ausnahme. Das kleine Reich, welches er regierte und das er noch immer als Basis einer Revolution in Kolumbien betrachtete, wollte respektiert und gelobt werden. So verrückt es war, Dr. Mohr verstand plötzlich, warum Novarra mit seinen Männern hier in den Smaragdminen schuftete und jeder Stein, den man fand, abgeliefert werden mußte, weil er Gemeinschaftseigentum war. Der Erlös aus den Smaragden, die Millionen, die Novarra aus den Felsen grub, sollten über kurz oder lang die neue Revolution, das neue Kolumbien finanzieren. Hier in der >Burg< gab es kein anderes Privateigentum als das eigene Leben. Ein vollkommener Sozialismus, um einen politischen Fanatismus zu nähren.
«Ich hätte Sie nicht hierher geführt«, sagte Novarra, nachdem er den anderen genug Zeit gelassen hatte, sich bewundernd umzublicken,»wenn es sich nur um einen normalen Sterblichen handelte, der plötzlich nach einem Priester verlangt. An einen Arzt denkt er schon gar nicht mehr. Er weiß, daß er unheilbar erkrankt ist. Aber dieser Mann — sein Name ist nicht wichtig — stand früher einmal als Schlagzeile in allen Zeitungen. Plötzlich verschwand er. Es war eine Entführung, die das ganze Land erregte. Tausende Polizisten und Soldaten durchkämmten Kolumbien, die Nachbarstaaten sicherten Amtshilfe zu, eine Treibjagd nach den unbekannten Entführern begann — aber umsonst. Der Mann tauchte nie mehr auf, gab kein Lebenszeichen von sich, ging im Unbekannten unter. Mit den Jahren erlosch das Interesse, sein Name wurde Historie, man war sicher, daß er getötet und irgendwo verscharrt worden war.«
«Der Entführer waren Sie«, sagte Pater Cristobal.
«Das war kein schweres Rätsel, was?«Novarra lachte kurz und hart.»Natürlich hätte ich ihn töten können, wer hinderte mich daran, aber ich ließ ihn leben. Ich kann, außer in absoluter Notwehr, keinen Menschen von Angesicht zu Angesicht töten.«
«Aber Sie konnten Bomben legen, die unschuldige Menschen zerfetzten!«Pater Cristobal schüttelte den Kopf.»Dr. Novarra, stellen Sie sich nicht als den großen Humanisten hin, der eine saubere Revolution haben will! Genau das Gegenteil ist der Fall! Der Anschlag auf das Parlament in Bogota, die Zugsprengung von Medellin, bei der 49 harmlose Arbeiter ums Leben kamen und Hunderte verletzt und für ewig verkrüppelt wurden, der Kinobrand von Buena Ventura und das Massaker von Manizales, bei dem eine ganze Kompanie Soldaten ausgelöscht wurde. Das alles wollten Sie nicht?«
«So ist es«, antwortete Novarra ruhig.»Pater, Sie klagen den Falschen an! Ich bin ein Administrator der Macht, das blutige Handwerk üben andere aus.«
«Für Ihre Idee! In Ihrem Namen! Auf Ihren Befehl! Natürlich legen Sie nicht eigenhändig die Bomben! Nero hat die Christen auch nicht mit seinem eigenen Schwert erstochen, er trieb sie in die Arena den Löwen und Panthern zu.«
«Mir war klar, daß ich auf Mißtrauen und Unverständnis stoße. «Dr. Novarra wies in den Hintergrund der riesigen Felshalle, wo verschiedene Bohlentüren den Zugang zu weiteren Höhlenüberraschungen verschlossen.»Darum führe ich Sie jetzt zu dem Kranken. Wie lange er noch zu leben hat, können Sie am besten überblicken, Doctor. Sie werden sich jetzt fragen: Warum tut er das? Will er sich rechtfertigen? Vor wem? Vor uns, die wir in einiger Zeit genauso elend sein werden wie die anderen Guaqueros? Plagt ihn das Gewissen? Will er sich reinwaschen? Will er einem armen Sterbenden die historische Schuld zuschieben? Ist er ein so feiges Schwein? — Nichts von alledem ist der Fall. Der Kranke selbst möchte über sich reden. Als er erfahren hat, daß wir Rechtlosen von Muzo plötzlich einen vor lauter Idealen geradezu dämlichen und besoffenen Arzt haben und einen ebenso Illusionsschwangeren Priester, da hat er gesagt: Ramon, laß sie zu mir kommen. Ich bin am Ende angelangt. Was man dir nie glauben wird, sollen sie später bezeugen. «Ramon Novarra drehte sich um und ging durch die Halle voraus.»Folgen
Sie mir, meine Herren.«
Sie kamen in einen langen Gang, von dem, wie in einem Kloster, rechts und links kleine Zimmer abgingen, winzige Zellen, Schlafplätze, nur mit holzgezimmerten Betten und sorgfältig zusammengelegten Decken ausgestattet. Ein Waschraum in der Mitte des Ganges war groß genug, um dreißig Mann aufzunehmen. Über einem langen, gemauerten Trog hing ein Wasserrohr mit vielen Zapfhähnen.
«Fließend Wasser!«sagte Dr. Simpson geradezu ergriffen.»Welch ein Traum!«
«Durch das eigene Aggregat möglich. Von einem Wasserreservoir kann ich es in alle Ecken der >Burg< pumpen. Wir haben sogar Duschen und Bäder… mit Warmwasser.«
«Phantastisch! Novarra, ich melde mich bei Ihnen an. Wöchentlich zweimal ein heißes Bad!«Dr. Simpson blieb an der Tür zum Waschraum stehen.»Was muß man tun, um in Ihren Club aufgenommen zu werden?«
«Schuften. Acht Stunden mindestens täglich in der Mine. Was man findet, bei mir abliefern — und an die Revolution glauben!«
«Da ist ein Armenhospital komfortabler!«Dr. Simpson ging weiter.»Und uns nennt er idiotische Idealisten!«
Vor einer verschlossenen Tür blieben sie stehen. Dr. Novarra räusperte sich.»Noch etwas«, sagte er gedämpft.»Das geht Sie an, Dr. Morero. Der Mann will sterben. Machen Sie ihm keine Hoffnungen aus ärztlicher Sicht.«
«Wenn es Hoffnungen gibt. «Dr. Mohr schüttelte energisch den Kopf.»Ich habe die Pflicht übernommen zu helfen. Jedem zu helfen!«
«Er hat Krebs.«
«Das haben Sie schon angedeutet. Aber das Wort allein ist noch kein Todesurteil.«
«Hier wohl doch! Sie sind kein Westentaschengott, Doctor, der kraft seines Blickes die Tumoren zerstören kann. Und wenn Sie an das Hospital denken, das wir bauen, der Mann ist inoperabel. Außerdem wird er längst tot sein, bevor Sie ihm unter dem eigenen Dach die erste Injektion geben können. Der Mann ist nur noch Haut und Knochen.«
«Gehen wir hinein?«fragte Pater Cristobal.
«Ja. «Dr. Novarra klinkte die Tür auf und trat zurück. Trotz der an den Decken entlanggezogenen Entlüftungskanäle aus Zinkblech wehte ihnen ein süßlicher Duft entgegen. Fäulnis, sich zersetzendes Fleisch, Verwesung, der Geruch des Todes.
Der Mann in dem klobigen Holzbett hob den Kopf, als die Tür aufsprang. Ein Kopf ohne Fleisch, ein Totenschädel mit Lederhaut überzogen. Darin groß und brennend die Augen und darüber ein wilder, schwarzer Haarschopf.
«Wer ist der Pater?«fragte er. Eine harte Stimme, kein Wohlklang, kein schwingender Ton, wie sie jede menschliche Stimme besitzt. Nur kalte Worte, wie aus dem Lautsprecher eines Automaten kommend.
«Das bin ich. «Pater Cristobal trat an das Bett. Er erkannte das lebende Gerippe sofort, aber niemand sah ihm an, daß ihn diese Erkenntnis erschütterte.
«Und der Arzt?«
Dr. Mohr trat an die Seite Cristobals.»Ich, Dr. Morero.«
«Der andere?«
«Auch ein Arzt. Er hilft mir. Für Sie dürfte er kaum zuständig sein, er ist Gynäkologe.«
Der Mann mit dem Geruch des Todes sank auf die zusammengefaltete Decke zurück, die sein Kopfkissen bildete, und schloß die Augen. Um die schmalen, eingefallenen Lippen huschte ein Lächeln.
«Darüber hätte ich früher gelacht«, sagte er mit seiner kalten Automatenstimme.»Wissen Sie, was ein Überläufer ist?«
«Natürlich!«Pater Cristobal setzte sich auf die Bettkante.»Der allgemeine Begriff hat heute sogar einen Namen bekommen: Jose Ban-dilla.«
«Das bin ich. Pater, wie weit kann man die Güte Gottes strapazieren?«
«Wenn man das Weltall mit Sünden füllen könnte, Gott schöpfte es aus.«
«Das ist ein guter Vergleich. «Jose Bandilla öffnete die fiebrigglänzenden Augen.»Pater, ich habe etwa vierhundert Menschen umgebracht… man kann es nur schätzen.«