Man konnte nicht sagen, daß Ewald Fachtmann, Repräsentant der Pharmazeutischen Werke H. Strothfeld in Bogota, mit der Entwicklung seiner anfangs nur als Abenteuer gedachten Idee zufrieden war. Seit >Othello< Mohr in Penasblancas eingetroffen war, hatte dieser nur einmal — von der Polizeistation aus — angerufen und berichtet, daß alle Gerüchte, die über diese Smaragdgräberstadt bis nach Bogota drangen, weit untertrieben seien. Die Wahrheit überträfe alles, was Phantasie hervorbringen könnte.
Für Fachtmann war das kein beruhigendes Gespräch. Er begann sich Vorwürfe zu machen, trank mehr als bisher, versuchte, sich mit besonders formenreichen Mädchen abzulenken, hockte dann doch ziemlich deprimiert in den Bars herum und rief ein paarmal in Penasblancas an.
Polizeichef Felipe Salto hatte andere Sorgen, als Auskünfte zu erteilen. Nachdem man ihm kurze Zeit gelassen hatte, sich einzugewöhnen, und drei charmante Bestechungsversuche von >Mama< Mercedes Ordaz fehlgeschlagen waren — selbst das hübscheste Mädchen aus der Bar, das Salto eines Nachts bei sich im Bett vorfand und das er ziemlich unhöflich wieder vor die Tür setzte, vermochte nicht, seinen Reformeifer zu bremsen —, ging Penasblancas wieder zur gewohnten Tagesordnung über. Das bedeutete: Mord ohne Täter in den Talschluchten und an den Bach- und Flußläufen, Raub und Überfälle auf einsame Guaquero-Hütten, Vergewaltigungen, Schlägereien in den Kneipen, Messerstechereien, vor allem aber wieder die furchtbaren Morde auf der Straße nach Bogota, der Todesstraße, die jeder entlanggehen mußte, wenn er seine Smaragde zu den Edelsteinhändlern bringen wollte. In der Stadt, das war bekannt, zahlte man mehr für die Funde, weil der gefährliche Transport schon vorbei war. Lagen die grünen Steine erst einmal im Tresor, waren sie ziemlich sicher, wenngleich es auch in Bogota vorkam, daß auf dem Weg zum Flughafen die Steinpaketchen umgetauscht und wertlose Kiesel nach Tokio oder Zürich geflogen wurden. Wie das möglich war, bei aller Vorsicht, blieb immer ein Rätsel. Selbst die größten Smaragdhändler gingen in Bogota nie allein auf die Straße. Mindestens drei Leibwächter sorgten dafür, daß niemand nahe an sie herankommen konnte. Auf die Straße nach Penasblancas aber wagte sich keiner der reichen Bosse. Hier pendelten schwerbewaffnete Spezialisten, zum Teil in gepanzerten Wagen, hin und her. Ein Toter pro Tag, das war die Norm. Und die Regierung, das Militär, die unterbesetzte Polizei waren machtlos. Man gab sich auch keine große Mühe. Wer wollte schon seinen Kopf hinhalten für die paar Pesos Monatslohn? Wer wollte ein Held sein und Leute schützen, die ihrerseits keine Gnade kannten, wenn es um die grünen Steine ging!
Wenn also Ewald Fachtmann in Penasblancas bei Leutnant Salto anrief, hörte er immer nur:»Nichts von Dr. Morero! Unterlassen Sie in Zukunft diese Anfragen. Wir haben andere Sorgen.«
Als an diesem Abend das Telefon klingelte, spürte Fachtmann mit einem untrüglichen Instinkt, daß dies kein normaler Anruf war. Er wartete ein paar Sekunden ab, ließ die Klingel schrillen und hob dann ab.
«Endlich!«sagte er.
«Was heißt endlich?«fragte eine fremde Stimme zurück.»Wen erwarten Sie?«
«Wer sind Sie?«Fachtmann lehnte sich an die Wand.
«Hier spricht Camargo.«
«Oh, der große Boß persönlich!«Fachtmann spürte ein ungutes
Gefühl im Leib. Es war nicht die Art des bekannten unbekannten Camargo, Privatgespräche zu führen. Es sei denn, es handelte sich um etwas Außergewöhnliches. Geschäftliche Unterredungen führten grundsätzlich seine Direktoren.
«Endlich erfahre ich etwas über meinen Freund >Othello<. In Penasblancas stellt man sich dumm. «Fachtmann bemühte sich, möglichst gelassen zu klingen.
«Mit Recht! Senor, Ihre Empfehlung, Dr. Mohr zu den Guaqueros zu schicken, mag von Ihnen vielleicht eine Laune gewesen sein, aber ich habe sie aufgegriffen, weil ich mir einiges davon versprach. Ich bin enttäuscht!«
«Don Alfonso, ich bin entsetzt!«Fachtmann war es wirklich. Mein Gott, dachte er und fühlte, wie ihm heiß wurde. Was ist da in den Bergen vorgefallen? Was hat Peter da angestellt?» Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe von meinem Freund keine Nachrichten mehr.«
«Die kann ich Ihnen geben! Er baut in den Bergen, da, wo die Menschen am wildesten sind, ein Krankenhaus!«
«Das sieht ihm ähnlich! Don Alfonso, ich habe das fast befürchtet.«
«Ein Hospital für die Guaqueros ist eine gute Sache. Er findet dabei meine ganze Unterstützung. Nur die Begleitumstände machen es fast unmöglich, ihn weiter zu schützen.«
«Zu schützen?«Fachtmann fühlte, wie sich Heiserkeit über seine Stimmbänder legte.»Don Alfonso, was ist passiert?«
«Dr. Mohr tut mit Akribie alles, um sein Leben zu verkürzen. Er schlägt meinen Statthalter in Penasblancas zusammen und macht ihn dadurch fast unmöglich!«
«Du lieber Himmel!«
«Er kümmert sich um Privatangelegenheiten, die alle mehr Sprengstoff enthalten, als man in den Minen gebraucht.«
«Ich bin sprachlos.«
«Er ist dabei, sich eine eigene Truppe zusammenzustellen, eine kleine Privatarmee. Was er damit beabsichtigt, weiß ich nicht, aber ich kann das unmöglich dulden! Er sollte Ruhe in die Berge brin-gen, eben mit seinem Hospital, aber es scheint, als wolle er dort alles anders machen!«
«Er muß den Verstand verloren haben, Don Alfonso. Rufen Sie ihn zurück nach Bogota!«
«Glauben Sie, er kommt?«Camargo schien mitleidig zu lächeln. Fachtmann spürte, wie er leicht zu schwitzen begann.»Und wenn er kommt, wie soll er jemals, unter diesen Umständen, die Straße lebend bewältigen?«
«Mit Ihrem Schutz, Don Alfonso.«
«Der hört in Penasblancas auf. Spielen Sie doch nicht den Naiven, Senor. Selbst wenn ich Christus Revaila befehle, ihn sicher nach Bogota zu bringen, bin ich sicher, daß gerade Revaila ihn auf dem Weg liquidiert. Und keiner wird einen Ton sagen. Niemand kann es Revaila beweisen. Plötzlich wurde er aus einem Hinterhalt erschossen, wird es heißen. Könnten Sie das Gegenteil behaupten?«
«Das heißt. «Fachtmann begann nun stark zu schwitzen und fühlte sich hundeelend.»Das heißt. Dr. Mohr hat keine Chancen, jemals wieder in die Zivilisation zurückzukehren? Er. ist ein Gefangener der Berge?«
«Ich befürchte es, Senor. Was ich tun kann, tue ich. Er bekommt seine komplette Hospitalausrüstung, so, wie es auf seiner Liste steht. In zwei Wochen schicke ich eine Lastwagenkolonne nach Penasblancas, unter Militärschutz. Aber wie die Ausrüstung in die Berge kommen soll, ist mir noch unklar.«
«Auch mit Militärschutz.«
«Das müßte das Kriegsministerium bestimmen. Ich habe schon mit dem Minister gesprochen. Die eindeutige Ansicht: Die Errichtung eines Hospitals von privater Hand, und das ist es ja, rechtfertigt nicht den möglichen Tod einer Reihe Soldaten. Anders wäre es, wenn das Hospital staatlich wäre. Man kann das verstehen. Es ist sicher, daß sofort eine heftige Schießerei losgeht, wenn sich Militär in den Bergen blicken läßt. Ob es nun das Material für das Hospital begleitet, ist völlig gleichgültig. Die Uniformen allein genügen. Jeder Gua-quero ist allergisch gegen Militärtuch! Mit anderen Worten: Das Hos-pital lagert in Penasblancas. Ab übernächster Woche. Kommt Dr. Mohr es dort abholen, läuft er in einen Kugelhagel!«Camargo räusperte sich.»Wissen Sie, daß auch ein ausgesprochen penetranter Priester bei ihm ist?«
«Ich weiß gar nichts mehr von ihm«, stotterte Fachtmann. Ein Priester, dachte er, das ist etwas völlig Neues. >Othello< und ein Pfaffe? Lieber Himmel, wie hat er sich in so kurzer Zeit gewandelt! Wenn ich an die Universitätszeit denke, an die Studentengottesdienste. Vor allem an diesen legendären Festgottesdienst in der Heiliggeistkirche. Da stand Peter mit zehn anderen Kommilitonen hinten am Eingang, unter der Orgelempore, und während die Gläubigen ihr Kirchenlied sangen, grölten sie das Goldene Alphabet, die berüchtigt-schönen schweinischen Studentenverse. Das brachte allen zwei Monate Haft mit Bewährung ein und 5.000 DM fürs Rote Kreuz, aber nur, weil die Alten Herren der Verbindungen ihre Beziehungen spielen ließen und überall intervenierten.
Und jetzt hatte Peter einen Priester als Freund bei sich! Es war fast unglaublich.
«Was will denn der Priester bei den Minen?«fragte Fachtmann mit erschöpfter Stimme. Er setzte sich neben das Telefon auf einen Bambushocker. Sehnsüchtig schielte er zu der Hausbar, aber sie war zu weit von ihm entfernt. Jetzt einen kalten Doppelten, dachte er. Der würde zischend schon in der Mundhöhle verdampfen.
«Unruhe stiften, was sonst!«Camargos Stimme, bisher noch im Plauderton, wurde kalt und scharf. Aha, jetzt haben wir ihn in voller Pracht, dachte Fachtmann. Don Alfonso, vor dem selbst den Ministern die Hose flattert.
«Neben dem Hospital will er eine Kirche bauen! Nach einem Jahr hat er die Guaqueros so weit, daß sie fromme Lieder singen und statt in die Minen einzufahren, eine Prozession nach der anderen veranstalten. Aber was noch viel schlimmer ist: Sie werden ihre Smaragde fürs ewige Seelenheil der Kirche stiften. Ich kenne diese Pfaffen! Sie bezahlen mit einem Kuß aufs Kruzifix, und die Idioten sind glücklich dabei! Senor, ich bin enttäuscht!«
«Moment, Don Alfonso. «Fachtmann trommelte mit der freien Hand auf seinen Oberschenkel.»Ich habe Ihnen einen vorzüglichen Arzt empfohlen, aber keinen Pater! Das möchte ich hier feststellen. Und für Sinneswandlungen meines Freundes bin ich auch nicht zuständig. Das diskutieren Sie bitte mit ihm selbst. Was mich beunruhigt — ich gebe es zu — ist diese plötzliche Freundschaft zur Kirche. Das widerspricht seiner Natur.«
«Außerdem ist er verliebt! Die Tochter eines Schürfers hat es ihm angetan.«
Fachtmann atmete hörbar auf.»Warum haben Sie Ihre Beschwerde nicht sofort mit diesem Fakt begonnen? Das erklärt alles! Wenn >Othello< verliebt ist, läßt er die Flüsse die Berge hinauffließen. Dann ist nichts mehr unmöglich bei ihm! Ein hübsches Mädchen macht aus seinen Hirnwindungen Achterbahnen. Ich kann Ihnen nur sagen, Don Alfonso: Keine Sorgen! Er wird wieder normal! Liebschaften haben bei ihm einen Schnittblumen-Effekt: Frisch sehen sie wundervoll aus, aber nach ein paar Tagen, wenn sie welken, erlischt alle Faszination. Das Ende ist der Mülleimer.«
«Ich teile Ihren Optimismus nicht, Senor. «Don Camargo kam zum Ende. Immerhin hatte Ewald Fachtmann die ungeheure Auszeichnung genossen, daß sich der unbekannte Herrscher von Bogota so lange mit ihm unterhielt.»Dr. Morero — bleiben wir bei diesem Namen — baut kein Hospital, um dann wieder nach Europa zurückzukehren. Er will sich zwischen Muzo und Penasblancas etablieren. Sie sind lange genug im Lande, um zu wissen, daß auch ein Guaquero, wenn er Vater einer Tochter ist, ein ungeheures Ehrgefühl entwickelt. Die Hälfte aller Toten in diesem Gebiet entfallen auf Weibergeschichten! Mir bleibt keine Wahl.«
Fachtmann wurde es plötzlich eisig kalt.»Was. was heißt das, Don Alfonso?«
«Dreierlei. «Die Stimme Camargos war jetzt abgehackt, aller Persönlichkeit entzogen.»Erstens: Wenn das Hospital funktionsfähig ist und der Blödsinn mit den sozialen Reformen weitergeht, wechsele ich Dr. Morero aus. Sie verstehen?«
«Ich verstehe«, sagte Fachtmann tonlos. Auswechseln, das hieß bei Don Alfonso kalte Liquidation. Was er jetzt am Telefon hörte, war nichts anderes als Dr. Mohrs Todesurteil. Fachtmann schluckte krampfhaft. Die eingeatmete Luft verdichtete sich in seiner Kehle zu einem dicken Kloß.
«Zweitens: Sollten Sie irgendeiner amtlichen Stelle einen Tip geben, wäre Ihre Abberufung unerläßlich. Verstehen Sie?«
«Ich verstehe. «Abberufung, auch ein anderes Wort für etwas Unentrinnbares.
«Drittens: Selbst wenn es nicht zum Äußersten kommt, wird man Präparate der Strothfeld-Werke in Kolumbien nicht mehr bestellen. Eine Ausreise Ihrerseits werde ich verhindern. Ihnen bliebe nur die Flucht, aber Sie sind ein Feigling. Sie würden nie ein solches Risiko eingehen.«
«Nie!«stammelte Fachtmann.»Don Alfonso, ich weiß nicht, warum Sie sich an mich halten? Das ist doch unlogisch! Ich habe doch nur.«
«Sie haben mir Dr. Morero empfohlen. Ob Sie es wollen oder nicht, Sie haben sich mitschuldig gemacht! Man bringt einen Camargo nicht in Verlegenheit. Und genau das haben Sie getan.«
Ein Knacken. Camargo hatte das Gespräch beendet. Starr hockte Fachtmann neben dem Telefon und stierte an die Wand. Dann erhob er sich, ging mit staksigen Schritten zu seiner Hausbar, schüttete sich ein hohes Glas halbvoll mit Whisky und trank es in einem Zug aus. Heute besauf ich mich, dachte er. Heute falle ich stockbesoffen auf den Teppich. Ich habe mit meinem Tod gesprochen. Wer kann das schon von sich behaupten: Wenn das kein Grund ist, die ganze Bar leer zu saufen.
Pater Cristobal hatte die Beichte abgenommen. Jose Bandilla hatte darum gebeten, und die anderen waren solange aus dem Zimmer gegangen. Jetzt öffnete Cristobal wieder die Tür und nickte. Er sah sehr ernst und angegriffen aus.
«Kommt 'rein«, sagte er rauh.»Jetzt ist der Medico dran! Vor Gott ist Jose jetzt leicht wie eine Feder.«
Dr. Mohr trat an das Bett des Todkranken und setzte sich auf die Kante. Bandillas geweitete, fieberglänzende Augen fragten stumm.
«Ein Pater hat es einfacher als wir«, sagte Dr. Mohr mit brutaler Offenheit.»Er hört sich alles an, leidet im Inneren mit und vergibt im Namen Gottes, der angeblich alles verzeiht.«
«Er verzeiht wirklich, Pete«, unterbrach ihn Pater Cristobal sanft.
«Das ist deine Sache, Cris, so etwas zu behaupten. Ich habe von über 100 Toten gehört.«
«Vierhundert.«, sagte Bandilla schwach.»Opfer der Revolution und des Guerillakrieges. Für eine große Sache. Was man Novarra anlastet, das geht auf mein Konto! Ich habe die Sabotagen geleitet. Nachdem er mich entführt hatte, weil ich sein politischer Gegner war, hat er mich von seinen Zielen überzeugt. Ich wurde sein Anhänger. Ich wurde seine blutige Hand. Er wehrte sich immer dagegen, aber ich sagte: Revolutionen mit Samtpfötchen und Glacehandschuhen sind eine Illusion. Die Herrschenden müssen um ihr Leben bangen, das Volk muß sehen, daß jemand handelt. Es muß wissen: Hier kommt eine neue Zeit, die mit dem faulen Alten aufräumt. Radikal! Das war zum Beispiel der Erfolg von Fidel Castro. Das Volk sah zwar Blut, aber es war das Blut der Ausbeuter! Und dieses Blut begann dann zu leuchten als Wahrzeichen eines neuen Lebens: Zerschlagt die morsche Ordnung und schafft eine neue, bessere! Sind dafür 400 Tote zu viel?«
«Schon einer, Bandilla!«
«Ich bin also ein Mörder?«
«In meinen Augen schon.«
«Und alle Generäle, die Krieg führen und dafür höchste Orden bekommen? Die Millionen Menschen in die Schlachten treiben und Millionen Menschen zerfetzen lassen! Nennt man sie nicht Feldherrn? Kriegshelden? Feiert man sie nicht. je lauter, um so mehr Soldaten sie geopfert haben?«
«Das ist ein böses Thema, Bandilla. Vor allem bei mir. Es ist schlecht, mit mir darüber zu diskutieren. Ich verabscheue jede Gewalt, und Kriege sind für mich Menschheitsverbrechen. Es gibt keine Entschuldigung für einen Krieg, und sinnigerweise versucht auch kein Politiker, eine Entschuldigung dafür zu finden. Ebenso ungeheuerlich finde ich es, vor einem Völkermorden Gott um Hilfe anzuflehen oder Priester die Granaten und Bomben segnen zu lassen, bevor man sie zum Massentöten einsetzt. Was geht in diesen Priestern vor, die von der Nächstenliebe predigen und gleichzeitig das Kreuz über Vernichtungswaffen schlagen? Cris, ich will von dir keine Erklärung.«
«Ich kann auch keine geben«, sagte Pater Cristobal ruhig.»Ich würde so etwas nie tun.«
«Wann sterbe ich?«fragte Bandilla. Er war sehr erschöpft und von einer motorischen Unruhe befallen. Seine knochigen Hände fuhren über der Decke hin und her.
«Wer sagt, daß Sie sterben?«fragte Dr. Mohr zurück.
«Doctor«, mahnte aus dem Hintergrund Dr. Novarra.
«Ich muß Sie erst untersuchen, dann sprechen wir weiter.«
«Ich habe Krebs.«
«Wer hat das diagnostiziert?«
«Das sieht man doch.«
«Ach so! Wie einfach das doch ist, Arzt zu spielen. Man hat irgendwo Schmerzen, verliert radikal an Gewicht, wird dadurch natürlich immer schwächer, sieht wie ein tapeziertes Gerippe aus, die natürlichsten Körperfunktionen versagen oder geraten außer Kontrolle. und schon hat man Krebs! Eigen-Diagnose, was?«Dr. Mohr schlug die Decke zurück. Bandilla war wirklich nur noch ein Gerippe. Er wog, so schätzte Dr. Mohr, keine 80 Pfund mehr.»Schmerzen?«
«Überall!«
«Das kommt vom Liegen. Wo besonders?«
«Im Magen. Ich kann nichts essen. Ich breche alles wieder aus. Wie Galle ist es dann.«
Dr. Mohr nickte und deckte Bandilla wieder zu. Der Kranke zuckte zusammen. Das Zudecken sagte ihm genug. Es ist sinnlos.»Wie lange noch?«fragte er müde.
«Ich könnte Sie jetzt untersuchen, Bandilla. Abtasten, palpieren, mit dem Stethoskop abhören, Puls und Blutdruck messen, an Ihnen herumschnuppern — mein alter Lehrer sagte einmal: Krebs kann man hören und riechen — aber was soll das? Ich brauche ein Röntgengerät. Ich bin Chirurg und muß die Krankheit sehen!«
«Sehen Sie mich an.«
«Kein Anblick zum Jubeln, bestimmt nicht. Aber das Röntgengerät kommt bald.«
«Was soll ich damit?! Ich will ja nur wissen, wie lange es noch dauert, bis ich sterbe.«
«Warum wollen Sie das wissen? Sie haben gebeichtet, der Weg der Seele ist frei. Die Einbahnstraße zu Gott. Ob heute, in einer Woche, in einem Monat. spielt das eine Rolle?«
«Ich will nicht länger leiden, Doctor. «Bandilla tastete nach Dr. Mohrs Hand.»Geben Sie mir eine gute Spritze. bitte.«
«Sie wollen von mir umgebracht werden? Bandilla, was bilden Sie sich ein?! Ich gebe Ihnen eine Injektion, aber ich haue Ihnen zunächst Glukose ins Blut und dann lege ich einen Tropf an. Einen Nährtropf! Eine Spritze und für immer einschlafen!«Dr. Mohr blickte sich nach Novarra um.»Ist das der Grund, warum ich in die >Burg< durfte? Dann war das eine Fehlinvestition, Novarra. Ich kapituliere nicht so schnell. Ich kämpfe! Auch hier! Bevor ich den Krebs nicht gesehen habe, glaube ich nicht an ihn. Bandilla, ich halte Sie über Wasser, bis die Hospitaleinrichtung ankommt! Röntgengerät und Labor. Und dann erst sage ich Ihnen, wann Sie sterben werden! Solange bitte ich mir aus, daß Sie an das Leben glauben!«
«Da haben wir es!«sagte im Hintergrund Novarra laut.»Ich habe es geahnt! Dieser Kerl ist der sturste Bursche, den ich bisher kennengelernt habe.«
Dr. Mohr winkte ab und öffnete die Riegel seines Metallkoffers.»Sie mögen mich jetzt für völlig verrückt halten, Novarra«, sagte er,»aber ich glaube nicht an Ihren Krebs! Ich rieche ihn nicht! Simp-son, die Infasionssachen! Morgen, Bandilla, werden Sie mir bestätigen, daß Sie sich merkwürdig satt fühlen! Natürlich kann ich Ihnen kein Steak durch die Venen drücken, aber was Sie bekommen, tut Ihnen gut.«
Er beugte sich über Bandilla, suchte in der linken Armbeuge unter der ledernen Haut nach der Vene und fixierte sie mit einem Daumendruck.
«Überlegen Sie, großer Revolutionär«, sagte er dabei,»ob Sie nicht zu früh gebeichtet haben.«
Nach zehn Minuten schlief Jose Bandilla ein. Er schnarchte laut, mit offenem Mund, und sah wie eine einbalsamierte Leiche aus.
Dr. Mohr maß noch einmal den Blutdruck, hob wortlos die Schultern und winkte. Sie verließen das Felsenzimmer und schlossen die Tür hinter sich. Auf dem Flur war es mit Novarras Beherrschung vorbei.
«Sie sind mir in den Rücken gefallen, Doctor!«schimpfte er. Mit gespreizten Fingern kämmte er seinen Bart.»Wie können Sie Bandilla noch Hoffnung machen? Und wenn es auch nur ein Schimmer von Hoffnung ist. jetzt klammert er sich daran!«
«Ärzte sind merkwürdige Wesen, Dr. Novarra. Oder sagen wir es so: Ich bin ein merkwürdiges Wesen. Bandilla ist zwar in einem desolaten Zustand, aber den Krebsverdacht teile ich nicht.«
«Er ist am Ende. Das sieht doch jeder.«
«Sie sehen das so. Ich will Ihnen einmal etwas erklären: Die Leber ist nicht höckrig. Keine Milzschmerzen. Kein Blut im Kot. Auch im Sputum keine Blutspuren, das hätte Bandilla mir gesagt. Kein fauliges Aufstoßen oder Fäulnisgeschmack im Mund. Als ich zu ihm von Steaks sprach, keine Abwehrreaktion, kein Ekelgefühl, kein Protest. Am Magen nichts tastbar, keine Verhärtung, keine Schwellung.«
«Aber er ist ja nur noch ein Gerippe!«rief Novarra.»Pater, was sagen Sie dazu?«
«Ich bin für den Himmel zuständig. «Cristobal hob bedauernd beide Hände.»Für den Körper muß Dr. Morero geradestehen.«
«Hätte ich das vorher gewußt, wären Sie nicht in die >Burg< gekommen!«sagte Novarra voll innerer Abwehr.
«Er soll also sterben?«
«Uns allen wäre wohler dabei. Es wäre eine natürliche Lösung vieler Probleme. Bandilla als Revolutionär kannte keinerlei Skrupel! Nachdem ich ihn umgedreht habe, wie man so schön sagt, und ihn für unsere Ziele gewinnen konnte, entglitt er meiner Kontrolle. Im Namen meiner Idee, die Gewaltlosigkeit hieß und Umsturz durch Aufklärung, zog er mit Sprengstoff und Maschinenpistolen durchs Land und predigte die Moral des Chaos, aus dem man dann ein neues Weltbild backen kann. Natürlich hätte ich ihn töten können. Es wäre so etwas wie Selbstschutz gewesen, aber er war vorsichtig wie ein Berglöwe. Kennen Sie den Puma, Doctor? Er ist eines der intelligentesten Tiere. Ähnlich verhielt sich Bandilla. Immer war er auf der Hut. Dann überfiel ihn die geheimnisvolle Krankheit und schaltete ihn ziemlich schnell aus. Wir atmeten alle auf. Und wir freuten uns, ja, wir freuten uns über seinen baldigen Tod. Und da kommen Sie! Was tun Sie? Sie behaupten keck: Diesen Verfall halten wir auf. Überblicken Sie überhaupt, was Sie damit anrichten?«
«Ich sehe Bandilla in erster Linie als Patient. «Dr. Mohr ging in den großen Waschraum, drehte einen der Wasserhähne auf und wusch sich die Hände. Novarra stand hinter ihm und wartete, bis Dr. Mohr sich wieder aufrichtete.
«Und ein Patient ist nach ärztlichem Ethos tabu.«, bellte er.
«So ähnlich. Nur hat die ganze Sache ein Nachspiel. Nehmen wir an, mir gelingt es wirklich, Bandilla wieder auf die Beine zu bekommen, dann ist er für mich als Patient nicht mehr existent. Aber der blutige Revolutionär Bandilla, der hundertfache grausame, mitleidlose Mörder Bandilla. der lebt! Und es wird meine andere Pflicht sein, ihn für immer unschädlich zu machen.«
«Sie Idiot!«schrie Novarra grob.»Wozu dieser Umweg?! Das können Sie jetzt doch einfacher haben. Lassen Sie ihn sterben.«
«Jetzt ist er krank. Und ein Arzt soll helfen und heilen, aber nicht bestrafen und töten! Begreifen Sie das nicht? Sie als Jurist?«
«Eben weil ich Jurist bin. Ich habe es immer für saublöd gehal-ten, einen schwerverletzten Mörder wieder gesund zu pflegen, ihm dann auf Kosten des Volkes den Prozeß zu machen und hinterher doch aufzuhängen! Das ist doch Schwachsinn!«Novarra kämmte sich wieder den Bart mit den gespreizten Fingern.»Außerdem: Wenn Bandilla wieder gesund wird, haben Sie keine Möglichkeit, ihn der — wie man so geschwollen sagt — Gerechtigkeit zu übergeben. Gerade Bandilla wird Sie, seinen Lebensretter, ohne ein Fünkchen Reue zuerst umbringen, wenn er merkt, daß Sie solche Gedanken hegen! Dankbarkeit ist eine ihm unbekannte Vokabel. - Verdammt, ich sollte meine Leute zurückziehen und den Bau Ihres Hospitals mit allen Mitteln verhindern! Das ist überhaupt die Idee. «Novarra lächelte böse.»Ich schlage Ihnen einen Tausch vor, Doctor: Sie behandeln Bandilla nicht, sondern lassen ihn endlich sterben. und Sie bekommen Ihr Hospital. Wenn Sie ihn behandeln, werden meine Männer jedem aufs Hirn klopfen, der für Sie auch nur einen Stein oder ein Stück Bauholz anpackt.«
«Auch mich?«wollte Pater Cristobal wissen.
«Sie sind keine Ausnahme, Pater!«
«Ich baue eine Kirche.«
«Deren Innenraum man gut zum OP umfunktionieren kann! Oh, ich kenne die faulen Tricks der Kirche!«
«Sie verabscheuen Gewalt?«fragte Dr. Mohr ruhig.
«Das sagte ich schon mehrmals.«
«Und wollen trotzdem Bandilla ermorden? Denn was Sie da planen, ist glatter Mord.«
«Himmel noch mal! Waren Sie bei den Jesuiten in der Lehre?!«schrie Novarra.»Ich nehme nur vorweg, was man später mit Ban-dilla doch nur tun wird! Ja, ich tue sogar Gutes. Ich verhindere weiteres Blutvergießen! Bis man Bandilla am Galgen hängen sieht, werden noch viele Unschuldige sterben. Da kennt Bandilla keine Bremse. Ich verhüte etwas, Doctor, indem ich ihn sterben lasse!«
«Der spitzfindige Jurist!«Dr. Mohr winkte ab.»Was streiten wir uns? Ich bin als Arzt hier und nicht als Scharfrichter. Morgen bekommt Bandilla seinen Tropf angelegt.«»Ich lasse Sie nicht wieder in die >Burg
«Das wird sich morgen zeigen. Ich komme gegen neun Uhr morgens. «Dr. Mohr streckte seinen Kopf etwas vor.»Wenn Sie uns wieder die Augen verbinden wollen.«
«Warum habe ich bloß diese Hemmungen, Sie wie einen Pfahl in den Boden zu schlagen?!«
«Weil Sie Chica lieben und Ihren neugeborenen Sohn. Und weil beide mich noch brauchen. Und weil Sie im Grunde, da ganz tief drinnen, ein anständiger Mensch sind. Als Politiker mußten Sie scheitern. Da ist Anstand fast eine Beleidigung.«
«Ich werde mich bessern!«sagte Novarra grimmig.»Ganz in Ihrem Sinne. Männer wie Sie können mit Ihrem Maulwerk Steine pulverisieren.«