2

Sehen Sie die Mädchen dort, in den Jeans mit Farbspritzern darauf? Ja, sie sind wirklich sehr attraktiv. Und wie anders sie aussehen als die Frauen der Familie, die da an unserem Nachbartisch in ihrer traditionellen Kleidung sitzen. Die Staatliche Kunstakademie ist nicht weit – eigentlich gleich um die Ecke –, und die Studenten kommen von dort oft auf eine Tasse Tee her, genau wie wir jetzt. Eine ist Ihnen offenbar besonders aufgefallen; sie ist in der Tat eine Schönheit. Sagen Sie, Sir, haben Sie in Ihrer Heimat eine Liebe zurückgelassen – männlich oder weiblich, ich kenne Ihre Neigungen ja nicht, wenngleich die Intensität Ihres Blicks Letzteres nahelegt?

Ihr Achselzucken ist unergründlich, aber ich bin mitteilsamer. Ich ließ nämlich eine zurück, sie hieß Erica. Wir lernten uns im Sommer nach dem Examen kennen, wir gehörten zu einer Gruppe Princetonier, die zusammen in Griechenland Urlaub machen wollten. Sie und die anderen waren Mitglied im renommiertesten Essclub der Universität, dem Ivy, und sie reisten mit freundlicher Unterstützung ihrer Eltern oder der Dividenden aus ihren Treuhandvermögen, zu denen sie nun aufgrund ihres Alters Zugang hatten; ich hatte mir mein Essen immer in der Souterrainküche meines Wohnheims zubereitet und konnte nur dank meiner Einstellungsprämie von Underwood Samson mitfahren. Ich war mit einem der Ivy-Leute, Chuck hieß er, aus meiner Fußballzeit befreundet, und einige andere, die ich durch ihn kennengelernt hatte, mochten mich als exotische Bekanntschaft ganz gern.

Wir trafen uns in Athen, wo wir mit verschiedenen Flügen gelandet waren, und als ich Erica sah, konnte ich nicht anders, als ihr anzubieten, ihren Rucksack zu tragen – so atemberaubend hoheitsvoll war sie. Ihr Haar war wie eine Tiara aufgetürmt, und ihr Nabel – ah, welch ein Nabel: seine Festigkeit hatte er, wie ich später erfuhr, durch jahrelanges Taekwondo – lugte unter einem kurzen T-Shirt hervor, auf dem ein Bild des Vorsitzenden Mao prangte. Wir wurden einander vorgestellt, sie lächelte, als sie mir die Hand gab – ob sie mich unwiderstehlich kultiviert oder seltsam anachronistisch fand, wusste ich nicht –, dann zogen wir alle nach Piräus los.

Es zeigte sich sogleich, dass ich bei meiner Werbung um Erica das Feld nicht für mich haben würde. Ja, kaum hatte unsere Fähre zu den Inseln abgelegt, begann ein junger Mann auf der anderen Deckseite – vor seiner nackten, aber nicht sehr muskulösen Brust hing ein Zahn an einer Lederschnur –, auf seiner Gitarre zu klampfen und ihr ein Ständchen zu bringen. »Was ist denn das für eine Sprache?«, fragte sie mich und beugte sich so weit zu mir, dass ihr Atem mich am Ohr kitzelte. »Englisch, glaube ich«, antwortete ich nach konzentriertem Hinhören. »Genauer gesagt, Bryan Adams, Summer of ‘69.« Sie lachte. »Du hast recht«, sagte sie, senkte dann höflich die Stimme, um hinzuzufügen: »Mann, ist der schlecht!« Ich wollte ihr eigentlich zustimmen, aber da ich nun wusste, dass der Troubadour keine Gefahr darstellte, zog ich es vor, in großmütigem Schweigen zu verharren.

Eine ernstere Herausforderung stellte dann Chucks guter und gleichfalls einsilbig benamster Freund Mike dar, der am nächsten Tag, als wir in einem Restaurant über dem Rand des zerschmetterten Vulkans saßen, aus dem die Insel Santorini besteht, beiläufig den Arm über die Rückenlehne von Ericas Stuhl legte und ihn fast eine Stunde in dieser Position ließ, die ihm bestimmt unbequem wurde. Erica gab ihm kein Zeichen, den Arm wegzunehmen, allerdings tröstete ich mich damit, dass sie das ganze Essen hindurch sehr aufmerksam zuhörte, wenn ich etwas sagte, von Zeit zu Zeit lächelte und ihre grünen Augen auf mich richtete. Danach jedoch, auf dem Rückweg zu unserer Pension, ließen sie und Mike sich zurückfallen, und in jener Nacht fand ich kaum Schlaf.

Am Morgen sah ich zu meiner Erleichterung, dass sie vor Mike zum Frühstück herunterkam – nicht mit ihm –, ebenso freute ich mich darüber, dass wir beide anscheinend als Erste unserer Gruppe wach waren. Sie strich Marmelade auf ein Croissant, gab mir die Hälfte und sagte: »Weißt du, was ich gern tun würde?« Ich fragte sie, was es sei. »Ich würde gern allein hier sein«, sagte sie, »mir auf einer dieser Inseln ein Zimmer mieten und einfach bloß schreiben.« Dann solle sie das doch tun, sagte ich, sie aber schüttelte den Kopf. »Das würde keine Woche gutgehen. Ich kann schlecht allein sein. Aber du«, und hier neigte sie den Kopf und verschränkte die Arme, »ich glaube, du könntest das.«

Soweit ich weiß, hatte ich nie Angst vorm Alleinsein, also zuckte ich beipflichtend die Achseln und fügte erklärend hinzu: »Als ich ein Kind war, waren wir zu acht, acht Cousins und Cousinen, alle auf einem Hof – eine Grenzmauer umgab nämlich das Grundstück, das mein Großvater seinen Söhnen hinterließ –, und wir hatten gemeinsam drei Hunde, eine Zeitlang auch eine Ente.« Sie lachte und sagte dann: »Da war Alleinsein wohl eher ein Luxus, was?« Ich nickte. »Du verströmst so ein starkes Heimatgefühl«, sagte sie, »weißt du das? So ich-komme-aus-einer-großen-Familie-mäßig. Das ist schön. Das gibt einem so was Stabiles.« Darüber freute ich mich – auch wenn ich nicht so recht wusste, ob ich es ganz verstanden hatte – und sagte, weil mir nichts Besseres einfiel, danke. Dann fragte ich sie, zögernd, denn ich wollte nicht zu dreist sein: »Und du, fühlst du dich stabil?«

Sie dachte darüber nach und sagte mit, wie ich fand, einer gewissen Trauer in der Stimme: »Manchmal, das heißt, nein, eigentlich nicht.« Bevor ich etwas erwidern konnte, setzte sich Chuck dazu, dann kam Mike, und das Gespräch kam auf Strände und Kater und den Zeitplan der Fähren. Aber als ich Erica ansah und sie mich, spürte ich, dass wir beide wussten, dass zwischen uns etwas ausgetauscht worden war, vielleicht die erste Einladung zu einer Freundschaft, daher wartete ich geduldig auf eine Gelegenheit, unser Gespräch wieder aufzunehmen.

Eine solche Gelegenheit ließ lange auf sich warten – eigentlich mehrere Tage lang. Vielleicht glauben Sie, dass mich das Warten frustrierte, aber Sie müssen bedenken: In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Ferien verlebt. Wir mieteten uns Motorroller und kauften Strohmatten, die wir dann an Stränden aus schwarzem Lavasand ausbreiteten, die die Sonne zu stark für nackte Haut aufgeheizt hatte; wir wohnten in putzigen Häuschen, die im Sommer von älteren Paaren zimmerweise an Touristen vermietet wurden; wir aßen gegrillten Tintenfisch und tranken Sprudelwasser und Rotwein. Davor war ich noch nie in Europa gewesen, geschweige denn im Meer geschwommen – wie Sie ja wissen, ist Lahore anderthalb Flugstunden von der Küste entfernt –, also gab ich mich den Vergnügungen in dieser reichen, jungen Gesellschaft hin.

Zugegeben, es waren da schon einzelne Dinge, die mich störten. Beispielsweise die Leichtigkeit, mit der sie ihr Geld ausgaben und sich nichts dabei dachten, dass ein Essen auch mal – wenn auch nicht sehr häufig – vielleicht fünfzig Dollar pro Nase kostete. Oder ihre Selbstgerechtigkeit beim Umgang mit Leuten, die sie für ihre Dienste bezahlt hatten; »Aber Sie haben es uns doch gesagt«, beschwerten sie sich bei Griechen, die doppelt so alt wie sie waren, um dann darauf zu beharren, dass etwas nach ihrem Willen lief. Ich mit meinen begrenzten und abnehmenden Geldreserven und meiner traditionellen Ehrerbietigkeit Älteren gegenüber wunderte mich, durch welche Laune der Menschheitsgeschichte meine Begleiter, denen es so ganz an Kultiviertheit fehlte und von denen ich viele in meinem Land als Emporkömmlinge betrachtet hätte, in der Lage waren, sich auf der Welt zu benehmen, als wären sie ihre herrschende Klasse.

Aber vielleicht neige ich auch dazu, diese Ärgernisse rückblickend und in dem Wissen, welchen Verlauf mein Verhältnis zu Ihrem Land später genommen hat, zu übertreiben. Zudem standen die Übrigen der Gruppe für mich nur im Hintergrund; im Vordergrund schimmerte Erica, und sie zu beobachten schenkte mir eine enorme Befriedigung. Sie hatte mir gesagt, dass sie nicht gern allein sei, und ich merkte zunehmend, dass sie es auch selten war. Sie zog die Menschen an; sie hatte Präsenz, einen ungewöhnlichen Magnetismus. Wollte ein Naturforscher ihre Wirkung auf ihre Umgebung dokumentieren, er würde sie wahrscheinlich mit der einer Löwin vergleichen: kräftig, geschmeidig und immerzu Stolz ausstrahlend.

Dennoch hatte man das Gefühl, dass sie innerlich einen gewissen Abstand zu denen hielt, die um sie herum waren. Nicht, dass sie unnahbar gewesen wäre; sie hatte ein freundliches Wesen. Aber man spürte, dass ein Teil von ihr – und das war vielleicht kein unwesentlicher Aspekt ihres Reizes – unerreichbar war, versunken in ungesagten Gedanken. Es genügt zu erwähnen, dass sie im Verhältnis zu den zeitgenössischen Frauenikonen Ihres Landes weniger dem Lager der Spears’ als dem der Paltrows angehörte.

Aber mein kultureller Verweis ist bei Ihnen auf taube Ohren gestoßen! Sie wirken abgelenkt, Sir; die hübschen Mädchen von der Staatlichen Kunstakademie haben offensichtlich wieder Ihre Aufmerksamkeit in Beschlag genommen. Oder beobachten Sie vielleicht den Mann da, den mit dem Bart, der viel länger ist als meiner, den, der neben den Mädchen stehen geblieben ist? Sie glauben, er wird sie wegen der Unangemessenheit ihrer Kleidung schelten: ihrer T-Shirts und Jeans? Kaum anzunehmen. Diese Mädchen fühlen sich in dieser Gegend wohl und kommen wahrscheinlich häufig her, es ist eher er, der deplatziert wirkt. Außerdem gehört zu den vielen Regeln, die für die Basare von Lahore gelten, diese: Wird eine Frau von einem Mann belästigt, hat sie das Recht, sich an die brüderlichen Instinkte der Menge zu wenden, und man weiß, dass die Menge Männer verprügelt, die ihre Schwestern ärgern. Da, Sir, sehen Sie? Er ist weitergegangen. Er hat nur etwas angestarrt, was ihn fasziniert hat, genau wie Sie selbst; Sie natürlich mit erheblich mehr Diskretion.

Ich jedenfalls bemühte mich in jenem Sommer in Griechenland mit Erica, sie nicht anzustarren. Doch gegen Ende unserer Ferien, auf Rhodos, konnte ich nicht mehr anders. Sie waren noch nie auf Rhodos? Da müssen Sie mal hin. Diese Insel erschien mir anders als alle anderen, auf denen wir waren. Die Städte dort waren befestigt, von alten Burgen behütet; sie schützten sie gegen die Türken – so wie das im heutigen Griechenland Armee, Marine und Luftwaffe tun – als Teil einer Mauer gegen den Osten, die noch immer steht. Was für ein seltsamer Gedanke, dass ich auf der anderen Seite aufgewachsen war!

Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich wollte Ihnen von dem Augenblick erzählen, der mich zwang, sie anzustarren. Wir lagen in der Sonne am Strand, und viele europäische Frauen waren, wie üblich, oben ohne – eine Gewohnheit, die ich vollen Herzens unterstützte, die die Frauen unter uns Princetoniern jedoch bis dahin leider nicht übernommen hatten –, als ich sah, dass Erica die Träger ihres Bikinioberteils löste. Und dann, nur eine Armeslänge entfernt, bot sie ihren Busen vor meinen Augen der Sonne dar.

Einen Augenblick später – nein, Sie haben recht: Ich bin nicht aufrichtig; es war mehr als ein Augenblick – drehte sie den Kopf zur Seite und sah, wie ich sie anstarrte. Etliche mögliche Alternativen boten sich an: Ich konnte jäh den Blick abwenden und damit nicht nur beweisen, dass ich hingestarrt hatte, sondern auch, dass mir ihre Nacktheit Unbehagen bereitete; ich konnte, nach einer kleinen Weile, beiläufig woanders hinsehen, als wäre der Anblick ihrer Brüste das Natürlichste auf der Welt gewesen; ich konnte weiter hinstarren und damit meine Bewunderung für das, was sie da enthüllt hatte, ehrlich bekunden; oder ich konnte durch eine wohlplatzierte literarische Anspielung ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es eine Stelle in Herr Palomar gab, die mein Dilemma perfekt erfasste.

Doch ich tat nichts davon. Vielmehr errötete ich und sagte »Hallo«. Sie lächelte – mit untypischer Scheu, wie mir schien – und antwortete »Hi«. Ich nickte und überlegte, was ich sonst noch sagen konnte, aber mir fiel nichts ein, und so sagte ich noch einmal »Hallo«. Gleich darauf hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst; ich wusste, dass ich unfassbar dumm klang. Sie lachte auf, ihre kleinen Brüste wippten, und sie sagte: »Ich geh schwimmen.« Aber dann drehte sie sich im Gehen halb um und fügte hinzu: »Kommst du mit?«

Ich folgte ihr und beobachtete dabei, wie die Muskeln auf ihrem unteren Rücken sich sanft spannten, um ihr Rückgrat zu stützen. Wir erreichten das Wasser; es war warm und vollkommen klar, unter seiner Oberfläche sah man runde Kiesel und die Blitze kleiner Fische. Wir glitten hinein, sie schwamm mit kräftigen Stößen in die Bucht hinaus und trat dann Wasser, bis ich zu ihr aufgeschlossen hatte. Eine Zeitlang schwiegen wir, während unsere glitschigen Beine, das Meer aufwühlend, einander streiften. »Ich glaube«, sagte sie schließlich, »ich bin noch keinem in unserem Alter begegnet, der so höflich ist wie du.« »Höflich?«, sagte ich, nicht gerade freudestrahlend. Sie lächelte. »So meine ich das nicht«, sagte sie. »Nicht langweilig höflich. Respektvoll höflich. Du lässt einem Raum. Das mag ich wirklich. Es ist ungewöhnlich.«

Wir hüpften weiter voreinander auf und ab, und ich gewann den Eindruck, dass sie auf eine Antwort von mir wartete, doch alle Wörter hatten mich verlassen. Stattdessen mühten sich meine Gedanken darum, ein Gesicht aufzusetzen, das nicht idiotisch wirkte. Sie machte kehrt und schwamm Richtung Strand, den Kopf über Wasser. Ich zog neben sie und sagte, endlich über meine gelähmte Zunge siegend: »Sollen wir zurück in die Stadt und was trinken gehen?« Worauf sie die Augenbrauen hob und in einem für sie unüblichen Tonfall antwortete: »Mit dem größten Vergnügen, mein Herr.«

Am Strand zog sie ein Hemd an – ein Herrenhemd, das weiß ich noch, blau, an den Kragenspitzen abgestoßen – und stopfte Handtuch und Bikinioberteil in eine Tasche. Von unseren Begleitern wollte keiner mit, da der Tag noch mindestens eine Stunde Sonnenbräunung bot, also gingen wir allein zur Straße und nahmen den Bus. Als wir so nebeneinandersaßen, fiel mir natürlich auf, dass ihr nacktes Bein keine zwei Zentimeter von meiner Hand entfernt war, die auf meinem Schenkel lag.

Es ist doch auffallend, wie viel empfänglicher man hier in Pakistan für den Anblick eines Frauenkörpers ist. Finden Sie nicht? Der Bärtige da, Sir, der noch immer von Zeit zu Zeit Ihre misstrauischen Blicke auf sich zieht, schaut sich ständig nach diesen Mädchen um, die fünfzig Meter von ihm entfernt sind. Dabei zeigen sie nur das Fleisch von Hals, Gesicht und den unteren drei Vierteln der Arme! Es ist der Effekt der Knappheit; die Anstandsregeln sorgen dafür, dass man nach dem Ungehörigen lechzt. Ist man zudem derart sensibilisiert, stumpft man nur langsam ab, wenn überhaupt; als ich in Griechenland Ferien machte, hatte ich schon vier Jahre in Amerika gelebt und alle Vertraulichkeiten kennengelernt, die Studenten gemeinhin erleben, und dennoch nahm ich sichtbare weibliche Haut nach wie vor deutlich wahr.

Um mich nicht weiter unhöflich auf Ericas weizenfar-bene Gliedmaßen zu konzentrieren, fragte ich sie, ob sie das Hemd von ihrem Vater habe. »Nein«, sagte sie und rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger, »das hat mal meinem Freund gehört.« »Ach«, sagte ich. »Ich habe nicht gewusst, dass du einen Freund hast.« »Er ist letztes Jahr gestorben«, sagte sie. »Er hieß Chris.« Ich sagte, das tue mir leid und dass es ein schönes Hemd sei, Chris habe einen hervorragenden Geschmack gehabt. Sie stimmte mir zu und meinte, er sei ein richtiger Dandy gewesen und ziemlich eitel, sogar noch im Krankenhaus. Die Krankenschwestern seien von ihm ganz bezaubert gewesen: Er habe sehr gut ausgesehen und einen, wie sie es nannte, alteuropäischen Reiz ausgeübt.

In der Stadt fanden wir dann nahe am Hafen ein Café, dessen Tische im Schatten blau-weißer Schirme standen. Sie bestellte ein Bier, ich tat es ihr nach. »Wie ist denn Pakistan so?«, fragte sie. Ich sagte, Pakistan sei vieles, Küste, Wüste und auch Ackerland, das sich zwischen Flüssen und Kanälen erstrecke; ich erzählte ihr, ich sei mit meinen Eltern und meinem Bruder auf der Karakorum-Straße nach China gefahren und dabei durch Täler gelangt, die höher als die Gipfel der Alpen seien; ich erzählte ihr, Alkohol sei für Muslime verboten, daher hätte ich einen christlichen Schwarzhändler gehabt, der mir welchen mit seinem Suzuki-Pick-up ins Haus gebracht habe. Sie hörte mir aufmerksam zu, wobei sie zwischendurch immer wieder lächelte, als nippte sie an meinen Beschreibungen und fände sie schmackhaft. Dann sagte sie: »Du vermisst dein Zuhause.«

Ich zuckte die Achseln. Tatsächlich vermisste ich es oft, aber in jenem Moment hätte ich nirgendwo anders sein wollen. Sie zog ihr Notizbuch hervor – es war in weiches, orangefarbenes Leder gebunden; ich hatte davor schon gesehen, wie sie in ungestörten Augenblicken der Stille darin geschrieben hatte –, reichte es mir zusammen mit einem Bleistift und sagte: »Wie sieht eure Schrift aus?« Ich sagte: »Urdu ist dem Arabischen ähnlich, aber wir haben mehr Buchstaben.« Sie sagte: »Zeig mal«, also schrieb ich etwas. »Das ist wunderschön«, sagte sie und sah mir in die Augen. »Was bedeutet es?« »Das ist dein Name«, antwortete ich, »und das darunter ist meiner.«

Wir blieben an unserem Tisch und redeten, während die Sonne unterging, und sie erzählte mir von Chris. Sie waren zusammen aufgewachsen – in gegenüberliegenden Wohnungen, Kinder im selben Alter, ohne Geschwister – und waren lange vor ihrem ersten Kuss beste Freunde gewesen; der kam, als sie sechs waren, wurde aber erst mit fünfzehn wiederholt. Er hatte eine Sammlung europäischer Comics, nach denen sie ganz verrückt waren, und sie verbrachten Stunden damit, sie zu Hause zu lesen und eigene zu machen: Chris zeichnete, Erica schrieb. Sie wurden beide in Princeton angenommen, aber er ging nicht hin, weil man bei ihm Lungenkrebs feststellte – er hatte eine Zigarette geraucht, sagte sie lächelnd, aber erst an dem Tag, nachdem er die Ergebnisse seiner Biopsie erhalten hatte –, und sie sorgte dafür, dass sie nie freitags Unterricht hatte, damit sie drei Tage die Woche bei ihm in New York sein konnte. Er starb drei Jahre später, am Ende des Frühjahrssemesters ihres vorletzten Jahres. »Ich vermisse also auch irgendwie mein Zuhause«, sagte sie, »nur dass mein Zuhause ein Typ mit langen, dünnen Fingern war.«

Abends gingen wir dann mit der Gruppe essen, und Erica setzte sich mir gegenüber. Chuck brachte uns alle zum Lachen, indem er uns mit unglaublicher Treffsicherheit imitierte – meine Manierismen fand ich etwas übertrieben dargestellt, aber die der anderen trafen genau ins Schwarze –, dann ging er um den Tisch herum und forderte jeden auf, seinen Traum preiszugeben, was er am liebsten sein wollte. Als ich an die Reihe kam, sagte ich, ich hoffte, eines Tages Diktator einer islamischen Republik mit Nuklearpotenzial zu sein; die anderen schienen schockiert, und ich sah mich zu der Erklärung gezwungen, dass ich bloß einen Witz gemacht hatte. Nur Erica lächelte; offenbar verstand sie meinen Humor.

Erica sagte, sie wolle Schriftstellerin werden. Ihre Abschlussarbeit war ein langes literarisches Werk gewesen, mit dem sie in Princeton einen Preis gewonnen hatte; sie plante, es zu überarbeiten und es dann Literaturagenten zu geben und zu sehen, wie sie es fanden. Normalerweise erzählte Erica wenig von sich, und als sie es an dem Abend tat, senkte sie etwas die Stimme und sah dabei häufig mich an. Trotz der Anwesenheit unserer Gefährten, deren Aufmerksamkeit sie, wie immer, auf sich zog, hatte ich das Gefühl, dass sie mit mir eine Vertrautheit teilte, und dieses Gefühl wurde noch stärker, als sie mir unaufgefordert half, nachdem sie gesehen hatte, wie ich mich abmühte, das Fleisch von den Gräten meines Fischs zu trennen.

Körperlich war nichts zwischen mir und Erica in Griechenland; nicht einmal Händchen hielten wir. Aber sie gab mir ihre Nummer in New York, wohin wir beide zurückflogen, und sie bot mir an, mir bei der Eingewöhnung zu helfen. Was mich betraf, so war ich zufrieden: Ich hatte Bekanntschaft mit einer Frau geschlossen, in die ich wirklich und wahrhaftig verknallt war, und meine Begeisterung angesichts der Abenteuer, die mein neues Leben für mich bereithielt, war nie ausgeprägter gewesen.

Aber was ist das? Ah, Ihr Handy! So eines habe ich noch nie gesehen; das ist wohl so ein Modell, mit dem man über Satellit kommunizieren kann, wenn man in einem Funkloch ist. Wollen Sie nicht drangehen? Ich versichere Ihnen, Sir, ich werde mein Möglichstes tun, wegzuhören. Aber offenbar schreiben Sie lieber eine SMS, sehr klug: Häufig sind ein paar Worte mehr als genug. Ich warte gern, bis Sie fertig getippt haben. Schließlich haben die Mädchen von der Staatlichen Kunstakademie gerade erst ihren Tee ausgetrunken, und wir werden das Vergnügen ihrer Anwesenheit auf dieser Straße noch etwas länger haben, bis sie – was zwangsläufig geschehen wird – um die Ecke dort verschwunden sind.

Загрузка...